Verbrandt, verkohlt und ausgemerkelt - Peter Zudeick - E-Book

Verbrandt, verkohlt und ausgemerkelt E-Book

Peter Zudeick

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Beschreibung

Irgendwie sind alle deutschen Kanzler gescheitert. Zumindest gingen fast alle Kanzlerschaften merk- bis unwürdig zu Ende: Konrad Adenauer musste aus dem Amt getragen werden, Ludwig Erhard wurde rausgeschubst, Willy Brandt wurde zum Rücktritt gezwungen, Helmut Schmidt wurde rausgeputscht, Helmut Kohls Kanzlerschaft endete in Skandalen, Gerhard Schröder hat sich selber rausgekegelt. Und Angela Merkel? Nach einem Jahr Pandemie wird der Vertrauensverlust immer stärker und auch Merkel reiht sich ein in die Galerie gescheiterter KanzlerInnen. Scharfsinnig und mit satirisch spitzer Feder zieht Peter Zudeick eine erhellende Bilanz zum Ende deutscher Kanzlerschaften. Das Buch zur Bundestagswahl.

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Ebook Edition

Peter Zudeick

VerBRANDT, verKOHLt und ausgeMERKELt

Vom Ende deutscher Kanzlerschaften

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-842-6

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021,

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Zitat
Vorweg
Der Gründerkanzler – KONRAD ADENAUER
Die Rhöndorfer Kaffeetafel
DIE PRÄSIDENTSCHAFTSPOSSE 33
KANZLER AUF ABRUF
Kanzler ohne Fortune – LUDWIG ERHARD
FREI ODER SOZIAL: DIE MARKTWIRTSCHAFT
DER VOLKSKANZLER
UHUS, PINSCHER, MOB
VOLKSKANZLER OHNE VOLK
Kanzler auf Zeit – KURT GEORG KIESINGER
AUSMANÖVRIERT
Der Mann der Ostverträge – WILLY BRANDT
MEHR DEMOKRATIE WAGEN
Barzel scheitert
WILLY WÄHLEN
DER HERR BADET GERN LAU
ÜBERALL VERFALL
GUILLAUME UND DER RÜCKTRITT
Der Macher – HELMUT SCHMIDT
VIEL ENDZEIT
Kanzler der Einheit – HELMUT KOHL
GEISTIG-MORALISCHE WENDE
FEHLSTART
ENDZEIT UND WIEDERGEBURT
ENDGÜLTIG ENDZEIT
Der Agenda-Mann – ­GERHARD SCHRÖDER
EIN KANZLER WÄHLT SICH AB
DAS UNGLÜCK HAT 1983 BEGONNEN
NIEMAND AUSSER MIR
Chronisch unterschätzt – ­ANGELA MERKEL
AUF DEM WEG ZUR KANZLERIN
VOM MÄDCHEN ZUR MUTTI
DIE KRISENKANZLERIN
FINANZKRISE (2008)
EUROKRISE (2009/10)
FUKUSHIMA
FLÜCHTLINGSKRISE 2015
CORONA-KRISE
Selbstverzwergung
Erbschaften
Literaturverzeichnis
Anmerkungen

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.

Georg Trakl, Verfall

Vorweg

Die Ära Merkel geht zu Ende. Und man fragt sich, was diese Ära ausgemacht hat, ob es überhaupt eine war oder eher ein Irrtum. Genau wie das von Adenauer bis Schröder bei jedem Kanzler vor Merkel gefragt wurde. Was allen gemeinsam ist: Irgendwann ist der Lack ab. Selbst die erfolgreichsten Kanzlerschaften enden in Deutschland irgendwie mit schalem Beigeschmack. Angela Merkel hat auf eine weitere Amtszeit verzichtet, weil der Rückhalt in den eigenen Reihen immer mehr bröckelte. Und nach einem Jahr Pandemie scheint der Vertrauensverlust immer größer zu werden. Es wird wohl kein triumphaler Abgang werden.

