Vabanque - Hinrich Matthiesen - E-Book

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Hinrich Matthiesen

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Beschreibung

Konstantin Feldmann, der erfolgreiche deutsche Autor, ist am Ende. Ausgebrannt, leergeschrieben. Und er hat Schulden. Auf Anraten seiner Frau ist er mit ihr nach Mexiko gereist, um dort einen Ausweg aus seiner Krise zu suchen. Er überlebt die Erdbeben-Katastrophe in Mexico City. Aber damit fängt die Katastrophe erst an… Das Erdbeben bringt ihn auf eine makabre Idee: Was wenn er nicht überlebt hätte… Das Paar plant den großen Coup, ein raffiniert in Szene gesetztes Täuschungsmanöver. Spannung pur.

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Hinrich Matthiesen

 

Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexiko. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.

1969 erschien sein erster Roman: MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.

Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.

 

»Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«

Deutsche Tagespost

 

»Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«

Deutsche Welle

 

»Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal.«

FAZ-Magazin

Werkausgabe Romane Band 19

Herausgegeben von Svendine von Loessl

 

Der Roman

 

Konstantin Feldmann, der erfolgreiche deutsche Autor, ist am Ende. Ausgebrannt, leergeschrieben. Und er hat Schulden. Auf Anraten seiner Frau ist er mit ihr nach Mexiko gereist, um dort einen Ausweg aus seiner Krise zu suchen. Er  überlebt die Erdbeben-Katastrophe in Mexico City. Aber damit fängt  die Katastrophe erst an…

Das Erdbeben bringt  ihn auf eine makabre Idee: Was wenn er nicht überlebt hätte… Das Paar plant den großen Coup, ein raffiniert in Szene gesetztes Täuschungsmanöver. Spannung pur.

 

 

 

 

Titelverzeichnis der Werkausgabe in 31 Bänden am Ende des Buches

Hinrich Matthiesen

Vabanque

Roman

:::

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Werkausgabe Romane

Herausgegeben von Svendine von Loessl

Band 19

Teil 1

1.

 

Das Blatt in seiner Maschine war immer noch weiß!

Konstantin Feldmann stand auf, machte ein paar Schritte, dachte angestrengt nach, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.

Verdammt nochmal, bin ich mit meinen dreiundvierzig Jahren etwa schon am Ende?

Er stand erneut auf, schritt durch sein zehn Meter langes Arbeitszimmer, schritt hin und her, hoffte, die physische Aktion brächte auch den Geist wieder in Schwung.

Aber nach etwa zwanzigmaligem Auf und Ab war es immer noch dasselbe: Ihm fiel nichts ein, was er für wert befunden hätte, aufgeschrieben zu werden, und wenn doch mal eine Idee da war, die einen brauchbaren Ansatz verhieß, ging sie gleich wieder unter in der Mühsal des Weiterdenkens.

Plötzlich blieb er in der weitestmöglichen Entfernung von seinem Schreibtisch stehen. Es war ein Winkel voller Bücher. Auch seine eigenen Romane waren darunter. Die verschiedenen Ausgaben standen dort aufgereiht in den Regalen. Er überflog die bunten Rücken, dachte an die Erfolge, die mit den einzelnen Titeln verknüpft waren, drehte sich dann wieder um und sah hinüber zu der großen elektrischen Schreibmaschine. Wie impertinent das weiße Blatt daraus hervorleuchtete!

Verdammt, was ist los? Seit Monaten stehe ich frühmorgens auf, trinke meinen Kaffee, setze mich vor das grelle Stück Papier, und… nichts tut sich! Tag für Tag erlebe ich diese Niederlage, und natürlich wirken die bereits erlittenen in jede neue hinein, machen sie schlimmer. Wenn ich an den Ablieferungstermin denke, werd’ ich allmählich panisch.

