Unter Vormundschaft - Lisbeth Herger - E-Book

Unter Vormundschaft E-Book

Lisbeth Herger

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Beschreibung

1958 wird Lina Zingg als 18-Jährige in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Einige Monate später vermittelt man sie - mit der Diagnose Schwachsinn versehen - als Hausangestellte an eine Familie. Dort arbeitet die Rheintaler Bauerntochter während über 50 Jahren ohne Frei- und Ferientage im Haushalt, wird sexuell missbraucht und misshandelt. Die Hausherrin drängt auf Entmündigung, macht aus der Dienstmagd einen Betreuungsfall. Die Zürcher Behörden werden erst 2011 aktiv, nachdem die Töchter der Täterin einschreiten und eine Gefährdung melden. Die Geschichte der Lina Zingg (Pseudonym) ist die Geschichte einer Versklavung in gutbürgerlichem Milieu. Auf der Basis umfassender Recherchen erzählt Lisbeth Herger, wie die Vormundschaftsbehörde in ihrem Auftrag versagt hat. Ein schockierender Extremfall, der dennoch wesentliche Grundmuster der Schweizer Psychiatrie- und Vormundschaftsgeschichte illustriert.

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An den Rändern zeigt sich,wie die Mitte dreht.

Am 26. Januar 2011 wird Lina Zingg aus ihrer Leibeigenschaft befreit. Sie hat während 53 Jahren ein und derselben Herrin gedient. Als Dienstmädchen in einem Privathaushalt. Ohne freien Tag, ohne Ferien, meist ohne Lohn. Sie wurde zudem missbraucht und misshandelt. Ihr Martyrium blieb bei der Vormundschaft all die Jahre unerkannt.

Mit 18 Jahren war die Bauerntochter Lina an Erschöpfung erkrankt. Die Psychiater diagnostizierten bei ihr Schwachsinn und Schizophrenie. Später wurde sie als Dienstmädchen fremdplatziert, dann entmündigt. Ihre Dienstherrin täuschte die Behörden, machte aus dem Hausmädchen einen Pflegefall. Statt Lohn zu bezahlen, kassierte sie Betreuungsgeld.

Am Tag ihrer Befreiung wiegt Lina Zingg knapp 45 Kilogramm. Sie ist komplett abgemagert. Auf der Nase sitzt ein bösartiger Tumor. Sie ist schwerhörig, Finger- und Fussnägel sind von Pilz befallen, und der graue Star verschleiert ihren Blick.

Ihre Befreiung findet lautlos statt. Eine Art amtlich bewilligte Entführung, im Rahmen einer ordentlichen Besprechung in einem Sitzungszimmer der Zürcher Vormundschaftsbehörde. Ausgelöst durch eine Gefährdungsmeldung der Töchter der Täterin.

Lina Zingg ist bei ihrer Befreiung knapp 71 Jahre alt. Sie findet erstaunlich schnell in ein neues Leben. Und fängt zaghaft an, den Geschmack der Freiheit zu kosten.

Lina Zingg ist ein Pseudonym. Ihre Geschichte aber ist real. Rekonstruiert und nacherzählt auf der Basis sämtlicher Akten zu ihrem Fall, von Recherchematerialien aus ihrem familiären Umfeld und dem der Täterfamilie, von Gesprächen mit ihr selbst, eingebettet in die Zeitgeschichte. Sämtliche Personen und Ortsnamen sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert, die beruflichen Tätigkeiten sind ebenfalls leicht verändert. Einzig das Rheintal, Zürich, Locarno und die Psychiatrische Klinik in Wil werden als authentische Schauplätze benannt, sie verorten Linas Schicksal in ihrer soziokulturellen Umgebung.

Das Buch ist Lina Zingg gewidmet. Und allen ihren namenlosen Schwestern.

Inhalt

I Die Zeit in den grauen Wänden

II Keine Chance für Lina

III Lina, das Dienstmädchen

IV Die erstrittene Magd

V Entmündigung auf eigenes Begehren

VI Lina, die Schutzbefohlene

VII Emma gibt nicht auf

VIII Die Goldmarie – ein Millionengeschäft

IX Ein Leben hinter dem Vorhang

X Die Befreiung

XI Rückkehr in die Welt

XII Auf der Suche nach der verlorenen

Wahrheit

Anmerkungen

Quellen und Literatur

IDie Zeit in den grauen Wänden

Der 31. März fällt im Jahr 1958 auf den Tag nach Palmsonntag. Tags zuvor hat man in der Heiligkreuzkirche in Vorderberg die Lorbeerzweige gesegnet, das übliche Ritual. Die geweihten Zweige, später daheim hinters Kruzifix gesteckt, sollen Glück bringen übers Jahr, im St. Galler Rheintal genauso wie überall in der katholischen Welt.

Doch bei Hans Zingg zeigt das Glück sich störrisch. Just an jenem Montag wird der Bauer frühmorgens auf den Polizeiposten gerufen. Er soll seine 18-jährige Tochter Lina abholen, die nachts im Bett eines minderjährigen Burschen aufgegabelt und vom Vater des forschen Jünglings auf den Polizeiposten gebracht worden sei. Hans Zingg stösst die Sache sauer auf. Mit seiner Lina stimmt etwas nicht, sinniert er, während er sich auf den Weg macht und später wortlos mit ihr heimwärts strebt. Schon länger geht das nun so, dass das einst fleissige Mädchen verstockt vor dem Kochherd flieht, und reden tut es auch nicht mehr, weder mit ihm noch mit seinen Brüdern. Zu Hause lässt er den Hausarzt holen. Dr. Sandsteins Visite dauert nur kurz, schliesslich hat er früher schon die kranke Mutter versorgt, die sich auch mit den Nerven plagte, und er schickt den Vater mit seiner Tochter umgehend in die Kantonale Heil- und Pflegeanstalt nach Wil. Ins Irrenhaus also oder ins Asyl, wie die Einheimischen ihre psychiatrische Klinik noch immer nennen. Dorthin, wo man all jene versorgt, die nicht mehr richtig im Kopf sind, die mit ihrem Leiden und sonderbaren Gebaren ihre Familie oder gar das ganze Dorf verunsichern oder ängstigen.

