Unschuldig - Audrey Delanay - E-Book

Unschuldig E-Book

Audrey Delanay

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Beschreibung

Als ihr Vater sie das erste Mal sexuell missbraucht, ist Audrey Delaney erst drei Jahre alt. Aus lauter Angst und völlig verwirrt erzählt sie niemandem davon, was nachts in ihrem Zimmer passiert. Nach außen hin versucht sie ein ganz normales Mädchen zu sein, aber jede Nacht, wenn ihr Dad ins Zimmer kommt, durchlebt sie denselben schrecklichen Albtraum. Sie entwickelt Zwangs- und Essstörungen und experimentiert in ihrer Jugend mit Drogen. Doch niemand hört ihre stummen Hilferufe. Erst als erwachsene Frau findet sie endlich den Mut, sich ihrem Umfeld anzuvertrauen und sich gegen ihren Peiniger zu wehren.
In "Unschuldig" erzählt Audrey Delaney die Geschichte einer traumatischen Kindheit und von dem langen Weg, den sie gehen musste, um sich von den schmerzlichen Erfahrungen ihrer Vergangenheit zu befreien.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Danksagungen

Spezielle Danksagungen

Anmerkung der Autorin

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Epilog

Froh, ich zu sein

von Tyrone Ward

Über dieses Buch

Als ihr Vater sie das erste Mal sexuell missbraucht, ist Audrey Delaney erst drei Jahre alt. Aus lauter Angst und völlig verwirrt erzählt sie niemandem davon, was nachts in ihrem Zimmer passiert. Nach außen hin versucht sie ein ganz normales Mädchen zu sein, aber jede Nacht, wenn ihr Dad ins Zimmer kommt, durchlebt sie denselben schrecklichen Albtraum. Sie entwickelt Zwangs- und Essstörungen und experimentiert in ihrer Jugend mit Drogen. Doch niemand hört ihre stummen Hilferufe. Erst als erwachsene Frau findet sie endlich den Mut, sich ihrem Umfeld anzuvertrauen und sich gegen ihren Peiniger zu wehren.

In »Unschuldig« erzählt Audrey Delaney die Geschichte einer traumatischen Kindheit und von dem langen Weg, den sie gehen musste, um sich von den schmerzlichen Erfahrungen ihrer Vergangenheit zu befreien.

Über die Autorin

Audrey Delaney lebt heute mit ihren zwei Kindern in Co Cavan, Irland.

Audrey Delaney

Unschuldig

Die Geschichte einer zerstörten Kindheit

Aus dem Englischen von Rainer Schmidt

Deutsche Digitalausgabe

Für die Originalausgabe:© 2008 by Audrey Delaney

Originalausgabe: »Innocent«

Erste deutsche Ausgabe: © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

© der deutschen Übersetzung 2010 by Weltbild GmbH & Co. KG, Augsburg

Umschlaggestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven © Andrey Arkusha/shutterstock

E-Book-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-6294-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Aus tiefstem Herzen und mit der allergrößten Liebe widme ich dieses Buch meinem Sohn Tyrone (meinem Backenhörnchen) und meiner Tochter Robin (meinem Engel). Sie sind der Grund, warum ich so weit gegangen bin, wie ich konnte, und mein Bestes gegeben habe. Ich beziehe meine Kraft aus der Liebe, die ich für sie empfinde und von ihnen bekomme.

Dieses Buch ist außerdem meiner Stieftochter Dee gewidmet, die meine Vertraute und Verwandte ist: Sie macht mir Mut, und sie ist immer wieder der Fels, auf den ich bauen kann. Jedes Mal, wenn wir zusammen sind, zeigt und sagt sie mir, wie sehr sie mich liebt. Ihre Mutter hat allen Grund, stolz auf sie zu sein – ebenso, wie sie selbst.

Danksagungen

Ihr anderen Mädels, die ihr beherzt genug wart, eure Seele zu entblößen, und den Mut gefunden habt, darüber zu sprechen – ich bin euch dankbar und bewundere euch. Ihr seid Heldinnen.

Ich danke meiner Freundin Mary für alles, was sie in den letzten vierzehn Jahren für mich getan hat, auch dafür, dass sie zur Verurteilung meines Vaters nach Irland gereist ist.

Ich danke meiner Patentante und meinem Onkel aus Greystones für ihre beständige Liebe und Unterstützung. Auch meine Tante und meinen Onkel in Crumlin möchte ich an dieser Stelle erwähnen.

Mein Dank geht an Debbie und Brian und an Harry und ViVi, die sich in den Tagen der Gerichtsverhandlung um Tyrone und Robin gekümmert und sie behütet haben.

Den Mädels in Celbridge danke ich für ihre unerschütterliche Liebe und Unterstützung und dafür, dass sie mich nicht vergessen haben, obwohl ich keine große Telefoniererin bin.

