Unser Schmidt - Theo Sommer - E-Book

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Theo Sommer

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Beschreibung

"Politiker und Journalisten haben eines gemeinsam: Sie sollen heute schon über Dinge urteilen, die sie erst morgen verstehen." Helmut Schmidt "Das ist auch nicht schwieriger, als wenn man als Politiker in ein neues Ressort kommt und sich einarbeiten muss", sagte Helmut Schmidt, als er 1983 seinen Herausgeberposten bei der Zeit antrat. Ganz so einfach scheint es dann doch nicht gewesen zu sein, zumindest nicht für diejenigen, die bereits beim Blatt tätig waren. Er schärfte den Ressortleitern schon mal ein, "die Wohngemeinschafts- und Gossensprache der 68er-Generation" zurückzudrängen. Die konterten: "Eine Redaktion ist kein Ministerium." Dennoch: In dem Bestreben, eine tolerante, weltoffene Zeitung zu machen, herrschte Einigkeit. Pointiert und unterhaltsam zeichnet Theo Sommer den Aufstieg Helmut Schmidts zur politisch-moralischen Instanz nach.

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Theo Sommer

Unser

    Schmidt

Der Staatsmann und

der Publizist

1. Auflage 2010

Copyright © 2010

by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

www.hoca.de

Satz: atelier eilenberger, Leipzig

ISBN 978-3-455-30720-7

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

Dem Freund

Inhalt

Vorwort     9

Einleitung    13

Vom Kanzleramt ins Pressehaus     29

Herausgeber und Verleger:

Wie Helmut Schmidt zur ZEIT kam     31

Der Staatsmann und die Journalisten     46

Der Zeitungsmann     65

Der Staatslenker und Staatsdenker     77

Der Deutschlandpolitiker     79

Der Europapolitiker     132

Der Verteidigungs- und Sicherheitspolitiker     175

Der Außenpolitiker     225

Der Wirtschaftspolitiker     251

Der Hanseat     286

Der Philosoph im Politiker     305

Ein Gespräch mit Helmut Schmidt     349

»Miles to go before I sleep« – Bilanz zweier Leben:

Rückblick und Ausblick     351

Anmerkungen     381

Literatur     415

Vorwort

Darf man ein Buch über einen Freund schreiben, der eine Gestalt der Zeitgeschichte ist? Ich habe mir die Antwort auf diese Frage lange überlegt, als Dr. Ulrich Ott von der ING-DiBa mit der Idee an mich herantrat, ein Buch über den Publizisten Helmut Schmidt zu schreiben. Die ING-DiBa vergibt seit 1996 jährlich den Helmut-Schmidt-Journalistenpreis. Die Idee faszinierte mich, denn ich hatte in den bald achtundzwanzig Jahren, die Schmidt jetzt schon bei der ZEIT ist, eng mit ihm zusammengearbeitet, als Chefredakteur zunächst, dann zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff im Herausgeber-Kollegium, seit 2001 schließlich als Editor-at-Large, eine Art Altchefredakteur neben dem Altbundeskanzler. Nach reiflicher Überlegung sagte ich ja.

Zwei Gründe gaben für meine Entscheidung den Ausschlag. Zum einen war unsere Freundschaft stets eine Freundschaft auf kritische Distanz. Sie schloss weder Objektivität aus noch – bei weitreichender Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen – voneinander abweichende Ansichten. Ich traute mir den gebotenen inneren Abstand zu. Zum anderen war ich mir sicher, als ZEIT-Zeuge das Wirken des Publizisten Schmidt beschreiben und zugleich als studierter Historiker seine Ansichten und seinen fortdauernden Einfluss auf die deutsche Politik wie auf die deutsche öffentliche Meinung sachlich analysieren zu können. Ich hoffe, dass diese Selbsteinschätzung den Lesern dieses Buches gerechtfertigt erscheint.

Ich muss hinzufügen: Es ist ein ganz anderes Buch geworden, als im ersten Ansatz geplant war. Je mehr ich mich vertiefte in die staunenswerte Fülle von Helmut Schmidts Artikeln, je intensiver ich die Mitschnitte seiner Fernsehauftritte studierte und je faszinierter ich mich in seine Vortragstexte einlas, desto klarer wurde mir, dass die Beschränkung des Themas auf das, was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt öffentlich von sich gegeben hat, nicht den ganzen Schmidt würde widerspiegeln können. Als er 1983 in den ZEIT-Verlag eintrat, war er ja kein unbeschriebenes Blatt. Seine publizistischen Äußerungen sind nicht zu verstehen, wenn man nicht sein Denken, Handeln und Entscheiden in den Ämtern mit einbezieht, die er vor seinem Seitenwechsel von der Politik in die Publizistik bekleidet hatte. Dies wiederum machte es erforderlich, zum besseren Verständnis den zeitgeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten, vor dem der Deutschlandpolitiker, der Europapolitiker, der Sicherheitspolitiker, der Außenpolitiker und der Wirtschaftspolitiker, aber auch der Hanseat und der Philosoph im Politiker Schmidt agierte, reagierte, regierte und räsonierte. Auf diese Weise hat sich das thematische Panorama dieses Buches zwangsläufig ausgeweitet. Aus dem Porträt des Publizisten Schmidt ist eine Darstellung auch des Staatsmanns Schmidt geworden – und darüber hinaus, gespiegelt in einer Person der Zeitgeschichte wie der ZEIT-Geschichte, ein Stück bundesrepublikanischer Historie vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Welt.

Vielen schulde ich Dank. Ohne ihr Interesse und ihre Unterstützung wäre es mir nicht möglich gewesen, das Manuskript binnen acht Monaten zu vollenden. Für großzügige Förderung und anregende Begleitung meiner Arbeit danke ich vor allem Dr. Ott und der ING-DiBa, deren Kommunikationschef er ist. Mein Dank gilt den ZEIT-Kollegen, deren Erinnerungen und Erfahrungen mit Helmut Schmidt mir viel Stoff geliefert haben und die es hinnahmen, dass ich eine Zeit lang mehr in meiner Schreibklause zubrachte als in der Redaktion. Er gilt all denen, die mir hilfreiche Kritik und Anregungen haben zuteilwerden lassen, allen voran Haug von Kuenheim, aber auch Giovanni di Lorenzo, Nina Grunenberg und Robert Leicht, ferner Miriam Zimmer und Kerstin Wilhelm von der ZEIT-Dokumentation, deren verlässlicher Findigkeit ich die rasche Auffüllung verschiedenster Beleglücken verdanke. Von besonderem Wert war mir darüber hinaus die Hilfestellung, die mir Mario-Gino Harms bei der Beschaffung von Unterlagen aus dem Archiv der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg unermüdlich geleistet hat. Nicht zuletzt danke ich meiner Assistentin Barbara Knabbe, die das Manuskript durch all seine mannigfachen Metamorphosen betreut und ihm so nachsichtig wie geduldig an ihrem Computer Gesicht und Gestalt gegeben hat, und Kathrin Liedtke für ihr einfühlsames Lektorat. Um Nachsicht bitte ich auch meine Familie, die unter den Geburtswehen dieses Buchprojekts mehr zu leiden hatte als der Autor selber.

Zu danken habe ich schließlich all denen, die vor mir über Helmut Schmidt geschrieben haben: unter den journalistischen Biographen Sibylle Krause-Burger, Hans-Joachim Noack, Martin Rupps, Michael Schwelien, Mainhardt Graf von Nayhauß, der Brite Jonathan Carr und der Franzose Dominique Pelassy. In erster Linie gilt mein Dank jedoch dem Heidelberger Historiker Hartmut Soell, dessen magistrale zweibändige Schmidt-Biographie eine schier unerschöpfliche Quelle von Fakten und Einsichten ist. An etwaigen Stärken dieses Buches haben sie alle ihren Anteil. Etwaige Schwächen habe ich allein zu verantworten.

Theo Sommer

Hamburg, im August 2010

Einleitung

Vor einem halben Jahrhundert, im Sommer 1961, bin ich Helmut Schmidt zum ersten Mal begegnet. Ich reiste von der Jahreskonferenz des Londoner Instituts für Strategische Studien aus Genf nach Hamburg zurück, als der zweiundvierzigjährige SPD-Politiker in mein Schlafwagenabteil zustieg. Er bezog das untere Bett, ich das obere. Wir haben damals die halbe Nacht bei Fürstenberg-Pils miteinander geredet. Gesprächsstoff hatten wir genug. Für strategische Fragen hatte ich mich seit längerem interessiert. Im Herbst 1957 hatte ich für die ZEIT Kissingers Nuclear Weapons and Foreign Policy besprochen und hatte dann im folgenden Jahr für den jungen Harvard-Professor bei einem Auftritt im Hamburger Amerikahaus gedolmetscht, da er sich außerstande sah, Spezialausdrücke wie second-strike capability oder intermediate range missiles in seiner Muttersprache wiederzugeben (»Mit meinem Deutsch ist es wie mit meinem Gepäck: Es kommt erst morgen«, entschuldigte er sich). Auch hatte ich mich im Sommer 1960 in Kissingers International Summer Seminar an der Harvard University und danach als erstes deutsches Council-Mitglied des Londoner Institute for Strategic Studies intensiv mit strategischen Fragen beschäftigt. Schmidt und ich besaßen viele gemeinsame Bekannte in der strategic community. So fanden wir rasch Kontakt zueinander.

In jener Nacht im Schlafwagen habe ich zum ersten Mal Schmidts enorme Sachkenntnis bewundert. 1962 kam dann sein Buch Verteidigung oder Vergeltung heraus. Es verschaffte mir die Chance meines allerersten Fernsehauftritts; in der Wessel-Runde diskutierten Emil Obermann vom Süddeutschen Rundfunk, Hans Schmelz vom Spiegel und ich mit ihm über sein Werk – das erste überhaupt, das sich in Deutschland kompetent und autoritativ mit dem Thema auseinandersetzte. Eine lange Reihe langer Gespräche schloss sich in den folgenden Jahren an.