Liegt es womöglich nur am Schnurren der neuen Schreibmaschine? Vielleicht macht ihr Geräusch mich nervös, weil es ununterbrochen Bereitschaft anzeigt, mehr noch, weil es mich geradezu auffordert, endlich die Tasten zu bedienen. Da muss man ja neurotisch werden! Meine alteOlympiamachte den Krach nur, wenniches wollte, aber du da…, er bedachte die Maschine mit einem giftigen Blick, lässt mich nicht mal mehr in Ruhe nachdenken, bist schlimmer als Baulärm und Klavierüben und Kindergeschrei zusammengenommen, weil du nämlich ganz gezielt mich meinst, mich und niemanden sonst!

Er trat wieder an den Schreibtisch, setzte sich aber nicht, sondern zog den Stecker heraus und schleppte das schwere Gerät ins Wohnzimmer, schob es leise, damit er Martha nicht weckte, auf den großen alten Eichentisch, der aus dem Besitz seiner Großeltern stammte. Dann kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück, holte die flache Reiseschreibmaschine aus dem Wandschrank, stellte sie dorthin, wo vorher das fauchende Monstrum gestanden hatte, und setzte sich.

Vielleicht war der Romanstoff, den er vor einiger Zeit erwogen hatte, doch nicht so schlecht: Eine französische Schauspielerin gibt zur Zeit der deutschen Besatzung einen zehnjährigen jüdischen Jungen als ihr uneheliches Kind aus, um ihn vor der Deportation zu bewahren. Der Junge überlebt, kommt ihr aber in den Wirren des Krieges abhanden. Viele Jahre später sucht er nach seiner Retterin…

Wirklich, dachte er, das könnte was werden! Ich liebe Geschichten, in denen irgendwer irgendwen sucht, möglichst über den ganzen Globus.

Ich würde, überlegte er, die Story so anlegen, dass aus der Blanche Monier eine Trinkerin geworden ist und diesmal der Junge zum Retter wird.

Er hielt die Hände über die Tasten. Es sah nach einer Pose aus, war aber keine, war nur der Ausdruck des letzten Sich-Sammelns mit dem Ziel, den Fluss der Worte an das Papier weiterzugeben. Jetzt musste es doch endlich losgehen! Und dann wie früher ablaufen! Am Anfang der leicht unterkühlte Ton mit allen Merkmalen des Beiläufigen, dann der Übergang ins engagierte Erzählen, schließlich das Schreiben mit Herzblut. Adagio, allegro, furioso.

Aber die Hände fielen zurück auf die Schreibtischplatte, blieben da liegen wie ausrangiertes Gerät. Madame Monier entzog sich seinem gedanklichen Zugriff, und auch Maurice, der eigentlich Joshua hieß, kippte wieder heraus aus seinem Kopf.

Es ist also doch nicht die neue Maschine! Überhaupt, sonst hab’ ich ja unter noch viel störenderen Umständen schreiben können, zum Beispiel mit der Uhr im Nacken. Letztes Jahr erst, als ich vierundzwanzig Stunden vor Drucklegung ein ganzes Kapitel einbringen musste, weil die Aktualität meine Romanhandlung überholt hatte, sodass die Geschichte nur durch einen gewaltigen Einschub zu retten war. Wie flott das ging! Nachts um eins rief Simonis mich im Hotel an und fragte, wie weit ich sei und ob ich’s denn überhaupt schaffen könne. Klar konnte ich! Um sechs in der Frühe rief er wieder an, saß bereits im Lektorat und erwartete mich und meinen Packen Papier. Eine halbe Stunde später lieferte ich ab, und um acht ging es los mit dem Drucken…

Ach, und erst die Geräusche, die meine Arbeit so manches Mal begleitet haben! Da ist das Summen derElektradoch geradezu balsamisch! Zum Beispiel damals auf der Fahrt zum Titicaca-See. In einem klapprigen Bus, eingeklemmt von Indios, die mit ihren Hühnern und Ferkeln zum Wochenmarkt wollten. Die Indios waren still, aber ihre Tiere nicht. Ringsum ein einziges Gackern und Quietschen! Und erst der Gestank! Und dazu die Schaukelei. Und ich saß da mit einem Block auf den Knien und schrieb und schrieb, sah nur zwischendurch in die karge Hochlandsteppe desAltiplanooder auch in ein Indianergesicht…

Nein, an dem sanften Summen kann es nicht liegen.