Michelle danke ich für ihr offenes Ohr und dafür, dass sie mit mir zum Prozess gegangen ist.

Danke auch den Mädels in Virginia, County Cavan, die sich in den Monaten des Jahres 2006, in denen ich krank war, um mich und meine Kinder gekümmert haben. Ihr habt mich gerettet. Ihr, die ihr mir wegen meiner Nachlässigkeit und Unpünktlichkeit mit einem Lächeln die Ohren langzieht.

Ich danke den Leute vom Castle Lodge Bed & Breakfast, die mich wie eine Prinzessin behandelt haben. Ihre Freundlichkeit, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Warmherzigkeit macht ihr Bed & Breakfast zum besten der Welt. Ich wusste immer, dass ich in Wirklichkeit eine Prinzessin bin – sie haben mir nur gezeigt, wie man sich dann fühlt. Es war gut, besonders in emotional derart turbulenten Zeiten.

Ich danke der Gruppe Aslan für ihren Song Crazy World. Dort heißt es: »How can I protect you in this crazy world?« – »Wie kann ich dich beschützen in dieser verrückten Welt?« Ich weiß jetzt, wie ich die Kinder beschützen kann.

Ein besonderer Dank geht an Christy Dignan von Aslan, der mit mir, einem kompletten Niemand, Kontakt aufgenommen hat; dieser Anruf war ein Erlebnis, das mein Leben verändert hat, und ich habe mich wie eine bedeutende Persönlichkeit gefühlt. Christy, du bist eine gute Seele. Nicht viele Musiker nehmen sich die Zeit, sich um ein gewöhnliches irisches Mädchen zu kümmern, wie Christy es getan hat.

Spezielle Danksagungen

Zutiefst dankbar bin ich Detective Peter Cooney, der jahrelang an meinem Fall gearbeitet und niemals aufgegeben hat, so frustrierend es auch wurde. Er ist ein gutherziger und verständnisvoller Mann. Ich vertraue ihm. Ich danke auch Mary Rose Gearty, der Anwältin, die den Fall übernommen hat, für ihre gute Arbeit.

Ich möchte Essie danken, meiner stets loyalen Betreuerin in der von der Gesundheitsbehörde unterstützten Rian Group. Du hast mir Halt gegeben, mich aufgebaut und mir zu dem Selbstvertrauen verholfen, das ich heute habe. Auf meine eigenen Gefühle kommt es an, und ich wende mich anderen positiv und liebevoll zu.

An meine Brüder: Vielen Dank für alles.

Großen Dank schulde ich dem Kloster Tham Krabok in Thailand. Es war ein traumatisches Erlebnis, eine massive Belastungsprobe, die mich über Grenzen hinwegtrieb, von denen ich niemals dachte, dass ich sie überhaupt erreichen könnte, und ich bin stolz darauf, dass ich es geschafft habe. Mein Aufenthalt dort war auf eine sehr positive Weise eine gewaltige, lebensverändernde Erfahrung. Danke für die vielen Geschenke, die ich von dort mitnehmen durfte, vor allem für das Geschenk des Schlafs. Es war die beste Investition, die ich für meine Kinder und mich selbst jemals getätigt habe.

Ich danke meinem neuen Freund Mae Shee Rambhai Singhsumalee, dem Medizinmann – er ist ein ganz besonderer Mensch –, und all den Mönchen und Nonnen, die für mich gesorgt haben, ohne etwas zu verlangen. Ich danke meinem Freund Charlie, der dafür sorgte, dass ich während meines Aufenthalts dort bei Verstand blieb, und allen Patienten, die mit mir zusammen dort waren: Danke, dass ihr immer noch Kontakt zu mir haltet.

Ich danke meinem Freund Eugene, der Missionspriester ist. Ich kenne ihn seit meinem dritten Lebensjahr, und seine Worte haben mir großen Frieden gegeben.

Und ich danke meinem Verlag, Maverick House, für die respektvolle und fürsorgliche Behandlung: Bridgette Rowland hat mein Buch so gewissenhaft gelesen und unablässig gelobt, und Jean Harrington konnte sich einen Reim auf ein Gewirr von Emotionen machen und hat die richtigen Fragen gestellt.

Mein Dank geht an Michael Kealey von der Kanzlei William Fry Solicitors für die vorbereitende Arbeit an meinem Manuskript vor der Veröffentlichung.

Unbedingt erwähnt werden muss auch der Einfluss, den Sorcha McKenna, ebenfalls ein Opfer von Kindesmissbrauch, auf mich ausgeübt hat. Als ich sah, wie sie den Missbrauch, den sie durch ihren Vaters erleiden musste, öffentlich bekannt machte, geriet für mich alles in Bewegung. Mir wurde klar: Wenn sie das konnte, konnte ich es auch. Vielen Dank für deinen Mut, Sorcha.

