Verjünge deine Gene! - Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk - E-Book

Verjünge deine Gene! E-Book

Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk

0,0
18,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine faszinierende Vorstellung: Wie wäre es, wenn sich die biologische Uhr, die in jedem von uns tickt, anhalten ließe – oder sogar ein Stück zurückdrehen? Und das nicht bloß gefühlt, sondern messbar? Dieses Versprechen ist seit Kurzem Realität. Der junge Forschungszweig der Epigenetik hat den Deckel von der Altersuhr gehoben – und in aktuellen Studien nun sogar den Sprung in die praktische Anwendung geschafft. Genau darum geht es in diesem Buch: Was kann ich ganz konkret tun, um meine Altersuhr zurückzudrehen? Um wie viele Monate oder gar Jahre lässt sich der Zeiger zurückstellen? Und wie schaffe ich es mit dem richtigen Lebensstil, mein vermeintlich festgelegtes genetisches Erbe zum Besseren zu korrigieren – um gesünder zu sein?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Franzsika Mohrfeldt

Lektorat: Ralf Lay

Bildredaktion: Simone Hoffmann

Covergestaltung: Petra Schmidt, ki36 editorial Design, München

eBook-Herstellung: Maria Prochaska

ISBN 978-3-8338-9149-6

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Fotos: privat; Renate Forster, www.renateforster.de; Helix-Grafik passim: AdobeStock

Syndication: www.seasons.agency

GuU 8-9149 09_2023_01

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

www.facebook.com/gu.verlag

Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasserin dar. Sie wurden von der Autorin nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

EINLEITUNG

Gerade mal sechzehn Versuchspersonen. So viele Teilnehmer umfasste die Studie von Birgitte Regenberg, noch dazu ausschließlich Männer jenseits der sechzig. Eine Untersuchung mit derart wenigen Probanden ist eigentlich keine – nach wissenschaftlichen Maßstäben. Schon gar nicht, wenn es bei der Analyse um den Langzeiteffekt von Sport geht.

Dennoch gelang es der Biologin von der Universität Kopenhagen, ihre Studie im Frühjahr 2019 in einem renommierten Fachblatt zu veröffentlichen, den Scientific Reports,1 und damit in einer Zeitschrift, die zu den meistzitierten Wissenschaftsjournalen der Welt gehört. Der Grund lag darin, dass die angesehene Forscherin bei ihrer Arbeit tiefer hinblickte als sonst üblich, viel tiefer sogar, nämlich direkt in die Zellkerne der Muskelzellen ihrer Versuchspersonen, also dorthin, wo das fadenförmige DNA-Molekül sitzt, der Bauplan des Lebens. Und was Regenberg dort fand, schlug Wellen. Denn das Erbgut derjenigen ihrer Probanden, die zeitlebens viel Sport trieben, unterschied sich an mehr als 700 einzelnen Stellen von dem der Bewegungsmuffel.2 Bestimmte chemische Anhängsel, die wie molekulare Bremsklötzchen auf den Genen sitzen, fehlten bei den fitten Senioren. Was zur Folge hat, dass wichtige Erbanlagen, die für die Energiegewinnung, den Muskelaufbau oder den Schutz vor aggressiven freien Radikalen benötigt werden, bei den Turnschuhträgern häufiger abgelesen werden als bei den Couchpotatoes.

Regenbergs Entdeckung ist in mehrerlei Hinsicht faszinierend. Denn sie bedeutet, dass ein aktiver Lebensstil, in dem Radfahren, Laufen oder Schwimmen zum Alltag gehören, nicht bloß irgendwie gesünder und lustvoller ist. Vielmehr programmiert regelmäßiger Sport unsere Biologie im Lauf der Zeit auf der tiefstmöglichen Ebene um. Ein simples Paar Laufschuhe wirkt wie ein Peeling für die Gene: Es transformiert die Steuerung des Erbguts und verändert die Funktion der Zellen ein Stück weit zum Besseren.

Damit beweist der Fund der Kopenhagener Biologieprofessorin zugleich auch, dass mehr in uns steckt als die Summe unserer Gene. Es gibt einen beträchtlichen Teil in jedem Menschen, der sich dauerhaft modulieren und korrigieren lässt. Das vermeintliche schicksalhafte genetische Erbe lässt sich überlisten – sofern wir das Richtige tun und das Falsche lassen.