Im Herbst 1969 lud mich Schmidt ins Frankfurter Interconti am Main, wo er als designierter Verteidigungsminister in Willy Brandts Kabinett seine Mannschaft zusammenstellte. Schon 1966 hatte er mir angeboten, falls er Verteidigungsminister würde, mit ihm auf die Hardthöhe zu gehen, um im Ministerium eine Planungsabteilung aufzubauen und zu leiten. Nun kam er darauf zurück. Abermals bot er mir an, im Verteidigungsministerium einen Planungsstab einzurichten. Außerdem sollte ich eine »kritische Bestandsaufnahme« der Bundeswehr organisieren und das erste Weißbuch schreiben. Ich sagte zu und blieb – so war es von vornherein verabredet – ein knappes Dreivierteljahr. Es war eine kurze und wahnsinnig arbeitsreiche, aber aufregende und fruchtbare Zeit an seiner Seite.

Damals habe ich seine enorme Arbeitskraft zu bewundern gelernt. Ich sehe noch den Stapel von Vorlagen vor mir, auf zwei oder drei Teewagen vor ihm aufgebaut, die er nach all den Sitzungen, Truppenbesuchen und oft auch Parteiterminen bis weit nach Mitternacht durcharbeitete. Manchmal steckte ich frühmorgens um drei, wenn im Ministerbüro noch Licht brannte, den Kopf bei ihm hinein. Wir tranken einen dünnen Whisky und schickten einander dann ins Bett, denn für halb acht war schon wieder der erste Termin angesetzt. Von Schmidts Arbeitsweise habe ich damals übrigens viel gelernt. Problemidentifizierung, Definition der Notwendigkeiten und Möglichkeiten, Diskussion der Vorschläge, schließlich Beschluss und Umsetzung – das war eine Art von Führung, wie ich sie so nicht wieder erlebt habe, zugleich entschieden, offen für jede vernünftige Anregung, aber auch für jeden vernünftigen Einwand. Diskussion war für ihn ein notwendiges Element der eigenen Meinungsbildung und Beschlussfassung.

Wir blieben auch nach meiner Bonner Zeit in Fühlung. Einmal erlebte ich ihn wenige Jahre später, wie die Öffentlichkeit ihn nie zu sehen bekam: verbittert, wütend und zugleich reuevoll. Das war 1976, im Gästehaus des Hamburger Senats an der Alster. Er hatte ein paar Freunde gebeten, mit ihm den Entwurf der Regierungserklärung zu schmirgeln und zu polieren. Im vorangegangenen Wahlkampf hatte er, unvollkommen informiert oder schlecht beraten, eine Rentenerhöhung versprochen. Neue und unzweideutige Zahlen bewogen ihn dann, die Erhöhung zu verschieben. Das löste im Lande einen Proteststurm aus. Von »Rentenfiasko« und »Rentenlüge« war die Rede. Er machte einen Rückzieher. Im Entwurf der Regierungserklärung war davon nicht ein Wort zu lesen. Er wischte das Beamtenpapier unwirsch beiseite, stellte das Thema ganz an den Anfang und diktierte die großartigen Sätze: »Eine Regierung ist nicht unfehlbar. Dies behaupten nur totalitäre Regierungen von sich. Hingegen steht es einer demokratischen gut an, wenn sie klarer Kritik folgt.« Zwei Jahre später bekannte er: »Es ist bitter, solche Fehler einsehen zu müssen. Es ist bitter, sie öffentlich eingestehen zu müssen.«

Dann kam 1977 der »deutsche Herbst« des RAF-Terrors, der Mogadischu-Aktion, der Schleyer-Entführung. Helmut Schmidt hatte eine Reihe von Experten in den Kanzlerbungalow eingeladen, um über MBFR zu sprechen – die festgefahrenen Verhandlungen über Mutual and Balanced Force Reductions in Europa, die er wieder in Gang bringen wollte. Aber er kam nicht, oder lange nicht, denn an diesem Tag wurde bekannt, dass Hanns Martin Schleyer ermordet worden war. Er stieß erst zu unserer Gruppe, nachdem er die Rede aufgesetzt hatte, die er am nächsten Tag im Bundestag halten wollte. Ich habe ihn nie wieder dermaßen erschüttert, so unendlich müde, so schwermütig gesehen. »Ein großes Glas mit Eis und dann so viel Wermut, wie anschließend noch reingeht«, sagte er erschöpft zu der Ordonnanz; ich notierte mir den Satz auf einer Papierserviette. Am nächsten Tag nahm er vor dem Parlament in demutsvollem Bewusstsein von Versäumnis und Schuld die Verantwortung auf sich – ganz im Sinne von Max Webers Satz, dass alles Tun in Tragik verflochten sei. »Zu dieser Verantwortung stehen wir auch in der Zukunft«, sagte er und fügte hinzu: »Gott helfe uns!«

Einen ähnlich bitteren Moment erlebte ich dann im November 1983 mit, beim Kölner Parteitag der SPD nach Schmidts Abwahl ein Jahr zuvor. Da sprachen sich nur noch ganze sechzehn Delegierte für den von ihm 1977 mit einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies initiierten NATO-Doppelbeschluss aus. Die Geschichte hat Helmut Schmidt freilich recht gegeben. Zehn Jahre nach seiner Londoner Rede ist ihm der späte Triumph zuteilgeworden, dass die Mittelstreckenraketen – die sowjetischen SS-20 im Osten und die amerikanischen Pershings und Marschflugkörper im Westen – auf der Grundlage des von seiner Partei abgelehnten, aber dann von Helmut Kohl ausgeführten Doppelbeschlusses tatsächlich abgeschafft wurden. Seine Weitsicht, seine entschlossene Konsequenz zahlten sich aus.

Im Jahre 1983 kreuzten sich dann unsere Pfade aufs Neue. Im Mai jenes Jahres zog er als ZEIT-Herausgeber ins Pressehaus ein; seitdem sind wir Flurnachbarn. Da saß er nun in seinem bescheidenen Büro und begann eine zweite Karriere, ein zweites Leben. Es schloss sich nahtlos an das erste Leben an.

Als Helmut Schmidt im Mai 1974 unversehens Bundeskanzler geworden war, hatte ich ihn in einem ganzseitigen ZEIT-Artikel im neuen Amt begrüßt. Der Artikel war ungewöhnlicherweise in Briefform abgefasst und mit »Lieber Helmut« überschrieben – der Hamburger Anrede, die den Vornamen mit dem »Sie« verbindet, auf diese Weise zugleich Distanz ausdrückend und Freundschaft. Darin versuchte ich, die Klischees zu entkräften, die über Schmidt im Schwange waren: »Schneller Brüter«, »kühler Macher«, »Erfolgsmensch im Hans-Albers-Stil«, oder ahnungslose Bemerkungen wie: Augenmaß und Zähigkeit seien seine Sache nicht, typisch für ihn seien demonstrative Hektik und zelebrierter Stress; um Gottes willen keine Kontemplation. Der Auffassung, dass er ein reiner Pragmatiker sei, den nicht der Horizont interessiere, sondern nur der Streifen Terrain vor seinen Füßen, hielt ich schon damals entgegen, dass er durchaus in der Lage sei, jedermann die sittlichen Grundlagen seiner Politik sichtbar zu machen, und dass er sich oft von Vorstellungen leiten lasse, die letztlich einer rein philosophischen Wurzel entsprangen. Ich verglich ihn mit Franz Josef Strauß: »derselbe scharfe Intellekt, dieselbe angriffslustige Polemik, dieselbe Kunst der Rede«. Aber ich markierte auch den entscheidenden Unterschied: »Sie sind disziplinierter, konsequenter auch. Und anders als Strauß spielen Sie nicht so dicht am Rande der eigenen seelischen Abgründe. Ihre Selbstkontrollmechanismen funktionieren besser. Ihre Achtung vor dem Gesetz ist stärker entwickelt.« Ich schrieb: »Sie gelten als Atlantiker – und sind es gewiss auch. Aber das heißt nicht, dass Sie den Amerikanern alles durchgehen ließen; Sie haben da schon früher manches offene Wort zu Ihrem alten Bekannten Henry Kissinger gesprochen. [Mit Ihrem Freund Giscard d’Estaing] stehen Sie in der Pflicht, den festgefahrenen EG-Dampfer wieder flottzumachen.« Im Übrigen vertraute ich, was den Stil seiner Amtsführung anging, ganz seinem Instinkt: »Er wird nicht zulassen, dass Sie zum Heiligen stilisiert werden, wo Sie keiner sind.« Und ich schloss mit den Worten: »Seien Sie meiner freundschaftlichen Ergebenheit auch dann, auch dort versichert, wo die andere professionelle Warte mir Kritik abnötigen wird.«

Als Helmut Schmidt Kanzler wurde, war sein schwarzes Haar noch kaum angegraut; als er achteinhalb Jahre später gestürzt wurde, war es weiß geworden. Wie Metternich mag er sich als Arzt im großen Weltspital empfunden haben, der dem Elend nicht zu steuern vermochte. Er war nicht autoritär wie Adenauer. Er stürmte nicht heilsgewiss voran wie Brandt. Er setzte auf die Vernunft, der er mühsam eine Klientel zu schaffen suchte; ein schwieriges Unterfangen in einer Zeit, in der das Zerbröseln des gesellschaftlichen Konsenses Führung immer schwieriger machte. Aber Schmidt tat seine Pflicht, und er tat sie mit Anstand, Würde und Stil. Er versuchte, in der Politik einen Begriff von Ratio, Leidenschaftslosigkeit und Augenmaß aufrechtzuerhalten, der über den Parteien stand, auch über der eigenen Partei.