Damit reiht sie sich prächtig in die Geschichte deutscher Kanzler ein. Konrad Adenauer, bis heute einer der beliebtesten deutschen Politiker, wurde am Ende ziemlich rüde von den eigenen Leuten aus dem Amt gedrängt. Vor allem auch, weil er partout nicht gehen wollte und jeden möglichen Nachfolger für unfähig hielt. Besonders Ludwig Erhard, den Adenauer bis zuletzt mit rigiden Mitteln zu verhindern suchte. Was er damit erreichte: Erhard, als Wirtschaftsminister unbestrittener Publikumsliebling, galt von Anfang an als Übergangslösung. Er scheiterte nach drei Jahren – an der eigenen Partei.

Sein Nachfolger Kurt Georg Kiesinger wollte zuerst nicht so recht, auch weil ihm – wie Erhard – von vornherein das Etikett »Übergangskanzler« angeheftet wurde. Er löste Erhard während der Legislaturperiode ab und wurde nach drei Jahren großer Koalition abgewählt, weil der Koalitionspartner SPD mit der FDP weiterregieren wollte. Sein Nachfolger Willy Brandt wurde Opfer von Intrigen und Hinterhalten seiner eigenen Leute, denen die Guillaume-Affäre gelegen kam, um Brandt zum Rücktritt zu drängen. Helmut Schmidt ging es ein bisschen wie Erhard: beliebt beim Publikum, mehr und mehr umstritten in der eigenen Partei und schließlich aus dem Amt geputscht – vom Koalitionspartner Genscher, Arm in Arm mit Helmut Kohl.

Kohl war fast schon gescheitert, als ihn die deutsche Einheit rettete. Aber er versäumte es – wie Konrad Adenauer –, einen Nachfolger aufzubauen. Als alle schon fest davon überzeugt waren, dass Wolfgang Schäuble Kanzlerkandidat werden würde, startete Kohl noch mal durch und verlor die Wahl 1998. Es folgte der Absturz in die Spendenaffäre.

Gerhard Schröder brachte es fertig, in seiner zweiten Amtszeit geradezu um seine Abwahl zu betteln: Ohne Not stürzte er sich in Neuwahlen und verlor. Auch hier war der schwindende Rückhalt in der eigenen Partei – Stichwort Agenda 2010 – ein wichtiger Anlass für den Niedergang.

Mit Merkels blassem Abgang schließt sich der Kreis: Trotz anhaltend guter Umfragewerte war sie nach der Flüchtlingskrise 2015 und wachsender Kritik aus den eigenen Reihen nach deutlichen Verlusten der Unionsparteien bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen 2018 so zermürbt, dass sie auf CDU-Vorsitz und eine weitere Kanzlerschaft verzichtete. Auch hier bröselt und bröckelt es, wie bei allen ihren Vorgängern ist auch im Ende von Merkels Kanzlerschaft der Wurm drin.

Wenn man also genau hinschaut, gibt es so gut wie keine »normale« Kanzlerschaft in Deutschland seit 1949. Aber was hieße »normal«? Ein Kanzler wird gewählt, amtiert eine oder zwei Legislaturperioden, wird abgewählt oder tritt nicht mehr an. Und zwar weil die Arbeit getan ist, weil Ziele erreicht sind, und nicht weil alles schon den Bach runtergeht, weil das Ende kein Abschluss, sondern ein quälend langes Siechtum ist. Eine solche »Normalität« hat es in der Bundesrepublik nie gegeben. Gelegentlich skurril, wie deutsche Regierungschefs in ihre Amtszeiten starteten, vor allem aber die Enden waren alles andere als normal.

Was auch daran liegt, dass Bundeskanzler nicht gewählt werden. Nicht vom Volk. Das Wahlvolk wählt die Mitglieder des Bundestages. Und der Bundestag wählt – »auf Vorschlag des Bundespräsidenten« – den Bundeskanzler. Der nicht einmal Mitglied des Bundestages sein muss. Diese Konstruktion ist ein Reflex auf die Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung. Der Reichskanzler wurde vom Reichspräsidenten ernannt, also »von oben« bestimmt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten genau das nicht mehr: Der Regierungschef sollte gewählt werden, und zwar von den Vertretern des Volkes. Aber eben nicht vom Volk selbst.