Die Entdeckung von Regenberg steht bei Weitem nicht allein. Weltweit sammelten Forscher seit Beginn der 2000er-Jahre eine Fülle von Belegen dafür, wie unser Lebensstil das Geschehen in den winzigen Zellen des Körpers auf genetischer Ebene ummodelt. Dabei betreffen die Umgestaltungen wohlgemerkt nicht die Erbanlagen direkt. Welche Gene wir mitbekommen, ist mit der Zeugung festgelegt. Erbfaktoren selbst verändern sich im Normalfall nicht, sie bleiben brav aufgereiht auf dem Molekülfaden der DNA. Vielmehr sorgt eine Reihe von chemischen Schaltern, die an oder neben den Genen unserer Zellen sitzen, wie Dimmer dafür, dass einige Gene schwer abgelesen werden können und andere leichter. So kann ein gesunder Lebensstil positive Gene aktivieren.

»Epigenetik« nennt sich das neue Forschungsfeld, das diese Phänomene erforscht (gr. epí [auf, dazu, außerdem]). Die junge Schwesterdisziplin der klassischen Genetik beschreibt den Code über dem Code, das Bindeglied zwischen Umwelt und DNA in den Zellen: Unter welchen Umständen wird welches Gen angeschaltet, und wann wird es wieder stumm? Und was heißt das für Gesundheit, Altern und Wohlbefinden? Diese Fragen beschäftigen nicht nur die medizinischen Wissenschaften, sondern – mit etwas anderen Schwerpunkten – auch die Pflanzenbiologie und die Zoologie. Denn epigenetische Mechanismen beeinflussen praktisch jedes Lebewesen von der Bäckerhefe über Primelgewächse bis hin zum Menschen.

In diesem Buch stellen wir Ihnen die spannendsten Erkenntnisse der Epigenetik vor und zeigen Ihnen, wie diese helfen, Ihr Leben zu verbessern. Das geht mitunter ganz leicht, etwa indem Sie sich regelmäßig Brokkoli auf den Teller holen. Bestimmte Inhaltsstoffe in dem Kräuselgemüse, Sulforaphan und Indol-3-Carbinol, wirken offensichtlich als Methylierungsblocker an sogenannten Tumorsuppressor-Genen. Diese Erbfaktoren werden im Alter sehr stark methyliert. Damit kommen sie ihrer Aufgabe, Krebszellen zu unterdrücken, schlechter nach. Die sekundären Pflanzenstoffe aus Kreuzblütlern wie Brokkoli oder Rosenkohl entfernen die Methylgruppen. Das versetzt die Gene wieder in die Lage, das Zellwachstum zu kontrollieren. Ganz ähnlich wirkt offensichtlich auch das Epigallocatechingallat, das vor allem im grünen Tee vorkommt.

Was wir essen, spielt eine bedeutende Rolle für das epigenetische Programm in den Körperzellen. Entsprechend hilft eine kluge Zusammenstellung des Speisezettels dabei, dass Gene, die unsere Regeneration fördern, häufiger abgelesen werden, und solche, die Entzündungen oder frühzeitige Alterung ankurbeln, entsprechend seltener.

Aber auch wo wir wohnen, wie wir schlafen, wie gut unsere Ehe funktioniert, welche Gefühle wir hegen – all das modelliert die Erbanlagen.3 Oder wie es der 1967 in Frankfurt am Main geborene deutschamerikanische Epigenetiker Steve Horvath ausdrückte: »Die Welt fließt sozusagen durch uns hindurch.«4

Dieses epigenetische Feintuning zeigt mitunter verblüffende Späteffekte. Ob Erwachsene schnell ins Schwitzen geraten, kann davon abhängen, ob sie als Babys in einer intensiv geheizten Wohnung aufwuchsen. Denn die Temperaturen, denen ein Mensch in den ersten drei Lebensjahren ausgesetzt ist, bestimmen darüber, wie seine Anlagen für Schweißdrüsen in der Körperhaut aktiviert werden.5 Eine sinnvolle epigenetische Anpassung der Natur – sie führt dazu, dass Tropenbewohner mehr betriebsame Schweißdrüsen besitzen als Nordeuropäer.6

Die Umwelt, das lehrt die Epigenetik, befindet sich in ständigem Dialog mit den Genen. Mit diesem Zwiegespräch passt sich die menschliche Biologie an die kleinen und größeren Herausforderungen des Lebens an. Die meisten der epigenetischen Marker (Experten sprechen von »DNA-Methylierungen« oder »Histon-Modifikationen«, mehr dazu in Kapitel eins >) werden rasch wieder gelöscht. Das hält das Epigenom flexibel. Aber 10 bis 15 Prozent der Veränderungen schreiben sich hartnäckig in die Zellen ein.7 Frühkindliche Erfahrungen von Missbrauch beispielsweise können sich so tief in das Epigenom einbrennen, dass sie selbst nach Jahrzehnten nachweisbar bleiben. Das fanden Forscher der kanadischen McGill-Universität in Montreal heraus, als sie das Hirngewebe von Erwachsenen untersuchten, die freiwillig aus dem Leben geschieden waren. In den Proben zeigten sich Hinweise darauf, dass bei denjenigen Suizidanten, die in der Kindheit sexuelle Gewalt oder Vernachlässigung erlebt hatten, ein Gen blockiert war, das mitverantwortlich dafür ist, wie der Körper auf Stress reagiert.8 Die unglücklichen Geschöpfe dürften zeitlebens hochsensibel auf jede Form von störenden Reizen reagiert haben – bei entsprechender Veranlagung ein Wegbereiter für schwere Depressionen.9 Zum Glück funktioniert die Regulation der Genaktivität auch in entgegengesetzter Richtung. Wie Studien zeigen, hebt eine erfolgreiche Psychotherapie die ungünstige Epigenese etwa bei Angsterkrankungen wieder auf.10 Das krankheitsspezifische Muster der Methyl-Anhängsel an der DNA normalisiert sich ebenso wie bei einer medikamentösen Therapie.