Sein Ausgangspunkt war schwieriger als der seiner Vorgänger. Eigentlich hatte er ja Baumeister werden wollen, aber als er ins Palais Schaumburg einzog, war das Zeitalter der Architektonik zu Ende. Die wesentlichen außenpolitischen Strukturen standen; die Einordnung der Bundesrepublik in das weltpolitische Grundmuster der Epoche war abgeschlossen. Konrad Adenauer hatte das westliche Deutschland erst in den Rahmen des europäischen Einigungswerkes eingepasst, dann in das Atlantische Bündnis. Der deutsch-französischen Versöhnung fügte er den deutsch-israelischen Wiedergutmachungsvertrag an, beides historische Ausgleichleistungen; im Inneren stellten er und Ludwig Erhard die Anfänge des heutigen Sozialstaates auf das solide Fundament einer marktwirtschaftlichen Ordnung, um deren Leistungsfähigkeit uns die Welt beneidete. Willy Brandt fügte dann in das Kontinuitätsgeflecht westdeutscher Außenpolitik die zweite Determinante ein: das Streben nach Kontakt mit Ostdeutschland und Osteuropa, nach Kooperation auch, wo immer die kommunistische Welt dazu bereit und fähig war; dies bei gleichzeitiger Vorsorge allerdings, dass der fortdauernde Rückhalt im Westen uns instandsetzte, auch Konfrontationen durchzustehen, die uns der Kreml aufzwingen mochte. Brandt beendete den Sonderkonflikt der Westdeutschen mit Osteuropa, indem er die »wirklich bestehende Lage« anerkannte. Ansonsten war er der Mann euphorisch angepackter Reformen, getragen von einer Aufbruchstimmung sondergleichen, die sich in dem hoffärtigen Satz seiner ersten Regierungserklärung widerspiegelte: »Wir fangen erst richtig an.«

Helmut Schmidt gestattete sich solchen draufgängerischen Opportunismus nicht. Die Zeit, in der er als Kanzler antrat, und die Welt, die er vorfand, waren auch nicht danach. Die Ölkrise vom Herbst 1973 hatte die Szenerie von Grund auf verändert. Unter diesen Umständen musste Schmidt allen Baumeister-Ehrgeiz beiseiteschieben und sich ganz aufs Bewahren, Zusammenhalten, Stützen und Stabilisieren verlegen. »Konzentration und Kontinuität« war seine erste Regierungserklärung überschrieben, »Das Erreichte sichern« die zweite (1976), »Mut zur Zukunft« die dritte (1980). Keine Regierung fange bei null an, und keine könne Wunder vollbringen, war seine Antrittsbotschaft: »Das Mögliche aber muss sie mit aller Kraft verwirklichen.«

Von Friedrich Schiller stammt das schöne Wort: »Wer Großes leisten will, muss tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden, standhaft beharren.« Nach diesem Maßstab hat Helmut Schmidt Großes geleistet. War er auch ein großer Kanzler? Im Rahmen dessen, was in seiner Ära möglich war, ist er das sicherlich gewesen. »Ein jegliches hat seine Zeit«, sagt der Prediger Salomo, »Pflanzen und Ausrotten, Würgen und Heilen, Brechen und Bauen.« Helmut Schmidts Kanzlerzeit verlangte Bewahren, Weitermachen, Vertrauen sichern. Er verweigerte sich dem nicht. Doch indem er das Werk von Konrad Adenauer und Willy Brandt fortsetzte, umsetzte in Praxis und Alltag, einsetzte für die Lebenszwecke der Bundesrepublik, etablierte er recht eigentlich erst eine bundesrepublikanische Staatsräson und eine fortwirkende Tradition Bonner, später Berliner Regierungshandelns. Wenn er – in einer Festrede zum neunzigsten Geburtstag von Richard von Weizsäcker1 – mit Genugtuung die Kontinuität der deutschen Politik auf allen wesentlichen Feldern hervorhob, zumal ihre Stetigkeit und Berechenbarkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Europapolitik und der Friedenspolitik, so wird man mit Fug und Recht sagen dürfen, dass er als Kanzler dafür den Grundstein gelegt hat. Seine herausragende Leistung bestand darin, dass er die Westdeutschen in die Normalität einübte, sie an das Unspektakuläre gewöhnte und ihnen Sinn für das Mögliche gab. Was bis dahin parteipolitisch bitter umstritten war, verschmolz unter ihm zu einer erkennbaren und handhabbaren Einheit: Westpolitik und Ostpolitik, Bündnistreue und Nachbarschaftspflege, Verteidigungswille und Abrüstungswille. Und mehr als irgendeiner seiner Vorgänger baute er, die heraufdräuende Globalisierung früh erkennend, die Bedürfnisse der westdeutschen Wirtschaftskraft in das weltpolitische Konzept der Bundesrepublik ein.

Mit eindringlicher Beredsamkeit vertrat Helmut Schmidt das deutsche Grundinteresse, vermeidbare Konfrontationen zwischen den Blöcken auch tatsächlich zu vermeiden, da dem Ziel eines möglichst problemlosen Nebeneinanders der beiden deutschen Staaten, geschweige denn dem Fernziel der Wiedervereinigung, mit Krisen nicht genützt wäre. Dabei war ihm klar, dass Neues kaum noch zu konstruieren war, sondern dass es nun darauf ankam, die »stille Einhaltung und volle Anwendung« der Ostverträge durchzusetzen. Den Europäern in beiden Lagern wies er die Aufgabe zu, stets von neuem mäßigend auf ihre jeweilige Vormacht einzuwirken und bei aller Sorge um die eigene Sicherheit doch die Zukunftsperspektive der Zusammenarbeit offenzuhalten. So kämpfte er an der Seite Giscard d’Estaings wie ein Löwe darum, dass die Folgen der sowjetischen Afghanistan-Invasion Ende 1979 nicht auf Europa durchschlugen. Dem Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau schloss er sich an, doch verweigerte er sich zu Carters Zeiten wie in der Ära Reagan jedem Handelskrieg gegen die Sowjetunion und das unter Kriegsrecht stehende Polen; auch trieb er das westeuropäisch-sowjetische Erdgas-Röhren-Geschäft voran.

Die selbstbewusste Definition unserer vitalen äußeren und inneren Interessen, wie Schmidt sie 1986 in seiner Abschiedsrede vor dem Bundestag zusammenfasste, ist der Mehrheit der Bundesbürger längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Auf der Weltbühne vertrat er die deutschen und europäischen Anliegen mit respektheischender Konsequenz, Eloquenz und Effizienz. Er tat dies in einer Weise, die nicht nur der Bundesrepublik nützte, sondern darüber hinaus auch der Europäischen Gemeinschaft und der Welt jenseits ihrer Grenzen. Wie es sein Freund Giscard in der Zueignung eines Fotos ausdrückte, das in Schmidts Langenhorner Arbeitszimmer steht: »Pour mon ami, le chancelier Helmut Schmidt, dont l ’action est bénéfique pour l ’Europe et pour le monde«.

Nun ist historische Leistung allemal ambivalent. Den Stärken der Großen entsprechen ihre Schwächen. Adenauer hatte sie, Brandt hatte sie; Schmidt auch. An allen hat die Zeit ihre zermürbende Kraft gezeigt. Adenauer hatte sich selbst überlebt; Brandt verfiel in Lustlosigkeit; Schmidts Physis verweigerte ihm nach dem letzten Wahlsieg den Dienst. Geplagt von wiederkehrenden Ohnmachten und Herzstillständen, die erst ein im Oktober 1981 eingesetzter Schrittmacher beendete, versah er seine Amtsgeschäfte. Angeschlagen, wie er war, misslang ihm Entscheidendes. Er warf nur noch einen schmalen geistigen Schatten. Auf die Umweltbewegung, die Friedensbewegung, die Grünen und Alternativen reagierte er viel zu spät. Die notwendige Reform der Reform blieb im Ansatz stecken, die Anpassung der Wirtschaftspolitik an die neuen Umstände hinkte den Umständen hinterher. Eine Kabinettsumbildung brachte nur zutage, dass sich aus dem Unterholz der SPD Hochstämmiges nicht mehr zu entwickeln schien. Mit den Schmidt-Stimmen, die den Freien Demokraten über die Zehn-Prozent-Marke verholfen hatten, begannen Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff auf eigene Rechnung zu wuchern. Und in der SPD bröckelte die Unterstützung für den Kanzler zusehends ab.

Plagten ihn nie Zweifel an der Richtigkeit seiner Linie? »Nur die Dummen zweifeln nicht«, beschied er einen Frager. Zu spät ging ihm auf, dass er das in der nachdrängenden Generation aufkeimende Bedürfnis nach individueller Emanzipation und kreativem Handeln in der Politik unterschätzt hatte. An den Achtundsechzigern störte ihn deren »Primitiv-Marxismus plus Anarchismus plus Wille zur Gewalt«, ihre Schwärmerei, ihr Alleinseligmachungsanspruch. Die SPD wollte er nicht zu einem »Dachverband von Minderheitengruppen mit Minderheitenmeinungen« verkommen lassen. Er dachte vom Staate, nicht von der Gesellschaft her. Zu arbeitsbesessen, zu gründlich seien er und seine Altersgenossen wohl gewesen, bemerkte er Jahre später einmal, »um die Lockerheit, die Lässigkeit und die Lebenskunst der neuen Generation mitzuerleben und aufnehmen zu können«.2

Die Deutschen haben manchen Exkanzler erlebt, der bloß finster über die Hintergründe seines Sturzes sinnierte und spintisierte.

Nicht so Helmut Schmidt. Er blieb rastlos tätig, schrieb in siebenundzwanzig Jahren 270 tragende Artikel für die ZEIT, verfasste an die dreißig Bücher, reiste unablässig um die Welt, hielt unzählige Vorträge und trat häufig im Fernsehen auf. »Es treibt mich«, begründete er dies, »in die Debatte einzugreifen, um zu sagen, was nach meiner Meinung geschehen müsste.«3 Die Publizistik wurde für ihn, frei nach Clausewitz, zur Politik mit Einmischung anderer Mittel. Sie hielt ihn im Rampenlicht und ist unzweifelhaft der Grund dafür, dass er für viele Menschen im Lande zu einer glaubwürdigen Auskunftsperson, zum verlässlichen Ratgeber, ja: zum Idol, zum leuchtenden Vorbild geworden ist. Immer schon war er mehr als ein Politiker: ein Staatsmann nämlich. Heute sehen die Deutschen in ihm einen Menschen, der Orientierung gibt und Richtung weist. Sie vertrauen ihm. »Stil-Ikone, Querdenker, Weltethiker, Nationalheiliger« nannte ihn der Stern, »Moralinstanz und geistiges Geländer«. Und erläuterte: »Wo Schmidt draufsteht, ist Orientierung drin, denken die Menschen.«4 Nichts anderes meinte Richard von Weizsäcker, als er schrieb, hinter Helmut Schmidts Autorität stehe »eine lebenslange, gewaltige Arbeit mit sich selbst, ein Ringen mit den Konflikten des Menschen in seiner Zeit, eine Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Verstand und Gefühl, Leidenschaft und Disziplin, Interesse und Moral, Gesinnung und Verantwortung, dem großen Wurf und dem kleinen Schritt«.5