Plötzlich dachte er an Rilke, der nach einer zehnjährigen Pause dieSonette an Orpheusund dieDuineser Elegiengeschaffen hatte. Und sogar Luther fiel ihm ein, der, wie die Legende erzählt, vor Wut sein Tintenfass gegen die Wand warf, als er mit einer Formulierung nicht zurechtkam. Natürlich, er selbst war weder ein Rilke noch ein Luther, sondern ein Verfasser abenteuerlicher und spannender Geschichten, aber die beiden Großen spukten trotzdem noch eine Weile in seinem Kopf herum, und er sagte sich: Sie wird wiederkommen, die Freude an der Arbeit! Acht Bücher hab’ ich bis jetzt geschrieben, und alle haben sich gut verkauft. Warum sollte es kein neuntes geben? Irgendwann wird der alte Schwung wieder da sein, und ich werde, wie vereinbart, am 28. Februar kommenden Jahres abliefern!

Aber da setzten sie ein, die Kopfschmerzen, die regelmäßig über ihn herfielen, wenn auch der dritte oder vierte Anlauf nichts erbracht hatte. Es waren bohrende Schmerzen, die im Hinterkopf begannen und sich langsam bis in den Stirnbereich ausdehnten. Wie schon mehrmals in den vergangenen Tagen nahm er zwei KapselnFortralund legte sich auf die Couch.

Nach etwa zwanzig Minuten ließen die Schmerzen nach. Statt ihrer tauchten die Nebeneffekte auf: Ihm wurde übel, und er fühlte sich angeschlagen. Trotzdem stand er auf, verließ das Arbeitszimmer, ging hinaus in den Garten. Tief sog er die frische Luft des spätsommerlichen Morgens in sich hinein, und dann ging er über den Rasen bis hinunter zu der dichten Hecke. Dort angekommen, drehte er sich um und betrachtete sein Haus.

Es war ein stattlicher gelber Klinkerbau mit einem dunkelgrauen Walmdach, hatte acht Zimmer und drei Bäder und war also für nur zwei Bewohner viel zu groß. Aber Martha und er lebten nun mal einen etwas forcierten Stil. Jeder brauchte sein Arbeitszimmer, sein Schlafzimmer, sein Bad. Ein geräumiges Wohnzimmer durfte nicht fehlen, und für Besuch musste schließlich auch noch Platz da sein. Kinder hatten sie nicht. Sonst wäre ihr Haus womöglich noch größer ausgefallen, und die darauf lastende Hypothek hätte weitaus höhere Raten erfordert.

Vielleicht, dachte er, hätten wir alles ein bisschen kleiner wählen sollen, das Haus, den Garten, die Autos. Ja, und auch unsere Kleiderwünsche und die vielen anderen kostspieligen Gewohnheiten hätten gern etwas bescheidener sein dürfen. Aber wenn ich mal nicht nur die Feder, sondern auch den Löffel aus der Hand lege, ist wenigstens gesorgt für Martha. Dann kriegt sie meine Lebensversicherung von einer halben Million Mark.

Er kehrte ins Haus zurück, traf im Flur auf Martha, die in die Küche wollte. Die Tatsache, dass er von draußen und nicht aus seinem Zimmer gekommen war, genügte ihr offenbar zum Einschätzen der Lage, denn sie begrüßte ihn mit den Worten: »Guten Morgen, Tino! Es läuft also mal wieder nicht.«

Er küsste sie. »Es ist wie verhext«, sagte er dann, »ich hab’ eine Story, aber ich komm’ nicht rein in den Stoff, krieg’ mein Personal nicht in den Griff. Bisher war es doch immer so, dass die Figuren sofort Leben hatten. Du weißt, oft genug machten sie sich geradezu selbstständig. Und jetzt? Seit vierzehn Tagen quäle ich mich mit einer französischen Schauspielerin herum, und immer noch hat sie so wenig Kontur wie ein verwackeltes Foto, von ihrer Innenansicht ganz zu schweigen.«