Wer sich achtsam um seine körperliche und geistige Gesundheit kümmert, nutzt die Chance, tiefgreifende Veränderungen in seiner Biologie auszulösen – das ist eine der wertvollen Botschaften, die die Epigenetik bereithält und die wir in den nachfolgenden Kapiteln beleuchten werden. Von dieser Selbstfürsorge profitieren womöglich noch Kinder und Enkel. Forscher finden zunehmend Anzeichen dafür, dass die Mechanismen, die die Aktivität des Erbguts steuern, die Grenzen der Generationen überschreiten. Neben der Polaroid-Vintage-Kamera, dem Wandteller aus Meißener Porzellan und natürlich den Genen erben wir auch noch die erworbenen Umweltanpassungen unserer Eltern (mehr darüber vor allem in den Kapiteln sieben und acht).

Lebensstil, Umwelt, möglicherweise auch unsere Ahnen – all das beeinflusst, wie gut Gene abgelesen werden. Und es gibt noch einen weiteren entscheidenden Faktor: die Zeit. Altern die Zellen mit den Jahren, verändert sich das Bild der epigenetischen Marker. Dieser Vorgang geschieht in einer derart charakteristischen Weise, dass jedes Lebensalter ein sehr spezielles epigenetisches Methylierungsmuster aufweist. Einer der ersten Forscher, denen dies aufgefallen war, ist der bereits erwähnte Steve Horvath. Der Humangenetiker von der renommierten Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) erfand daraufhin einen Computeralgorithmus, der anhand dieser chemischen Veränderungen am Erbgut verrät, wie jung unserer Biologie tatsächlich ist. Ein Tropfen Blut genügt – und die Horvath’sche Uhr weiß, ob die Körperzellen fitter sind als beim Durchschnitt unserer Altersgenossen. Oder ob ein ungesunder Lebenswandel die Zeiger der Altersuhr beschleunigt hat. Das Ergebnis des Tests bestimmt auch über das konkrete Wohlergehen. Liegt das epigenetische Alter unter dem chronologischen, sinkt das Risiko, an Krebs oder Herz-Kreislauf-Leiden zu sterben.11 Die Ergebnisse der DNA-Analyse sind derart präzise, dass Horvaths erste Versuche, seine Studien zu publizieren, von den wissenschaftlichen Gutachtern abgelehnt wurden: Die Kollegen hielten seine Methode für unseriös. Wie »Horvath’s Clock« die Altersbestimmung revolutioniert und mit welchem Rezept es Forschern erstmals gelungen ist, die epigenetische Uhr bei ihren Versuchspersonen um zweieinhalb Jahre zurückzustellen, lesen Sie in Kapitel zwei. In diesem Kapitel werden Sie erfahren: »Verjünge deine Gene« ist keine unerfüllbare Aufforderung, sondern eine Einladung, die niemand ausschlagen sollte, der länger gesund leben möchte.

Mit all den faszinierenden Einsichten und Möglichkeiten, die die Epigenetik öffnet, kann es niemand überraschen, dass sie auch neue Perspektiven in der Therapie eröffnet. Das betrifft vor allem die Behandlung von komplexen Krankheiten wie Krebs, Alzheimer-Demenz, Diabetes mellitus, Asthma bronchiale oder COPD, die unter dem Einfluss epigenetischer Prozesse stehen.12 Bei Morbus Alzheimer etwa werden Gene unterdrückt, die für das Erfassen von neuen Informationen zuständig sind. Im Tierversuch hat sich gezeigt, dass Medikamente diese Unterdrückung hemmen und die Gedächtnisleistungen bessern können.13 Die Krebsmedizin arbeitet bereits mit Wirkstoffen, die beim myelodysplastischem Syndrom, einer Vorstufe von Leukämie, die Blockade bestimmter Gene aufhebt. Diese spannenden Ausblicke in die Zukunft bilden den Abschluss des Buchs.