Während seiner Amtszeit war Schmidt nicht immer so hochgeschätzt. Da empfand manch einer seine Selbstdisziplin als Arroganz, seine Sachlichkeit und Nüchternheit als Kälte. Als er aus dem Amt schied, war sein Popularitätswert (»Gute Meinung« minus »Keine gute Meinung«) in den Allensbacher Umfragen von 60 im November 1977 auf 44 im September 1982 gesunken,6 die innerparteilichen Querelen hatten auch sein Ansehen lädiert. Anders heute: Als elder statesman hat er sich über allen Parteien als politisch-moralische Instanz etabliert. Noch immer wirft er einen langen Schatten auf die politische Bühne. Wie der Spiegel es hintersinnig ausdrückte: »Die Deutschen sind jetzt schlauer, auch weil sie wissen, was nach Schmidt kam.«7

Seine Volkstümlichkeit ist von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahr zu Jahr gewachsen. Noch im Jahre 2002 schrieb Martin Rupps: »Die Menschen sind von ihm nicht hingerissen. Schmidt erreicht ihre Köpfe, nicht ihre Herzen. Er wird geschätzt und respektiert, aber nicht verehrt und verklärt.«8 Aber schon 2005 war er nach einer Emnid-Umfrage für Discovery Geschichte der beliebteste Politiker der jüngsten deutschen Geschichte; 38 Prozent der Befragten trauten ihm am ehesten zu, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Im User-Ranking von Focus Online stand der Einundneunzigjährige an oberster Stelle der Top-3-Politiker. Die Süddeutsche Zeitung nannte Schmidt schon im Frühjahr 2004 das »Denkmal der deutschen Politik«9. »Helmut Schmidt ist heute der meistrespektierte Deutsche der Deutschen«, stellte im Sommer 2010 der Spiegel fest. »Für 83 Prozent der Bundesbürger verkörpert Helmut Schmidt das Deutschland, das sie sich wünschen. Und er genießt die höchste Achtung [...] Einem inzwischen einundneunzigjährigen Kettenraucher wird mehr Vertrauen entgegengebracht als dem Rest der politischen Klasse.«10 Volle 74 Prozent halten ihn für eine moralische Instanz; die höchste Quote. Bei der Antwort auf die Frage »Wer verkörpert ein Deutschland, wie Sie es sich wünschen?« lag Schmidt mit 83 Punkten einen Punkt hinter Günther Jauch und einen Punkt vor Joachim (Jogi) Löw.

Auf die Frage, warum er eigentlich so beliebt, so populär sei, gab Helmut Schmidt einmal mit einem Quäntchen Selbstironie zur Antwort: »Das liegt an meinen weißen Haaren. Die Leute glauben, wer weiße Haare hat, muss auch weise sein.«11 Ein andermal spöttelte er: »Das hängt damit zusammen, dass die Deutschen mit ihrer Führung nicht zufrieden sind. Dann konzentrieren sie sich eben auf zwei Greise« – auf ihn und auf Richard von Weizsäcker. Ihn kennzeichne die Gelassenheit des Alters, sagte er einem Interviewer, der ihn darauf hinwies, dass er laut Umfragen der Politiker sei, der am meisten Vertrauen genieße. »Wenn es stimmt«, wiegelte er ab, »liegt es daran, dass ich nicht mehr im Amt bin. Eine nachträgliche Vertrauenskundgebung.« Doch ist er sich durchaus im Klaren darüber, dass er seine überwältigende Popularität vor allem der Blässe der gegenwärtigen deutschen Führungsgarnitur verdankt. »Es ist die Empfindlichkeit eines Horst Köhler, es ist die Mutlosigkeit einer Angela Merkel, es ist die Kampfunlust eines Sigmar Gabriel, die den kühlen Schmidt heute fast cool wirken lässt«, befand Georg Diez in einem neueren Psychogramm im Magazin der Süddeutschen Zeitung.12

Ein Blick ins Internet bestätigt diesen Befund. Massenhaft finden sich dort Äußerungen wie: »Wie schön wäre es, einen Mann wie ihn zum Kanzler zu haben!« – »Wäre er doch bloß noch im Amt!« – »Diese Integrität fehlt seit seinem Abgang in der Politik.« – »Wunderbar, unser Altkanzler, wie er eben ist!« – »Es müsste viel mehr Helmut Schmidts geben«. Manche Blogger und Facebook-Kommentatoren verfallen in schiere Panegyrik: »Ein großer Deutscher, ein steter Mahner. Ach, hätten wir ihn doch als König von Deutschland!« – »Intelligenz, Integrität, Scharfsinn, Altersweisheit, profundes Geschichtswissen, Glaubwürdigkeit, bestechende Sprache, Humor und eine Prise Arroganz: Man zeige uns nur eine einzige vergleichbare Persönlichkeit, welche aktuell uns und unser Land angeblich zu unserem Besten vertritt!« – »Dieser Mann hat Charakter und Charisma und ist dazu noch schlau, smart und humorvoll.« – »Er hat es nicht nötig, irgendjemand nicht auf die Füße zu treten.« – »Solche Männer braucht das Land.« – »Schmidt-Schnauze for President!« – »Ehrenkanzler auf Lebenszeit!« – »Ich finde ihn so geil, seine Frau liebe ich auch.« – »Ein Freund des ehrlichen Worts. Wir können froh sein, dass er sich im hohen Alter noch als Patron der Deutschen verpflichtet fühlt.«

Gewiss gab es immer wieder auch einige abfällige Bemerkungen, vor allem auf den Webseiten der rechten Szene. Ein Beispiel auf terra germania: »Wieso bloß kriege ich so ein unzivilisiertes Kribbeln in meiner Faust, wenn ich den Schmidt blubbern höre. Ich weiß es nicht. Warum in aller Welt schiebt man den nicht in irgendein Altersheim und sediert ihn mit genug Kiffzeug, dann merkt er vielleicht selber irgendwann, wie überflüssig er ist.« Ein zweites Exempel: »Wo kandidiert Schmidt jetzt eigentlich? Im Altersheim für den Posten das Etagen-Ältesten?« Aber das sind seltene Ausnahmen.

Auf gequälte Weise respektvoll, wiewohl nicht unbedingt hämefrei, war die Analyse von Georg Diez, mit der die Süddeutsche das sechs Jahre zuvor von ihrem eigenen Magazin errichtete »Denkmal« bepieseln ließ. Der Autor nennt Helmut Schmidt einen »grand old Grantler«, Marcel Reich-Ranicki vergleichbar, »der so hochmütig ist wie Schmidt, der auch nie geliebt wurde, ganz im Gegenteil, und der erst jetzt, im hehren, aber auch harmlosen Alter verehrt und gefeiert wird«. Bei beiden werde betont, »dass sie ja sagen, was sie denken, was heute wohl tatsächlich eine Seltenheit geworden ist«; dass sie »mit klaren, einfachen Sätzen und Urteilen hantieren«; und dass, was sie sagen, »eh keine Konsequenzen mehr hat«. Der Text steckt voller kunstvoll gedrechselter feuilletonistischer Sottisen. Schmidt sei ein »Orakel ohne Agenda«, ein Dauergrummler, ein Kanzler-Performer, dessen Popularität seiner Schiffermütze, seinem Schnupftabak, seinem Schnodderton gelte, seinem Stil also, jedoch nicht dem Inhalt seiner Botschaften. Bewundert werde er weniger für das, was er sagt, als für die Art, wie er es sage.

Allein schon der französische Spruch »Le style c ’est l ’homme« könnte den SZ-Magaziner widerlegen. Außerdem spürt er selber, dass die Menschen sich in einer Zeit der Stillosigkeit nach ebensolchem Stil sehnen. Der Ernst, mit dem Schmidt seine Ansichten kundtut, die Gründlichkeit, mit der er sie belegt, und die schlichte Klarheit, mit der er sie formuliert, versöhnt selbst dort, wo man damit gar nicht übereinstimmt. Das ist wohl der eigentliche Kern des von Diez beschriebenes Phänomens »Schmidtismus«: die Suche nach einem Großvater – und nach seiner Autorität, seinen Ecken und Kanten, seiner Sachbezogenheit, Stetigkeit und Unerschrockenheit. Wie Georg Diez ganz richtig erkennt: »Es sind eben vor allem die Enkel, die Schmidt für sich entdeckt haben, die sich für Schmidt begeistern.« Im Angstjahrzehnt der Nullerjahre sei der Kult um ihn gewachsen. »Er hat im allgemeinen Wabern Gestalt gewonnen«, muss der Kritikus eingestehen. Und er trifft – bei aller Sichtbehinderung, die ihm seine eigenen Scheuklappen bescheren – den Nagel auf den Kopf, wenn er pointiert: »Die Sehnsucht nach Helmut Schmidt ist die Sehnsucht nach Politik.«

Dies ist ein Buch über Helmut Schmidt, den Staatsmann und den Publizisten. Ich habe mich auf diese beiden Facetten – Dimensionen? – eines Menschen beschränkt, beschränken müssen, dessen Profil noch von vielen anderen Wesens- und Tätigkeitsmerkmalen bestimmt wird, von Neigungen, Begabungen und Stärken, die hinter dem Bild der öffentlichen Persönlichkeit verborgen bleiben.