Sie waren in die Küche gegangen. Er setzte sich an den Tisch, und Martha kochte Kaffee. Er verfolgte ihre Bewegungen, betrachtete ihre Gestalt, fand, dass sie immer noch wie dreißig aussah mit ihrem schlanken Körper, ihrem glänzenden dunkelblonden Haar, das ihr in schönem Schwung auf die Schultern fiel. Sie trug einen weißen Bademantel und flache weiße Leinenschuhe. Ihr Gesicht war sonnengebräunt, und an Falten hatte sie, jedenfalls sah er es so, nur das, was der Mensch vom Lachen hat und vom Nachdenken.

Der Kaffee lief durch, und so setzte sie sich zu ihm an den Tisch. »Vielleicht«, sagte sie, »solltest du mal aussetzen. Ganz bewusst. Kehrst die Geschichte einfach um: Aus dem derzeitigen Nicht-Können machst du ein derzeitiges Nicht-Wollen.«

»Na, ob mir das gelingt? Ich fürchte, ich halte nicht dicht und flüster’ mir dauernd zu: ›Ist in Wirklichkeit ’ne Krise, aber nicht weitersagen!‹«

Sie lachten beide, doch Martha wurde schnell wieder ernst. »Klar, dass es so nicht geht. Ich meine es ja auch ein bisschen weniger verdreht. Sagst dir einfach: ›Es will im Moment nicht so recht, also lass’ ich’s für eine Weile sein und mach’ was ganz anderes.‹ Ich hab’ da auch schon einen Plan! Du löst dich für fünf, sechs Wochen von allem, was dich hier umgibt, mich eingeschlossen. Tapetenwechsel total! Fährst an die See, gehst schwimmen und machst Wanderungen. Oder du ziehst in ein Sporthotel, absolvierst ein Fitness-Programm, und für den Rest des Tages tust du das, wozu du Lust hast, liest, spielst Skat oder Schach oder suchst dir was Gutes im Fernsehen.«

»Das kostet einige tausend Mark, und ich weiß nicht, ob wir das verantworten können. Der große Vorschuss vom Verlag ist schon fast verbraucht, immerhin hunderttausend Mark, und an jedem Ersten gehen, bevor die eigentlichen Kosten für den Lebensunterhalt einsetzen, jede Menge Zinsen und Prämien weg.«

»Du würdest die Reise ja machen, um wieder Geld verdienen zu können. Das ist so, als wenn in einer Druckerei die Maschine kaputtgeht. Die müssten die Leute notfalls auf Pump reparieren lassen, denn schließlich ist sie das Ding, das ihnen das Geld für morgen und übermorgen reinholen soll. Ohne die Reparatur müssten sie ihren Laden dichtmachen. Und so, genau so, ist deine Situation. Du brauchst auch eine Reparatur, also eine Stabilisierungsphase, um weiterschreiben zu können. Ohne diese Phase kein Schreiben, ohne Schreiben kein Geld für morgen und übermorgen.«

Er griff über den Tisch, streichelte ihr die Wange. »Du hättest Lehrerin werden sollen, machst alles so anschaulich. Und im Grunde hast du ja recht. In kaum einem anderen Beruf ist der Arbeitserfolg so abhängig von der jeweiligen Stimmung wie in meinem. Da haben andere es leichter. Der Mann von der Müllabfuhr umkreist nicht erst dreimal den Ascheneimer und fragt sich auch nicht, ob er denn überhaupt in der richtigen Verfassung sei, den zu leeren. Er sieht ihn, packt ihn, leert ihn. Selbst wenn er in einer depressiven Phase steckt, wird sein Werk gelingen. Bei mir führt jede Depression zur Blockade. Aber an die See möchte ich nicht, und in einem Sporthotel krieg’ ich spätestens nach drei Tagen Lust, die Hälfte der Gäste mit Zyankali zu beseitigen.«

