Unsere Straße - Jan Petersen - E-Book

Unsere Straße E-Book

Jan Petersen

0,0

Beschreibung

1933, kurz vor der Machteroberung der Nationalsozialisten: In Berlin demonstriert die Rote Front, malt Parolen auf Hauswände und verteilt Flugblätter. Mittendrin der angehende Schriftsteller Jan Petersen. Die Nazis übernehmen Berlin, doch der kommunistische Widerstand geht weiter – obwohl immer wieder Mitstreiter verschwinden, in Gefangenschaft gefoltert und ermordet werden. Alles, was in diesem Buch geschildert wird, ist genau so passiert – Jan Petersen hat es 1933/34 niedergeschrieben und das Manuskript unter Lebensgefahr ins Ausland geschmuggelt. 1938 erschien „Unsere Straße“ in London, erst 1947 in deutscher Sprache. Es gilt als das wichtigste Buch aus dem deutschen Widerstand gegen die Nationalsozialisten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 416

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unsere Straße

Eine Chronik

Geschrieben im Herzen des faschistischen

Deutschlands 1933/34

von

Jan Petersen

Mit einem Nachwort von Eckhard Gruber

Jaron Verlag

JAN PETERSEN, geboren 1906 in Berlin, bekämpfte als Mitglied der KPD und Vorsitzender des »Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands« den Nationalsozialismus, ab 1935 im Exil. 1946 kehrte er nach Berlin zurück, wo ihm 1950 der Goethepreis der Stadt Berlin verliehen wurde. Bis 1955 war er erster Vorsitzender des Deutschen Schriftstellerverbandes. Er starb 1969 in (Ost-)Berlin.

Zu dieser Ausgabe:

Grundlage des Textes ist die deutsche Erstausgabe, die 1947 im Dietz Verlag, Berlin erschienen ist.

Die Rechtschreibung wurde größtenteils der heute üblichen angepasst, offensichtliche Fehler wurden verbessert, manche Eigenarten und Altertümlichkeiten aber auch beibehalten.

Wir bedanken uns herzlich bei Dr. Ingrid Schwalm-Petersen

für die Überlassung der Rechte an diesem Roman.

1. Auflage 2023

Jaron Verlag GmbH, Berlin

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin, unter Verwendung

eines Fotos aus dem Bundesarchiv, Bild 102-04651A / CC-BY-SA 3.0

Satz und Layout: Prill Partners|producing, Barcelona

Lithografie: Bild1Druck GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 978-3-95552-070-0

Inhalt

Vorwort der ausländischen Ausgaben

Die Totenliste von Charlottenburg

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Kapitel 1

Nachwort

I

II

III

Die Berlin-Bibliothek

Vorwort der ausländischen Ausgaben

Dieses Buch, unter den größten Schwierigkeiten in Deutschland geschrieben, ist eine Chronik der Ereignisse in der Wallstraße in Berlin-Charlottenburg. Sie wird trotz ihrer lokalen Begrenzung nicht nur die Geschichte einer Arbeiterstraße im faschistischen Deutschland sein. Ähnlich hat sich der Faschismus in den Arbeitervierteln aller deutschen Städte ausgewirkt. Die beigefügte Personenliste enthält die Namen der ermordeten Antifaschisten Charlottenburgs. Sie ist authentisch, jedoch sicher nicht vollständig, und dabei sind es nur die Opfer dieses einen westlichen Berliner Stadtbezirkes. Dieses Buch soll ein Vermächtnis der Charlottenburger Toten sein. Ein Denkmal aller vom Faschismus Ermordeten. Es soll berichten von der Tapferkeit Tausender, Zehntausender namenloser Helden. Vom Henkerbeil, vom Kerker bedroht, führen sie ihren Kampf unerschrocken weiter. Den um die endliche Befreiung des deutschen Volkes. Um den Sozialismus!

Jan Petersen

Die Totenliste von Charlottenburg

Vor dem 30. Januar 1933

Oskar Owege

20 Jahre alt, von der Schupo erschossen

Erich Frischmann

26 Jahre alt, von der Schupo erschossen

Hans Klaffert

19 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Erich Ziemke

22 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Otto Gruneberg

20 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Max Schirmer

32 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Erich Lange

24 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Nach dem 30. Januar 1933

Paul Schulz

20 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Hans Schall

21 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Walter Harnecker

25 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Tritz Kolosche

24 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Martin Michallak

25 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Paul Voss

29 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Karl Malz

28 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Hans Mueller

46 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Walter Drescher

30 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Georg Stolt

43 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

Richard Hüttig

26 Jahre alt, am 14. Juni 1934 in Berlin-Plötzensee hingerichtet

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Entstehung dieses Buches kann jetzt, bei seinem Erscheinen in Deutschland, dreizehn Jahre nach der Niederschrift, erzählt werden. Diese Chronik des antifaschistischen Kampfes und der Ereignisse in der Wallstraße in Berlin-Charlottenburg beginnt wenige Tage vor dem Machtantritt der Nazis und endet Mitte des Jahres 1934. Die Aufzeichnungen dazu wurden gemacht, als die Geschehnisse sich ereigneten. Die endgültige Niederschrift des Buches erfolgte an zwei Stellen: in der Siedlung am Kleinen Werbellinsee, nahe Oranienburg, und in meinem kleinen Zimmer in Charlottenburg, Knesebeckstraße, wenige Minuten von der Wallstraße entfernt.

Die Arbeit an dem Buch – ebenso wie meine damalige Tätigkeit in der Widerstandsbewegung – musste häufig unterbrochen werden. Oft, weil Kameraden, mit denen ich eng zusammenarbeitete, verhaftet wurden, und auch, weil die Gestapo zweimal meinen Namen notiert hatte und man dann jedes Mal abwarten musste, »was kommen würde«.

Mit den neu geschriebenen Manuskriptseiten im Rucksack fuhr ich wöchentlich mit dem Motorrad vom Werbellinsee nach Berlin, an den Posten des Oranienburger KZ-Lagers vorbei, um die entstandenen Seiten mit einem Schriftstellerkameraden durchzusehen und zu besprechen. Er ist seit Jahren einer unserer vielen Toten.

Ich wohnte neun Jahre in der Wallstraße und war in der antifaschistischen Bewegung Charlottenburgs tätig. Wenn der SA-Sturm 33 unter dem Schutz der Polizei durch »Unsere Straße« marschierte, machten die Braunen das Zeichen des Hängens zu unseren Wohnungsfenstern hinauf. Nach der Machtübernahme kamen dann auch die Dreiunddreißiger in unsere Wohnung und durchsuchten danach das ganze Haus, die Revolver in den Händen. Ich war zufällig kurz vorher umgezogen. Das zuständige Polizeirevier, das an der nächsten Straßenecke lag, hätte meine neue Adresse auf Befragen angegeben. Es stellte niemand Erkundigungen an. Vieles erscheint einem in späteren Jahren so unerklärlich, dass man es fast »Glück haben« nennen möchte. Das gilt auch für die Umstände, unter denen das fertige Buchmanuskript ins Ausland geschmuggelt wurde.

Im Herbst 1934 hatte ich das Manuskript fertig getippt, in drei Exemplaren. Zwei der Manuskripte wurden, wasserdicht verpackt, an verschiedenen Plätzen eingegraben. Eins wurde mithilfe illegaler Verbindungen nach Hamburg gesandt. Ein tapferer unbekannter deutscher Matrose sollte es auf seinem Schiff nach England bringen. Nach vielen Wochen kam aus Hamburg Bescheid: Das Manuskript musste in letzter Minute in den Hafen geworfen werden, weil der Matrose nur so einer Entdeckung entgehen konnte. Erst nach langen Bemühungen konnte der Versuch wiederholt werden, ein Manuskript ins Ausland zu bringen. Es wurde von Gesinnungsfreunden nach Dresden gebracht und sollte von dort nach der Tschechoslowakei geschmuggelt werden. Wochen, ja Monate vergingen, doch aus Dresden war kein Bescheid über den Verbleib des Manuskripts zu erhalten. Es blieb verschollen und schien ebenfalls verlorengegangen zu sein. Das dritte und letzte Manuskript des Buches lag, unter einer Tanne vergraben, am Rande einer Waldschonung außerhalb Berlins. Ging es gleichfalls verloren, oder gelang es nicht, es ins Ausland zu schmuggeln, war alle aufgewandte Mühe vergebens gewesen, war der Versuch gescheitert, den Kampf deutscher Antifaschisten dem Ausland deutlich zu machen.