Auf Helmut Schmidt, unseren fünften Bundeskanzler, trifft in der Tat die Beschreibung »Einer wie keiner« zu. Er ist nicht nur ein Fachpolitiker; er ist ein Rundum-Politiker, der Erste in der Bundesrepublik, der zugleich in der Außenpolitik, der Sicherheitspolitik und der Wirtschaftspolitik sattelfest war. Ein kraftvoller Redner, der in jeder Situation, sei es im parlamentarischen Schlachtengetümmel, sei es vom Katheder oder auf der Kanzel, die richtige Tonlage traf. Ein Musikfreund, der Klavier spielt und Orgel; der für eine Schallplattenaufnahme zusammen mit Christoph Eschenbach und Justus Frantz ein Mozart-Konzert für drei Klaviere und ein Klavierkonzert Johann Sebastian Bachs einspielte, mit dem London Philharmonic Orchestra das Erste, mit den Hamburger Philharmonikern das Zweite; der Bach – »mein Lieblingskomponist« – huldigt und nach einem Konzertbesuch in der Leipziger Thomaskirche bekennt: »Kaum jemals habe ich tiefer gefühlt, was es bedeuten kann, ein Deutscher zu sein und [...] welches Glück aus der Musik fließen kann«; der obendrein über den Thomaskantor und seine Musik als »Rekreation des Gemüts« Verständiges und Verständliches einfühlsam vorzutragen weiß. Ein Kunstliebhaber, der auf die Frage, welche natürliche Gabe er besitzen möchte, zur Antwort gibt: »Malen können«; der El Greco und Emil Nolde und Ernst Barlach verehrt; und der Freundschaft pflegte mit dem Bildhauer Henry Moore und dem Maler Bernhard Heisig. Ein Bücherwurm auch, der unablässig zur Pflege der Lesekultur aufrief (»damit wir nicht zu einem Volk der Saturierten und Manipulierten werden«); befreundet mit Siegfried Lenz; ein Gegner indes der abschüssigen Bahn, die in Stumpfheit und Borniertheit führt. Ein Mann, der vor der Überflutung mit Fernsehen und Geräusch warnte, selber jedoch im Fernsehen als Interviewter vor der Kamera stets eine glänzende Figur machte und als Interviewer – siehe seine TV-Gespräche mit den Großen dieser Welt13 – vor exerzierte, wie auch in diesem Medium Qualität, Tiefgang und Seriosität zu fesseln vermögen. Ein politischer Akteur schließlich, der sein Handeln philosophisch fundierte; der über Immanuel Kant und Karl Popper in einer Weise zu reden verstand, dass die Philosophie-Professoren beeindruckt waren; der indes niemals die Bodenhaftung verlor – getreu seinem Motto: »Wir sollten die fernen Lichter nicht vergessen, aber hier und heute praktische Politik machen.«14

Vor fünfunddreißig Jahren hat Helmut Schmidt einmal in einer Rede gesagt: »Wahrscheinlich ist es zu allen Zeiten nicht leicht, unter den eigenen Zeitgenossen die überragenden herauszukennen und sie dann außerdem noch anzuerkennen.«15 Was ihn selber betrifft, so haben in Deutschland die meisten Zeitgenossen keinen Zweifel, dass er, der Staatsmann wie der Publizist, in die Kategorie der Überragenden gehört. Sie kennen ihn heraus und sie anerkennen ihn. Sie wissen: Deutschland wäre ärmer ohne ihn.

Vom Kanzleramt ins Pressehaus

Herausgeber und Verleger: Wie Helmut Schmidt zur ZEIT kam

Um ein Haar wäre Helmut Schmidt 1949 Journalist geworden. Nachdem er im Juni sein Examen als Diplomvolkswirt bestanden hatte, dachte er sich einige Zeitungsartikel aus, weil er hoffte, beim Hamburger Echo Beschäftigung zu finden. In dem vom Bombenkrieg ziemlich mitgenommenen Pressehaus am Speersort residierten damals neben dem Echo auch die Morgenpost, der Spiegel, die ZEIT, der Stern und die Zeitschrift Wild und Hund, die sich zunächst alle eine Rotationspresse teilten. Beim Ende 1966 eingestellten Echo spielte zu jener Zeit Herbert Wehner, der spätere SPD-Fraktionsvorsitzende, als Redakteur eine zentrale Rolle. Aber es wurde nichts aus Schmidts Vorhaben, weil die Zeitung ihn nicht haben wollte. So ging er zuerst in die Verwaltung der Hansestadt, dann in die Politik. Es dauerte vierunddreißig Jahre, bis er schließlich doch noch im Pressehaus landete.

Im Frühjahr 2008 ließ die ZEIT Helmut Schmidt aus einem besonderen Anlass hochleben: Am 1. Mai jenes Jahres war es ein Vierteljahrhundert her, dass der Altbundeskanzler als Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung zu dem Blatt gestoßen war. Mittlerweile gehörte er schon dreimal so lange zur ZEIT, wie er Bundeskanzler gewesen war; und zweimal so lange, wie er ein Regierungsamt innegehabt hatte. Ein Journalist geworden war er deswegen nicht; er blieb der Staatsmann, auch wo er Zeitungsartikel schrieb. Doch verstand er sich meisterhaft darauf, die Mittel der Publizistik zu nutzen, um seinen Ansichten und Einsichten Gehör zu verschaffen. Dabei schrieb er nie platte Politikerprosa, sondern hatte stets das Wohl des Gemeinwesens im Auge; ein aufklärerischer Republikaner, den die abwägende Ratio antrieb, nicht der wohlfeile parteipolitische Vorteil. Zu Recht ist von ihm gesagt worden, die policies, die politischen Kernfragen, seien ihm stets weitaus wichtiger gewesen als die politics, die Züge und Winkelzüge der partei- und personalpolitischen Geschäftigkeit.1 Darin lag seine enorme Wirkung begründet.

Als Publizist ist der Altbundeskanzler nicht nur ein Erfolgsautor geworden – er wurde im Lande zur Auskunftsperson, zum Vorbild, fast zur Ikone. »Helmut Schmidt sagt, was er denkt«, erklärte Jacques Schuster dies in der Welt. »Er hat keine Angst vor der Guillotine der politischen Korrektheit. Wahrscheinlich ist er deshalb so beliebt bei den Landsleuten. Hinzu kommt der Deutschen Sehnsucht nach dem Übervater. Andere Nationen morden ihre Väter, wir verlangen nach ihnen.«2 Nicht anders urteilte der Historiker Hans-Peter Schwarz: »Nach einem ersten Aufbegehren mit der ›Verrats‹-Kampagne gegen die FDP war Schmidt klug genug, sich aus dem Bundestag und der Parteiführung auf eine neue Ebene zurückzuziehen, die gleichfalls alles andere als unpolitisch war. [So] spielte er von dieser Plattform aus ein langes Vierteljahrhundert hindurch den alterfahrenen, noch immer bissigen Hecht im doch eher ruhigen Karpfenteich der deutschen politischen Publizistik, geistig völlig unabhängig, meinungsstark, scharfsinnig, schonungslos, aber stets mit sachlichen Argumenten.«3

Im Frühjahr 2010 erhielt der einundneunzigjährige Helmut Schmidt den Henri-Nannen-Preis für sein publizistisches Lebenswerk zugesprochen. »Seine Bücher, Leitartikel und Essays haben ihn in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer überparteilichen, nur dem Gemeinwohl verpflichteten Instanz werden lassen«, begründete der Stern-Chefredakteur Thomas Osterkorn die Verleihung. Die Meldung darüber überschrieb die Süddeutsche Zeitung mit drei Worten, die einem journalistischen Ritterschlag gleichkamen: »Einer wie keiner«.4

Es hat im Nachkriegsdeutschland manche Journalisten gegeben, die in die Politik gingen: Theodor Heuss, Willy Brandt, Herbert Wehner, Egon Bahr. Wenige nur sind den umgekehrten Weg gegangen. Der alte Bismarck, als er noch Reichskanzler war, hat gern über die »Preßbengels« geschimpft. Aber als der Pensionär im Sachsenwald lebte, wollte er vornehmlich journalistisch wirken. Sehr oft kam er nach Hamburg gefahren. In »Cöllns Austernstuben« traf er sich mit Emil Hartmayer, dem Eigentümer der Hamburger Nachrichten, der dem prominenten Ruheständler anbot, über das gesamte weiße Papier seiner Zeitung zu verfügen, und in Friedrichsruh diktierte er dessen Redakteur Hofmann zornige Leitartikel gegen seine Nachfolger in den Block, indirekt auch manches Hohnvolle über Wilhelm II. »Eine Zeit lang verfiel er ganz dem Journalismus«, schrieb einer seiner Biographen. »In summa war dieser Spätjournalismus Bismarcks kein glückliches Unternehmen.«5

Ähnlich hat Helmut Schmidt, als er noch in Amt und Würden war, über die »Wegelagerer« und »Indiskretins«6 aus der Medienzunft gelästert und ist dann ebenfalls auf die andere Seite der Barrikade gewechselt: in die Publizistik; sein Hartmayer war der ZEIT-Gründer Gerd Bucerius. Aber es gibt da doch einen großen Unterschied: Bismarcks Spätjournalismus war durchtränkt von Häme und Rachsucht, der Schmidts blieb, wie zuvor seine Politik, bestimmt von der Leidenschaft zur Vernunft. Und noch etwas unterscheidet die beiden schreibenden Exkanzler: Schmidts Publizistik war von Anfang an ein glückliches Unternehmen. Bei aller Kritik an den Medien glaubte er durchaus, »dass die Demokratie durch die Zeitung und am Bildschirm gedeihen kann«.7

Dass der Altbundeskanzler zur ZEIT kam, ist einem Geniestreich von Gerd Bucerius zu verdanken, dem Gründer und Inhaber des Blattes.

Im Sommer 1982 neigte sich die achtjährige Amtszeit des Bundeskanzlers Helmut Schmidt unübersehbar ihrem Ende zu. Die sozialliberale Koalition lag in Agonie. Auf zwei entscheidenden Politikfeldern hatte der Kanzler Probleme mit der eigenen Partei. Die SPD-Fraktion, der er im Juni die Leviten las, weigerte sich, seine Strategie der wirtschaftspolitischen Stabilisierung mitzutragen: mehr zu sparen also und die Neuverschuldung des Bundes (1982: 37,2 Milliarden D-Mark) zu reduzieren. Auch in der Sicherheitspolitik versagten Fraktion und Partei ihm die Gefolgschaft. Der von ihm angemahnte und angebahnte NATO-Doppelbeschluss von 1979 sah die Aufstellung von 572 US-Mittelstreckenraketen in Europa vor, 204 davon in der Bundesrepublik, sofern sich die Sowjets nicht in Verhandlungen überreden ließen, auf ihre ausschließlich die Westeuropäer bedrohenden SS-20-Raketen zu verzichten. Dieser Beschluss wurde nicht nur von den Grünen und der Friedensbewegung, sondern auch im eigenen politischen Lager immer heftiger angefeindet. Hätten die Freien Demokraten nicht mit dem »Scheidungsbrief« ihres Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff den Koalitionsbruch gezielt heraufbeschworen, wäre Helmut Schmidt wohl auch so schon bald der inneren Zerrissenheit der SPD zum Opfer gefallen.