Los geht es mit etwas Grundlagenwissen zur Genetik und Epigenetik …

Auf einen Blick

Unsere Gene sind steuerbar

 

Eine relativ junge Disziplin der Biologie namens »Epigenetik« zeigt, wie jeder Mensch sein Erbgut formen kann. Sie lehrt, dass jede Joggingrunde, jeder bunte Salat, jeder harmonische Abend mit Freunden oder der Familie die Identität unserer Körperzellen verändert. Je öfter, desto nachhaltiger. Auf Dauer wandeln sich nicht nur Gedächtnis und Identität der Zellen, sondern unser Schicksal: Der richtige Lebensstil aktiviert Gene, die vor Krebs schützen, Entzündungen hemmen oder Ängste lindern. Dabei lassen Umweltfaktoren den Code der DNA unberührt. Vielmehr ändert sich, was »auf« den Genen passiert – deshalb der Name »Epigenetik«. Diese zweite Ebene der Genetik beruht unter anderem auf chemischen Schaltermolekülen auf der DNA. Sie bestimmen, welche Gene eine Zelle benutzen kann und welche nicht.

Ein Mechanismus, der auch Schattenseiten birgt. Traumata, chronischer Stress oder Drogen verändern die Ablesebereitschaft der Gene derart, dass die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen steigt. Über die Keimbahn können manche epigenetischen Instruktionen offenbar an folgenden Generationen vererbt werden.

Eine bahnbrechende Anwendung des neuen Zweigs der Genforschung bilden die epigenetischen Uhren: Aus einem Tropfen Speichel oder Blut lässt sich anhand der chemischen Anlagerungen an der DNA das biologische Alter eines Menschen exakt bestimmen. Dadurch ist die Altersforschung zunehmend erfolgreicher darin, das Geheimnis von Jugend und Gesundheit zu enträtseln.

EINS DAS SCHWEIGEN DER GENE – EINE EINFÜHRUNG IN DIE EPIGENETIK

DER ZWEITE CODE DES LEBENS – MIT WELCHEN MOLEKULAREN KNIFFEN DIE EPIGENETIK ÄNDERUNGEN AM ERBGUT BEWIRKT

Erinnern Sie sich noch an die Stunde über Epigenetik damals im Biologieunterricht? Falls ja, sind Sie wahrscheinlich ziemlich jung und hatten darüber hinaus eine extrem fortschrittliche Lehrerin. Denn die meisten Menschen haben in der Schule nie von dieser Tochterdisziplin der Genetik gehört, so neu ist ihr Aufschwung seit den 2000er-Jahren. Erst in letzter Zeit hält das Gebiet Einzug in die Lehrpläne.14 So können selbst naturwissenschaftlich gebildete Zeitgenossen häufig wenig mit Epigenetik anfangen, weshalb hier eine kurze Einführung folgt, wie die epigenetischen Veränderungen im Detail zustande kommen.

Am besten, wir beginnen dort, wo alles anfängt: bei der Körperzelle, dem kleinsten gemeinsamen Nenner des Lebens. Mehr als 200 verschiedene Zelltypen finden sich im Menschen, sei es in Haut, Blut, Gehirn, Muskeln, Leber, Knochen oder Knorpel. Jeder dieser winzigen Bausteine enthält das gesamte Erbgut. Die Leberzelle eines Menschen trägt also dieselbe DNA wie eine Hirn- oder Netzhautzelle, selbst wenn ihre Aufgaben unterschiedlich sind. Die Gene sitzen auf den DNA-Fäden im Zellkern und enthalten codierte Baupläne für Proteine, die der Körper bei Bedarf abliest. Manche dieser Erbfaktoren, die sogenannten Haushaltsgene, sind in allen Zellen eingeschaltet. Das sind diejenigen, die Stoffwechsel, Zellteilung und Reparaturmechanismen organisieren. Andere Gene dagegen sind spezifisch für einen Zelltyp. In Neuronen werden beispielsweise Bauanleitungen für die elektrische Signalübertragung epigenetisch aktiviert, die in Leberzellen abgeschaltet sind: Letztere sollen schließlich Alkohol abbauen und sich nicht in Form elektrischer Impulse Gedanken über die Steuererklärung machen.