Ungefähr so mag der Morgen sich abgespielt haben, der dazu führt, dass Lina Zingg nachmittags um halb vier in der Psychiatrischen Klinik Wil als Notfall aufgenommen wird. Der diensthabende Arzt eröffnet routinemässig eine Krankenakte, Lina bekommt die Nummer 24.617, und auf dem Kopfblatt notiert er den detaillierten Aufnahmestatus der jungen Patientin: «18-jg., rotwangige Tochter, gesund aussehend, wird in Begleitung ihres Vaters uns zur Aufnahme gebracht. Die allseitig orientierte Patientin ist ziemlich autistisch als wäre sie abwesend, geht auf Fragen ein, kann aber nicht Bestimmtes angeben, alles nur vage, ungenau. Sie sei schon vor etwa zwei Jahren in den Nerven d’une gsi, sie habe nicht schlafen können, sei aufgeregt gewesen, sie habe aber nicht in ein Spital müssen, sondern sei von dem Hausarzt behandelt worden. Bis vor einigen Tagen habe sie regelmässig gearbeitet. Gestern sei sie von zuhause fort und mit einem Burschen gegangen. Wahnideen und Halluzinationen negiert die Patientin.»

Lina Zingg wird in den Wachsaal der Frauenabteilung A eingewiesen, eine Pflegerin kümmert sich um sie, wird später in ihrem Aufnahmerapport die Eindrücke des Arztes bestätigen, so die gesunde Farbe der jungen Frau in ihrem gutmütigen Gesicht oder dann die merkwürdige Abwesenheit in ihren träumerischen Augen, «ihr Blick scheint immer weit fort zu sein». Zusätzlich ist ihr aufgefallen, dass «die Patientin an sich unsauber und auch ihr Kleid schmutzig» gewesen sei, dass sie einen schwachen Händedruck habe und sehr langsam reagiere, aber «örtlich und zeitlich gut orientiert» sei. Später wird die Patientin nach ihrem Leben befragt, und es fügen sich erste Eckdaten zu einer Anamnese.

Sie sei in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, der Vater habe etwas Landwirtschaft (vier Kühe) gehabt und auch noch als Hilfsarbeiter gearbeitet. Die Mutter sei krank gewesen, habe es immer «in den Nerven» gehabt und sei ungefähr 1947, so viel sie wisse, an einer Blinddarmentzündung gestorben. Eine Schwester der Mutter habe dann einige Jahre den Haushalt geführt und für die drei kleineren Brüder gesorgt. Als sie ungefähr in der sechsten Klasse gewesen sei, sei die Tante weg und sie habe alles machen müssen. […] Direkt nach der Schule habe sie zuerst in einer Spinnerei gearbeitet und sei dann in die Weberei gegangen.

Lina Zingg erzählt offenbar bereitwillig aus ihrem jungen Leben, man kann verstehen, warum sie sich, wie im Aufnahmerapport vermerkt, gar ein bisschen zu freuen scheint über ihren Eintritt in die Klinik. Über anderes jedoch schweigt die junge Frau sich aus, darüber, dass ihre eine Schwester mit vier Jahren an Diphtherie gestorben ist und die andere kurz nach der Geburt. Oder dass ihr Vater ein roher Mann ist, jähzornig und mit einer im Zuschlagen lockeren Hand. Und auch für den Schmerz, der seit dem Tod ihrer Mutter in ihrem Herzen nistet, findet sie vor den fremden Männern in den weissen Kitteln keine Worte.

Beim katholischen Pfarrer von Vorderberg holen die Ärzte telefonisch ergänzende Informationen zu Linas Angaben für die Anamnese ein. Dieser kennt die Zinggs seit vielen Jahren, stützt sich in seiner Referenz zusätzlich auf den Vater, der «allerdings auch recht unintelligent» sei, und lenkt den Blick auf die erblichen Vorbelastungen:

Die Mutter sei ungefähr 1936 geistig krank geworden, habe durcheinander geredet. Drei Jahre nach Beginn der Erkrankung habe sie geheiratet […] man habe ihr immer angemerkt, dass sie nicht recht im Kopf sei, aber sie sei nie in einer Anstalt behandelt worden [… ] Bei Lina sei die Störung erst vor ungefähr einem Jahr aufgetreten, wo sie auch ihm selber aufgefallen sei. Sie habe durcheinander geredet und sei – ebenfalls nach Angaben des Vaters – nachts im Hause herumgelaufen, habe gesungen und gebetet und vor allem habe sie den Haushalt, den sie für den Vater und die drei kleineren Brüder neben der Fabrikarbeit noch zu versorgen hatte, nicht mehr in Ordnung gehalten. Sie habe sich einfach ins Bett gelegt und nichts mehr getan […] Er sei der Ansicht, dass es sich bei dem Mädchen neben einem leichten Schwachsinn um ähnliche geistige Störungen handle, wie sie die Mutter gehabt habe.

Der Pfarrer profiliert sich also als versierter Diagnostiker, während Lina den Ärzten eher ratlos von ihrem seltsamen Leiden erzählt:

Schon kurz nach Abschluss der Schulzeit habe es angefangen, dass sie zeitweise durcheinander gewesen sei und nicht gewusst habe, was sie redete. Manchmal sei sie auch nachts unruhig und ängstlich gewesen und habe nicht im Bett liegen können, sodass sie im Haus herumgelaufen sei. Der Vater sei immer sehr streng mit ihr gewesen und habe sie nie alleine ausgehen lassen. In der letzten Zeit sei sie sehr müde gewesen, weil sie schlecht habe schlafen können und es sei immer wieder über sie gekommen, dass sie nicht mehr richtig habe denken können.