Weihnachten 1934 verwirklichte ich daher den schon lange gefassten Plan, das letzte vorhandene Manuskript selbst ins Ausland, nach Prag, zu bringen. Ich war seit dem Machtantritt der Nazis mehrmals in Prag gewesen, um dorthin emigrierte deutsche Schriftsteller zu Besprechungen zu treffen. Ich wusste also, wie man die Grenze »blind« kreuzte, um dann auf gleiche Weise an einer anderen Grenzstelle nach Deutschland zurückzukehren.

Wir gingen diesmal zu zweit, in voller Schiausrüstung, auf eine anscheinend harmlose Weihnachtsfahrt. Das Manuskript lag, in zwei Kuchen eingebacken, in meinem Rucksack. Mein Freund Walter Stolle – er war einige Zeit vorher aus dem KZ-Lager Brandenburg entlassen worden – hatte in seinem Rucksack ein eigenes Manuskript. Wir wussten, dass Schitrupps der SS mit Karabinern bewaffnet die Grenze kontrollierten. Wir mussten eben ungesehen durch diese Streifwachen durchschlüpfen.

Am zweiten Tage unseres Aufenthalts in Prag kam die Frau des emigrierten Schriftstellerkollegen, bei dem wir wohnten, und erzählte, dass sie gehört hätte, aus Deutschland sei heute ein antifaschistisches Romanmanuskript in Prag eingetroffen. Es war das seit Monaten in Dresden verschollene Manuskript von Unsere Straße. Der Überbringer hatte es – ein riskanter Bluff – in einem offenen Handkörbchen, mit Stullenpaketen zugedeckt, an den Grenzbeamten eines der offiziellen Grenzübergänge vorbeigetragen. Die Grenzwachen nahmen einige der Stullenpakete prüfend in die Hände, jedoch nur die, die obenauf lagen. Die Dresdener Gesinnungsfreunde hatten, wie wir selbst, für das Unternehmen den stärkeren Weihnachtsgrenzverkehr abgewartet. Deshalb hatten sie so lange nichts von sich hören lassen. Bereits im April 1935 erschien dann in Paris ein Auszug aus Unsere Straße. Uns in Berlin blieb dies unbekannt.

Meine ausländischen Verleger erkundigten sich vor Drucklegung des Buches, ob die darin enthaltenen realistischen Schilderungen nicht die in Nazideutschland noch tätigen Kameraden gefährden würden. Schon bei der Niederschrift war daran gedacht worden. In einem besonderen Vorwort des Übersetzers wurde klargestellt, dass die Ereignisse und die Schicksale der Personen wahrheitsgemäß geschildert wurden, dass das Buch inhaltlich authentisch sei, jedoch nicht immer in der Form. Die Namen der Beteiligten, ihr Aussehen, ihre Familienbeziehungen mussten verändert oder vertauscht werden. Einzelne Episoden aus der unterirdischen Arbeit anderer Berliner Stadtbezirke wurden mit der Handlung des Buches verflochten. Die in der Charlottenburger Totenliste genannten Namen sind alle wirkliche Namen. Die Umstände, die zu ihrem Tode führten, sind den Tatsachen entsprechend wiedergegeben.

Es kam darauf an, ein wahrheitsgetreues Bild zu vermitteln – ohne der Gestapo Fingerzeige zu geben. Um ein Beispiel zu nennen: Heinz Preuß ist in Wirklichkeit mein Kamerad Walter Stolle, den ich jetzt wiedertraf. Einer der wenigen überlebenden Gefährten der damaligen Zeit. Er erzählte mir damals, nach seiner Entlassung, von den Misshandlungen Erich Mühsams. Er war Erich Mühsams Nachbar auf dem Strohsacklager im KZ Brandenburg.

Dieses Buch hat der Gestapo wohl keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Hätte sie die Identität des Autors ermittelt, wären vielleicht gewisse Schlussfolgerungen möglich gewesen. Auch meine Angehörigen wären gefährdet worden. Man war sich dessen immer bewusst, auch später im Ausland. Seit meiner Rückkehr aus der erzwungenen Emigration hatte ich Gelegenheit, meine Gestapoakten einzusehen, die zufällig nicht verbrannt sind. Aus ihnen ergibt sich, dass die Gestapo bis zum Jahre 1941, also bis zwei Jahre nach Kriegsausbruch, im Ausland Nachforschungen über meinen Verbleib anstellte. Meine frühere Tätigkeit in der deutschen Widerstandsbewegung war der Anlass dazu. Alle Bemühungen der Gestapo blieben ergebnislos.

Unsere Straße erscheint nun in Deutschland, unverändert, so wie ich das Buch damals niederschrieb. Es entstand unter besonderen Umständen, und jede nachträgliche Korrektur hätte seiner Wirklichkeitsnähe in Form und Inhalt Abbruch getan. Es ist meines Wissens das einzige Antinazibuch, das in Hitlerdeutschland geschrieben wurde und im Ausland erschien. Es hat wohl schon deshalb geholfen, dem Ausland »das andere Deutschland« glaubhaft nahezubringen.

Wenn dieses Buch in der Heimat dazu beiträgt, dass der Faschismus nie wieder Wurzeln fassen kann und in gemeinsamer Arbeit aller deutschen Antifaschisten ein Deutschland der Freiheit und des Friedens geschaffen wird, hat es seine Aufgabe voll erfüllt.

Berlin-Charlottenburg, im Februar 1947

Jan Petersen

Sonnabend, den 21. Januar 1933. Ich gehe abends mit meinen Genossen Richard Hüttig und Franz Zander durch die Wallstraße. An der Berliner Straße bleiben wir stehen. Grelle Tiefstrahlerlampen hängen über uns. Straßenbahnen und Autos fahren ununterbrochen vorbei.

»Da kommt wieder ’n Schwung«, sagt Richard und stößt mich an. Drei offene verstaubte Lastwagen kommen von links. Sie rollen langsam durch den Lichtkreis der Tiefstrahler. Braune Uniformen stehen dichtgedrängt in den Wagen. Die Lichtkegel der Lampen reißen sekundenlang einige frische Gesichter heraus. Sie sehen neugierig zu uns herüber. Staunen über die große Stadt steht in den Gesichtern. Richard liest die Nummer am letzten Wagen.

»Alle von außerhalb, die fahren den letzten Mann!«, sagt er.

Franz Zander nickt. »Alles Bauernjungs.«

Er lehnt den Rücken gegen den Laternenpfahl.

»Ich habe bei Bauern gearbeitet – früher war’s der Stahlhelm, jetzt die SA. Sonst gibt’s keine Arbeit.«

Ein offener Personenwagen fährt vorbei. Auf den einmontierten Klappsitzen sitzen sechs braune Uniformen.

»SA-Bereitschaftswagen!«, sagt Richard.

Das Nazihauptquartier, die Hohenzollernfestsäle, liegt nur einige Querstraßen weiter. In regelmäßigen Abständen kontrollieren ihre »Flitzer« die Straßen. Die Polizei durchsucht sie nie auf Waffen.

»Gehn wir«, sagt Franz kurz und dreht sich um.

Die Wallstraße liegt mit ihren engen Häuserreihen wie eine lange, graue Schlucht vor uns. Spärliche Gaslaternen geben nur Dämmerlicht. In einer Haustornische stehen drei Schupos. Sie haben die Sturmriemen unter dem Kinn. Karabinerläufe ragen über ihre Schultern.

»Verstärkter Posten.«

In allen Haustüren stehen Menschen. Sie sprechen leise, als könnten sie jemand aufwecken. Wir nicken ihnen zu. Richard legt zwei Finger an den Mützenschirm, als schreite er die Front seiner Häuserschutzstaffeln ab. In der Mitte macht die Straße einen scharfen Knick. Hier ist eine große Lücke in der Häuserreihe. Ein Gerümpelplatz mit schmutziggrauem Zaun. Unsere politischen Parolen, zerfetzte Plakate eines Wanderzirkus überziehen ihn bunt. Dicht daneben steht das Charlottenburger Elektrizitätsumformerwerk. Ein großes, modernes Gebäude aus rotem Backstein. Niedrige Holzhäuser ziehen sich an der linken Seite des Werkes entlang. In allen Fenstern brennt noch Licht. Es sind Notstandsbaracken, in den Jahren größter Wohnungsnot erbaut. Sie sind Dauerwohnungen geworden. Fast alle Mieter sind arbeitslos.

Richard bleibt plötzlich stehen. Er sieht zu dem frei stehenden Giebel hinauf, der links von den Baracken steil in den Himmel wächst. Still ist es ohne unseren Schritt. Unheimlich still. Nur das dumpfe Summen der Tag und Nacht laufenden Maschinen kommt aus den riesigen Fenstern des Umformerwerkes herüber.