Ich danke allen, die Teil meines Lebens waren, unter welchen Umständen auch immer. Ich konnte von allem profitieren, und ich habe aus jeder Erfahrung etwas gelernt.

Anmerkung der Autorin

Dies ist eine wahre Geschichte, und alles, was in diesem Buch erzählt wird, ist wirklich passiert. Manche der Informationen, die ich darin verwendet habe, stammen aus Gerichtsverfahren vor dem Dublin Circuit Criminal Court. Um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, wurde ein Teil der Namen geändert – ebenso wie die Namen einiger meiner Freunde und Verwandten. Gestatten Sie mir eine persönliche Anmerkung: Ich war gewissermaßen gezwungen, diese Geschichte aufzuschreiben; mich trieb eine innere Kraft an, die mir keine Ruhe ließ, bis ich es tat.

Dieses Buch zu schreiben dauerte Hunderte von Stunden; die Arbeit zog sich über mehrere Monate. Es war kein leichtes Unterfangen, sondern geschah mit Leidenschaft und aus der Motivation heraus, einen Beitrag zum Umgang mit dem schwierigen Thema Kindesmissbrauch zu leisten. Ich halte es für wichtig, dass wir folgende Aufgaben angehen:

Wir müssen den Menschen die Augen öffnen, damit sie erkennen, wie diese an Kindern begangenen Verbrechen sich bis ins Erwachsenenalter auswirken – wenn sie es überhaupt erreichen.

Wir müssen zeigen, dass es möglich ist, Missbrauch psychisch zu bewältigen, ohne dass ein Gefühl von Scham zurückbleibt.

Von Missbrauch betroffene Familien müssen dazu bewegt werden, sich Unterstützung zu suchen, um mit der Situation fertigzuwerden.

Es ist wichtig, den Menschen zu zeigen, wie sie ihre Kinder so erziehen, dass sie einschätzen können, ob das Verhalten der Menschen, die sie lieben und denen sie vertrauen, angemessen ist oder nicht.

Die Menschen müssen lernen, Missbrauch zu erkennen, damit sie die richtigen Fragen stellen.

Kindesmissbrauch muss zu einem Thema der öffentlichen Auseinandersetzung werden.

Menschen, die mit missbrauchten Kindern beziehungsweise betroffenen Erwachsenen arbeiten, benötigen Informationen darüber, wie Missbrauch die seelische Gesundheit zerstören kann, damit sie den Heilungsprozess anleiten können.

Alle, denen je solches Unrecht zugefügt wurde, brauchen Trost. Wir müssen ihnen sagen: Nicht du bist verantwortlich, sondern die Person, die dir das angetan hat. Sie ist es, die sich schämen muss ... genau wie diejenigen, die sie gedeckt haben.

Lächle und betrachte das Leben und die Menschen durch die Augen eines Engels. Und sieh zu, dass das Nächste, das du zu jemandem sagst, dir Frieden gibt.

Prolog

Ich saß eines Tages in meinem kleinen pinkfarbenen Auto und ließ das Radio plärren, damit die Musik meine Gedanken übertönte und mich in einen Zustand süßer Selbstvergessenheit versetzte. Ich wollte an nichts denken und nichts fühlen. Die Musik klang aus, und die Nachrichten fingen an und drangen langsam in mein Bewusstsein.

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, als der Nachrichtensprecher die wichtigsten Meldungen des Tages verlas. Erst bei dem Wort Kindesmissbrauch schrak ich hoch und erstarrte. Jede Faser meines Körpers spannte sich an, und unwillkürlich ballte ich die Fäuste.

Das Wort hatte eine Saite in mir angeschlagen. Ich wollte es aus meinem Kopf vertreiben und so tun, als hätte ich es nicht gehört. Aber es war zu spät. Irgendwo in meinem Kopf war eine Tür aufgestoßen worden – eine Tür, die ich vor langer Zeit fest verschlossen hatte.

Ich war plötzlich kurzatmig und hatte das Gefühl, in einen schwarzen Abgrund zu stürzen. Eine kleine Ewigkeit lang saß ich im Wagen und wartete darauf, dass die Musik wieder über mich hinwegflutete und die bösen Erinnerungen wegschwemmte. Aber diesmal funktionierte es nicht; die Erinnerungen drängten auf mich ein, ungebeten und unerwünscht.

Nach und nach ließ ich zu, dass ich begriff, was diese Worte bedeuteten. Sexueller Missbrauch. Als ich sie hörte, war es, als krabbelten tausend Ameisen über meinen Körper, die mich alle gleichzeitig bissen. Diese Worte bohrten ein Loch in mein Unterbewusstsein, und giftige Gedanken sickerten heraus und verbreiteten sich in meinem Geist. Am liebsten hätte ich den Kopf vor einen meiner Autoreifen gelegt und jemanden gebeten, darüberzufahren. Ich wollte nur noch von meinem Elend erlöst werden. Ich fühlte mich so mies wie noch nie zuvor.