Der Präsident darf zwar nur vorschlagen, ist darin aber grundsätzlich frei. Er könnte also auch irgendeine nach seiner Meinung geeignete Person vorschlagen. Nur würde die vom Bundestag wohl kaum gewählt werden. Also muss er sich mit den Fraktionen verständigen, was im Klartext heißt, dass er den Kandidaten, die Kandidatin vorschlägt, die ihm von den Mehrheitsfraktionen vorgeschlagen wird.

In der Praxis hat das zu dem verbreiteten Irrglauben geführt, das Wahlvolk würde tatsächlich den Kanzler, die Kanzlerin wählen. Die erste Bundestagswahl 1949 folgte noch streng dem Buchstaben der Verfassung: Es gab keine Kanzlerkandidaten, nur Parteien. Die hatten zwar herausragende Vertreter, aber keiner war »gesetzt«. Die Parteien wurden gewählt, und die Fraktionen, die sich zu einer Regierung zusammenfanden, wählten im Parlament einen Regierungschef. Das ist repräsentative Demokratie in Reinkultur.

Aber schon die Wahl 1953, erst recht die 1957, war eine Abstimmung über die Person und die Politik Adenauers, »eine Art Volkswahl des Bundeskanzlers«.1 Dolf Sternberger spricht schon zu Beginn der 50er Jahre von »Kanzlerdemokratie«2, Thomas Ellwein definiert sie zehn Jahre später so: »Die Kanzlerdemokratie ist durch die Verfassung möglich geworden, dass sie entstanden ist, liegt am Wirken Dr. Adenauers.«3 Und der Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz erklärt Adenauer schlicht zum »Erfinder des Konzepts der Kanzlerdemokratie«.4 Das Ergebnis dieser Entwicklung: In das Repräsentationsprinzip schleicht sich ein plebiszitäres Element ein, das wiederum den Irrglauben befördert, der Kanzler werde vom Volk gewählt. Ein Irrglaube, der von führenden Politikern seit Konrad Adenauer immer wieder be- und verstärkt wurde. Und das zieht wiederum einiges Unbehagen nach sich, wenn ein Kanzler während der Legislaturperiode ausgewechselt wird, also ohne dass das Wahlvolk gefragt wird. Das war immerhin bei vier von sieben Kanzlern – Adenauer, Erhard, Brandt, Schmidt – der Fall. Eine beachtliche Quote.

Wie jemand Kanzler/Kanzlerin wird und wie die Kanzlerschaft aufhört, das ist jedenfalls eine Geschichte, die der Rheinländer »krumm und knubbelig« nennen würde. Und mit einem Rheinländer fing ja alles an.

Der Gründerkanzler – KONRAD ADENAUER

In der Liste der wichtigsten deutschen Politiker nach 1949 liegt Konrad Adenauer zuverlässig an der Spitze, meist Kopf an Kopf mit Willy Brandt (Allensbach 2009). Im ZDF-Ranking der 100 größten Deutschen (2003) steht er auch auf Platz 1. Vor Martin Luther, Karl Marx und den Geschwistern Scholl. Willy Brandt belegt Platz 5. Dass Adenauer der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik wurde und es lange blieb, erscheint auch heute noch vielen selbstverständlich. Das war es aber keineswegs.

Zwar war Adenauer eine der Persönlichkeiten, die den politischen Neuanfang nach 1945 entscheidend mitgeprägt haben. Er gehörte zu den Gründern der CDU, wurde 1946 Vorsitzender der CDU Nordrhein-Westfalens und 1948 Präsident des Parlamentarischen Rates, des Gremiums, das das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausarbeitete. Das hatten CDU und SPD so ausgekungelt: Carlo Schmid wurde für die SPD Vorsitzender des Hauptausschusses, Adenauer Präsident.