Die erste Aufgabe der Epigenetik besteht daher zunächst einmal darin, bei der Entwicklung ganz unterschiedlicher Gewebe den jeweiligen Zellen die richtige Aufgabe zuzuweisen. Die Epigenetik bietet demnach eine Gebrauchsanleitung für das Leben. Der Werkzeugkasten dieses Steuerungssystems gibt allerdings noch mehr her: Die Epigenetik ermöglicht es dem individuellen Genom, sich den Umweltbedingungen zeitnah anzupassen. Sie tut das allerdings nicht, indem sie die Reihenfolge der Basenpaare auf der DNA verändert (was bei Mutationen passiert), sondern indem sie regelt, welche Gene abgelesen werden und welche nicht. Dazu stehen ihr unterschiedliche zelluläre Kniffe zur Verfügung:

Methylierung: Der am besten untersuchte epigenetische Mechanismus nennt sich »Methylierung« (mehr dazu in Kapitel drei >). Der Begriff leitet sich von »Methylgruppe« ab, einer der einfachsten Atomanordnungen in der organischen Chemie. Diese winzigen Bausteine bestehen lediglich aus einem Kohlenstoffatom und drei Wasserstoffatomen, entsprechend tragen sie das Kürzel –CH3. Bei der Methylierung koppelt sich eine Methylgruppe an jene Bausteine der DNA, die die Informationen tragen, die sogenannten Basen. (Genau genommen geschieht die Methylierung in denjenigen DNA-Abschnitten, in denen besonders oft die Basenabfolge Cytosin–Guanin auftritt.15) Das Andocken der Methylgruppen erledigen spezialisierte Enzyme, sogenannte Methyltransferasen.

Den Effekt dieses Vorgangs kann man sich wie eine Art Stoppschild vorstellen. Wo eine Methylgruppe angeheftet ist, wird die DNA zunehmend schwerer entzifferbar. Je mehr Stellen auf einem Gen besetzt sind, desto stärker ist seine Aktivierbarkeit gedrosselt. Bei vollständiger Methylierung ist das Gen zum Schweigen gebracht. Damit ist seine Fähigkeit eingeschränkt, Proteine zu produzieren. In gesunden Zellen lenken die chemischen Markierungen nicht nur die Aktivität von Erbfaktoren, sie schützen die Zelle auch vor fremder DNA und helfen, Fehler bei der Neubildung von DNA zu korrigieren.16 Allerdings kann die epigenetische Veränderung bei bestimmten Genen auch von Nachteil sein: Bei Tumorsuppressoren und Genen zur DNA-Reparatur kann eine zu starke Methylierung den schützenden Effekt zunichtemachen.17 (Bei vielen Krebserkrankungen sind Teile des Erbguts der Tumorzellen durch die Methylierungen stillgelegt.)

Histon-Modifikation: Der zweite Mechanismus der epigenetischen Steuerung dreht sich um chemische Veränderungen an Histon-Proteinen. Histone sind die Verpackungshelfer der DNA. Als 2 Meter langes Makromolekül ist der aufgedröselte DNA-Faden normalerweise zu lang für den winzigen Zellkern, der lediglich einen Durchmesser von einem hundertstel Millimeter besitzt.18 Die Lösung für das Platzproblem liegt darin, dass sich das XXL-Molekül in kleinen Einheiten um die Histone wickelt wie ein Draht um eine Spule. Diese Struktur aus DNA und Proteinen nennt man »Chromatin«. Dank diesem Mechanismus kann die DNA zehntausendfach verkleinert und zusammengefaltet werden. Weil diese kugelförmigen Gebilde durch unverpackte DNA-Bereiche verbunden sind, erinnert die ganze Konstruktion an eine Perlenschnur.19 Der Nachteil des faszinierenden Gebildes besteht darin, dass die Gene in ihrer festen Verpackung nicht ohne Weiteres abgelesen werden können.

Und hier kommt die Epigenetik ins Spiel. Der Packungszustand des Chromatins kann nämlich durch das Anfügen oder Entfernen verschiedener chemischer Gruppen an bestimmte Aminosäuren der Histone verändert werden, etwa durch das Hinzufügen oder Entfernen von Acetylgruppen oder das Anhängen von Methylgruppen.

Binden sich Acetylgruppen an diejenigen Histone, um die das gewünschte Gen gewickelt ist, lockert sich die kompakte Chromatinstruktur. Die DNA wird entpackt und das Gen zugänglicher. Vermittelt wird die Acetylierung von Enzymen, die die molekularen Schalter auf bestimmte Proteinbausteine übertragen oder auch wieder entfernen. Eine Methylierung hingegen, also das Anhängen von Methylgruppen, oder eine Reduktion der Acetylgruppen verdichtet das Chromatin und erschwert das Ablesen der Informationen.20

Eine zu starke oder schwache Aktivität der Enzyme, die für das Anheften oder Entfernen der chemischen Verbindungen zuständig sind, steht in Verbindung mit verschiedenen Krankheiten. Bei Menschen mit Asthma etwa ist die Histonacetylase zu rege, also das Enzym, das für das Anhängen einer Acetylgruppe zuständig ist. Das führt vermutlich dazu, dass Entzündungsgene, die an der Entwicklung des Lungenleidens beteiligt sind, überaktiv werden.