Anfangs leugnete ich jede Verbindung zwischen mir und diesen hassenswerten Worten. Es war nicht das, was mir passiert war.

Mein Dad hatte das nicht getan. Mein Dad würde das niemals tun.

Nein, es war etwas anderes. Was mein Dad getan hatte, war etwas völlig anderes. Und mein Dad war es sowieso nicht gewesen. Sondern ich. Es war meine Schuld. An mir war etwas Schmutziges.

1

Dad war in vieler Hinsicht ein Erfolgsmensch. Er stammte aus ärmsten Verhältnissen und war in einem Mietshaus in der Gardiner Street aufgewachsen, die durch das Herz der nördlichen Dubliner Innenstadt führt.

Mit seinen Eltern und vier Geschwistern teilte er sich eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern. Sie war kalt und feucht, und oft reichte das Essen kaum für die ganze Familie. Es gab nur eine Toilette, die sie mit drei anderen Stockwerken teilten, und sie besaßen wenig oder gar nichts. So wurde es mir zumindest erzählt.

Die Gardiner Street hatte damals einen schlechten Ruf, sie galt als verkommen. Dad war sich seiner Herkunft stets bewusst. Er schämte sich so sehr dafür, dass er es in der Regel verschwieg, woher er stammte. Das ging so weit, dass ich es, als ich heranwuchs, niemandem erzählen durfte, obwohl meine Großeltern, Nanny und Granddad Delaney, immer noch dort wohnten.

Dad verließ die Schule mit zwölf Jahren, aber nachdem er geheiratet hatte, ging er noch einmal aufs College und wurde Steuerberater. Er war ein Selfmademan, jemand, der soziale Vorurteile und Armut überwunden und Erfolg gehabt hatte.

Und erfolgreich war er: Am Ende hatte er ein großes Haus in Castleknock, einem reichen Vorort am Nordrand von Dublin, und schnell erwarb er auch die typischen Insignien des Reichtums: schicke Autos und ein Boot auf dem Shannon. Uns Kindern bläute er stets ein, wie brillant er sei: Immer wieder erzählte er, er habe sein Examen schon nach zwei Jahren gemacht, während alle anderen drei gebraucht hätten.

Aber es war immer nur Dad, der uns das erzählte. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand sonst darüber gesprochen hätte. Wieder und wieder erzählte er mir und meinen Brüdern, er sei der intelligenteste Mensch, dem wir je begegnen würden, und ich glaubte ihm.

Obwohl ich Dad liebte, sah ich schon, als ich noch klein war, eine unschöne Seite an ihm. Er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Leute schlechtzumachen. Ständig zog er über die Eltern meiner Ma her – über Nanny, weil sie rauchte, über Granddad, weil er halb taub war, und über uns Kinder, weil wir ihn dauernd anschrien, damit er uns verstand. Am meisten meckerte er über den Fernseher bei Nanny und Granddad O’Byrne.

»Der Kasten plärrt ständig auf voller Lautstärke, weil euer Granddad taub ist. Jeder, der ein paar Manieren hat, würde ihn abschalten, wenn Gäste kommen«, beschwerte er sich.

Dad hielt sich stets für einen sehr wichtigen Gast. Er fand, jeder, den er besuchte, müsste entzückt sein, ihn zu sehen, und sich die größte Mühe geben, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen.

Die Zeit verging, und je mehr Umgang Dad mit gebildeten und erfolgreichen Leuten hatte, desto unangenehmer wurde er. Aber nicht sein widerwärtiges Benehmen weckte meine Abneigung. Was ich wirklich hasste, war das, was er zur Schlafenszeit zu tun pflegte. Und das tat er, solange ich zurückdenken kann.

***

Allem Anschein nach stimmt es nicht, dass alle Babys schön sind, denn alle sagen, als ich zur Welt kam, sah ich aus wie ein gerupftes Huhn mit zu weiter, faltiger Haut. Ich wurde im Schlafzimmer unseres damaligen Hauses in Ballsbridge geboren, aber beinahe wäre meine Mutter im Badezimmer niedergekommen, denn die Tür klemmte, und nur weil die Hebamme die Tür einschlug, schaffte Ma es noch rechtzeitig ins Schlafzimmer. So erzählte man es sich jedenfalls in unserer Familie.

Ich war das erste Mädchen in der Familie, und ich bin sicher, meine Ma war entzückt, dass mein älterer Bruder nun eine kleine Schwester haben würde. Er war drei Jahre alt, als ich zur Welt kam.

Als ich selbst drei Jahre alt war, schenkte Ma mir und Mark einen kleinen Bruder. Fergus war ein glückliches, friedliches und ausgesprochen pflegeleichtes Baby.