»Dauertransparent«, sagt Richard.

Hoch oben am Giebel stehen große Buchstaben:

Antifaschisten! Wählt Liste drei. KPD. Rot Front!

Richard und Edel Ede, der Kletterkünstler unseres Bezirks, nachts auf dem schwankenden Brett am Seil vom Dach heruntergelassen, um unsere Wahlparole zu malen – da wagt sich die Polizei auch am Tage nicht hinauf, trotzdem ihr die Worte wie Pfeffer in den Augen brennen. Die beleuchteten Fensterreihen neben dem Giebel scheinen halbfrei in der Nacht zu hängen. Eine Gasexplosion rasierte vor Jahren das Vorderhaus neben dem Giebel weg. Übrig blieb als kläglicher Rest nur der Hauseingang. So wurden die abgeplatzten Wände der Hinterhöfe der Straße zugekehrt. Wir sehen die paar Möbel hinter den Fenstern; Leinen, auf denen Wäsche trocknet.

Das Lokal »Werner«, im Haus neben dem Giebel, ist unser Verkehrslokal. Wir gehen herüber. Ein Doppelposten steht davor.

»Rot Front!« – »Rot Front!« In der Schaufensterscheibe sind kleine runde Löcher. Revolverschüsse des SA-Sturmes 33. In der oberen Hälfte der Scheibe stecken runde Messingknöpfe. Die Versicherungsgesellschaft hat die Scheibe schon mehrmals reparieren lassen.

»War was Besonderes?«

»Nein, Genosse Hüttig, nur der Polizeiflitzer …« Der Posten verstummt, zeigt mit dem Kopf zum Knick der Straße hin. Einen Augenblick blendet uns Scheinwerferlicht. Langsam fährt das Auto vorbei. Glänzende Tschakos. Die Karabiner dazwischen.

»Sie waren inzwischen zweimal hier; Waffendurchsuchung … bei uns!«, sagt der Posten spöttisch.

Richard zieht die Tür auf. Stimmengewirr schlägt uns entgegen. Vom Schanktisch nickt uns der dicke, weißbärtige Wirt zu. Seine Frau spült mit hochrotem Gesicht Gläser. An der Decke hängen Rauchschwaden. Spannung füllt den Raum, meine Nerven reagieren sofort. Um den großen Mitteltisch steht eine erregte Gruppe.

»… morgen ist Generalprobe für die Nazis – ob die Sozialdemokraten –«

»Ich habe viele gesprochen, die sind morgen bei uns, auf der Straße«, sagt Franz ruhig.

»Seit dem 20. Juli, an dem die Preußenregierung gewaltsam aufgelöst wurde, begreifen viele –«

»Vom Begreifen bis zum Kämpfen …«

Der »Konfektionär« zieht eine Zeitung aus der Tasche. Er ist Verkäufer bei der Konfektionsfirma Brenninckmeyer, muss immer »gut angezogen« gehen.

»… es ist zu hoffen, dass der Polizeipräsident noch in letzter Stunde den Ernst der Lage erkennt … – Ab der Bart! Meine sozialdemokratischen Kollegen haben auch darüber gelacht. Die treffen sich morgen mit mir!«

Ich sehe über seine Schulter in die Zeitung. Ein Foto des Karl-Liebknecht-Hauses, darüber in großen Buchstaben: SA-Aufmarsch auf dem Bülowplatz! Und das soll keine Provokation sein?! Hinter uns fliegt die Tür mit lautem Knall auf. Wir fahren herum. Ein junger Genosse lehnt sein Fahrrad gegen das Schaufenster, kommt herein.

»Zu dem Genossen Franz«, sagt er.

Der nickt. »Ist richtig.«

»Kurier der UBL.«

Der Junge kramt einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche. Die Tür klappt gleich darauf wieder hinter ihm zu. Alle Gespräche sind verstummt. Aller Augen hängen an dem weißen Zettel.

Franz nickt mir und Richard zu. Er geht vor uns her, wiegt die breiten Schultern. Muskelknoten haben wir ihn mal getauft.

Wir gehen ins anstoßende Zimmer.

Franz reicht uns den Zettel.

»Anweisungen für morgen. Du hast ja für deine Häuserschutzstaffeln schon Bescheid, Richard.«

»Ja. – Ich muss jetzt auch gehen.« Richard drückt uns fest die Hand. Franz ruft die Genossen einzeln herein. Eine Runde ernster Gesichter. Franz sieht sie der Reihe nach an, als wollte er jeden auf seine Zuverlässigkeit prüfen. Seine Stimme ist betont ruhig.

»Ich brauche nicht viel Worte zu machen, Genossen. Wir dürfen Berlin den Faschisten nicht kampflos überlassen. Ich gebe den Gruppenführern nachher den Treffpunkt für morgen bekannt. Wir gehen von verschiedenen Punkten, in losen Gruppen. Sorgt dafür, dass alle pünktlich und vollzählig da sind. Bleibt auch heute Nacht in Alarm. Schlaft zu dritt, zu fünft. Die Arbeiterbevölkerung erwartet unsern Schutz. – Alles klar?«

Ein stummes Kopfnicken reihum. Das Zimmer leert sich.

Wir verlassen als Letzte das Lokal. Franz, Rothacker, der Konfektionär und ich. Unsere Schritte hallen von den Häuserwänden. Hofalarm – Verteidigungsstellung. Wenn es morgen zu blutigen Zusammenstößen kommt, müssen am Montag die Betriebe stehen. – Die Besten sind freilich längst rausgeflogen. Franz, Rothacker, viele.

Wir gehen in Rothackers Haus. Der geht hinauf. Vom Rathausturm kommen die Stundenschläge und ertrinken zwischen den Mauern. Der Polizeiflitzer fährt noch immer umher. Sein Scheinwerfer reißt für Sekunden die Straße auf – verschwindet. Ein Auto hupt verschlafen, ab und zu rattern Lastautos. Die Braunen rollen immer noch in die Stadt!

Rothacker ist wieder da. Er steht neben Franz. Der kleine Angestellte scheint im Zwielicht noch mehr zusammengeschrumpft zu sein, nur die Nickelbrille steht groß in seinem Gesicht. Wir hören ihn leise und stockend reden.

»Franz. Falls mir morgen etwas passiert – ich habe keine Angst …«

Er atmet tief aus.

»… um Edith und den Jungen kümmerst du dich, nicht wahr?«

»Mach keine Geschichten, Erich. So schlimm wird’s nicht.«

Wie Franz das sagt. Der glaubt selbst nicht an seine Worte.

»Na, falls, darauf kannst du dich verlassen!«

Ich sehe, wie ihm Rothacker die Hand drückt.

Wir gehen langsam durch die Straßen. Ich habe Käthe am Arm, mein Mädel. Sie hat ihr neues, dunkelblaues Kleid an. Franz, ihr Bruder, geht vor uns. Auch er hat Hilde eingehakt. Wir sind fast alle sonntäglich gekleidet.

Berlin ist über Nacht ein Heerlager geworden. Polizeistreifen zu sechs und acht Mann gehen an uns vorbei. Die Karabiner über den Schultern, die Sturmriemen der Tschakos unter dem Kinn. Vor jedem dritten Haus steht ein Doppelposten.

»Fünfzehntausend sind aufgeboten«, sagt Rothacker leise. Wir kommen nach Moabit. Der »kleine Tiergarten« ist eine Aufmarschstelle der SA. Der Platz ist von einer doppelten Schupokette abgeriegelt, dahinter stehen SA-Gruppen. Aus den Nebenstraßen kommen Trupps der Braunen, von Polizei flankiert. Berittene Polizei hält den Parkeingang besetzt. Überfallwagen fahren an uns vorbei. Ihre Seitenklappen sind heruntergelassen, absprungbereit. Wir tauchen in den Strom der »Passanten« unter, lassen uns langsam vorwärts schieben. Die Bürgersteige sind schwarz vor Menschen. Bloß nicht den Zusammenhang verlieren! Doch da sind die andern. Franz, Ernst, Paul, Borstentolle.

Plötzlich kommt über den Platz eine Sprechsalve: »Nieder mit den braunen Mordbanditen! Nieder! Nieder! Nieder!«

Die Berittenen reißen ihre Pferde herum, die Polizei läuft in Schwarmlinien auf die Bürgersteige zu. Hart und verbissen stehen die Gesichter unter den Tschakos, die Karabiner sind umgedreht.