RNA-Interferenz: Das dritte Instrument der epigenetischen Steuerung ist erst seit einigen Jahren bekannt und ehrlich gesagt ziemlich kompliziert. Die Methode setzt nicht an den Genen selbst an; vielmehr wird die Umsetzung der Erbfaktoren in ihre Produkte gestört, also in die Proteine. (Zur Erinnerung: Gene sind Bauanleitungen für Eiweißmoleküle, ohne die ein Organismus nicht funktioniert.) Im Mittelpunkt dieses molekularen Mechanismus stehen kleine RNA-Moleküle, sogenannte Mikro-RNAs. Sie sind eine Variante der RNA, welche wiederum die kleine, einfacher gebaute Schwester der DNA ist. Die Mikro-RNA-Schnipsel besitzen die Fähigkeit, die RNA-Botenmoleküle zu neutralisieren und dadurch die Übersetzung einzelner Gene in das zugehörige Protein zu verhindern.21 Ein ähnliches Phänomen kennt man aus der Physik unter dem Namen »Interferenz« bei Wellen ähnlicher Länge, die aufeinandertreffen und sich gegenseitig eliminieren. Entsprechend spricht man hier von RNA-Interferenz (RNAi). Dieser Mechanismus ermöglicht der Zelle noch eine epigenetische Einflussnahme, selbst nachdem die Information bereits von der DNA abgelesen wurde. Für die Entdeckung dieses natürlichen Zellmechanismus erhielten die beiden US-Genforscher Andrew Fire und Craig Mello im Jahr 2006 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Neben der DNA-Methylierung und der Histon-Modifikation, den beiden wichtigsten epigenetischen Reglern, gibt es noch weitere molekulare Mechanismen zur Steuerung der Schalterstellungen in der Zelle.22 Experten bezeichnen das ganze Drumherum aus chemischen Markern und Faktoren, die die DNA umgeben, als »Epigenom« oder »zweiten Code des Lebens«.

Die wichtigste Eigenschaft dieser Modifikationen ist ihre Flexibilität. Manche Veränderungen überdauern nur Minuten, andere Tage, einige Jahre, und wieder andere halten für immer an. Was diese epigenetischen Prägungen konkret bewirken, lässt sich in Zellkulturexperimenten oder im Tiermodell gut untersuchen, beispielsweise indem man Ratten zum Schwimmtraining schickt.

Ein Forscherteam um Edward Ojuka von der Universität Kapstadt hat das getan und anschließend die Gene der Tiere untersucht. Konkret interessierten sich die Sportmediziner für einen Abschnitt auf der DNA, der für die Herstellung eines Proteins zuständig ist, das in der Membran der Muskelzelle sitzt. Als Transporterprotein hilft dieses Eiweiß der Zelle, den Muskeltreibstoff Glukose aus dem Blut zu fischen. Das versorgt nicht bloß die kleinen Kraftsparkassen mit Energie, es senkt zugleich den Blutzuckerspiegel und schützt so vor Typ-2-Diabetes.

Tatsächlich schalteten die Gene der ertüchtigten Ratten auf gesund um. Ihre Histone trugen mehr Acetylgruppen, die das Abrufen nahe gelegener Erbfaktoren erleichtern.23 Auf diese Weise wurde die Bauanleitung für den Glukosetransporter bei den aktiven Nagern häufiger abgelesen. Mehr Türöffner für Glukose in der Muskelzelle, das bedeutet: mehr Energie, weniger Zucker im Blut und mehr Schutz vor Diabetes. Wasserratten besitzen einfach den besseren Stoffwechsel, auch solche mit zwei Beinen.

GENE ODER UMWELT? – ZWILLINGE UND DIE MACHT DER EPIGENETIK

Eineiige Zwillinge und Mäuse teilen eine Gemeinsamkeit. Diese Lebewesen zählen zu den Lieblingsobjekten der medizinischen Forschung: die Nager, weil sie bequem zu halten sind und mit zwei Jahren einen für Säugetiere kurz bemessenen Lebenszyklus aufweisen; die Zwillinge, weil ihre DNA zu 99,99 Prozent übereinstimmt. Entwickeln sich Geschwister aus ein und derselben Eizelle, sind ihre Erbinformationen so gut wie identisch. Die gleichen Gene und Chromosomen – das bedeutet normalerweise auch die gleiche Nase, die gleichen Augen, das gleiche Lachen. Selbst die moderne Gesichtserkennung in Smartphones kann eineiige Zwillinge nicht auseinanderhalten. Mit diesen Voraussetzungen eignen sich die Beinahe-Klone ideal für Vergleichsstudien. Welchen Einfluss nehmen die Gene auf bestimmte Merkmale? Und welchen die Umwelt, also die Epigenetik?