Gerd Bucerius, von 1949 bis 1962 Bundestagsabgeordneter der CDU, war ein Mann mit politischem Instinkt. Er sah das Ende der sozialliberalen Koalition voraus; den Rücktritt des Kanzlers hielt er für möglich. Im Sommer 1982 bereits fragte er den ehemaligen Bundesbankpräsidenten Karl Klasen, mit dem beide befreundet waren, ob es vorstellbar sei, Helmut Schmidt als ZEIT-Herausgeber neben Marion Gräfin Dönhoff zu gewinnen.

Es erwies sich nicht nur als vorstellbar, sondern als machbar. Am 1. Oktober 1982 wurde der Bundeskanzler Helmut Schmidt per konstruktivem Misstrauen abgewählt, am 9. Oktober schon saß Bucerius bei ihm am Neubergerweg in Langenhorn. Es war das erste einer Reihe von Gesprächen, teils auf dem gelben Sofa im Bucerius-Büro, teils im Neubergerweg, einmal auch auf einem – zufälligerweise gemeinsamen – Flug nach Tokio. Dabei zimmerten sie eine Basis für die Zusammenarbeit. Freilich kamen dem Verleger zwischendurch doch immer wieder Bedenken, zumal als die SPD Helmut Schmidt für die Bundestagswahlen im März 1983 ein weiteres Mal die Spitzenkandidatur antrug und er vier Wochen lang mit der Frage rang, ob er sich nicht erneut in die Pflicht nehmen lassen müsse. Zwar erteilte er seiner Partei Ende Oktober eine Absage; zu tief war der Riss, der ihn von großen Teilen der SPD trennte. Auch erklärte er Bucerius, er wolle sich als elder statesman in der aktiven Politik beschränken, seinen Wahlkreis verteidigen, im Jahr eine, vielleicht zwei Bundestagsreden halten und im Übrigen aus der Parteispitze ausscheiden. Doch als der ZEIT-Inhaber erfuhr, dass Schmidt zehn Wahlkampfreden zu halten gedachte, schreckte er zurück. »Mit Marion Dönhoff war ich mir sofort einig«, schrieb er im Dezember an Schmidt: »Das waren zehn Reden zu viel. Schade, wir hatten uns auf die Zusammenarbeit gefreut; richtiger: uns viel davon versprochen.«

Bucerius übertrieb die ablehnende Haltung der Gräfin bei weitem. Zusammen mit dem Chefredakteur setzte die Herausgeberin vielmehr alles daran, Bucerius seine Zweifel auszureden. Doch der Verleger tat sich schwer mit seiner Entscheidung. Er schob sie vor sich her, und wie so oft in schwierigen Situationen flüchtete er sich in eine Angina. Am 17. Dezember schrieb er an Schmidt: »Eine fiebrige Halsentzündung hat mich wieder überfallen. Nach meiner Erfahrung bin ich Sonntag noch nicht wieder so hergestellt, dass ich mit klaren Gedanken verbindliche Abreden treffen kann. Vor allem geht es mir darum, Ihre Zukunftspläne zu erfahren und zu sehen, ob sie mit unseren Erfordernissen übereinstimmen. [...] Der Aufschub tut mir leid. Übrigens fliegen wir wohl in derselben Maschine nach Tokio.«8

Auf diesem Flug müssen die beiden manches geklärt haben. Letztlich war es dann wohl die Überzeugungskraft von Karl Klasen, die den Verleger dazu brachte, es trotz all seiner Bedenken zu versuchen. Am 31. Dezember 1982 schickte Bucerius dem in der Casa de los Musicos von Justus Frantz und Christoph Eschenbach auf Gran Canaria urlaubenden Bundeskanzler a. D. sein Angebot. »Lieber Herr Schmidt«, schrieb er, »darf ich Ihnen nach neuen Gesprächen mit Gräfin Dönhoff und Dr. Sommer meinen Vorschlag machen und begründen?« Die Begründung nahm sich eher merkwürdig aus – Bucerius war wohl der Einzige im Lande, der bei den bevorstehenden Bundestagswahlen einen Sieg der Sozialdemokraten für möglich hielt. Doch die Job-Offerte war eindeutig: »Einer im (dank Ihrer Hilfe: furiosen) Bundestagswahlkampf triumphierenden SPD kann man nicht außerdem noch als Trophäe die ZEIT mitgeben. ›DIE ZEIT geht mit dem Sieger‹, würde es dann heißen. Das wäre gegen die Tradition des Blattes. Bleibt aber eine CDU-Regierung (vielleicht mit der FDP), dann wäre es die Tradition der ZEIT, dem Gegner eine Plattform zu bieten, zum Beispiel als Herausgeber. Das also ist mein Vorschlag. Aufgabe der Herausgeber: Verlag und Redaktion zu beraten.«9

Zwei Jahrzehnte zuvor hatte Schmidt, ohne den Namen der ZEIT zu nennen, in einer Bürgerschaftsrede gesagt, diese »große politische und kulturelle Wochenzeitung« stelle eine Gipfelleistung des gegenwärtigen deutschen Journalismus dar: »Wenn es diese Wochenzeitung nicht gäbe, so wäre die Bundesrepublik auf publizistischem Gebiet spürbar ärmer.«10 Er wusste, wohin er kam.

Nach den Bundestagswahlen schlug er ein. Konkretes wurde nicht vereinbart. Lose war von »vier tragenden Artikeln im Jahr« die Rede. Zimmer plus Vorzimmer wurden im Pressehaus eingeplant; es solle »nicht repräsentativ« sein, hatte Schmidt gesagt. Ums Geld ging es ihm nicht, denn er war sich sicher, dass er mit Büchern und Vorträgen genug verdienen würde. Das gleiche Gehalt wie die Gräfin war seine Vorstellung; am ersten Zahltag ging ihm allerdings auf, wie bescheiden die Löhnung war und blieb. Ein schriftlicher Vertrag wurde nicht geschlossen – übrigens bis zuletzt nicht; ein Handschlag reicht unter Hanseaten noch immer aus.

Es war ein Coup für Bucerius, dass Helmut Schmidt nach der Wahlniederlage der SPD am 6. März 1983 Anfang Mai in die Führungsetage der ZEIT einzog, in das 16 Quadratmeter große Zimmer 605 im Pressehaus am Speersort. Dort residierte er bis 1995. Nach dem Tod des Verlegers bezog er ein paar Türen weiter im sechsten Stock dessen – auch nicht viel größeres – Eckbüro. Seitdem sitzt er dort zwischen prall gefüllten Bücherwänden an einem schlichten weißen Resopalschreibtisch. Originalkarikaturen erinnern an die Kanzlerzeit. Ein kleiner Konferenztisch und eine braune Sofaecke ergänzen die Einrichtung. Die Anspruchslosigkeit des Mobiliars wird durch den grandiosen Ausblick über die Hansestadt wettgemacht. Die Türme von vier Kirchen – St. Katharinen, St. Nikolai, St. Michaelis, St. Petri – stechen in den Hamburger Himmel, dazu der Rathausturm. Auf der anderen Seite fällt der Blick auf die Speicherstadt, die Kräne des Hafens und die im Wachsen befindliche Elbphilharmonie. Es konnte passieren, dass er Besucher dort auf den schmalen Balkon-Umgang führte und hinüberwies auf die Speichergebäude: »Wenn’s gutgegangen wäre, würde ich jetzt da drüben sitzen – als Hafendirektor.« Diese Karriere jedoch verbaute ihm Karl Schiller, sein vorgesetzter Senator, Anfang der fünfziger Jahre. Er sagte nein, als Schmidt das Angebot erhielt, Vorstandsmitglied der HHLA zu werden, der Hamburger Hafen-und Lagerhaus-AG – ein Grund, weswegen die beiden Männer später auch im Kabinett nicht immer leicht miteinander zurecht kamen.11

Das Panoramazimmer über den Dächern Hamburgs wurde Helmut Schmidt zur publizistischen Heimstatt und Werkstatt.

Begonnen hat er bei der ZEIT als Mitherausgeber – »eine Art Mercedes-Stern für den Redaktionskühler«, schrieb die Quick.12 Aber da täuschte sich die – 1992 eingegangene – Illustrierte. Neben Gräfin Dönhoff fand er bald seinen Platz. »Es macht mir Spaß«, schrieb er 1984 an Bucerius. »[Ich bin] bereit, in einer zunehmenden Weise mich zu engagieren.« Im folgenden Jahr machte ihn der Eigentümer neben Hilde von Lang zum Verleger und Geschäftsführer; der fast achtzigjährige ZEIT-Inhaber sah in dem zwölf Jahre Jüngeren seinen Nachfolger. Während sich Hilde von Lang um die laufenden Geschäfte kümmerte, oblagen Schmidt die Publizistik und die Personalauswahl. Er engagierte sich mit Lust und Macht. »Jede neue Aufgabe im Leben hat mir Spaß gemacht«, sagte er. »Ich bin Bucerius sehr dankbar, dass er diese Idee mit mir hatte.«13 Er schrieb programmatische Analysen und verschickte ungezählte Hausmitteilungen. Seine Korrespondenz mit Bucerius füllt mehrere Leitz-Ordner, und seine 5, 15 oder 29 Seiten langen Memoranden für den Chefredakteur hatten es in sich; auch die von ihm rasch diktierten Ergebnisprotokolle gemeinsamer Besprechungen. Unweigerlich gingen sie in die Einzelheiten. Dabei liebte Schmidt die Form der Punktation; zuweilen hakte er in solch einem Schriftstück zwanzig Punkte ab, mit Unterpunkten gelegentlich auch fünfzig.

Regelmäßig nahm er fast jede Woche an vier Treffen teil: den Konferenzen der Ressorts Politik und Wirtschaft, der »Käsekonferenz« des inneren Führungskreises am Freitagmittag und der Großen Konferenz der Gesamtredaktion am Freitagnachmittag. Auch bezog er in seinen Artikeln von Anfang an Stellung zu aktuellen Fragen. Den Freiraum der Redakteure engte er in keiner Weise ein; sie ließen sich auch nicht einengen. In Schmidt gewannen sie jedoch einen meinungsstarken, bestens informierten und international hochrangig vernetzten Diskussionspartner.