»Weitergehen! Auseinander! – Auseinander!«

In das Klatschen der Schläge fallen Schreie: »Pfui! – Pfui!«

Ich sehe Käthe an. Ihr Gesicht steht klein und blass im Fellkragen. Die Polizei presst die Menge auseinander. Links von uns führen zwei einen jungen Arbeiter zu einem in der Nähe haltenden Lastwagen. Er läuft tiefgebückt, sie haben ihm die Arme auf den Rücken gedreht. Und sie schlagen ihn immer noch!

»Die Hunde – dazwischengehen – dazwischen!«, keucht Rothacker.

Ich packe seinen Arm. »Hierbleiben. Die warten darauf!«

Von der anderen Straßenseite kommt Gesang herüber. Die Internationale! Das Lied zerflattert, geht in wildes Geschrei über. Der braune Zug setzt sich jetzt in Bewegung. Eine doppelte Kette Polizei läuft neben ihm her. Die SA-Flügelmänner fallen mir auf. Durchweg stämmige Burschen! Ihre Hosentaschen stehen prall und mit spitzen Kanten ab. Waffen!

Sie singen: »Die rote Front, schlagt sie zu Brei! SA marschiert, Achtung, die Straße frei!«

Rufe decken das Lied zu. »Rot Front! Nieder! Nieder!« Ein Signalpfiff. Die Polizeikette läuft wieder auf uns zu. Mit den Kolben schlagen sie jetzt! Wir werden an eine Hauswand gedrückt, viele flüchten in die Tore. Da, rechts! In dem Wirrwarr läuft eine Arbeiterfrau durch die Polizeikette. Sie bleibt vor dem braunen Zug stehen, wirft die Arme in die Luft und schreit gellend: »Ein Zug Gefangener! Schickt doch mal die Polizei nach Hause, ihr Helden!«

Ich sehe noch, wie sie abgeführt wird.

Langsam nähert sich der Zug dem Stadtinnern. Die Menschen auf den Bürgersteigen werden immer mehr. Aus den Fenstern schreien sie: »Arbeitermörder! Arbeitermörder!« Ein Blumentopf fliegt plötzlich durch die Luft, in den braunen Zug hinein. Drei Schupos stürmen in das Haus. Die Polizei dreht die Karabinerläufe gegen die Wohnungen. »Fenster zu! Fenster zu!« Grelles Pfeifen kommt von da, doch die meisten Fenster klappen zu. Plötzlich stockt unser Zug auf dem Bürgersteig. Ruckt noch ein paarmal, wie ein anfahrendes Auto, dessen Motor sich abwürgt, steht dann endgültig. Vorn winken sie mit den Händen. Zurück! Zurück! Ich klettere auf einen Mauersims. Fünfzig Meter vor uns ist die Straße in ihrer ganzen Breite mit schwarzen Tschakos gefüllt, durch die sich der braune Zug schiebt. Aus! Abgeriegelt! Da beginnt der Menschenhaufen auf dem Bürgersteig auch schon zu schwanken. Die Polizei säubert die Straße! Rothacker rudert erregt mit den Armen, auf seinem Gesicht sind rote Flecken.

»Was nun? – Was nun?«

»Zurück, dann durch die Nebenstraßen weiter. Wir müssen in die Bülowplatzgegend kommen! Verständige jeden von uns, den du siehst!«

Rothacker arbeitet sich nach vorn zu Franz und seiner Gruppe.

»Hintenherum – hintenherum!«, geht es flüsternd von Mund zu Mund. Die Polizei ist in unserer Höhe stehengeblieben. Sie richtet die Karabiner auf die Bürgersteige. Hinter ihrem Rücken ziehen die Braunen.

»Käthe!«

Sie sieht mich an. Kleine helle Fünkchen brennen in ihren Augen. »Wenn sie uns anhalten, wir wollen zur Untergrundbahn, verstanden? Hast du Angst?«

Käthe schüttelt den Kopf. Wir kommen an eine Straßenkreuzung. Die Polizei hält gerade den Demonstrationszug an, lässt den Verkehr durch. Wir laufen über den Fahrdamm, biegen mit verstreuten Gruppen in eine kleine Nebenstraße ein. Wo sind Franz, Rothacker, die andern? Verdammt, die Straßensperre ist wieder aufgehoben – die sind zu spät an die Kreuzung gekommen. Wir müssen weiter! Beklemmend ruhig ist die Straße hier. In den Fenstern liegen Leute. Gruppen stehen vor den Haustüren, unterhalten sich flüsternd. Aus der rechten Seitenstraße vorn kommt schwacher Gesang herüber. Plötzlich kommt eine Schupokolonne im Laufschritt um die Ecke.

»Fenster zu! Haustüren schließen!«, schreien sie.

Die Menschen sind verschwunden. Fenster klappern, das eilige Schnappen vieler Schlösser springt ins Ohr.

»Ruhig bleiben, weitergehen!«, flüstere ich Käthe zu.

Sie drückt meine Hand. Die Häuserwände werfen das Klappen der schweren Stiefel hell zurück – da steht ein Gummiknüppel vor unsern Gesichtern.

»Zurück! Vorwärts! Laufen! Zurück!«

In meinem Innern wird es ganz hart.

»Wir wollen zur Untergrundbahn«, sage ich ruhig. Der Schupo sieht uns mit irren Augen an. Sein Gesicht ist schweißig und rot. Käthes scheinbare Gleichgültigkeit gibt wohl den Ausschlag.

»Da rechts – aber schnell – zur Straßenbahn – die Untergrundbahn ist gesperrt!«, sagt er mit flatternder Stimme. Dann rennt er weiter. Die Straßenbahn. Dass ich daran nicht gedacht habe. An das Aufmarschgebiet heranfahren!

Die Bahn ist gestopft voll. Der Schaffner steht eingekeilt in der Wagenmitte, sieht wie alle durch die Scheiben. Die Männer am Ausgang geben abgerissen Bescheid. – »Noch frei vorn! – Ein Stück noch!« – »Raus jetzt!«, schreit da jemand. Der Schaffner klingelt zweimal. Im Augenblick ist der Wagen leer. Wir gehen langsam die Straße hinauf. Mit uns Hunderte. Merkwürdig, nur vereinzelte Tschakos sind hier zu sehen. »Ernst Machnow – Fahrräder«, lese ich auf einem Schild der anderen Straßenseite. Der Name geht ein Stück mit mir mit. Ausgestorben scheint die Straße zu sein. Kein Mensch an den Fenstern. Vor den Schaufenstern der Läden sind die Jalousien heruntergelassen. Da ertönen Sprechchöre: »Nieder mit dem Faschismus!« Und dann dreimal: »Rot Front!« Ich schreie, schreie – Käthe reißt an meinem Arm.

»Da! – Da!«

Ich höre neben uns die Schaufensterscheiben hinter den Rollläden zittern. Am Rand der Straße taucht ein graues Ungetüm auf, kommt ratternd näher. Ein Panzerwagen! Ich sehe in die Gesichter um mich. Kein neuer Ausdruck ist darin, ruhige Gelassenheit. Am Rinnstein steht ein Mann mit borstigem Schnurrbart – und lacht. Er hat die Hände in den Hosentaschen. Auch die um ihn lachen jetzt. Gellende, wie Messer schneidende Signalpfiffe – der Panzerwagen fährt vorbei. Im Turm geht das Rohr des Maschinengewehrs hin und her, hinter den Sehschlitzen stehen helle Streifen der Gesichter.

Vor uns rennen sie plötzlich. Polizeiattacken – wo denn? Nein! Sie formieren sich auf dem Fahrdamm. Wir laufen. Viererreihen sind in Augenblicken da, wachsen. Jetzt nimmt der Zug schon die ganze Straßenbreite ein. Wir singen die Internationale! Die enge Straße dröhnt. Neben Käthe marschiert ein Mann mit grauem Kinnbart. Er reißt den Mund weit auf, sein Körper fliegt im Takt des Liedes auf und ab. An seinem Rockaufschlag glänzt es metallen hell. Drei Pfeile! Das sozialdemokratische Abzeichen. Unsere Blicke treffen sich. Wir singen immer noch. Der alte Genosse nickt mit dem Kopf vor und zurück. Da sehe ich es: In den Reihen glänzen noch mehr Pfeile! Ich freue mich, mir wird heiß, so freue ich mich. Ich stoße Käthe an. Sie versteht, lächelt. Wie lange marschieren wir schon – Minuten? Es scheint bereits eine halbe Stunde zu sein. Vorn biegen sie in die Gormannstraße ein. Verkehrt! Eine Sackgasse. Da kommt von der Zugspitze auch schon Lärm und Geschrei, dazwischen helles Peitschenknallen. Sie schießen! Wir werden zurückgestoßen. Alles flüchtet in die Haustore, über die Bürgersteige. Zurück, nur zurück! Käthe hängt schwer an meinem Arm, um Mund und Nase läuft ihr nervöses Zucken. Ich rüttle sie.