Meine Kindheitserinnerungen setzen ungefähr bei meinem dritten Lebensjahr ein. Manche werden sagen, man kann sich an das, was in diesem frühen Alter passiert ist, nicht erinnern, aber ich glaube, man kann es. Man weiß vielleicht nicht mehr, ob es Winter oder Sommer war, oder ob man im Flur oder im Wohnzimmer war, und vielleicht hat man auch die Einzelheiten vergessen, aber die Gefühle, die mit den Erlebnissen verbunden waren, prägen sich ein.

Ich habe sehr klare Erinnerungen an diese frühen Jahre. Ich kann mich an bestimmte Ereignisse erinnern. Und wenn Ereignisse mit negativen Gefühlen verbunden sind, ist es noch schwerer, sie zu vergessen.

Ich weiß nicht, wann genau Dad anfing, abends in mein Zimmer zu kommen. Sicher weiß ich nur, dass die schlechten Gefühle begannen, als ich ungefähr drei Jahre alt oder ein bisschen älter war. Ich war noch sehr klein, als er anfing, mich zu missbrauchen. Ich habe deutlich das Bild vor Augen, wie er sich in mein Zimmer schleicht.

Er legte sich immer neben mich ins Bett und erzählte mir Geschichten aus Grannys Kinderzeit. Wie sie auf dem Land in einen Feenring geriet und nicht mehr herauskonnte, oder wie Granny auf einer Kuh zur Schule geritten war. Ich hörte diese Geschichten gern, aber ich hatte es nicht gern, wenn er seine Hand in mein Höschen schob und meinen Intimbereich streichelte. Während er erzählte, fummelten seine Finger ständig an meiner Vagina herum, und das tat weh.

Lange Zeit dachte ich, es sei normal, dass Väter ihre Töchter da unten berührten; es sei das Gleiche wie ein Gutenachtkuss oder eine Umarmung. Ich war so geschädigt, und mein Denken war so verkorkst, dass ich mich fragte, wie die Väter anderer Kinder es mit ihnen machten, besonders wenn sie mehr als eine Tochter hatten. Es war ein ganz normaler Teil meines Lebens.

Der einzige Unterschied zwischen einem Gutenachtkuss und dem, was mein Dad tat, bestand darin, dass es sich nicht schön anfühlte. Es tat weh und fühlte sich schmutzig an. Ich dachte mir, wenn man sich jedes Mal die Hände waschen musste, nachdem man auf dem Klo gewesen war, dann musste da unten auf jeden Fall etwas Schmutziges sein. Das würde auch die Frage beantworten, weshalb keine meiner Freundinnen je erzählte, dass ihr Vater sie dort berührte. Also sagte ich auch nichts. So fing es an. Ich war ein kleines Mädchen, als er begann, meinen Intimbereich zu berühren, und in den nächsten Jahren ging es weiter und wurde nach und nach immer schlimmer. Wenn ich jetzt, als Erwachsene, zurückschaue, sehe ich, dass ich keine Wahl hatte. Das Umfeld, das unsere Eltern für uns schaffen, akzeptieren wir als normal, und er schuf von Anfang an ein Umfeld, das von sexuellem Missbrauch geprägt war. Er machte mich von klein auf zu seinem Opfer. Es gab keine Hoffnung für mich.

***

In meinen frühesten Erinnerungen gibt es die meiste Zeit nur Ma, die beiden Jungen und mich. Dad war sehr selten zu Hause, und wenn er schlechte Laune hatte, war das ganze Haus von einer düsteren Atmosphäre erfüllt. Dad verdiente das Geld und bezahlte die Rechnungen, und Ma kochte, putzte und sorgte für uns alle. Damals wurde alles von Hand gemacht, und deshalb war die Hausarbeit zehn Mal schwerer als heute. Ich werde den Tag nie vergessen, an dem Dad mit einer Waschmaschine ankam: Von da an brauchten die Frotteewindeln nie wieder mit der Hand in einem Eimer gewaschen zu werden.

Dad hielt sich für den besten Ehemann der Welt, wenn er Ma solche modernen Haushaltsgeräte schenkte. Er lächelte so breit, dass ich mich fragte, warum sein Gesicht nicht auseinanderbrach. Von da an hatten alle seine Geschenke mit dem Haushalt zu tun. Natürlich hatte meine Ma wie die meisten Frauen nichts gegen Geräte, die ihr das Leben erleichterten, einzuwenden, aber als sie zum Geburtstag und zu Weihnachten nichts anderes mehr bekam, war sie vermutlich nicht allzu glücklich.

Ich war ungefähr drei Jahre alt, als wir von Ballsbridge nach Fairview am nördlichen Rand von Dublin zogen. Das war 1970. Damals bedeutete das einen Aufstieg.