Ihre zeitweiligen Absenzen hätten zum Teil böse Folgen gehabt, gesteht sie später der Pflegerin beim ersten Bad in der Klinik, sie habe zum Beispiel beim Bügeln sehr viel Wäsche verbrannt, habe dabei an etwas herumstudiert, und dann sei das Eisen zu heiss geworden. Spricht man Lina Zingg, die heute als über 70-Jährige in einem Wohnheim ihr neues Leben erprobt und dies zunehmend geniesst, auf ihre Leidenszeit von damals an, erinnert sie – neben anderem, das dunkel verborgen bleibt – erstaunliche Details. Etwa zu ihrer radikalen Appetitlosigkeit, als sie nicht mehr essen und trinken mochte, einfach nichts sei mehr hinuntergerutscht, sie sei jeweils nach Feierabend von der Weberei mit dem Velo heimgefahren und habe sich nur noch ins Bett gelegt. Und keiner habe nach ihr gefragt. Ihr ältester Bruder Werner jedoch, damals ein 15-jähriger Schulbub, weiss heute kaum mehr Einzelheiten von Linas Leiden. Zwar war er seiner Schwester aufgrund seines ähnlichen Alters und im Alltag nah, half ihr all die mutterlosen Jahre die Haushaltsbürde tragen und liess sich von ihr das Kochen und Waschen und Stricken beibringen, aber zu ihrer Erkrankung hat er nur vage Erinnerungen. Er sieht sie aber noch vor sich, wie sie immer weniger und schliesslich gar nicht mehr oder daneben redete, dafür aber nachts manchmal laut vor sich hinsang.

Man hatte die schleichenden Veränderungen der jungen Frau also sehr wohl bemerkt, wie die Krankengeschichte notiert und Bruder Werner bestätigt, jedoch wurden sie in keiner Weise als Leiden gelesen, und es wurde darauf auch nicht reagiert. Der Herr Pfarrer sah darin das unabänderliche, erblich bedingte Fortwirken defekter Chromosomen, der Vater wohl zuallererst einen ärgerlichen Verlust, weil in seinem Witwerhaushalt abends kein Essen mehr auf dem Tisch stand oder weil das unkonzentrierte Mädchen beim Bügeln sein Sonntagshemd verbrannte. Man liess Linas Erkrankung – die eine unterschiedlich lang geschätzte Phase andauerte – einfach schlittern. Nicht ohne Bitterkeit erzählt Lina heute von ihrer Einsamkeit in diesen Jahren, davon, dass dies damals keinen Menschen gekümmert hatte.

Erst als sie das erste Mal allein ins Dorf geht und mit einem jungen Mann alkoholisiert im Bett gefunden wird, wacht man in Vorderberg auf. Und dann aber richtig. Mit Polizeieinsatz und Überweisung in die Psychiatrie. Was Schlaflosigkeit und nächtliches Singen all die Monate zuvor nicht vermochten, schafft eine Bettaffäre im Nu. Das macht in der katholisch-bäuerlichen Welt im Vorderberg der 1950er-Jahre durchaus Sinn. Denn jetzt steht mehr auf dem Spiel als nur das Wohl einer jungen Frau, jetzt geht es um familiäre Ehre, um weibliches Wohlverhalten und um eine mögliche Schwangerschaft. Jetzt erst findet der Vater mit seiner Tochter zum Hausarzt, und dieser zögert nicht lange, er hat, so liest man im Überweisungsschreiben, seine Diagnose bereits parat, sie könnte helfen, die Sache nach aussen wieder ins Lot zu bringen.

Ich überweise Ihnen heute Frl. Zingg Lina, geb. 2.4.40, von Hans, Bachgasse, Vorderberg, zur Beobachtung wegen Verdacht auf eine Schizophrenie. Das Mädchen leidet seit ca. 2 Jahren an religiösen Wahnideen, hört gelegentlich Stimmen. Gestern wurde es von einem Burschen vergewaltigt, nachdem es von diesem betrunken gemacht worden war.

Mit vorzüglicher kollegialer Hochachtung

Dr. med. W. Sandstein

Das Schreiben des psychiatrisch ungeschulten Hausarztes setzt bereits zu Beginn dieser Krankengeschichte eine entscheidende Wegmarke. Er vermutet eine Schizophrenie, stützt sich dabei auf Symptome wie Wahnideen und imaginäre Stimmen, Symptome, die Lina im Aufnahmegespräch eindeutig verneint und die im weiteren Verlauf auch nie wieder beobachtet werden. Im Gegenteil, Halluzinationen sind später, in der diagnostischen Argumentation, explizit als fehlende Symptome aufgeführt, ihre Absenz wird gar ein wenig bedauert, da sie der Eindeutigkeit der Diagnose zuwiderläuft. Offenbar hat hier der Hausarzt, genauso wie später der Herr Pfarrer, im Fall von Lina sogleich an ihre Mutter gedacht und war verführt, in der diagnostischen Vorarbeit an jenem Morgen nicht ganz trennscharf zu denken. Dies ganz im Einklang mit dem Diagnostikwahn Schizophrenie in jener Zeit und mit den damals populären Vererbungslehren in der Psychiatrie. Schizophrenie stand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für eine Vielzahl von psychischen Störungen. Als Oberbegriff war die Diagnose erstmals 1911 vom Zürcher Psychiater und Burghölzli-Direktor Eugen Bleuler in die Psychiatrie eingeführt worden. Aufgrund ihrer Unschärfe wurde sie entsprechend inflationär gestellt und hatte weitreichende Wirkung, vergleichbar mit der früheren Diagnose Hysterie bei Frauen mit psychischem Leiden. In der Folge wurden viele Kliniken geradezu überflutet mit «Schizophrenen», im Zürcher Burghölzli etwa waren zeitweise über 50 Prozent der Patienten als schizophren verzeichnet. Der in den Fussstapfen des berühmten Vaters fortwirkende Sohn Manfred Bleuler beschäftigte sich in seiner Habilitation ebenfalls mit der Schizophrenie, erweiterte später das väterliche Standardwerk «Lehrbuch der Psychiatrie», reicherte dabei die eugenischen Gedanken seines Vaters mit rassenhygienischen Überlegungen an und schrieb – eine entscheidende Neuerung – die Ursache der Krankheit massgeblich der Vererbung zu. Noch später dann begann man in der Psychiatrie, die Schizophrenie differenzierter und kritischer zu betrachten, als ein Zusammenspiel neurobiologischer, psychologischer und sozialer Einflüsse, in gewissen Fällen sogar als rein stressbedingte Psychose, und inzwischen ist die Psychiatrie dabei, sich von diesem unscharfen Begriff langsam wieder zu verabschieden.1

Damals, als Lina in Wil eingewiesen wird, Ende der 1950er-Jahre – Europa steht im Verdrängungsschock brauner Ideologie und übt Muskelspiele im Kalten Krieg –, dominiert in den Köpfen der Ärzte noch beharrlich die Bleuler-Ideologie der Vererbungslehre. Und entsprechend betreiben die Psychiater ihre diagnostische Arbeit, suchen bei Lina entlang ihrer Symptomliste nach der Bestätigung für die bei ihr vermutete Schizophrenie.