Beide Seiten waren davon überzeugt, dass der Präsident eher repräsentative Aufgaben haben würde, der Hauptausschuss-Vorsitzende aber die Richtlinien der Politik würde bestimmen können. »Der alte Fuchs war auf einen Ehrenplatz gehievt worden«1, das glaubten und hofften nicht nur SPD-Leute2. Auch führende CDU-Vertreter, vor allem im Wirtschaftsrat, waren der Meinung, dass der alte Mann (Adenauer war damals 72) alsbald in den verdienten Ruhestand geschickt werden sollte. »Wir werden Adenauer als Präsidenten vorschlagen«, soll ein CDU-Politiker gesagt haben. »Er ist für die aktive Politik zu alt, aber für einen solchen repräsentativen Posten geeignet.«3 Franz Josef Strauß erinnert sich, dass man auch im Frankfurter Wirtschaftsrat der Meinung war, »dass man dieses Amt Adenauer für einen ehrenvollen Abschied aus dem politischen Leben überlassen wolle, für einen honorigen Wechsel in das politische Rentnerdasein«.4

Auch für Adenauer selbst hatte es zunächst den Anschein, als würde die Rechnung der SPD und einiger CDU-Politiker aufgehen. In einer Sitzung der Unions-Fraktion (November 1948) beschwerte er sich darüber, dass Carlo Schmid im Hauptausschuss »alles unter sozialdemokratischer Flagge laufen« lassen wolle.5 Aber es stellte sich bald heraus, dass die Militärgouverneure nicht mit den Vertretern der politischen Parteien verhandeln wollten, sondern lieber mit dem Repräsentanten eines Gremiums, das vom Volk legitimiert war. Und das war nun mal der Parlamentarische Rat, dessen Abgeordnete von den elf Länderparlamenten der drei Westzonen gewählt worden waren. »Damit war seinem Präsidenten eine entscheidende politische Schlüsselstellung zugefallen. Für die Öffentlichkeit und für die Besatzungsmächte wurde er damit zum ersten Mann des zu schaffenden Staates, noch ehe es ihn gab«6, resümierte Carlo Schmid, der die Postenverteilung im Rat später als »entscheidenden Fehler«7 der SPD bezeichnete.

Das heißt freilich nicht, dass damit die Kanzlerschaft Adenauers schon ein Selbstläufer gewesen wäre. Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher war 1949 einer der bekanntesten und beliebtesten deutschen Politiker. Er hatte im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren, war in den 20er Jahren SPD-Abgeordneter im Reichstag, wurde als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus von den Nazis verhaftet, saß in mehreren Konzentrationslagern und war nach dem Zweiten Weltkrieg der Inbegriff des charismatischen Kämpfers gegen die Nazis und gleichsam eine Symbolfigur eines neuen Deutschlands. Viele glaubten, dass er mit seiner Partei die erste Bundestagswahl gewinnen würde. Allerdings trauten dem schwer kranken Mann nur wenige zu, die Strapazen einer Kanzlerschaft auf sich nehmen zu können. Dem alten Konrad Adenauer allerdings genauso wenig.

Aber da war Carlo Schmid, fast genauso alt wie Schumacher, aber rund 20 Jahre jünger als Adenauer. Im März 1949 war Schmid der Held einer Titelgeschichte des »Spiegel«. Überschrift: »Zum Herrschen geboren«. Tenor: Schmid ist der Mann der Zukunft in der SPD, das hat Schumacher begriffen. »Es lag in Schumachers Konsequenz, den Aufstieg des Gleichaltrigen zu dulden, so schwer der Abschied von einer an Ehren und Niederlagen reichen Vergangenheit auch fallen mochte. Und so widerwillig er den Genossen und Funktionären bewusst wird.«8

In der eigenen Partei war Schmid umstritten, aber als Kanzler einer großen Koalition – die Schmid befürwortete und anstrebte – wäre er auch für die Genossen denkbar gewesen. Der Wahlkampf für den ersten deutschen Bundestag findet zwar ohne »Kanzlerkandidaten« statt. Zum ersten und einzigen Mal werden die Menschen nur aufgefordert, Abgeordnete für den Bundestag zu wählen – ohne die imaginäre Option, auch den Kanzler zu wählen. Trotzdem war klar: Adenauer und Schmid waren die zwei Männer, die allgemein für fähig gehalten wurden, Regierungschef der zukünftigen Bundesrepublik zu werden.9 Schmid selbst war eher nicht dieser Meinung.