Das neue Haus war eine Doppelhaushälfte – ein Eckhaus – mit Garage. Zu beiden Seiten der kleinen Sackgasse standen zehn Häuser. An unserem Ende der Siedlung war eine hohe Mauer, hinter der ein Obstgarten lag. Dieser Garten war ein wunderbarer Ort für uns Kinder. Im Laufe der Jahre haben die meisten von uns irgendwann bei dem Pfarrer und seiner Haushälterin, die dort wohnten, das eine oder andere Mal Äpfel geklaut.

Unser Haus in Fairview war recht ansehnlich. Es hatte, soweit ich mich erinnere, ein geräumiges Gästezimmer, ein Wohnzimmer und eine kleine Küche. Meiner Ma gefiel es sehr, und sie war froh darüber, das alte, feuchte Backsteinhaus in Ballsbridge los zu sein.

Ich fand meine ersten Freundinnen in dieser Siedlung in Fairview. Ich spähte durch das Gartentor vor dem Haus auf die Straße hinaus und sah eine Reihe von neugierigen kleinen Gesichtern, alle ungefähr in meinem Alter.

Sie schnatterten durcheinander und stellten mir alle möglichen Fragen, wie Kinder es tun. Sie waren fasziniert von meinen blonden Haaren und blauen Augen, und immer wieder schoben sie ihre dünnen Ärmchen durch das vergitterte Tor, um mein Haar zu berühren und festzustellen, ob es nicht nur anders aussah, sondern sich auch anders anfühlte als ihr eigenes, braunes Haar. Diese Mädchen sollten zum harten Kern meiner Grundschulbande werden.

In jenem ersten Sommer in Fairview bestand meine Garderobe aus winzig kleinen Shorts, Röcken und Kleidchen, die kaum meinen Slip bedeckten. Dieses Alter der Unschuld sollte aber nicht lange dauern. Mein Gott, wenn ich daran denke, wie gut es meinem Vater gefallen haben muss.

Fairview war eine wunderbare Gegend, um dort aufzuwachsen. Ich war dort glücklicher als an allen anderen Wohnorten, trotz allem, was hinter den geschlossenen Türen unseres Hauses vor sich ging. Ich liebte meine kleinen Freundinnen. Wir waren eine eng verschworene Gemeinschaft. Wenn eine große Gruppe von Kindern zusammen aufwächst, gibt es zwangsläufig hin und wieder Streit, aber wenn wir uns einmal zankten, waren wir am nächsten Tag doch wieder Freundinnen. Es gab immer einen Weg, sich bei den anderen wieder beliebt zu machen. Wenn man demnächst Geburtstag hatte, konnte man beispielsweise sagen: »Wenn du nicht mehr mit mir spielen willst, darfst du auch nicht auf meine Feier kommen.« Das geschah nicht aus Gemeinheit, es ging vielmehr darum, seine Überredungskraft zu nutzen. Und was auch passieren mochte, wir gingen alle auf jeden Kindergeburtstag.

Diese Geburtstagsfeiern waren damals ziemlich schlicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich von meinen Freundinnen teure Geschenke bekommen hätte; ich glaube, wir haben einander überhaupt nichts geschenkt. Das Aufregende an einer Feier bestand darin, dass man ein Jahr älter wurde und so viele Süßigkeiten und Limonade bekam, wie man herunterbrachte. Wir waren einfach glücklich, wenn wir miteinander spielen und uns mit süßen Sachen vollstopfen konnten. Und ob man wollte oder nicht, man bekam immer ein Stück Geburtstagstorte in eine Serviette gewickelt, das man mit nach Hause nehmen durfte.

Ma enttäuschte uns nie, wenn es um Torten und Partys ging. Der Tisch bog sich unter Popcorn, Biskuitschnitten, bunten Törtchen und – meine Lieblingsleckerei – Schokokonfekt mit Rice Krispies. Noch heute, als Erwachsene, finde ich, eine Party ist erst dann eine Party, wenn das Rice-Krispie-Konfekt auf dem Tisch steht.

Das hochwichtige Ausblasen der Kerzen war der Gipfel der Aufregung. Meistens schlich sich einer meiner Brüder hinter mich und pustete sie mit mir zusammen aus; das bedeutete, dass mein Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde. Wir bekamen uns kurz in die Haare, Ma versuchte, uns auseinanderzubringen, dann wurden die Kerzen noch einmal angezündet und meine Brüder scharf verwarnt.

Danach spielten wir alle möglichen Spiele wie Reise nach Jerusalem oder das Statuenspiel, bei dem alle Kinder in einer Pose erstarren mussten, wenn die Musik unterbrochen wurde. Nicht selten endeten die Spiele mit Tränen: Ein Kind weinte, weil es nicht gewonnen hatte, und schwor Stein und Bein, es habe sich nicht bewegt, obwohl alle es gesehen hatten.