»Dann gibt’s ja immer noch die andere Hälfte. Da du die nicht beseitigen willst, wird sie erträglich sein.«

»Erträglich ist mir nicht genug.«

»Dann fahr nach London oder Paris oder mach eine Skandinavienreise! Irgendeinen Platz, der dich reizt und der dir Menschen zuspielt, die dir gefallen, muss es doch geben! Stimmst du mir denn wenigstens in dem wichtigsten Punkt zu: dass du einen Wechsel brauchst?«

Er wiegte den Kopf. »Vielleicht…, ja, vielleicht könnte so ein Ausbrechen tatsächlich das Problem lösen, könnte diesen verdammten Knoten zerschlagen. Aber dann müsste es ein aufregender Ort sein, einer, den ich noch nicht kenne und der mich aus der Fassung bringt und dessen wilder Pulsschlag mich schüttelt. Ein Ort, an dem…, sagen wir mal, die Lebenslust und der Überlebenskampf ganz dicht beieinander wohnen. Sicher hast du längst bemerkt, dass ich schon an einen ganz bestimmten Platz denke.«

»Ja. Ich weiß nur nicht, welcher es ist.«

»Mexico City. Alle Welt sagt, statt der Hauptstadt soll man sich lieber das Land Mexiko ansehen, jedenfalls wenn man Echtheit und Ursprünglichkeit sucht. Ich will mich aber nicht von der Folklore einwiegen lassen. Ich will auch nicht die Palmen und die leichte Brise am pazifischen Strand, will nicht die Idylle, sondern die Apokalypse. Ich will die Bruchstellen sehen, will dort sein, wo zwanzig Millionen Menschen auf einem Terrain leben, das schon für zwölf Millionen zu klein ist. Hab’ mal gelesen, dass diese Stadt im Begriff sei, sich umzubringen. Man sagt, sie wachse sich zu Tode, gehe eines nicht sehr fernen Tages an ihrer Größe zugrunde. Ich glaube, sie ist schon mittendrin in ihrem Selbstmord, und das will ich mir ansehen. Nicht, um mich mit Lust daran zu erinnern, wie heil dagegen unsere Kleinstadt ist, sondern um die Tragödie eines Populationstodes ganz aus der Nähe mitzuerleben. Okay, das mag zynisch sein. Aber vor allem ist es die Neugier, die mich treibt. Schriftsteller müssen neugierig sein; sonst sind sie wie Segelschiffe ohne Segel. Also, Martha, was hältst du von Mexico City?«

Sie antwortete nicht gleich, stand auf, stellte Tassen und Teller auf den Tisch, und erst als sie sich wieder gesetzt hatte, sagte sie: »Ja, davon könnte ich mir was versprechen; sogar eine ganze Menge. Aber sag mal, stimmt es denn, was du da erzählst von dieser Stadt? Dass sie untergeht?«

»Ja, es stimmt. Zwanzig Millionen Menschen, zwei Millionen Autos, fast zehntausend Fabriken. Simonis war vor einiger Zeit zu einer internationalen Buchmesse da. Er sagte, das Flugzeug tauchte, als es zur Landung ansetzte, in eine dicke gelbe Suppe ein, ehe es dann runterging auf die Piste. So viel Schwefel in der Luft und dazu jede Menge anderer Schadstoffe. Und dasGEO-Magazin schrieb schon vor zehn Jahren, dass alle Bewohner dieser Stadt täglich so viel Gift inhalieren, wie in vierzig Zigaretten steckt. Das muss man sich mal klarmachen! Ein Baby hat also, wenn es seinen ersten Geburtstag feiert, schon circa fünfzehntausend Marlboros weggequalmt. Und niemand hat das arme Kind gefragt, ob es nicht viel lieber Nichtraucher wäre. Aus der Stadt, die die Chronisten früherer Zeiten als klar und rein gepriesen haben, ist eine Giftküche geworden. Die beiden Fünftausender, der Popocatépetl und der Ixta…, ich weiß nicht mehr genau, wie der heißt, die einst zum Bild von Mexico City gehörten, sind heute von da aus gar nicht mehr zu sehen.«