Grundsätzlich ist die Patientin körperlich kerngesund, das belegen die Datenblätter zu den Routineuntersuchungen mit ihren Laborwerten, das bestätigt auch das Elektrokardiogramm. Weiter liest man aus der Krankengeschichte, dass der Eintritt in die Klinik eine beruhigende Wirkung hat, gemäss Pflegerapport schläft Lina die erste Nacht gut. Tagsüber ist sie freundlich und nett, liegt aber oft einfach ruhig auf dem Rücken, den Blick starr zur Decke gerichtet. Schlafmittel lehnt sie ab. «Frl. Zingg schlief anfänglich wenig, wollte jedoch kein Medikament haben. Nach Mitternacht schlief Patientin gut.» Bemerkenswert ist die Differenz zwischen dem Pflegerapport, der die Entspannung in den Fokus rückt, während der Arzt in seinem Ersteintrag Linas Verwirrung betont: «Wenn man sie anspricht, tritt deutlich zutage, dass sie vorbeiredet, auf ihr gestellte Fragen völlig unpassende Antworten gibt, als ob sie die Frage überhaupt nicht gehört hätte und zeitweise zerfahren daherredet. Wie auch der persönliche Eindruck auf eine Debilität hinweist. […] Die Pat. [Patientin] nimmt keinerlei Kontakt mit den andern Pat. auf, sitzt abgekapselt auf der Stube und näht oder strickt, hilft aber auch willig bei der Hausarbeit, wenn die Schwestern dazu auffordern. Und erweist sich dabei als geschickt und fleissig.»

Nach 17 Tagen fällt das Ärzteteam beim gemeinsamen Rapport eine erste Entscheidung. Da der Zustand der Patientin unverändert ist, wird mit einer «grossen Insulinkur begonnen». Also mit einer Schocktherapie. Über das tägliche Spritzen des Insulins wird der Körper künstlich in ein Koma versetzt, anschliessend lässt man die Patienten langsam wieder aufwachen. Der Körper mobilisiert bei dieser gezielten Rosskur – so hätte sie Lina vielleicht genannt, hätte man sie gefragt – besondere Kräfte, und genau diese sollen Körper und Geist in der Selbstheilung unterstützen. Nebst diesen via Schock ertrotzten Überlebensreflexen wird der über Wochen oder Monate angelegten Kur auch eine psychotherapeutische Wirkung zugeschrieben, da die Kranken dabei eng betreut und umsorgt werden müssen. Der Therapieentscheid der Wiler Psychiater fällt übrigens in eine Zeit, in der die Insulinkur andernorts bereits wieder abgesetzt wird. Zum Beispiel im Zürcher Burghölzli, dort also, wo man sie in den 1930er-Jahren entwickelt hatte. Hier arbeitet man inzwischen mit Elektroschock, damit lassen sich dieselben Effekte erwirken, aber mit kleinerem Aufwand und weniger Kosten.

Zurück zur Patientin Lina Zingg. Bei ihr lassen die Erfolge der täglichen Spritzenkur vorerst auf sich warten: «Im bisherigen Verlauf der Insulinbehandlung sind keine wesentlichen Veränderungen des psychischen Zustands eingetreten. Die Pat. steht immer noch läppisch lächelnd auf der Abt. [Abteilung] herum, arbeitet, wenn man sie dazu auffordert, recht fleissig, ist von sich aus aber völlig initiativlos. Die Insulinkur wird fortgesetzt.» Nach 24 Kurtagen stellt sich dann endlich ein erster Erfolg ein: «Objektiv gesehen hat sich der Zu stand insofern etwas gebessert, als die Pat. jetzt ab und zu von sich aus an Arbeiten herangeht und weniger häufig ihre Zustände, wie sie die immer noch gelegentlich auftretende Zerfahrenheit bezeichnet, bekommt. Sie wirkt auch etwas weniger steif, zeigt jedoch immer noch ein recht inadäquates affektives Verhalten, lacht läppisch in unangepassten Situationen, ist zeitweise abweisend, auch wenn ihr die Schwestern freundlich entgegenkommen, und drängt sich auf der andern Seite fast klebrig wirkend zu Arbeiten auf, bei denen sie nicht gebraucht würde.»

Der ärztliche Rapport widerspiegelt mit den stereotypen Zuschreibungen wie läppisch oder inadäquates affektives Verhalten die damals übliche Terminologie in der Diagnostik von Schizophrenie. Bei den Deutungsmustern setzt sich zudem der männlich geprägte Blick aus dem Bildungsbürgertum durch. Möglicherweise sind Linas unbeholfene Versuche, sich im langweiligen Klinikalltag nützlich zu machen, weniger Anzeichen einer psychischen Störung als ein gesunder Impuls der auf Arbeit getrimmten Bauerntochter. Sie kennt das Nichtstun – ausser sie liegt schwerkrank im Bett – nur als Zustand der Sünde, der, nebst der Langeweile, allenfalls Schuldgefühle provoziert. Solche Deutungsraster, die in den Alltag eines mausarmen Rheinthaler Bauernmädchens ausgegriffen hätten, konnte man damals weder in den medizinischen Lehrbüchern noch von den damit ausgebildeten Psychiatern erwarten. Die Bauernstube war für die Herren Doktoren eine Terra incognita.