Von der Körpergröße und Augenfarbe über Intelligenz und sexuelle Orientierung bis hin zu den Lieblingsspeisen haben Zwillingsforscher so gut wie jedes menschliche Merkmal unter die Lupe genommen, seit der britische Naturforscher Francis Galton (1822–1911) in den 1870er-Jahren als Erster begann, die Verteilung von bestimmten Eigenschaften innerhalb von Familien zu studieren. Dabei bemerkte der Vetter von Charles Darwin (1809–1882) unter anderem, dass Söhne ungewöhnlich hochgewachsener Väter eher etwas kleiner waren als ihre Erzeuger. Ihre Körpergröße näherte sich dem Bevölkerungsschnitt an – ein »Regression zur Mitte« genanntes Phänomen, mit dem Galton einen wichtigen Beitrag für das Gebiet der Statistik lieferte.

Suchten die Familienfahnder in den ersten Jahrzehnten überwiegend nach den Gemeinsamkeiten, rückten in jüngerer Zeit die Unterschiede in den Fokus. Warum kämpft ein eineiiger Zwilling mit Typ-2-Diabetes, während seine Dublette – trotz identischer Mitgift – verschont bleibt? Wieso treten Depressionen, Schilddrüsenüberfunktionen oder Bluthochdruck bei gleichem Genom nicht automatisch im Doppelpack auf? Erkrankt ein Zwilling beispielsweise an Krebs, springt das Risiko für den anderen Zwilling, früher oder später dieselbe Diagnose zu erhalten, auf 46 Prozent.24 Das ist einerseits hoch, liegt andererseits aber nur 14 Prozent über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Ganz offensichtlich spielen die Gene selbst bei eineiigen Zwillingen nicht die alles entscheidende Rolle, wenn es um die großen Volkskrankheiten geht.

Mit dieser Erkenntnis wächst die Bedeutung der Umwelt – und damit der Epigenetik. Als Erster widmete sich der Spanier Manel Esteller 2005 der Frage, wie das tagtägliche Leben die Klaviatur der Gene bei eineiigen Zwillingen verändert.25 Dazu analysierte der Genetiker von der Universität Barcelona Gewebeproben von vierzig Geschwisterpaaren im Alter zwischen 3 und 74 Jahren. Wie zu erwarten, wiesen ihre Genome praktisch keinen Unterschied auf. Mitunter deutliche Abweichungen zeigten hingegen die Aktivitätsmuster bestimmter Gene, und das umso mehr, je älter die Probanden waren.

Es war offensichtlich: Im Lauf der Jahre greifen Erfahrungen, Gewohnheiten und Umwelt in das Mischpult der Genregulation ein. Die Epigenome differenzieren sich zunehmend auseinander. Besonders groß sind die Abweichungen bei Zwillingen, die getrennt voneinander aufwachsen oder leben. Je unterschiedlicher ihr Alltag – von der Ernährung über Sport und Krankheiten und Beruf bis hin zu Drogenkonsum –, desto größer die Kontraste.

Streng genommen beginnt die epigenetische Auseinanderentwicklung von eineiigen Zwillingen bereits im Bauch der Mutter. Denn selbst hier weichen die Umweltbedingungen etwas ab. Der eine Embryo liegt näher am mütterlichen Herzen, der andere ein Stück entfernter. Auch der Blutzufluss durch die Plazenta ist unterschiedlich. Selbst solche kleinen Modulationen schlagen sich bereits in den Prägungen des Erbguts nieder, wie der australische Zellbiologe Jeff Craig herausfand, als er Nabelschnurblut und Mutterkuchen von insgesamt 34 neugeborenen Zwillingen untersuchte.26 Bei der Zeugung noch genetisch identisch, kamen die Geschwister bereits mit unterschiedlichem Genaktivitätsmuster zur Welt.

Ob Zwilling oder Einling: Niemand kann sich dem Einfluss der Umwelt entziehen. Oder andersherum formuliert: Jeder hat die Chance, dass er seiner biologischen Mitgift durch den richtigen Lebensstil ein Schnippchen schlägt. Diese Erkenntnis aus der Zwillingsforschung wird vielfach durch Untersuchungen bestätigt, die sich mit der Genetik von Volkserkrankungen bei der Durchschnittsbevölkerung beschäftigen. Dabei zeigte sich zwar, dass bestimmte Gendefekte mit zum Teil schweren Leiden zusammenhängen. Das Paradebeispiel sind Mutationen in den BRCA1- oder BRCA2-Genen. Frauen mit dieser erblichen Veranlagung tragen ein bis zu 85 Prozent erhöhtes Risiko für Brustkrebs. Ein Erbleiden kann auch dahinterstecken, wenn schlanke Menschen trotz Sport und gesunder Ernährung hohe Cholesterinwerte nicht in den Griff bekommen. Bei dieser familiären Hypercholesterinämie ist meist das Gen des LDL-Rezeptors defekt, das am Abbau von LDL-Cholesterin im Körper beteiligt ist (gr. hypér [über, übermäßig, über – hinaus]).