Aber nach der ersten Bundestagswahl sah es kurzfristig so aus, als hätte er doch noch seine Chance. Die Unionsparteien lagen mit 31 Prozent knapp vorn, die SPD kam nur auf enttäuschende 29,2 Prozent – eine große Koalition erschien vielen als logische Konsequenz. In beiden großen Parteien. Und so war auch Carlo Schmid als möglicher Kanzler wieder im Gespräch.

Für Adenauer dagegen war klar: Er wollte Kanzler werden, fast um jeden Preis. Und er wollte keine Koalition mit der SPD. In dem Punkt war der SPD-Vorsitzende einer seiner eifrigsten Helfer. Kurt Schumacher hatte kategorisch erklärt, dass die SPD nur dann mit der Union regieren wollte, wenn sie die Wirtschaftspolitik bestimmen könnte. Das war für Adenauer undenkbar. Er war überzeugt, dass die Sozialdemokraten, die er im Wahlkampf noch als Sozialisten, Kommunisten und Moskauhörige beschimpft hatte, eine sozialistische Planwirtschaft anstrebten.

Freilich war »Sozialismus« nicht für alle seine Parteifreunde so klischeehaft besetzt wie für ihn. Schon beim »Reichstreffen« der verschiedenen lokalen und regionalen CDU-Sektionen im Dezember 1945 in Bad Godesberg war eine wirtschafts- und sozialpolitische Entschließung verabschiedet worden, in der ein »Sozialismus aus christlicher Verantwortung« vertreten wurde. »Dem Sozialismus gehört die Zukunft« hieß es 1946, und das Ahlener Programm vom Februar 1947 erklärt: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.«

Man müsse nun davon ausgehen, »dass die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitals vorbei ist.« Unter anderem fordert das Ahlener Programm die Vergesellschaftung von Monopolunternehmen vor allem in Schlüsselindus­trien.

Über Stellenwert und Bedeutung dieses Programms ist viel gestritten worden. Die einen halten es für eine »Jugendsünde« der CDU, geschuldet einer allgemeinen antikapitalistischen Stimmung unmittelbar nach dem Krieg; andere sehen darin die »Magna Charta der Union«; wieder andere verweisen auf seinen Charakter als »Aktionsprogramm der CDU der britischen Zone«. Mitentscheidend für die Entstehung des Ahlener Programms sind freilich taktische Überlegungen Konrad Adenauers. Sein Ziel war, die Vertreter des »christlichen Sozialismus« – vor allem Johannes Albers vom rheinischen Gewerkschaftsflügel und Jakob Kaiser von den Berlinern – einzubinden und zu neutralisieren.

Als das Ahlener Programm diese Rolle gespielt hatte, wurde es kurzerhand durch die von Ludwig Erhard inspirierten »Düsseldorfer Leitsätze« zur Wirtschaftspolitik ersetzt. »Soziale Marktwirtschaft« und »Christlicher Sozialismus« vor allem im Sinne der rheinischen Christdemokraten wären programmatisch möglicherweise miteinander zu vereinbaren gewesen. Aber angesichts der Entwicklungen in der Sowjetischen Besatzungszone empfanden CDU-Politiker im Westen es mehr und mehr als taktisch unklug, mit dem Begriff »Sozialismus« überhaupt noch zu operieren. Also hieß die Marschroute vom Juli 1949 an: »Soziale Marktwirtschaft«.10

Für Adenauer waren Programmfragen ohnehin Machtfragen. Er hatte gesehen, dass das Ahlener Programm zu nahe an den Vorstellungen der SPD war, dass die CDU bei den Wahlen zum ersten Bundestag ein deutlich anderes politisches Profil brauche. Das fand er in Erhards Konzept.

Allerdings musste er noch viel Überzeugungsarbeit leisten, um die eigenen Leute von seinem Weg zu überzeugen. Wie er das geschafft hat, wie er sich selbst zum Kanzler gemacht hat, ist ein Musterbeispiel für die taktische Finesse, aber auch politische Rücksichtslosigkeit Adenauers.