»Ich bin kein Chefredakteur«, wehrte Schmidt die Vermutung der Illustrierten Quick ab, er sei genau das.14 Doch zumal nachdem er 1985 Verleger geworden war, überschüttete er die Redaktion mit Vorschlägen und Ideen. Ein knapper Blick auf die allein in den Jahren 1986 und 1987 an die Chefredaktion gerichteten Vermerke enthüllt die Breite seines Interessen- und Einfallsspektrums. Teils waren seine Anregungen thematischer Art (die tatsächlichen Nöte »und nicht nur die eingebildeten« der Studenten auf der Bildungsseite zu schildern,15 Lage und Psyche der Stahlarbeiter zu beschreiben16 oder auch – schon 1987! – die Berichterstattung über den Treibhauseffekt, das Ozonloch, die gefährliche Emission von ChlorFluor-Kohlenwasserstoff und die Erderwärmung zu intensivieren. (»Hier sind die weltweiten Probleme der Energiepolitik und der Bevölkerungspolitik ineinander verzahnt.«)17 Weiter regte er ein Dossier über die psychologische Lage der Polizei an; und sehr früh schon drängte er auf eine ausführliche Beschäftigung mit dem Islam.18

Oft ging es auch um Personalfragen. Jeder Einstellungskandidat wurde Helmut Schmidt vorgeführt (wie zuvor Bucerius), und er nahm sich Zeit für die Gespräche mit ihnen. Ein Veto gegen die Vorschläge der Chefredaktion hat er nie eingelegt. Unter anderem stimmte er für die Einstellung von Matthias Horx, dem späteren Zukunftsforscher (»journalistisch sehr begabt«), für die Festanstellung von Christiane Grefe (deren Einstellung sie folgerichtig zu Attac führte) oder die Heranziehung von Rolf Breitenstein als Wirtschaftssatiriker.19 Aber auch um Organisationsfragen und um die Blattstruktur kümmerte er sich – etwa um die Vergrößerung des Börsenteils (da »breite Schichten des Mittelstandes und der Angestelltenschaft einen Teil ihrer Ersparnisse in Wertpapieren anlegen«20). Er wollte mehr Karten und Grafiken zur Erläuterung der Artikel,21 plädierte für ein ausführliches Inhaltsverzeichnis auf der letzten Seite des ersten ZEIT-Buches,22 setzte sich für die Einführung einer Seite »Kunstmarkt« ein23 und hätte gern, analog zu Theater- und Konzertkritik, eine regelmäßige Parlamentskritik im Blatt gesehen.24 Auch empfand er es – wie Bucerius – als wichtig, dass die ZEIT möglichst oft zitiert wurde.

Wie es sich für einen Verleger gehört, lagen Helmut Schmidt Stil und Richtung des Blattes sehr am Herzen. Da stand er auch unter dem Druck des Inhabers, der ihm häufig seine Sorge vortrug, dass das Blatt zu linksgewirkt werden könnte. Doch Schmidt empfand selber zuweilen Unbehagen, »wenn eine au fonds linke Einstellung vorgetragen wird«.25 So bat er, bei Neueinstellungen darauf zu achten, dass die jüngeren Redakteure nicht überwiegend aus Kriegsdienstverweigerern bestünden, eine derartige Besetzung müsse sich zwangsläufig auf die Tendenz der Zeitung auswirken. Zugleich legte er Wert darauf, dass die mittlere und ältere Generation der Redakteure »ausreichenden Einfluss« behielt; das gegenwärtige jugendliche Durchschnittsalter der Redaktion dürfe nicht »ungewollt zu relativ jugendlicher Betrachtungsweise führen«.26 Auch schärfte er den Ressortleitern ein, »die Wohngemeinschafts- und Gossensprache der 1968er-Generation zurückzudrängen, ebenso wie die zuweilen markante Überheblichkeit in Wortwahl und Ausdruck«.27 In diesem Sinne äußerte er sich auch in einem Gespräch mit dem Chefredakteur. Er vermerkte: »H. S. kritisiert eine Reihe von Artikeln, in denen die Tendenz oder die Wortwahl beanstandet wird. So Walter Jens’ ›Deutsche Mauern und Zäune‹ – schließlich hat Jens selbst dazu beigetragen, dass Atomkraftwerke mit hohen Zäunen gesichert werden müssen. So die ein halbes Dutzend Mal geschehene Zitierung des Wortes ›Tittensozialismus‹; so Pokatzkys kaum verhüllter Aufruf zum Boykottieren der Volkszählung; so die herabsetzenden Worte ›kuhäugiger Boris Becker‹; so der herab setzende Name ›Ratten- und Schmeißfliegen‹-Partei CSU; so die Tendenz des Artikels über Fahnenflucht. (Vergessen habe ich die Erwähnung Lenins als ›zutiefst demokratisch‹ im Feuilleton durch Jutta Scherrer, H. S.)«28 Auch glaubte er, eine zunehmende Anzahl von Artikeln wahrzunehmen, »die versteckt für die Grünen werben und die zum Teil ebenso in der taz hätten erscheinen können.«29 Seine Meinung war eindeutig: Die taz muss links von der ZEIT bleiben!30

Gegenüber dem Eigentümer jedoch federte er dessen Kritik an der Redaktion standhaft ab. Bei vielen Gelegenheiten entschärfte er den hochexplosiven Bucerius. Zum Beispiel, als das ZEITmagazin einmal eine ganze Ausgabe ausschließlich mit Fotos von Stühlen bestückte, Seite um Seite nichts als Fotos von Stühlen. Bucerius stürmte in Schmidts Zimmer und beschwor ihn: »Herr Schmidt, das dürfen Sie nicht zulassen!« Der aber riet dem Älteren weise zur Gelassenheit. Ein andermal schrieb er an den Chefredakteur: »Der Eigentümer ist besorgt darüber, dass die generelle Einstellung des Blattes zu einseitig werden könnte, und führt darüber häufig genug mit mir Gespräche oder macht Anmerkungen. Denjenigen Teil der Kritik, der mir einleuchtete, habe ich bei sich bietender Gelegenheit mündlich oder schriftlich an Sie oder in der Käsekonferenz oder in den Ressortkonferenzen von Politik und Wirtschaft weitergegeben. In manchen anderen Fällen habe ich dem Eigentümer meine eigene Auffassung in folgender Weise vorgetragen: Zur Zeit der Großen Koalition in Bonn fühlten wir uns sehr oft von der ZEIT von rechts aus kritisiert, in manchen Fällen fühlten wir uns zu Unrecht kritisiert. Es ist nur natürlich, dass bei einer Mitte-Rechts-Regierung die Kritik der ZEIT von einem eher linken Standpunkt aus erfolgt. Dies bleibt auch zukünftig meine Meinung.«31Die Redaktion sah es nicht anders. »Jede gute Zeitung muss mindestens 51 Prozent gegen die Regierung sein – einfach deswegen, weil die Regierung die Macht hat«, antwortete ich ihm; dies in Erinnerung an den Satz von Theodor Eschenburg, »Wo Macht ist, ist auch Unbehagen«, und in der Überzeugung, dass es eine der vornehmsten Aufgaben der Presse sei, dieses Unbehagen zu artikulieren. Ich setzte hinzu: »Im Übrigen sind wir keine öffentlich-rechtliche Anstalt, die nach dem formalen Prinzip der Ausgewogenheit verfahren muss. Allerdings wollen wir auch nicht in den Ruf der blinden Einseitigkeit geraten. Das freilich ist das Thema jeder Redaktionskonferenz.«32

Auch nach außen vertrat Helmut Schmidt das Recht der Redakteure auf ihre eigene Meinung – selbst in Fällen, wo er sie für »weitreichend abwegig« hielt (»Noch viel grüner geht es wahrscheinlich nicht!«). »Bitte verstehen Sie, dass die ZEIT ein breites Spektrum verschiedener Meinungen anbieten will«, schrieb er an den Bosch-Chef Hans L. Merkle, der sich bitter über einen Artikel von Reiner Klingholz beklagt hatte.33 Im gleichen Sinne beschied er einen Leser auf dessen Beschwerde hin: »Die ZEIT ist stolz darauf, dass die Meinung der Redaktion nicht von oben bestimmt wird, weder vom Verleger noch von den Herausgebern. Unsere Zeitung will die Beobachtungen und Ansichten einer Vielzahl unabhängiger Personen verbreiten; die Redakteure zeichnen jeden Artikel mit ihrem eigenen Namen. Durchaus sind sie bei der Beurteilung einer Frage oft unterschiedlicher Meinung. Immer wieder hat die ZEIT deshalb zu wichtigen Themen ganz verschiedene Ansichten abgedruckt, ein Pro und Contra.«34

In mancherlei redaktionellen oder verlegerischen Turbulenzen wirkte Helmut Schmidt als ruhender Pol. Mit Bucerius stimmte er weithin, wenngleich nicht in allem überein. Der klagte zwar der Quick einmal: »Anfangs hatte Schmidt vom Geschäft manchmal abenteuerliche Vorstellungen. Aber dann sagte man ihm: ›So geht das nicht.‹ Dies sah er sofort ein und vergaß es auch nicht. Er ist trotz seiner fast 68 Jahre ungeheuer lernfähig.«35Auf jeden Fall hatte Schmidt maßgeblichen Anteil an wichtigen Weichenstellungen für die ZEIT. So war er es, der Ebelin Bucerius, die in der Schweiz lebende Frau des Inhabers, dazu brachte, gegen Gewährung einer großzügigen Apanage auf das ihr im Todesfalle von Bucerius zustehende Erbteil zugunsten der ZEIT-Stiftung zu verzichten; für deren Zukunftssicherung war dies ein entscheidender Schritt. An einer Sachfrage allerdings schieden sich schon in den achtziger Jahren die Geister. Schmidt leuchtete nicht ein, dass Bucerius die ZEIT in ein größeres Verlagshaus einbringen wollte; er sah in der ZEIT-Stiftung die geeignetere Trägerin. Als Bucerius dabei blieb, die Stiftung und das Blatt rechtlich zu trennen, zog sich Schmidt 1989 aus der Position des Verlegers und Geschäftsführers zurück und blieb nur noch Herausgeber. Er billigte jedoch Mitte der neunziger Jahre den Plan des Eigentümers, den ZEIT-Verlag nach seinem Tod in die Hände eines größeren Medienunternehmens zu legen. Offenbar gab Schmidts Rat in diesem Falle sogar den Ausschlag. Für den greisen Bucerius analysierte er vier mögliche Kandidaten: Elseviers, Ringier, Bertelsmann und Holtzbrinck. Von den ersten dreien riet er ab. (»Bitte nicht, die wollen nur Geld machen. Dann muss ich das Haus verlassen.«) Nach einem dreistündigen Gespräch, das er in Stuttgart mit Dieter von Holtzbrinck führte, kehrte er mit einem positiven Eindruck nach Hamburg zurück.36 Die Verhandlungen wurden daraufhin so weit vorangetrieben, dass der Verkauf ein Jahr nach dem Ableben des ZEIT-Gründers 1996 vollzogen werden konnte.