»Das ist ja schlimmer als im Ruhrgebiet!«

»Also, das Ruhrgebiet ist dagegen ein einziger Luftkurort. Und dann passiert mit Mexico City noch was ganz anderes, was geradezu Mysteriöses. Die Stadt geht nämlich auf zweifache Weise unter. Jedes Jahr sinkt sie zehn bis fünfzehn Zentimeter tiefer in den Grund, auf dem sie steht. Du kannst da Häuser sehen, die schon ein, zwei Meter eingesackt sind. Der BarockpalastBellas Arteszum Beispiel hatte früher einen Treppenaufgang; jetzt musst du, um hineinzukommen, ein paar Stufen nach unten gehen. Jedenfalls sagt Simonis das.«

»Und wieso sinkt die Stadt?«

»Sie steht da, wo früher der Texcoco-See war. Der ist bis auf einen kleinen Rest ausgetrocknet, und statt seiner liegt da heute ein poröser Boden aus Vulkanasche. Seine Milliarden winziger Kammern waren mit Wasser gefüllt. Als die Menschen darangingen, dem Grund das Wasser zu entziehen, platzten diese Kammern. Seither gibt der Boden nach, und die Häuser sinken ein. Eine groteske Vorstellung: Mein Kinderzimmer liegt im Parterre, und wenn ich erwachsen bin, ist daraus ein Keller geworden! Natürlich passiert das nicht mit allen Gebäuden, denn die Stadt hat sich mittlerweile so ausgedehnt, dass viele Viertel auf einem anderen Untergrund stehen. Aber in der Kernzone, da geht’s abwärts.«

Der Kaffee war fertig. Martha stand auf und holte die Kanne.

»Möchtest du auch?«

»Gern.«

Aber essen wollte er nicht; stattdessen rauchte er, obwohl sein Magen sich noch nicht beruhigt hatte.

»Ich glaube«, sagte er, »ich setze mich morgen mal ins Auto und fahre in den Verlag.«

»Geht’s nicht telefonisch? Fünfhundert Kilometer hin und fünfhundert zurück, was für ein Aufwand!«

»Ich will mit Simonis sprechen. Er soll mir von Mexico City erzählen, soll mir sagen, dass es sich lohnt, hinzufahren. Oder es mir ausreden. Beides wäre telefonisch nicht zu machen, denn ich brauch’ nun mal, wenn er erzählt, seine Gesten, sein Gesicht. Ich möchte, wenn er vom Tequila redet, seinen Mundwinkeln ablesen, wie das Zeug schmeckt, und ich will, wenn er vom Pesthauch in den Straßen der Stadt spricht, seine Augen brennen sehen.«

Martha nickte. Solchen Argumenten ihres Mannes hatte sie nichts entgegenzusetzen. Die praktischen Fragen wurden meistens durch sie geklärt, aber was darüber hinausging, fiel in seine Entscheidung, und die Nuancen in der Mimik des Lektors Dr. Eberhard Simonis gehörten nun mal in diesen Bereich.

2.

Er liebte die Anonymität der großen Hotels, genoss es, als zahlender Gast für keinerlei Handreichung zu Dank verpflichtet zu sein. Daran änderte auch nichts die Tatsache, dass häufig der Verlag die Kosten trug. Es war Gepflogenheit, sofern der Aufenthalt mit einem Buchprojekt zu tun hatte, und das war auch diesmal der Fall. Er hatte Simonis am Telefon mitgeteilt, er werde vielleicht einen Roman mit mexikanischem Hintergrund schreiben, wünsche aber vorher das Lektoratsgespräch. Daraufhin hatte Simonis einen Termin mit ihm vereinbart und auch die Hotelreservierung übernommen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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