Mögliche Aspiranten auf das Kanzleramt aus den eigenen Reihen schaltet Adenauer aus, indem er ihnen wichtige Posten verspricht. Hans Ehard, Ministerpräsident Bayerns, soll Bundesratspräsident werden. Jakob Kaiser bietet er ein Ministeramt an, Erich Köhler das Amt des Bundestagspräsidenten. Dann müssen noch einige einflussreiche Ministerpräsidenten überzeugt werden, die für eine große Koalition und/oder gegen einen Kanzler Adenauer sind. Peter Altmeier (Rheinland-Pfalz), Karl Arnold (Nordrhein-Westfalen), Gebhard Müller (Württemberg-Hohenzollern) und Leo Wohleb (Baden) regieren in ihren Ländern mit den Sozialdemokraten und sind entschieden für eine große Koalition auch im Bund.

Die Rhöndorfer Kaffeetafel

21. August 1949, eine Woche nach der Wahl. Konrad Adenauer hat die wichtigsten Köpfe von CDU und CSU zu einer »Kaffeetafel« in sein Haus in Rhöndorf »zu einer Aussprache« eingeladen. »Ich wählte meine Wohnung als Sitzungsort, damit wir möglichst wenig ausgehorcht würden.«11 Wobei »Kaffeetafel« stark untertrieben war. Adenauer hatte opulent auffahren lassen, ein üppiges kaltes Buffet, Köstlichkeiten, die in der kargen Nachkriegszeit selten waren, dazu allerfeinste Weine. »Hervor kam das Edelste vom Edlen, Weine, wie ich sie in meinem Leben noch nie getrunken hatte«, notierte Franz Josef Strauß.12 Strauß, damals CSU-Generalsekretär, gehörte zu den Unterstützern Adenauers, genauso wie Ludwig Erhard und Theodor Blank und Adenauers enger Vertrauter Robert Pferdmenges.

Aber Adenauer hatte nicht nur Gleichgesinnte um sich geschart. Unter den Gästen waren auch die Ministerpräsidenten Altmeier und Müller, dazu einige Landesminister, auch der hessische Finanzminister Werner Hilpert, ebenfalls ein Befürworter einer großen Koalition. Adenauer wollte also nicht nur mit Freunden und Vertrauten plaudern, sondern auch Gegner der von ihm geplanten kleinen Koalition in seine Pläne einbeziehen.

Die legte er gleich zu Beginn offen. Erstens: Marktwirtschaft, »eindeutige Bejahung der sozialen Marktwirtschaft im Gegensatz zur sozialistischen Planwirtschaft«, also auf keinen Fall eine Koalition mit der SPD. »Der Wille der Wähler hat klar und eindeutig gegen ein Zusammengehen mit der SPD sich ausgesprochen. Man würde den Sinn einer politischen Wahl verfälschen, wenn nach diesem erbitterten Kampf sich die beiden großen Gegner des Wahlkampfes zusammenfinden würden, um eine Regierungskoalition zu bilden.«13 Es ist zwar nicht so einfach, die Runde gegen eine große Koalition einzustimmen. Aber Adenauer hat vorgesorgt. Den entschiedensten Verfechter einer Zusammenarbeit mit der SPD hat Adenauer nicht eingeladen: NRW-Ministerpräsident Karl Arnold. Und er hat zwei Tage zuvor in einem Gespräch mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard die CSU auf seine Seite gebracht. Die CSU, so konnte er berichten, würde auf keinen Fall einer großen Koalition zustimmen.

Zweitens: Anders als erwartet schlägt Adenauer keine Drei-Parteien-Koalition wie im Frankfurter Wirtschaftsrat vor, sondern allen Ernstes eine Minderheitsregierung mit der FDP. ­Allerdings überzeugen ihn seine Gäste im Verlauf der Besprechung, dass ein Dreierbündnis mit der Deutschen Partei das Regieren leichter machen würde. Adenauer stimmt dem zu, trotz seiner Bedenken gegen die DP, weil sie »völlig ins nationalistische Fahrwasser abgerutscht«14 sei.