Sechs Wochen nach Lina Zinggs Einweisung fasst der Chefarzt der Klinik, Dr. Rauheisen, in einem ersten Resümee die Befunde und Beobachtungen in eine Diagnose: «Hebephrenie und Debilität leichten Grades bei einem jetzt 18-jährigen Mädchen aus sehr primitiven Verhältnissen». Der Klinikleiter bestätigt damit die bereits vom Hausarzt und Pfarrer prognostizierte Diagnose der Schizophrenie, denn Hebephrenie ist nichts anderes als eine Unterkategorie davon, bei der vor allem die affektiven Äusserungen unterdrückt oder nicht nachvollziehbar seien und bei der zusätzlich Denkstörungen auftreten würden.

Heute würde man Linas nervöse Unruhe, ihre Schlafstörungen und den zunehmenden Rückzug in Absenzen und Schweigen vermutlich ganz anders deuten. Vielleicht als Ausdruck einer Erschöpfungsdepression der jungen Frau, die von ihrer Fabrikarbeit und dem familiären Haushalt überfordert war, oder aber als posttraumatisch ausgelöste Psychose bei einem heranwachsenden Mädchen, das mit dem frühen Verlust der Mutter und zweier Schwestern im emotional rauen und vereinsamenden Klima des väterlichen Haushalts alleingelassen wurde. Damals bewegte sich die Psychiatrie in einem ganz anderen Koordinatensystem.

Die chefärztliche Diagnose bestätigt also, was man seit Eintritt erwartet hat. Und fügt schlank eine zweite Diagnose hinzu, die der Debilität leichten Grades. Auch diese wurde von Pfarrer Stocker bereits vorweggenommen, denn er hält von Linas Intelligenz nicht eben viel. Die Patientin sei acht Jahre in die Primarschule gegangen. Sehr intelligent sei sie nie gewesen, aber sie sei gerade so mitgekommen, hat er dem Arzt erzählt. Lina selbst dagegen hat einen etwas anderen Blick auf ihre Schulkarriere. Sie erzählt den Ärzten nicht ohne Stolz, dass sie, obwohl sie ab der sechsten Klasse den Haushalt daheim alleine habe machen müssen, alle acht Jahre Primarschule ohne Repetitionen habe absolvieren können. Sie habe in der Schule nie sehr gut gelernt, besonders beim Schreiben habe sie Mühe gehabt, aber sie sei nie sitzengeblieben. Ihr Bruder Werner kann dies bestätigen, er erinnert sich noch heute, wie geschickt sie in der Haushaltsführung war und dass ihre Versetzung in die nächste Klasse nie wirklich infrage gestellt war.

Die Ärzte in Wil sehen dies anders und ziehen dabei einen diagnostischen Helfer hinzu: Den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene, den sogenannten HAWIE, mit dem Lina zwölf Tage nach ihrer Einweisung geprüft wird. In jener Krankheitsphase also, in der sie gemäss ärztlichen Protokollen «zeitweise vorbeiredet» und die grösste Zeit «fast vollständig mutistisch» dasitzt. Das Ergebnis des Tests lässt sich in der Absolutheit seiner arithmetischen Härtegrade nachlesen, im Ersteintrag von Linas Krankenakte, noch vor der Anamnese: «[…] Es ergibt der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest nur einen Intelligenzquotienten von 75, wobei der Verbalteil mit 69 wesentlich schlechter absolviert wurde als der Handlungsteil mit 82.» Eigentlich wissen die Psychiater, dass kognitive Leistungen bei einer Psychose oder schweren Depression völlig reduziert sein können. Sie schreiben dies denn auch ordentlich als Kommentar in die Krankengeschichte, und Dr. Rauheisen weist in seinem späteren Bericht an die zuständige Behörde explizit darauf hin: «Lina Zingg leidet an einer Geisteskrankheit (Schizophrenie) […]. Ob gleichzeitig bei ihr ein Intelligenzmangel (Schwachsinn im medizinischen Sinne) vorliegt, können wir erst nach Abklingen des jetzigen Schubs der Geisteskrankheit mit Sicherheit entscheiden, da eine verwertbare Intelligenzprüfung bei Fräulein Zingg erst durchgeführt werden kann, wenn die übrigen geistigen Störungen zurück gegangen sind.»

Leider geht diese verwertbare Intelligenzprüfung – aus welchen Gründen auch immer – bei Lina vergessen. Und so werden sämtliche gutachtenden Ärzte im Fall Lina Zingg stets wieder die erwähnten HAWIE-Resultate zitieren und als Beleg ihrer Debilität hinterlegen. Während über 50 Jahren. Überdies, auch das sei noch angemerkt, werden die Testwerte erst noch zu Linas Ungunsten ausgelegt. Denn bei einem Intelligenzquotienten zwischen 70 und 80 spricht man gemäss Lehrbuch von leichter Minderbegabung, aber noch nicht von Schwachsinn. Und im Handlungsteil des Tests liegt Lina mit ihren 82 Punkten sogar im Bereich der Normalität. Man hätte in die Krankenakte der psychisch erkrankten jungen Frau also ebenso gut schreiben können, dass das Mädchen mit seinem ärmlichen Hintergrund und trotz seiner akuten Psychose eine durchaus bemerkenswerte kognitive Leistung zeigt. Doch nun steht da das medizinisch autorisierte Verdikt der Debilität leichten Grades. Es wird sich künftig wie eine blutsaugende Zecke in Linas Leben festsetzen, unwiderruflich und therapieresistent. Wird später gar diagnostisch verschärft, in manipulativer Absicht, wie noch zu zeigen sein wird: Die Debilität leichten Grades wird zu einer Oligophrenie, also zu einem eigentlichen Intelligenzdefekt, sprich Schwachsinn erhoben.