»Du! Du! – Keine Panik!«

Mit erzwungen ruhigen Schritten gehen wir auf eine Haustüre zu. Die Schupokette ist bis auf fünf Meter heran, Pistolenläufe starren in die Luft, zwei, drei in die Menge. Ununterbrochen knallen die Schüsse. Der stumpfe Glanz des Metalls, die kleinen blauen Pulverwölkchen sind zum Greifen nahe. Seitwärts von uns greift ein Mann in einer blauen Jacke plötzlich in die Luft. Er dreht sich langsam auf dem Stiefelabsatz herum, schlägt lang auf den Asphalt. Da haben wir die Haustür erreicht, werden hineingeschoben. Käthe drängt zur Treppe.

»Hierbleiben!«

Wenn die hinterherkommen, sind wir ihnen oben erst recht ausgeliefert. Wir warten, warten. Hinter der Haustürscheibe rennt Polizei vorbei. Neben uns steht eine Frau mit einem kleinen Mädel an der Hand. Sie hält sich mit der freien Hand das Ohr zu, ihr Gesicht zuckt.

»O Gott – o Gott – was soll das werden – soll das werden …«, wiederholt sie immerzu.

Draußen entfernen sich die Schüsse. Ich trete in die Tür. Die Straße ist leer. Wir gehen.

Ein Schupoheer, mit Panzerwagen, mit Maschinengewehrnestern auf den Dächern, hält die Straßen um den Bülowplatz für den braunen Aufmarsch frei.

Am nächsten Abend. Wir sitzen bei Franz Zander in der Stube. Hilde erzählt. »Meine Mutter sagt, Felix ist den ganzen Tag rumgelaufen. Nachmittags kam er, legte sich aufs Sofa. Da kommt ihn ein SA-Mann wieder holen. Antenne, sagt der, sofort zum Sturmlokal kommen. Es sind neue Anweisungen da, der Sturmführer wartet. – Die fühlen sich seit gestern, sage ich euch.«

Franz spielt mit den Troddeln der Tischdecke. Ich kenne Hildes Familie aus ihren Gesprächen genau. Kenne auch Felix, ihren Bruder. »Antenne« nennt ihn der Sturm 33, weil er so groß ist. Er ist Truppführer. Die Trettins haben ganz in unserer Nähe, in der Berliner Straße, eine Portierstelle genommen. Hildes Vater ist jahrelang arbeitslos. Er ist ungelernter Arbeiter, hat sich nie um Politik gekümmert. »Sein Auskommen muss man haben, det ist alles«, ist sein Grundsatz. Die Portierstelle sichert ihm das auch nicht. Er fährt mit dem Fahrrad in der Woche zweimal nach außerhalb, verbotenerweise Kaninchen fangen und fischen. Frau Trettin besorgt »ihr« Haus und Inge, den fünfjährigen Nachkömmling. Hilde ist Stenotypistin. Die einzige, die in der Familie Geld verdient. Denn auch Felix, der Bauschlosser, hat keine Arbeit. Er ist vor knapp einem Jahr in die SA gegangen. »Weil ich nicht immer nur Stempelbruder sein will, den jeder ungestraft anrotzen kann!«, hat er Hilde einmal erklärt. »Ich habe auch genug von dem Geduldetsein hier zu Hause. In unserer Kaserne kann ich pennen, da gibt’s auch zu fressen. Immer war man Mensch zweiter Klasse. In der Uniform bin ich was – wir werden sehen, was weiter kommt!«

Dem alten Trettin ist es egal, »wat der Bengel macht«. Aber er knurrt ihn dauernd an, weil »die janzen Uniformen weiter nischt könn’ als mir det Haus eintrampeln«.

Hilde ist seit einem halben Jahr bei uns. Käthe hat sie in einer kaufmännischen Abendschule kennengelernt. Hilde hängt sehr an Franz. Sie sind Kameraden geworden. Felix weiß von alledem nichts.

Mutter Zander kommt mit einer Kanne Kaffee aus der Küche. Sie stellt sogar eine Schüssel mit Gebäck auf den Tisch. Sie rückt sich einen Stuhl unter die Gaslampe, fängt an zu stricken. Ich möchte ihr gern etwas Gutes sagen, aber mir fällt nichts ein. Warme, braune Augen hat sie. Tiefe Falten um den Mund, in der Stirn. Das Leben steht in ihrem Gesicht, hart und gut. Mir fällt ein, was Käthe damals erzählt hat, als Franz mit der Maßregelung kam, weil er im Betrieb zum Streik aufgefordert hatte. Mutter Zander war einen Augenblick still.

»Wird auch so gehen – Vater hätte genauso gehandelt«, hat sie dann gesagt.

Vater, der Sozialdemokrat. In Frankreich gefallen.

»Manchmal habe ich Mühe, ruhig zu bleiben«, fährt Hilde fort. »Heute Abend hat Felix erst geprahlt! Gestern haben wir es Berlin gezeigt! Unsere Bewegung marschiert, die können die nicht mehr aufhalten. Von der Kommune kommt nischt, haben wir gestern gesehen. Aus den Nebenstraßen haben sie gekräht, war alles.«

Franz dreht den Löffel in der Tasse. Seine hellen Augenbrauen sind zusammengezogen.

Da sagt Hilde wieder: »Die haben wohl damit gerechnet, dass wir …«

Franz sieht sie kurz an.

Wir sagen nichts. Auch später will keine richtige Unterhaltung in Gang kommen. Eine gedrückte Stimmung ist irgendwie da, bleibt bis zuletzt.

Drei Tage sind seit dem braunen Aufmarsch vergangen.

Heute marschieren wir. Wir marschieren: zum Bülowplatz! Es ist eisigkalt. Die Fenster der Häuser, der Straßenbahnen sind mit dicken Eisblumen überzogen. Aus unseren Mündern kommt der Atem hellweiß. Der unerwartete, furchtbare Frost frisst sich durch die dünnen, abgetragenen Kleider. Das Gesicht, die Hände erstarren.

Der Zug biegt um eine Ecke. Ich schaue zurück. Kein Schluss ist zu sehen, endlos lange Viererreihen. Rot stehen die Fahnen darüber, die Transparente.

»So stark ist der Bezirk noch nie angetreten!«, sagt Rothacker. Seine Nase ist blaurot, er hat den Mantelkragen hochgeschlagen, sieht noch schmächtiger und kleiner als sonst aus. Vorn fangen sie an zu singen.

»Im Januar um Mitternacht, ein Spartakist stand auf der Wacht …«

Das Lied läuft den Zug entlang, springt auf uns über. Links, links, die Füße stampfen.

Ernst und hart sind die Gesichter. Seht, so marschieren wir! Ohne Panzerwagen, ohne Maschinengewehre. Wir sind Berlin selbst, das arbeitende Berlin!

In der Reihe vor mir trägt Heinz Preuß, der junge Genosse, unsere Fahne. Er ist ohne Mantel, seine Halbschuhe sind schiefgetreten. Seine Lippen ein dünner blauer Strich. Heinz ist jahrelang arbeitslos. Daneben geht Paul Teichert, der Dreher von Siemens. Er hat die Frühstückstasche unter dem Arm, die blaue Kaffeeflasche sieht heraus. Er ist direkt von der Arbeitsstelle gekommen. Links von uns fährt langsam ein Lastwagen mit Polizei. Sie haben dicke Mäntel an, sitzen aber zusammengekrochen wie Hühner. In kurzen Abständen laufen andere neben dem Zug her. Sie haben Schutzklappen an den Ohren. Wir singen, singen:

»… und donnernd dröhnt die Art’llerie, Spartakus hat nur Infantrie …«

Ein Schupo kommt plötzlich den Zug entlanggerannt. Er hat ein Notizbuch in der Hand. Er bleibt stehen, blättert darin, hebt den Kopf. »Aufhören! – Verboten!«, brüllt er mit schriller Stimme. Der Gesang bricht ab, aber vorn singen sie weiter.

»Bleibt zu Hause – wir brauchen euch nicht!«, schreit jemand hinter uns zu dem Polizeilastwagen hinüber.