Drittens: Die Kanzlerfrage. Wie genau Adenauer seine Selbst­­ernennung zum Kanzlerkandidaten eingefädelt hat, darüber gibt es verschiedene Versionen. Einige erinnern sich, dass Adenauer erklärt habe, man habe ihn »aus Parteikreisen« gebeten, sich zur Verfügung zu stellen.15 Adenauer erinnert sich so: »Ich war überrascht, als einer der Anwesenden meine Ausführungen unterbrach und sagte, daß er mich als Bundeskanzler vorschlage. Ich sah mir die Gesichter an und meinte dann: ‚Wenn die Anwesenden alle dieser Meinung sind, nehme ich an.«16

Tatsächlich berichtet der CDU-Mann Hermann Pünder, einer der Anwesenden, er habe während der Diskussion Adenauer als Kandidaten vorgeschlagen. Allerdings nachdem dieser erklärt hatte: »Man hat mich dazu vermocht, mich für die Stellung des Bundeskanzlers zur Verfügung zu stellen. Ich bin trotz meiner Jahre grundsätzlich bereit.«17 Im stenografischen Protokoll von Staatspräsident Müller liest sich das etwas anders. Danach lehnt Adenauer abermals das Amt des Bundespräsidenten ab. »Die wichtigste Persönlichkeit ist der Bundeskanzler. (…) ich will Kanzler werden. Ich bin 73 Jahre alt, aber ich würde das Amt des Kanzlers annehmen.«18 Er weist auf seine Autorität in der britischen Zone hin, auf seine »Erfahrung in staatlichen Dingen und in der Verwaltung«, und schließlich: »Ich (…) habe stärkere Ellbogen, als ich früher geglaubt hätte.«19

Und um Einwänden wegen seines Alters vorzubeugen, fügt Adenauer hinzu: »Ich habe mit Professor Martini, meinem Arzt, gesprochen, ob ich in meinem Alter dieses Amt wenigstens noch für ein Jahr übernehmen könne. Professor Martini hat keine Bedenken. Er meint, auch für zwei Jahre könne ich das Amt ausführen. Keiner erhob Widerspruch. Damit war die Sache beschlossen.«20

Das ist eindeutig: Konrad Adenauer erklärt sich selbst zum Übergangskanzler sozusagen als Preis dafür, dass er nominiert wird. Ob die Rhöndorfer Runde das so realisiert hat oder ob sie schlicht reingelegt worden ist, steht dahin. Jedenfalls stimmen die Teilnehmer am Ende des Rhöndorfer Treffens der Selbsternennung Adenauers zum Kanzlerkandidaten zu.

Das Kaffeekränzchen bei Adenauer war zwar kein formelles Parteigremium, aber das Votum war eine wirksame Vorfestlegung. Der Adenauer dadurch einen quasi offiziellen Stempel zu geben versuchte, dass er zwei Tage später in einer Pressekonferenz in Bonn die Öffentlichkeit über seinen Coup informierte, am selben Tag das Votum der CDU-Fraktion des NRW-Landtags und Ende August die Zustimmung einer Konferenz der Spitzenpolitiker der CDU der drei Westzonen und der CSU in Bonn einholte. Den Vorsitz in beiden Gremien, die für solche Entscheidungen nicht zuständig waren, hatte Konrad Adenauer.

Die Entscheidung des einzig zuständigen Gremiums, der gerade gebildeten CDU/CSU-Fraktion im Bundestag am 1. September 1949, war nach dieser Vorarbeit eher eine Formsache. So war Adenauer: Lieber in Kungelrunden Fakten schaffen, als sich auf Wahlen zu verlassen.

Die Kanzlerwahl im Bundestag allerdings verlief dann doch nicht so glatt. Trotz einer deutlichen Mehrheit im Bundestag wurde Adenauer am 15. September 1949 mit nur einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt. 402 Abgeordnete hatte der erste Bundestag, die absolute Mehrheit betrug also 202 Stimmen. Genau die bekam Adenauer, also nicht alle Stimmen der künftigen Regierungsfraktionen (208). Und statt der angekündigten zwei, drei Jahre blieb er 14 Jahre im Amt.