Die Ereignisse und Akten, die aus dem Bauernmädchen Lina den Fall Lina Zingg machen, bergen noch weitere bemerkenswerte Fakten. Der überweisende Hausarzt berichtet in seinem Überweisungsschreiben bekanntlich von einer Vergewaltigung des jungen Mädchens. Lina wird in der Anamnese zum nächtlichen Vorfall befragt; der Arzt notiert, was sie erzählt:

Am Palmsonntag sei sie das erste Mal allein ins Dorf gegangen und habe dort eine Freundin getroffen, mit der sie auf dem Velo die Strasse entlanggebummelt sei. Dabei hätten sie zwei Burschen angesprochen, die sie früher noch nie gesehen habe. Die Burschen hätten sie zu Bier und Wein eingeladen, die Freundin sei aber nicht mitgegangen und sie habe mit den beiden verschiedene Wirtschaften besucht. Sie sei etwas angetrunken gewesen und habe nicht mehr recht Velo fahren können, deshalb habe ihr der Bursche angeboten, sie solle mit ihm nach Hause kommen und könne sich dort ausschlafen. Sie sei ohne weiteres Zögern mit ihm aufs Zimmer gegangen, habe sich ins Bett gelegt und geschlafen. So viel sie wisse, habe sie sich nicht einmal ganz ausgezogen, sondern nur das Kleid abgenommen. Sie könne sich nicht mehr genau erinnern, was in dieser Zeit auf dem Zimmer des Burschen alles vor sich gegangen sei, denn sie sei durch den ungewohnten Alkoholgenuss sehr müde gewesen. Nach einiger Zeit sei ein Mann gekommen und habe sie mitgenommen. Sie habe die Nacht, so viel sie sich erinnern könne, im Polizeilokal verbringen müssen und sei dann am Morgen nach Hause gegangen.

Nun kann man Linas Behauptung, sie wisse nicht mehr, was auf dem Zimmer so alles geschehen sei, als reine Schutzbehauptung interpretieren, um der drohenden väterlichen Strafe zu entgehen. Ob Lina in ihrem depressiven und psychotischen Zustand zu solch gezielten Tricks überhaupt fähig gewesen wäre, ist zweifelhaft. Jedenfalls war sie stark alkoholisiert und scheint keine klaren Erinnerungen an jene Nacht mehr zu haben. Befragt man sie heute, wiederholt sie jene Version, die sie damals dem Arzt erzählte. Der in die Sache verwickelte junge Mann aber wird gar nicht befragt – jedenfalls ist eine etwaige Befragung nicht aktenkundig –, und seine Identität bleibt in den Akten durchgängig geschützt.

Warum Hausarzt Dr. Sandstein in seinem Einweisungsschreiben so überzeugt von einer Vergewaltigung schreibt, bleibt unklar. Und es kümmert die Wiler Psychiater bei ihrer Anamnese auch nicht weiter. Die behauptete Vergewaltigung und allfällige Folgen für das Opfer sind schlicht kein therapeutisches Thema. Erst vier Wochen nach der Einweisung wird auf Verlangen des zuständigen Bezirksamts Althausen eine gynäkologische Untersuchung angeordnet, zwecks Klärung von Linas Jungfräulichkeit. Die junge Frau wird zu einer Ärztin geschickt, der Befund kommt mit kollegialer Hochachtung an die Kollegen in der Klinik zurück:

Die gynäkologische Untersuchung vom 26.IV. ergab folgenden Befund:

Hymenalsaum erhalten, an zwei Stellen scheint er eingerissen. Trotzdem ist es schwierig zu behaupten, dass die Patientin nicht mehr virgo ist. Vagina ohne Befund. Portio virginell. Uterus anteflektiert, normal gross, Adnexgegenden beidseitig frei. Diagose: normales Genitale.

Interessanterweise zieht der Wiler Chefarzt Dr. Rauheisen aus dem nicht eindeutigen Befund den umgekehrten Schluss seiner Kollegin: «Die vom Bezirksamt Altstätten verlangte gynäkologische Untersuchung wurde am 26.4.58 von Frl. Dr. Ernst durchgeführt. Demnach ist es fraglich, ob die Pat. noch virginell ist (Einzelheiten siehe Bericht von Dr. Ernst vom 1.5.58).» Er schlägt sich mit seiner Lesart also auf die Seite jener, die eine Vergewaltigung durch den jungen Burschen als wahrscheinlich annehmen. Jedoch führt dies nicht etwa zu einer Intervention im Interesse seiner Schutzbefohlenen, sondern er macht sich in seinem späteren Bericht in solidarischem Schulterschluss sogleich zum Anwalt des jungen Mannes: «Am 30.3. wurde es [das Mädchen] von einem etwas jüngeren Burschen alkoholisiert und zum gemeinsamen Schlafen verführt, wobei es wahrscheinlich auch zum Sexualverkehr oder zumindest zu einem entsprechenden Versuch kam. Für den Laien, namentlich für einen ungebildeten, dürfte es bei einer kurzen Begegnung kaum erkennbar gewesen sein, dass die Pat. schwachsinnig und dazu noch geisteskrank ist.»

Lina selbst wird noch ein paar Monate in der Klinik bleiben. Sie hat heute, wie schon erwähnt, sehr unterschiedlich präzise Erinnerungen an diese Tage und Wochen. Einerseits malt sie detailgetreue Skizzen der Interieurs von Sälen und Zimmern, sie weiss den Namen der Dame am Empfang und dass sie den Schwestern in der Wäscherei half, und sie erinnert sich mit Unbehagen an die vielen Spritzen in ihren Bauch. Dann aber gibt es auch Filmrisse, etwa wenn es um die so fremden Herren Ärzte geht, die sie befragten und die so oft bei ihr auf Visite waren. Und sie spricht in dem ihr eigenen schlaksigen Ton von dieser Zeit als Zeit in den grauen Wänden.