»Am Sonntag die SA. – ›Die rote Front, schlagt sie zu Brei!‹ – Nischt war verboten da!«, ruft ein anderer.

»Neues Lied! – Neues Lied!«

Ich sehe, wie der Offizier auf dem Lastwagen einen Befehl gibt. Die Schupos springen herunter.

»Oho! – Oho!«

»… wir kreisen wachsam überm Sowjetstaate, die erste rote Luftarmee der Welt …«

Der Schupo mit dem Notizbuch ist schon wieder da. Wir sind schon mitten in der Stadt. Auf den Bürgersteigen stehen dichte Menschenreihen, winken, heben die Fäuste: »Rot Front! – Rot Front!«

In den Ladentüren stehen Menschen. Hinter einer Schaufensterscheibe, in deren Frostblumen eine Heizsonne ein helles Loch gefressen hat, sind Gesichter.

»… und höher, und höher, und höher, wir steigen trotz Hass und Hohn …«

Am Refrain muss der Schupo endlich das Lied erkannt und im Buch gefunden haben.

»Aufhören! Verboten! Verboten!« Seine Stimme überschlägt sich.

Wir schweigen. Vorn aber bricht der Gesang nicht ab. Sie müssen den Befehl nicht gehört haben. Eine Schupokette rennt an uns vorbei, sie haben die Gummiknüppel in der Hand. Es pfeift grell.

»… ein jeder Propeller singt surrend …«

Der Gesang vor uns zerreißt jäh. Lärm und Schreie: »Pfui! Pfui!«

Sie schlagen dazwischen! Dennoch kommt es dünn von ganz vorn immer noch: »… wir schützen die Sowjetunion!«

Als wir ein Stück weiter sind, sehen wir: Fünf Verhaftete sitzen auf dem Lastwagen.

Je näher wir dem Ziel kommen, desto dichter stehen die Menschen auf den Bürgersteigen. Alle winken, sie rufen uns »Rot Front!« zu. Vor drei Tagen: Wut und Empörung. Heute: leidenschaftliche Zustimmung!

»Die SA hat goldne Tressen – und das Volk hat nichts zu fressen!«

Eine helle Stimme steht über dem Zug. Zählt dann: »Zwei! – Drei!«

Die vielen Stimmen werfen die Sätze dröhnend gegen die Häuserwände. Plötzlich stockt der Marschtritt, die Reihen schwanken.

»Sie verhaften ihn!«

»Wen?«

»Weiß nicht!«

»Borstentolle! – Borstentolle!«

Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Zwei Schupos gehen an uns vorbei. Borstentolle, wegen seiner »Igelhaare« so genannt, in ihrer Mitte. Ich sehe, wie sie ihn zu den anderen Verhafteten auf den Lastwagen stoßen.

Endlose Straßen. Wir singen, singen: Die Internationale – Brüder, zur Sonne, zur Freiheit – zehn-, zwanzigmal hintereinander. Es sind die einzigen Lieder, bei denen nicht der Ruf: »Verboten!« kommt.

»Halt! Halt! – Stehenbleiben!«

»Warum, was ist los?«

»Ein anderer Bezirk biegt vor uns ein. Die Straße ist verstopft!«

Wir warten, warten. Von der Spree kommt ein eisiger Wind, jagt mir Kälteschauer über den Rücken. Ich sehe, wie Preuß mit den Zähnen klappert. Er hält immer noch die Fahne. Er will sie nicht abgeben. Rechts vor uns schiebt sich der andere Zug um die Ecke. Wir stampfen mit den Füßen, schlagen die Arme um den Körper. Ich reibe Käthes Hände. Ihr Gesicht sieht klein und verfroren aus. Unser Zug biegt in die Kaiser-Wilhelm-Straße ein. Wir sind dicht vor dem Bülowplatz. In der breiten Straße stehen zwei Züge nebeneinander. Achterreihen. Sie warten. Wir rücken links davon langsam weiter.

»Warum steht ihr denn?«

»Gib nich an – ihr steht ooch gleich«, lacht einer drüben. »Alle Straßen sind verstoppt. Sie ziehn schon stundenlang am KL-Haus vorbei, mein Junge!«

Zehn Meter noch – wir stehen. Zwölferreihen sind es jetzt. Die Straße ist in ihrer ganzen Breite mit Köpfen angefüllt. Alle singen. Der Himmel ist jetzt schon rot von den Lichtern der Stadt. Aus den Häusern, den Läden kommen plötzlich Frauen gelaufen. Sie haben Kochtöpfe, Tassen in den Händen, aus denen es dampft.

»Da, trinkt, werdet ausgefroren sein!«

Hände reichen Pakete mit Butterbroten herüber.

»Für die Arbeitslosen! – Sie werden Hunger haben!«

Vor mir kaut Preuß mit vollem Mund. Er wärmt sich die Hände an der Tasse.

»Am vorigen Sonntag hier«, sagt Käthe, »bei den Braunen!«

Wo ist eigentlich die Polizei? Nicht zu sehen. Es geht weiter. Da! Der Bülowplatz – das Parteihaus! Rote Transparente ziehen sich über die ganze Häuserfront. Die Fäuste fliegen hoch, der Gesang verstummt. Auf dem Podest steht Thälmann! Einige Männer stehen bei ihm.

Hinter mir sagt einer leise: »Das Zentralkomitee.«

Thälmanns Faust, das Gesicht unter der Schirmmütze, zieht vorbei. »Der steht schon stundenlang in der eisigen Kälte«, sagt Rothacker.

Seine Augen sind wie glänzende Kugeln unter der Nickelbrille. Vorbei! Klapp – klapp, machen die Stiefel. Wir marschieren schweigend.

Zwei Tage später gehe ich langsam die Wallstraße herunter. Ohne ein bestimmtes Ziel. Es ist früher Vormittag. Plötzlich schlägt mir jemand von hinten auf die Schulter.

»Servus, Ede.«

Ede dreht den Kopf weit herum. Sein rechtes Auge sucht mich. Anstelle des linken ist bei ihm eine rotfleischige, feuchtglänzende Höhle. Eine zwei Finger breite rote Narbe läuft von da bis zum Ohr. Die Ohrmuschel ist ein zusammengerollter schmaler Fleischklumpen. In dem freiliegenden Gehörgang steckt ein Wattebausch. Am linken Arm trägt er eine gelbe Blindenbinde mit den drei schwarzen Punkten.

»Fängst woll Fliegen, hä? – Haste Zeit?«

»Ja. Warum?«

»Ick jeh zur Wohle. Keene Pinke, wie immer. Mal Sprung auf marsch marsch machen, beim Vorsteher. Ich hab det janze Jemüse bei mir!«

»Gut, ich komme mit.«

Ede erzählt ununterbrochen. Mit dem Wirt hätte er Krach wegen der Miete. Er sei zwei Monate rückständig. Erst käme der Magen. Ob ich Franz heute schon gesehen hätte? Er müsse seine Sammelliste abrechnen.

Erich Hoffmann, wie wir ihn nennen, »Dreipunktede«, war Stoßtruppmann im Krieg. Das Auge und das halbe Ohr sind ihm beim Handgranatennahkampf weggerissen worden. Er hat das Eiserne Kreuz erster Klasse und das goldene Verwundetenabzeichen. Dass er »det Jemüse«, die Kriegsauszeichnungen nämlich, bei sich hatte, dachte ich mir, als ich die Blindenbinde sah. Denn so wie jetzt geht er meist nur, wenn er mit Behörden – oder bei uns – »arbeitet«. Edes »Spezialität« ist: Nachts an Kaimauern, Häusergiebeln Parolen malen, auf schwankendem Brett am Seil. Aber »er schreibt auch eine gute Handschrift« – mit der Faust bei Naziüberfällen. Auf dem rechten Auge sieht er sehr gut. Mehr als ein dutzendmal hat Ede schon vor Gericht gestanden. Immer wenn die Nazizeugen seine Mittäterschaft bekunden sollten, begannen sie zu zweifeln, und das rettete ihn. Der Mann mit der Kriegsblindenbinde und dem einen Auge war nicht dabei! Vor dem Richter lagen auch die Militärpapiere, das stimmte doch. Das schwere Wiedererkennen ist bei Ede begründet.

Er trägt bei dieser »Arbeit« stets sein Glasauge. Wenn die Luft aber »dick« wird, wandert es in die Tasche und die Blindenbinde aus ihr heraus.