Helmut Schmidt hätte der Zeitung als Sockel zur Erhöhung seiner Sichtbarkeit nicht bedurft, denn ihm standen vielerlei andere öffentliche Bühnen zur Verfügung: bis 1987 noch sein Sitz im Bundestag; das InterAction Council, ein einflussreicher Zusammenschluss von Staatsmännern außer Dienst, den er 1983 zusammen mit dem ehemaligen japanischen Ministerpräsidenten Takeo Fukuda ins Leben gerufen hatte; zeitweise der Ausschuss für die Europäische Währungsunion, den er 1986 gemeinsam mit Valéry Giscard d’Estaing gründete, um die stagnierende Entwicklung der EG voranzubringen; die von ihm gegründete Deutsche Nationalstiftung; das Kuratorium der ZEIT-Stiftung; die Neue Mittwochsgesellschaft in Berlin; jahrelang auch das Führungsgremium des Schleswig-Holstein Festivals (das einer gemeinsamen Initiative von Helmut Schmidt, Justus Frantz und dem damaligen schleswigholsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel entsprungen war, die dann mit tatkräftiger Unterstützung von Leonard Bernstein verwirklicht wurde). Außerdem hielt er sich als gefragter Redner über ein Vierteljahrhundert nach seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt im Rampenlicht – und dies weltweit; sein perfektes Englisch trug ihm Vortragseinladungen auf sämtliche Kontinente ein. Von Ende 1982 bis Anfang 2010 absolvierte er nach der Zählung seines Sekretariats 765 Rednerauftritte in der Öffentlichkeit. Und als Buchautor erreichte er mit seinen weit über dreißig Werken, sämtlich ohne Ghostwriter verfasst, in fünfundzwanzig Jahren ein Millionenpublikum. In seinem zweiten Leben wurde der Staatsmann zum Erfolgsschriftsteller. Eine vergleichende Analyse der Bestsellerlisten ergibt jedenfalls, dass Helmut Schmidt nicht nur der mit Abstand erfolgreichste schreibende Politiker oder politische Publizist ist, sondern dass er überhaupt in der Top-Riege der Sachbuchautoren einen herausgehobenen Platz einnimmt. Seine frühen, im Zeitraum 1961 bis 1982 veröffentlichten Titel, darunter sein erstes Buch Verteidigung und Vergeltung (1961) und Strategie des Gleichgewichts (1969), brachten es zusammen auf nicht mehr als 50 000 verkaufte Exemplare. Die 18 Titel jedoch, die er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt publizierte, wurden größtenteils zu Rennern. Schon die ersten Erinnerungsbände eroberten rasch die Bestsellerlisten. Allein Menschen und Mächte (1987) kam auf eine Gesamtauflage von 730 000. Es folgten Die Deutschen und ihre Nachbarn (1990) und Weggefährten (1996). Memoiren hat Schmidt nie schreiben wollen, doch die drei Bände fügen sich zu einem eindrucksvollen Erinnerungswerk, voller feinfühlig ziselierter Porträts, treffend skizzierter Problemsituationen, verständlicher Analysen schwieriger Fragen und, locker eingestreut, auch mit so mancher Aussage über sich selbst. In rascher Folge erschienen daneben und danach, um nur die wichtigsten zu nennen: Handeln für Deutschland (Schmidts wohl schärfstes Buch gegen die Regierung Kohl, 1993, Auflage 200 000), Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral (1998), Globalisierung (1998), Die Selbstbehauptung Europas (ein leidenschaftliches Plädoyer für die europäische Einigung, 2000). Mit Die Mächte der Zukunft, einer kritischen Bilanz der US-Außenpolitik nach dem 11. September, landete Schmidt einen weiteren Bestseller, Auflage knapp 250 000. Insgesamt erreichten seine Werke im deutschen Sprachraum eine Auflage von 3,2 Millionen Exemplaren, davon 2,2 Millionen Originalausgaben; zahlreiche Titel sind auch im Ausland er schienen.

Im Herbst 2008 legte der Altbundeskanzler sein Buch Außer Dienst vor, die Summe der Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten eines langen und aktiven politischen Lebens. In einer Zeit der Ungewissheiten, in der viele Menschen die Sehnsucht nach entschlossener Führung verspüren, waren ihm aufs Neue die Aufmerksamkeit und der Beifall des lesenden Publikums gewiss; die gebundene Ausgabe wurde binnen eines Jahres 650 000 Mal verkauft. Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt, Kurzinterviews, die der ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo 2008/2009 mit ihm führte, wurde in wenigen Monaten 175 000 Mal abgesetzt. Ebenso positiv wurde Anfang 2010 der Band Unser Jahrhundert aufgenommen, das Protokoll eines Gesprächs mit dem deutsch-amerikanischen Historiker Fritz Stern über das hinter ihnen liegende Jahrhundert.37 An solchen Gesprächsbänden fand Helmut Schmidt im Alter zunehmend Gefallen; vorangegangen waren Bände mit Sandra Maischberger 2002 (Hand aufs Herz) und Frank Sieren 2005 (Nachbar China) und eben die Raucher-Plaudereien mit dem ZEIT-Chefredakteur. Unser Jahrhundert stand vierzehn Tage nach Erscheinen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste; bis Juni 2010 wurden 140 000 Exemplare abgesetzt. Die meisten von Schmidts Büchern hielten sich wochenlang, manche monatelang auf den Erfolgscharts; einen »Bestsellergaranten« nannte ihn das Hamburger Nachrichtenmagazin, das die wichtigste dieser Listen veröffentlicht. Die Erlöse aus seinen – und Lokis – Werken flossen übrigens zum größten Teil in gemeinnützige Stiftungen. »Wir wollten nie reich oder vermögend sein«, sagte der Exkanzler dem ZEITmagazin. »Es ist reiner Zufall, dass sich gegen Ende meines Lebens meine Bücher so gut verkauft haben.« Bei den Stiftungen handelt es sich um die von Helmut Schmidt initiierte Deutsche Nationalstiftung (allein eine knappe Million Euro schoss er selber ein), die Stiftung Naturschutz Hamburg, die Loki Schmidt Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen (die unter anderem die »Blume des Jahres« präsentiert) und in die Helmut und Loki Schmidt Stiftung. Der Zweck der Letzteren ist es, das Langenhorner Domizil – ein Klinkerbungalow der Neuen Heimat aus dem Jahre 1961 und das inzwischen für das umfangreiche Archiv angekaufte Nachbarhaus – als Forschungsstätte nach Art der amerikanischen presidential libraries für die Nachwelt zu erhalten.38

Die Wirkung seiner Zeitungsartikel schätzte Helmut Schmidt nicht weniger hoch ein als die seiner Bücher. Sie hielten ihn zwischen den Erscheinungsterminen der großen Werke im Bewusstsein des Publikums, denn sie gaben ihm die Gelegenheit, sich aktuell zu drängenden Problemen zu äußern und sich einzumischen in den politischen Diskurs des Landes. Wie Hans-Joachim Noack, Spiegel-Redakteur und Autor einer Schmidt-Biographie, es ausgedrückt hat: »Natürlich reizt ihn von Anfang an die Chance, die ZEIT als Plattform zu nutzen. Der Verlust der politischen Macht musste einen rhetorisch begnadeten ›Staatsschauspieler‹ – als solchen hat ihn einst sein Antipode Franz Josef Strauß bewundert – besonders schmerzen; die Titelseite der ZEIT ist zumindest eine Ersatzdroge, derer er sich gern bedient.«39

In der Tat: Was früher das Rednerpult des Bundestags für Schmidt gewesen war, das wurden nun die Spalten der ZEIT: ein bully pulpit, wie die Amerikaner sagen, eine Mischung von Kanzel und Katheder, Rostrum und Regierungsbank. Das Schreiben wurde ihm zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Der Staatsmann und die Journalisten

Als Helmut Schmidt 1983 zur ZEIT kam, war es wie eine Art Rückkehr zu den eigenen Wurzeln. Sein Biograph Hartmut Soell hat die Episode überliefert, wie Schmidt nach bestandenem Examen im Juni 1949 im Kopf einige Zeitungsartikel konzipierte, weil er hoffte, wenigstens während des Sommers 1949 – der erste Bundestagswahlkampf stand bevor – beim Hamburger Echo beschäftigt zu werden. Soell hat auch den lapidaren Tagebucheintrag Schmidts ausgegraben: »Echo will mich nicht.« Nun aber, vierunddreißig Jahre später, hielt Helmut Schmidt Einzug im Pressehaus am Speersort, wo seit langem die ZEIT als einzige Publikation saß.

Bei der ZEIT traf Schmidt auf viele Freunde und Bekannte. Da war zunächst Gerd Bucerius, den er in Hamburg kennengelernt hatte, noch ehe er selber 1953 in den Bundestag einzog. Gemeinsam mit anderen Abgeordneten aus Hamburg und Bremen starteten sie damals eine Initiative zum Wiederaufbau der daniederliegenden deutschen Handelsschifffahrt, was dann durch ständige Bearbeitung der lange widerstrebenden Besatzungsmächte und mit Hilfe des Paragraphen 7d des Einkommenssteuergesetzes auch gelang – danach liefen in großer Zahl die nach dem Gros ihrer Investoren so genannten »Zahnarztschiffe« vom Stapel. Noch als Neunzigjähriger konnte Schmidt alle Strophen eines Spottgedichts auswendig hersagen, das mit dem Vers begann: »Palmström reiste einst zu Korff / in das Bonner Bundesdorf / und, so sprach er, lasst uns schauen / dass wir wieder Schiffe bauen.«

Marion Dönhoff kannte Schmidt aus dem Blankeneser Gesprächskreis der Gräfin; sie waren in respektvoller Freundschaft