IIKeine Chance für Lina

Nach sechs Wochen stationärer Behandlung stellt Chefarzt Rauheisen eine leichte Besserung bei Lina Zingg fest. Die Patientin sei zugänglicher geworden, ein gewisser «affektiver Rapport» sei jetzt mit ihr möglich, jedoch sei sie noch recht steif, so beobachtet er. Und er empfiehlt, da Linas Gesundheitszustand sich als robust bewährt und das im Krankenhaus Flawil angefertigte Elektrokardiogramm keine krankhaften Veränderungen anzeigt, die Fortsetzung der «grossen Insulinkur: Die Pat. hatte die Insulinkur bis jetzt komplikationslos vertragen, die in den ersten 14 Tagen auftretenden starken Zuckungen während der schweren Benommenheit hatten zu einem epileptischen Anfall geführt, unter zusätzlicher Behandlung mit Luminal, später Belladenal wiederholte sich der Anfall nicht mehr, und die Zuckungen blieben in bescheidenem Rahmen». Allerdings hält die konstatierte Besserung nicht wirklich an, es kommt im Gegenteil zu einem Rückfall, wie der diensthabende Arzt notiert: «Während in den ersten vier Wochen der Kur eine deutliche Besserung des psychischen Zustandes zu verzeichnen war, scheint die Pat. in den letzten Tagen wieder deutlich steifer geworden zu sein, redet jetzt, während sie vor 14 Tagen gedanklich vollständig geordnet war, zeitweise wieder zerfahren und scheint, obgleich sie dies negiert, ihrem Verhalten nach gelegentlich zu halluzinieren, denn sie unterbricht immer wieder ihre Näharbeit, starrt in eine Ecke der Decke und kommt wie aus einer andern Welt zurück, wenn man sie in diesem Augenblick anspricht.»

Nach gut zweieinhalb Monaten wird die Insulinkur langsam ausschleichend beendet, ohne dass sich die anfängliche Besserung wieder eingestellt hätte. Man beschliesst deshalb, es anschliessend noch mit einem Psychopharmakon zu versuchen. «Da die Pat. in ihrem jetzigen Zustand nicht entlassungsfähig ist, soll nach erfolglos abgeschlossener Insulinkur noch eine grosse Largactilkur versucht werden, die in den nächsten Tagen begonnen wird.» Largactil ist ein Neuroleptikum und hat beruhigende und antipsychotische Wirkung, wirkt also bei Wahnvorstellungen und Halluzinationen, aber auch als beruhigendes Mittel bei Ängsten, Unruhe und Erregungszuständen. Das Medikament wurde in den Kliniken seit ungefähr 1953 bei schizophrenen Patienten eingesetzt.

Während man in diesen Therapiewochen auf weitere Besserung hofft, beginnt man sich in der Klinik Gedanken zu Linas Zukunft zu machen. Da die junge Frau noch minderjährig ist, wäre zuallererst ihr Vater für diese Frage zuständig. Dieser möchte seine Tochter offenbar so schnell wie möglich wieder zurückhaben, sie soll wieder in die Fabrik gehen und zu Hause anpacken, soll sich so gut wie möglich einfügen in den bäuerlichen Haushalt, zu tun gibt es genug. Doch die Wiler Ärzte sehen das anders. Man ist gewillt, Lina nicht in diese «primitiven Verhältnisse» mit ihren Überforderungen zurückzuschicken. Man hat sich inzwischen ein Bild gemacht von der ganzen Familie, insbesondere aber von diesem querköpfigen Vater, mit dem man in den fast fünf Monaten «noch nie Fühlung nehmen» konnte, über den man aber – dem Herr Pfarrer seis gedankt – doch einiges erfahren hat.

Vater und Kinder besorgen den Haushalt noch immer selber. Eine Nachbarsfamilie besorgt die Wäsche. Vom kath. Pfarramt wurde dem Vater mehrmals vorgeschlagen, er möge eine Flickerin nehmen, die jede Woche die Kleider in Ordnung bringen soll. Auch dürfe er sich nach einer gelegentlichen Haushaltshilfe umsehen. Die Rechnung dafür hätte der kath. Frauenbund beglichen. Der Vater sei aber nicht auf diese Vorschläge eingegangen, was allerdings – und dies scheint der Pfarrer nicht überlegt zu haben – wohl darauf zurückzuführen ist, dass heutzutage Haushaltshilfen und Flickerinnen sehr dünn gesät sind, besonders wenn sie dazu noch verwahrloste Verhältnisse antreten sollten.

So protokolliert der Arzt sein Gespräch mit Pfarrer Stocker. Niemand denkt daran, dass Bauer Hans vielleicht auch aus Scham nicht auf die pfarrherrlichen Vorschläge eingetreten sein könnte. Weil er sein verwahrlostes Haus und die ärmliche Habe vor fremden Blicken und vermutlich geschwätzigem Mund schützen möchte. Schliesslich hat auch er seinen Stolz. Dass damals, nach dem Tod seiner Frau, für ein paar Jahre seine Schwägerin bei ihm wirtschaftete, das ging als innerfamiliäres Arrangement in Ordnung. Aber eine Fremde ist etwas anderes. Und ausserdem weiss Hans Zingg, was seinen frauenlosen Haushalt angeht, eine weit bessere Lösung: Er schmiedet Heiratspläne, mit einer Appenzellerin aus Heiden, in ein paar Wochen soll es so weit sein, dann würde wieder eine ordentliche Frau an seinem Herd stehen. Auch das hätten der Herr Pfarrer und die Ärzte von Linas Vater erfahren können, hätte ein längeres Gespräch mit ihm überhaupt stattgefunden.

Jedoch passiert in den ersten fünf Monaten diesbezüglich gar nichts. Die Einträge in der Krankenakte und die weitere Entwicklung der Geschichte lassen vermuten, dass die Ärzte an einem Austausch nicht wirklich interessiert sind. «Der Vater, den wir nur flüchtig kennen, dürfte schwachsinnig sein», schreibt Chefarzt Dr. Rauheisen schon früh in die Krankenakte, ohne den Mann je gesehen zu haben. Aber auch Linas rechtlicher Beistand wird in der Frage nicht konsultiert. Als Halbwaise war Lina nach dem Tod ihrer Mutter zusammen mit ihren drei Brüdern automatisch verbeiständet worden. Man hatte damals für das Amt den Hufschmied des Dorfes eingesetzt, Peter Schmetzer, einen Nachbarn der Familie, eine stille Übereinkunft zwischen Behörde und Familie. Die Wiler Ärzte wissen um diesen Beistand, denn auf dem Deckblatt der Akte ist er namentlich vermerkt. Als Ansprechperson aber kommt Peter Schmetzer für sie offenbar nicht infrage, jedenfalls ist nirgends eine entsprechende Notiz greifbar. Vielleicht zweifeln sie – nicht unbegründet, wie sich zeigen wird – an seiner Kompetenz, oder aber sie scheuen seinen Widerstand. Denn die Herren Doktoren in Wil haben ihre eigenen Pläne.