Ich sitze im Wartezimmer des Wohlfahrtsamtes. Ede ist eben zu dem Vorsteher hineingerufen worden. Die Bänke rings an den schmutziggrauen Wänden sind dicht besetzt. Auch in der Zimmermitte stehen die Menschen eng zusammen. Alle Gesichter sind blass. Alle Kleider sind voller Flicken.

An meiner rechten Seite unterhalten sich zwei Frauen.

»Fleisch? Ich hab noch nie Fleisch ins Gemüse machen könn’.«

»Dann dürfen Sie aber den Kohl nur dämpfen und nicht abbrühen vorher. Sonst geht das letzte bisschen Kraft verloren.«

»Dämpfen? Wird genauso teuer. Das kostet doch wieder mehr Fett!«

Verbraucht ist die Luft. Von der Ofenecke kommen trockene Wellen, die in der Kehle brennen. Aber alle drängen dorthin, sie brauchen Wärme. Links von mir sitzt eine kleine blasse Frau. Sie hat einen Säugling auf dem Arm, wiegt ihn hin und her. Er greint leise, mit tiefem Schlucken. »Buh – buh – buh«, beruhigt sie ihn.

»Die jehn noch. Neue könn’ wir nich jeben. Flicken lassen könn’ wir die höchstens, hat der mir vor acht Tagen jesacht!«

Ein Mann mit schütterem, angegrautem Haar zeigt seine Stiefel dem Nachbarn. Das Leder ist über dem Spann und an den Seiten aufgeplatzt, die grauen Strümpfe sehen hervor.

»Aber ick jeh dem nich vonne Pelle! Die denken, mit uns könn’ set machen, wat?«, sagt er wieder.

Sein Nachbar, ein junger Bursche, lacht verächtlich.

»Adolf wird dir wohl neue jeben. Der verhandelt schon. In Köln, in de Villa von den Bankje Schröder. Wat meenste, wejen deine Stiefel ooch?«, fragte er mit bissigem Hohn.

»Die Brüder!«, sagt ein anderer. »Früher hat der Goebbels im Angriff gegen die geschrieben: die feinen Leute, die sich in das von uns gemachte Bett legen wollen, und Papen, der leicht angedoofte Mann!«

Die Tür des Sprechzimmers fliegt krachend auf. Ich höre Edes Stimme: »Hungern soll ick, wat! Aber meine Jesundheit hab ick im Schützengraben lassen dürfen! Ick sage Ihnen noch mal: Uff Ihre Kosten jeh ick jetzt essen. Bei Aschinger. Uff Ihre Kosten!«

»Ich warne Sie! Ich warne Sie!«, kreischt eine Stimme aus dem Zimmer.

Ede knallt die Tür zu, kommt auf uns zu.

»Wer hat Hunga von euch?«

Schweigen. Alle sehen ihn verdutzt an.

»Wat heißt Hunga – alle schieb’n wa Kohldampf«, sagt der junge Bursche.

»Kommt mit! Fünf Mann. Könnt jut essen, ick bezahle!«, sagt Ede.

Keiner rührt sich.

Einige Minuten später ziehen wir aber doch los. Fünf Mann hoch. Der junge, mir unbekannte Bursche und noch zwei Genossen, die ich vorher im Zimmer nicht bemerkt hatte.

»Los, sucht euch aus!«, drängt Ede, als wir im Lokal »Aschinger« sitzen. »Wat ihr wollt. Denkt euch, heute is Sonntach.«

Ich bestelle, Kotelett. Zwei aber sind plötzlich ganz verdattert. Für sie sagt Ede dem Kellner: »Eisbeen mit Sauerkohl. Aber jroße!« Wir essen. Ede redet und redet. Wir nicken, lächeln schüchtern. Auch mir ist jetzt nicht ganz wohl bei der Sache.

»Noch ’ne anständ’je Molle und ne Zijarre, wat?«, fragt Ede, als wir fertig sind.

Wir zucken mit den Schultern. Aber Ede bestellt. Er hat überhaupt zwei Portionen gegessen. Wir haben leise, aber bestimmt abgelehnt. Die Biergläser sind leer, die Zigarren aufgeraucht.

»Nu jeht – ick bleibe hier«, erklärt Ede.

Wir machen große Schritte. Der Kellner sieht uns nach. Ich fühle seinen Blick noch im Nacken. Draußen bleibe ich allein an der äußersten Ecke der Schaufensterscheibe stehen. Ede winkt den Kellner heran. Ich sehe, wie dem der Mund aufklappt, er läuft hastig fort – kommt mit dem Geschäftsführer wieder. Der gestikuliert mit den Armen, sein breites Gesicht wird rot. Im Lokal drehen alle die Köpfe. Warum soll ich auch noch …? Ich gehe bis zur Ecke. Ich warte. Bald darauf laufen zwei Schupos über den Fahrdamm. Sie kommen einen Augenblick später, mit Ede in der Mitte, aus dem Lokal. Bringen ihn zur Polizeiwache. Die ist nur eine Querstraße entfernt. Ich folge ihnen in einiger Entfernung, bleibe wieder an dieser Ecke stehen. Zwanzig Minuten vergehen, eine halbe Stunde. Mir wird kalt. Da kommt Ede aus dem Haus. Allein! Er nickt mir zu, grinst. An der nächsten Ecke bin ich neben ihm.

»Menschenskind!«

»Wat denn, wat denn!«, lacht Ede. »Ick hab dem Leutnant det Jemüse uff den Tisch jepackt. Soll ick als Frontkämpfer hungern?, hab ick jesacht.«

»Und bei Aschinger?«

»Der Kellner is ooch bloß Prolet, klar«, sagt Ede. »Ick hab dem Jeschäftsführa erklärt: Der Mann kann nich dafür. Rufen Se man bei de Wohle an, der Vorsteher weeß Bescheid.«

»Die werden dir was einbrocken.«

Ede knufft mich in die Seite.

»Wat kann denn det schon bring’n? Acht, vielleicht vierzehn Tage. Die sitz ick uff eener Arschbacke ab!«

Am Mittag des 30. Januar läuft eine Nachricht durch alle Wohnungen der Wallstraße: Hitler ist Reichskanzler.

Hitler ist – ich will das selbst lesen! Dem Zeitungshändler an der Ecke werden die Mittagsblätter aus der Hand gerissen. Die Schlagzeile der Zeitung geht mit mir die wenigen Häuser zurück, steigt die zwei Treppen hoch, liegt vor mir auf dem Tisch:

Adolf Hitler Reichskanzler!

Ich lese die Buchstabenreihen darunter, lese sie noch mal. Franz! Ich muss zu Franz! – Es klopft draußen hart an der Tür. Es ist Franz! Er gibt mir die Hand, geht langsam durch den Korridor, als suche er mein Zimmer, als sei er zum ersten Mal hier. Dann nimmt er die Mütze ab. Seine blonden Haare sind durchgeschwitzt. Seine Lippen sind schmal. Alt sieht er aus. Mir ist, als hätte ich ihn jahrelang nicht gesehen.

»Du gehst mit Ernst Schwiebus eure Fünfergruppen benachrichtigen«, sagt er.

»Um sieben ist Demonstration. Alter Sammelplatz. Sorgt dafür, dass alles blitzschnell geht!«

Seine grauen Augen glänzen. Knapp, als wiederhole er nur, was längst besprochen ist, sagt er das. Der ist schon mit der Zeitungsmeldung fertig – schon einen Schritt weiter.

»Mach’s gut – ich muss weiter!«

Ich will reden, ihm alles sagen, was in mir wühlt. Aber Franz ist schon an der Tür, nickt mir noch mal zu, springt in langen Sätzen die Treppen herunter.

Demonstrieren – schon wieder?! Es ist, als ob wir uns noch mal sattdemonstrieren wollen! – Was bleibt von unserem persönlichen Leben jetzt noch übrig? Übermorgen ist der 1. Februar. Da wollte ich zu Zanders ziehen. Wir wollten heiraten, Käthe und ich. Aber vorige Woche haben die Willi aufgenommen. Er ist illegal. Aus Mitteldeutschland geflüchtet. Sie suchen ihn. Er hat Flugblätter in eine Reichswehrkaserne geschmuggelt. So blieb alles, wie es war. Wir können doch nicht zu fünft in den zwei Zimmern wohnen.

Der Abend kommt. Wir gehen in kleinen Gruppen durch unsere Straße. Sie ist wie ein Ameisenhaufen, in den man getreten hat. Vor allen Haustüren stehen Menschen, diskutieren erregt.