Im Rückblick erscheinen mir die Sommer meiner Kindheit sonniger, wärmer und länger als die heutigen, aber damals kam es auf das Wetter nicht so sehr an, denn wir spielten ebenso gern im Haus wie draußen. Wir besuchten uns gegenseitig, aber oft wartete ich, bis jemand mich zuerst besuchte. Wenn es draußen regnete, saß ich auch gern auf der Couch und sah fern. Aber sobald ich einmal draußen war, brachte man mich nur schwer wieder ins Haus. Dann fuhr ich mit meinen Freundinnen Fahrrad, wir übten Seilspringen oder schoben unsere Puppenwagen durch die Straße, wir spielten Schlagball oder Verstecken.

***

Ich benahm mich wie ein normales kleines Mädchen, aber ich war keins. Ich war immer angespannt, und wenn ich heute auf diese Zeit zurückschaue, glaube ich, ich hatte Angst. Selbst tagsüber wusste ich nie, was hinter der nächsten Ecke auf mich lauerte. Ich erinnere mich, wie ich eines Sonntags mit Dad zur Messe ging. Ma war an diesem Tag nicht da.

Meine Körpertemperatur stieg, und mein Gesicht begann zu glühen, als ich sah, wie er hinten in der Kirche von Fairview in Stellung ging. Zwei kleinere Mädchen standen hinter ihm. Ich sah, wie er seine gruselige Hand hinter seinen Rücken schob und eins der Mädchen anfasste. Ich betete zum Himmel, sie möge nichts sagen. Ich kannte sie nicht, und dafür war ich Gott dankbar, aber ich sah, dass er offenbar keine Angst hatte. Für das kleine Mädchen war die Messe an diesem Tag dagegen ein schreckliches Erlebnis.

Ich wusste nicht, was ich schlimmer fand: wenn ich sah, dass er das mit einem anderen Mädchen machte, oder wenn er es mit mir machte. Wenn er es mit mir machte, blieb es wenigstens im Verborgenen, aber wenn er es vor meinen Augen mit jemand anderem machte, war ich starr vor Schrecken.

Es war das erste Mal, dass ich sah, wie Dad ein anderes Kind anfasste. Damals wusste ich nicht, warum, aber ich fühlte mich körperlich krank.

Ich wusste nicht, ob dem Mädchen klar war, was da mit ihm passierte, aber ich nahm an, dass es sich schmutzig fühlte, denn so ging es mir immer, wenn er das mit mir machte. Mein kindlicher Verstand begriff nicht, was dahintersteckte; ich dachte, so etwas täten Daddys mit ihren kleinen Töchtern – aber nicht mit anderen Kindern.

Ich weiß noch, dass sie bleich wurde. Gleichzeitig wurde ich glühend rot, und ich konnte es nicht erwarten, aus der Kirche hinauszukommen. Ma bestand immer darauf, dass wir Papiertaschentücher im Ärmel hatten, und auf dem Weg nach draußen zog ich eins hervor und tauchte es ins Weihwasserbecken. Ich betupfte mein heißes Gesicht damit, um es abzukühlen und vielleicht auch ein bisschen von meiner Scham und meinem Entsetzen wegzuwaschen. Dad spazierte einfach hinaus, als sei nichts passiert. Anscheinend hatte er seinen Spaß gehabt, und alles andere war unwichtig.

Ich erinnere mich, dass ich nach der Schule oft müde war. Dann kam ich nach Hause, legte mich auf die Couch, und das war’s dann: Ich verschlief den ganzen Nachmittag. Es wurde zu einer Gewohnheit, die während meiner ganzen Schulzeit anhielt. Nachts fand ich nie viel Schlaf, und tagsüber konnte ich mich nicht wach halten. Es war ein Symptom dafür, dass meine innere Uhr völlig durcheinander war. Die meisten Kinder schliefen gleich ein, wenn sie zu Bett gegangen waren, ich jedoch nicht. Mir graute vor dem Zubettgehen, weil ich wusste, dass Dad bald nachkommen würde.

Anfangs lag ich da und wartete auf ihn, und meine Muskeln waren starr vor Anspannung. Wenn sich dann die Tür öffnete, entspannte ich mich – nicht vor Erleichterung, sondern damit er glaubte, ich würde schlafen, und mich in Ruhe ließ. Aber das war vergebliche Mühe, Dad ließ sich davon nicht abhalten. Wenn er mit mir fertig war, erwachte ich wieder zum Leben und war die ganze Nacht hellwach. Wie hätte ich auch einschlafen können? Meine Gedanken waren verseucht von dem Gefühl, schmutzig zu sein. Stundenlang lag ich wach und hing düsteren Grübeleien nach.

In den frühen Morgenstunden schlief ich meist ein, nur um bald darauf wieder geweckt zu werden. Am folgenden Tag war ich dann so erschöpft, dass ich einen langen Nachmittagsschlaf brauchte, um mich psychisch wieder aufzuladen.