Chefarzt Rauheisen fackelt nicht lange, er will einen radikalen Schnitt und steuert den Entzug der elterlichen Gewalt des Vaters an. Im Wissen, dass die Behörden in dieser Frage aufgrund der geltenden Gesetze leichtes Spiel haben. Einer seiner Kollegen spricht in der heiklen Angelegenheit telefonisch mit Pfarrer Stocker. Dieser schreckt vor solch forschen Plänen allerdings vorerst zurück.

Auf die Mitteilung hin, dass wir Entzug der elterl. Gewalt gegenüber dem Vater in Erwägung gezogen hätten, meint er sogleich, damit möge man unbedingt noch zuwarten, umso mehr als eigentlich das vorliegende Material diese letzte Massnahme kaum zu begründen vermöchte.

Der Arzt aber drängt und bittet den Pfarrer, mit dem unbekannten Vater Tacheles zu reden: «Ich rate dazu, den Vater nun ernstlich vor die Tatsache zu stellen, dass eine Rückkehr des Mädchens zu ihm nach Hause nicht in Frage komme und wir die Patientin nur dann entlassen können, wenn er auf diese Bedingung eintrete. Unsererseits würde dann ein geeigneter leichter Platz bei verständiger Familie gesucht (was allerdings Zeit braucht).» Schliesslich erklärt der Pfarrer sich bereit, mit Bauer Hans die Sache zu besprechen und ihn für eine Aussprache in Wil zu motivieren. «Es wird dann vom Resultat dieser und der vorgängig mit dem Pfarrer stattfindenden Besprechung abhängig gemacht werden müssen, ob vormundschaftliche Massnahmen im Sinne einer Verfügung oder des Entzugs der elt. [elterlichen] Gewalt unumgänglich sind.»

Im Weiteren hofft der verhandelnde Arzt, mithilfe des Pfarrers doch noch fürsorgerische Unterstützung für die Familie einfädeln zu können. «Ich bitte nun den Pfarrer sehr, uns in der Richtung behilflich zu sein, dass er den Leuten hilft, jemanden zu finden, der – wenn nicht beständig – so doch in regelmässigen Zeitabständen den Haushalt in Ordnung bringt (der kath. Frauenbund soll sich da einsetzen).» Pfarrer Stocker erklärt sich auch damit einverstanden und verspricht, die Sache an die Hand zu nehmen. Am Schluss der Besprechungsnotiz wird noch einmal das Versagen des Vaters ins Zentrum gerückt:

Schliesslich stellt sich auch noch heraus, dass auch die andern Kinder vom Vater allzu leicht überfordert werden. Der jüngste Bub sei in seiner geistig-seelischen Entwicklung auffallend im Rückstand. Der Vater – so meint der Pfarrer – sei eben doch weitgehend beschränkt, er meine es ja sonst nicht übel, aber er sei halt auch jähzornig und darunter scheint besonders die Pat. gelitten zu haben.

Werner, Linas ältester Bruder, der später den väterlichen Hof übernehmen wird und heute längst pensioniert ist, liest Akteneinträge wie die zitierten mit einem hilflosen Schulterzucken. Der Vater sei ein roher Mann gewesen, das sei richtig, man habe nicht viel sagen dürfen, und schon habe man eine abgekriegt. Aber dass er schwachsinnig gewesen sei, weist er weit von sich. Und Emma, seine Frau, die als Nachbarmädchen mit den Zingg-Kindern aufgewachsen ist, die Vater Zingg also seit jeher gekannt hat und die später mit ihm als seine Schwiegertochter im selben Haushalt lebt, zeigt sich empört. Er getraute sich halt nie etwas zu sagen, so übersetzt sie die von den Ärzten aufgestellte Ferndiagnose des Schwachsinns. Und vielleicht habe er sich ja auch deshalb nicht um ein Treffen mit den Ärzten bemüht. Lina selbst aber hat vor allem den Zorn ihres Vaters nicht vergessen und seine Schläge. Sie wirft, wenn sie erzählt, zur Illustration eine paar kräftige Ohrfeigen durch die Luft. Und stellt nüchtern fest, das habe so lange fortgedauert, bis sie sich gewehrt und zurückgeschlagen habe. Dann habe sie ihre Ruhe gehabt.

Ob Bauer Zingg wortgewaltig oder vielmehr eher hilflos störrisch um die Heimkehr seiner Tochter kämpft, findet sich nicht in der Krankenakte. Dort steht lediglich ein Hinweis, dass er nach Bekanntgabe der ärztlichen Pläne mehrmals nach Wil reist, um seine Tochter zurückzuholen. Dass er sich tatsächlich querstellt und dass ihm dies zusätzlich angelastet wird, kann man in der dicken Vormundschaftsakte von Lina Zingg genauer nachlesen. Und zwar im allerersten Dokument, dem chefärztlichen Antrag zum Entzug der elterlichen Gewalt Hans Zinggs und zur Bevormundung von dessen Tochter Lina. Der Antrag richtet sich an das Waisenamt der Gemeinde Vorderberg, datiert vom 19. September 1958, und wird, wie erwähnt, von Klinikdirektor Rauheisen verfasst und von Abteilungsarzt Dr. Müller mit unterzeichnet.

Der auf drei Schreibmaschinenseiten ausgelegte Antrag ist in vielen Punkten informativ. Zum einen illustriert er die diagnostische Entwicklung des Falls. Aus der im Aufnahmerapport als rotwangigen und gesund aussehenden jungen Frau, die etwas schmutzig und ungepflegt daherkommt – damals in ländlich armem Milieu nicht eben selten –, ist eine verwahrloste Irre geworden.

Das Mädchen wurde in schwer verwahrlostem Zustand, vor Schmutz starrend, von ihrem Vater zu uns gebracht, der angab, dass sie seit ca. zwei bis drei Jahren geistig nicht mehr normal sei, ohne dass es bisher zu einer Internierung gekommen sei.