Der Sammelplatz ist ein wogender Menschenhaufen. Der zieht sich aber blitzschnell auseinander, Viererreihen formieren sich. Die Luft ist geladen. Ich sehe nirgends eine Fahne. Da kommt mir die Situation wieder zum Bewusstsein. – Die beschlagnahmen sie sonst gleich! Die Demonstration ist ja nicht angemeldet – dummer Gedanke – wie kann sie es auch sein. Wo ist die Polizei? Ich sehe keine. Da sind unsere Gruppen!

»’n Abend, ihr«, sage ich hastig.

Käthe gibt mir die Hand. Sie freut sich.

»Ist Willi auch hier?«

Sie sieht mich erstaunt an.

»Nein. Der muss sich doch vorsehen.«

»Ich marschiere mit den Häuserschutzstaffeln«, sage ich schnell. Ich ärgere mich. Dass ich jetzt die blöde Frage nach Willi gestellt habe!

»Die sind vorn. Ich bleibe hier«, sagt Käthe.

Das alles hat nur Augenblicke gedauert. Vorn setzt sich der Zug schon in Bewegung. Ich laufe. Eine rote Fahne steigt plötzlich links aus dem Zug – da – noch eine! Da ist die Polizei! In kleinen Gruppen läuft sie neben dem Zug her, mit den Sturmriemen unter dem Kinn. Da fährt auch ein Lastwagen! Er ist dicht mit blauen Uniformen besetzt. Wie lang der Zug ist! Straffe Reihen junger Burschen kommen. Die Häuserschutzstaffeln. An ihrer Spitze gehen Richard Hüttig und Franz Zander. Sie werfen mir einen kurzen Blick zu, als ich neben ihnen auftauche.

»Das wird unsere letzte geduldete Demonstration sein!«, höre ich Franz sagen. Seine Stimme klingt hart.

In Hüttigs Gesicht zucken die Kinnladen.

»Ja – dann kommt das Parteiverbot!«

»… reinen Tisch macht mit dem Bedränger – Heer der Sklaven, wache auf …«

Wir singen. Es ist uns plötzlich wie ein neues Lied, als ob wir es zum ersten Mal singen. Mir wird heiß unter der Jacke, mein Herz klopft.

»… Erkämpft das Menschenrecht …«

Das Lied ist vorbei. Wenig Polizei, sie hält sich auch abseits. Die wissen, dass sie heute nicht nur Demonstranten vor sich haben, sondern eine maßlos erregte Volksmenge, voller Hass und Entschlossenheit. Die engen, schlecht beleuchteten Straßen, die dichten Menschenreihen auch auf den Bürgersteigen, die werden sich hüten …

Franz sieht Richard Hüttig an.

»ls ’ne Demonstration heute! Die ganzen Seitenstraßen voll. Alles dabei, viele Sozialdemokraten.«

»Wenn’s nur nicht schon zu spät ist!«

Eine helle, starke Stimme ruft plötzlich: »Nieder mit der Hitlerregierung! Nieder mit dem Faschismus!«

»Nieder! Nieder! Nieder!«, schreit es tausendstimmig.

Auf dem Lastwagen der Polizei dreht sich der Scheinwerfer, der bisher die Straßenfenster abgesucht hat, mit einem Ruck zu der Stelle, von der der Ruf kam. In Gruppen rennen Schupos an uns vorbei. Ich sehe, wie sie dort abwartend neben dem Zug hergehen. Sie teilen sich aber bald, kommen zu uns an die Spitze, rennen auch nach hinten, wo der Zug eben als dunkle Schlange um eine Ecke biegt. Von überall kommen jetzt Rufe aus dem Zug. Jedes Mal rennen Schupos. Aber ich fühle: Die wollen uns nur einschüchtern, sind selbst verstört. Sonst haben sie immer längst dazwischengeschlagen. Der Polizeilastwagen kommt langsam den Zug entlanggefahren. Sein Scheinwerfer tastet unsere Reihen ab. Die wollen vor Überraschungen sicher sein.

Wir ziehen an einer Fabrik vorbei. Der uniformierte Pförtner steht in der Toreinfahrt. Die Fenster der Werkhallen sind hell erleuchtet.

»Franz!«

Er sieht mich an.

»Wir müssen morgen früh vor den Betrieben sein. Wenn die weiter arbeiten …«

»Kommst nachher mit, aber unauffällig. Schon besprochen«, sagt er kurz.

Eine Stunde später. Richard Hüttig und Frank Zander gehen zehn Meter vor mir her. Die Straßen liegen leer und verschlafen. Sie gehen in eine Kneipe. Ich folge ihnen. Sie stehen schon an der Theke und trinken Bier. Die trinken jetzt ruhig Bier! Ja, was denn, ich denke …? Da gehen sie schon wieder. Endlos lang sind die Straßen. Wir sind doch gar nicht mehr in unserem Bezirk! Sie verschwinden wieder in einer Kneipe, stehen wieder an der Theke. Was soll denn der Blödsinn! Ich will auf Franz zugehen, ihm meine Meinung sagen, da gehen sie auch schon an mir vorbei, hinaus. Sie sehen mich überhaupt nicht an. Ihre Gesichter sind so abweisend, dass mir die Worte in der Kehle steckenbleiben. Die tun, als ob sie mich überhaupt nicht kennen! Ich laufe wieder hinterher. Das ist ja alles albern. Die sind verrückt, total verrückt! Eine dritte Kneipe kommt. Ich nehme mir fest vor, mich diesmal nicht wieder wie ein Trottel hinterherlotsen zu lassen. Die beiden bestellen wieder Bier. Das Lokal ist schwach besucht, nur an einem Tisch sitzt eine lärmende Skatrunde. Die Karten klatschen auf das Holz. Ich sehe, wie Franz und Richard die leeren Gläser absetzen. Wenn sie jetzt an mir vorbeigehen … Aber sie gehen langsam durch den Raum, verschwinden hinter einer Tür.

Das Zimmer ist sehr voll. Ich setze mich still in eine Ecke. Die Gesichter ringsum sind mir fremd. Franz und Richard sitzen an der anderen Seite. Ein großer, rotblonder Mann steht vorn an einem quergestellten Tisch. Er sieht alle der Reihe nach an, wirft jedem ein Wort an den Kopf.

»Du?«

Es ist wohl für alle wie eine lange Frage. Die Antworten kommen knapp zurück: »Rote Hilfe – Zelle 217 – IAH – Zelle 274.«

Franz nennt unsere Zellennummer. »Häuserschutzstaffeln«, sagt Hüttig.

»Du?«

Der Rotblonde sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. Sein Blick verwirrt mich.

»Ich … ich …«

»Wer kennt ihn?«, höre ich ihn scharf fragen.

»Ich – ist in Ordnung!«, sagt Franz drüben.

Neben ihm hebt Richard Hüttig den Zeigefinger. Ich kenne ihn auch, soll das heißen. Und ob Richard mich kennt! Auf einmal freue ich mich sehr, dass er mich kennt, ja ich bin sogar stolz. Wie lange kenne ich ihn eigentlich? Drei Jahre schon. Wie er vornübergebeugt dasitzt! Seine gedrungene Gestalt sieht jetzt noch kleiner aus. Er macht immer ein so ernstes Gesicht, als ob er ständig über schwere Fragen grübelt. Jetzt sind die Falten um den schmalen Mund, über den buschigen Augenbrauen in der Stirn noch tiefer. Die dunkelblonden, dichten Haare liegen wirr darüber. Wie er hier wohl reden würde? Wie immer, knappe Sätze. Rau. Er hat immer halb gebellt. Richard!

Ich war wohl der letzte, der gefragt wurde. Der Rotblonde vorn spricht: »Genossen! Für uns kommen morgen früh folgende Betriebe in Frage: die Aronwerke, Zwietusch, das Wernerwerk und das Schaltwerk in Siemensstadt. Die Flugblätter werden heute Nacht an den euch bekannten Stellen in der Laubenkolonie abgezogen. Ihr holt sie morgen ganz früh ab!«

Er macht eine Pause, sein Blick geht die Reihen herum.

»Bleibt bis dahin die Nacht durch in Alarm. Ihr habt doch eure Genossen verständigt? Es wird …«

Die Tür geht auf. Ein junger Genosse geht auf den Rotblonden zu. Sein Gesicht ist krebsrot, er sieht abgejagt aus. Sie sprechen leise, dann geht der junge Genosse.

Der Rotblonde sagt wieder: »In diesem Augenblick macht die gesamte Berliner SA einen Fackelzug durch das Regierungsviertel. Sie wird siegestrunken zurückkommen, ein Grund mehr, wachsam zu sein! Ist alles klar oder hat noch jemand eine Frage?«

Niemand meldet sich.