Das war er also, der Beginn der ersten Kanzlerschaft der Bundesrepublik Deutschland. Es rumpelte ganz schön, und am Ende siegte der Mann mit dem größten Durchsetzungsvermögen. So wie der Anfang war dann im Wesentlichen auch die ganze Kanzlerschaft: Mit seinem »Husarenstreich«21 von Rhöndorf legte Adenauer das Fundament für seine künftige Politik und stellte gleichzeitig das Muster seines politischen Handelns vor: Gekennzeichnet von Alleingängen eines eigenwilligen, machtbewussten alten Mannes, dem – in aller Regel – der Erfolg Recht gab. Er hat die meisten seiner großen Erfolge genau so errungen: durch Alleingänge, beharrliches, selbstbewusstes, ja egozentrisches Verfolgen seiner Ziele. Gegen Widerstände und, wenn es sein musste, im Widerspruch zu eigenen Überzeugungen.

Und es gab eine Menge zu organisieren in der frisch gegründeten Westrepublik. Es galt, das Land im Inneren zu stabilisieren, die Wirtschaft anzukurbeln, die Souveränität Deutschlands zurückzugewinnen, Europa aufzubauen. Adenauer wollte die Westbindung, die Wiederbewaffnung, die Aussöhnung mit Israel, und die CDU folgte ihm.

Die beachtlichen Erfolge der ersten Kanzlerschaft Adenauers führten dazu, dass die Frage nach einem Nachfolger immer leiser gestellt wurde. Zwar haben Unionspolitiker schon 1949, faktisch »vom ersten Tag der Kanzlerschaft Adenauers an«22, Ausschau nach einem Nachfolger gehalten, der möglichst evangelisch sein sollte. Unter anderen war Hermann Ehlers, der 1950 als Nachfolger von Erich Köhler Bundestagspräsident wurde, im Gespräch.23 Aber irgendwie schaffte Adenauer es, die Nachfolge zu einem Tabuthema zu machen.24 Zum einen durch überzeugende Erfolge, zum anderen durch Neutralisierung möglicher Kandidaten.

Der Wahlerfolg von 1953 beendete dann alle Nachfolgedebatten – zumindest vorläufig. Die Union hatte mit 45,2 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt. Alle, die dem »Alten« einen Sieg bei der Bundestagswahl nicht zugetraut hatten, waren düpiert. Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz: »Von jetzt an wagte man nur noch hinter vorgehaltener Hand die Frage zu stellen, wann ein Kanzlerwechsel aus Altersgründen nötig werden könne. Richtungskämpfe mit Stoßrichtung auf Adenauer waren nun für lange Zeit ausgeschlossen.«25

Für allzu lange Zeit freilich nicht. Manche in der Unionsfraktion machten sich schon Gedanken darüber, ob man bei der nächsten Wahl (1957) wiederum mit dem Kandidaten Adenauer antreten wolle. Der wäre dann immerhin 81 Jahre alt. Ohnehin war die öffentliche Nachfolgedebatte nicht zu verhindern. Im Herbst 1955 zwang eine schwere Lungenentzündung Adenauer zu fast zwei Monaten Bettruhe, und danach war kein Halten mehr.

Am 26. Oktober erschien in der »Welt« eine umfangreiche Analyse, wonach schon nach dem Tod des Hoffnungsträgers Hermann Ehlers im Oktober 1954 die Diskussion um einen Nachfolger wieder aufgelebt sei. »Aus dem Führungsgremium heraus legte man Adenauer nahe, in einer Aussprache im kleinen Kreis die Frage des Kronprinzen zu klären.«26 Adenauer lehnte ab. Fritz René Allemann, Verfasser des berühmten Buches »Bonn ist nicht Weimar«, schrieb in der Zeitschrift »Der Monat«: »Die ihn kennen, sind überzeugt, dass er nie anders denn unter unabweisbarem Zwang das Steuer aus der Hand legen werde. Sie wissen auch etwas anderes: dass er keinerlei Neigung bezeugt, von sich aus einen Anwärter auszusuchen oder auch nur einem von ihnen seine besondere Gunst zuzuwenden«.27

Im Gespräch für die Nachfolge waren NRW-