***

Meine frühesten Erinnerungen an die Schule stammen aus der Zeit, als ich sechs Jahre alt war. An den Kindergarten kann ich mich nicht gut erinnern, wohl aber an das erste Schuljahr an der St. Mary’s National School in Fairview, und gern denke ich an meine Lehrerin, Mrs Ray, zurück. Sie war genau die Sorte Lehrerin, die alle Kinder lieben. Sie hatte viel Verständnis für Kinder, und ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals mit jemandem geschimpft hätte. Wenn sie Geburtstag hatte, bekam jedes Kind ein Geschenk. Ich sehe das gelbe, elastische Haarband noch vor mir, das sie mir schenkte, damit ich mein blondes Haar zurückbinden konnte. Dieses Haarband habe ich jahrelang aufgehoben.

Die Schule machte mir großen Spaß, trotz allem, was zu Hause mit mir passierte.

Meine Hausaufgaben schaffte ich immer, und bald liebte ich das Lesen und Schreiben. Mathematik fiel mir ziemlich leicht, und so war ich alles in allem eine gute Schülerin. Schon in der ersten Klasse hing ich an Mrs Rays Lippen und tat, was ich konnte, um ihr zu gefallen. Alle Aufmerksamkeit, die sie mir schenkte, war wie ein Sonnenstrahl in meinem Leben. Wenn sie meine Hausarbeit mit einem roten Stift abhakte – was Sehr gut bedeutete –, war ich im siebten Himmel. Aber im Laufe des Jahres reichte ihre Anerkennung nicht mehr aus, um mich glücklich zu machen. Ich fühlte mich zunehmend gestresst und anders als die anderen Kinder. Das Gefühl der Leere wurde intensiver. Ich litt an Depressionen, aber mit sechs Jahren konnte ich nicht wissen, was dieses Wort bedeutete.

Ich hatte viele Freundinnen, aber das änderte nichts an dem Gefühl des Schmutzigseins, das oft in mir aufstieg. Ich wusste nie genau, wie ich es beschreiben sollte, aber ich fühlte mich innerlich leer und schwarz bis ins Mark. Dieses Gefühl verließ mich nie. Es erfüllte mich jeden Tag, in jeder Stunde, in der ich wach war. Erst in späteren Jahren begann ich, dieses Gefühl nach und nach zu verstehen, aber damals konnte ich es natürlich nicht einordnen. Ich lernte einfach, damit zu leben. Es fing an, meine Freude an der Schule zu beeinträchtigen, und ich erkannte, dass die Schule diese Leere in mir nicht füllen konnte. Weil ich nachts so wenig schlief, war ich auch im Unterricht müde und konnte mich nicht mehr gut konzentrieren.

Eine Freundin fand heraus, wie leicht es war, dem Unterricht fernzubleiben, und so fingen wir an, die Schule zu schwänzen. Das war für mich zugleich der Anfang vom Ende eines normalen Lebens.

***

Das Schuleschwänzen war eine Möglichkeit, die Kontrolle über mein Leben zu übernehmen und gegen das, was passierte, zu rebellieren, aber ich glaube, damals tat ich es nur, weil ich es konnte.

Von Woche zu Woche wusste ich nie, wann meine Freundin kommen und an die Tür von Mrs Rays Klassenzimmer klopfen würde, aber wenn ich das Klopfen hörte, packte ich meine Sachen. Anfangs gelang es mir einmal in der Woche, die Schule zu verlassen; dann geschah es zweimal wöchentlich, und bald kam ich an manchen Tagen überhaupt nicht mehr. Manchmal besorgte ich mir irgendwo eine Entschuldigung, in der stand, ich sei krank. Es war so einfach.

Stattdessen trieb ich mich in der Main Street von Fairview herum. In einer der Seitenstraßen standen Reihen von großen, dreigeschossigen Häusern mit breiten Treppen vor den Eingangstüren. Wenn ich früh genug kam, konnte ich eine der Milchflaschen klauen, die vor den Türen standen. Normalerweise trank ich keine Milch, aber mit dieser war es anders. Weil sie gestohlen war, erschien sie mir irgendwie kostbarer, und ich trank sie mit gierigen Schlucken. Bald geschah das täglich, und genau wie das Schuleschwänzen war es ein prickelndes Abenteuer.

Ich stahl auch leere Limonadenflaschen aus den Kästen hinter den diversen Läden, um an Geld zu kommen. Ich brachte die Flaschen zu der Frau hinter der Theke und kassierte das Pfand. Ich glaube, ich bekam einen Penny pro Flasche. Ich klapperte mehrere Geschäfte ab, und wenn ich genug Geld zusammen hatte, kaufte ich mir Süßigkeiten – Brausestäbchen, Karamellbonbons, Lakritzkugeln und Fruchtgummis. Am liebsten hatte ich die Bonbonmischung aus den großen Gläsern mit den schwarzen Deckeln: saure Apfeldrops, Hustenbonbons und gefüllte Minzbonbons.