Doch solche Fälle sind zum Glück rar. Nur 3 bis 4 Prozent aller Brustkrebserkrankungen gehen auf das Konto der Risikogene. Auch bei Fettstoffwechselstörungen trägt die elterliche Mitgift selten die Hauptschuld. Gerade bei komplexen Volkskrankheiten wie Asthma, Typ-2-Diabetes oder Demenz überlagern sich die Wirkungen zahlreicher Erbfaktoren mit den Einflüssen von Umwelt und Lebensstil. Bei koronaren Herzkrankheiten (KHK) beispielsweise – der weltweit häufigsten Todesursache – kennen Forscher inzwischen mehr als 250 Genorte, die mit der Verengung der Herzgefäße in Verbindung stehen.27 Bei Heuschnupfen sind mindestens 62 Risikogene beteiligt.28

Weil mit der Zahl der krankheitsbezogenen Loci zugleich ihre biologische Bedeutung sinkt, erhöhen diese genetischen Variationen das KHK-Risiko nur minimal. Es ist wie im richtigen Leben. Je mehr Beteiligte ein Wörtchen mitreden, desto kleiner wird ihre jeweilige Rolle. Umgekehrt steigt die Bedeutung von Sport, gesunder Ernährung oder Stressabbau. Sie bestimmen unsere Gesundheit zu etwa 60 bis 70 Prozent, schätzt die Medizin. In diesem Punkt unterschieden sich eineiige Zwillinge nicht vom Rest der Menschheit. Die Erbanlagen mögen das Leben ein mehr oder weniger großes Stück weit bestimmen. Aber auch das Leben bestimmt über die Gene.

EXPEDITION INS TIERREICH – WAS UNS BIENEN, MÄUSE UND AMEISEN ÜBER DIE EPIGENETIK LEHREN KÖNNEN

Unruhig tapsen die jungen Nager durch ihre Kunststoffbox. Während die Beine halb in den breiten Holzspänen versinken, die den Käfigboden bedecken, recken sich die Nasenspitzen in die Höhe. Vergeblich versuchen die neugeborenen Labormäuse, den Duft der Mutter zu erfassen. Die leckte ihnen eben noch fürsorglich das Fell sauber, bis das Tier von den Forschern des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München in eine separate Box versetzt wurde.

Die Trennung ist nur vorübergehend, doch das reicht bereits, damit sich das Erlebnis in das Epigenom einschreibt: Die traumatisierten Jungmäuse zeigen bei späteren DNA-Analysen ein verändertes Methylierungsmuster bestimmter Gene in den Gehirnregionen, die für die Stressbewältigung zuständig sind.29 Als Folge davon produzieren ihre Nervenzellen zu viel Vasopressin, ein Schlüsselfaktor für die Steuerung von Alarmhormonen, Gedächtnis und Emotionen. Die Tiere geraten zeitlebens leicht in Stress, Antrieb und Erinnerungsvermögen sind in Mitleidenschaft gezogen.

Die biologische Nähe zum Menschen macht Mäuse zu beliebten Studienobjekten. 95 Prozent der Gene in ihrem Erbgut besitzt der Mensch in ähnlicher Form.30 Versuche wie das bereits vor einigen Jahren erfolgte Trennungsexperiment der Münchner Wissenschaftler sind deshalb ein erprobter Weg, mehr über die Epigenetik zu erfahren. Aber auch von Bienen, Schmetterlingen und Ameisen lernen Forscher viel über die grundlegenden Mechanismen der Epigenetik. Und dies sogar, ohne dass sie den Tieren auf die Nerven gehen.

Eines der Paradebeispiele dafür, dass die Regulierung von Genen mitunter entscheidender ist als ihre bloße Ausstattung, liefern Bienen. Bekanntlich besteht ein Bienenstock aus Abertausenden von Arbeitsbienen, die einer einzelnen Bienenkönigin unterstehen. Sie ist das pochende Herz des Schwarms. Während die Arbeiterinnen nur einige Monate leben, erreicht die Königin ein Alter von mehreren Jahren. Zudem ist sie die Einzige im Bienenstock, die fruchtbar ist. Ihr Leben besteht im Wesentlichen aus Eierlegen. Das Interessante dabei: Genetisch gesehen sind die Arbeitsbienen und ihr weiblicher Souverän völlig identisch.

Was hebt die Bienenkönigin auf den Thron? Es ist ein spezielles Superfood namens Gelée royale. Neben Wasser und Zucker enthält dieses Sekret Proteine, Fett, B-Vitamine und Spurenelemente.31 Das nährstoffreiche Futter bekommen bei der Geburt noch alle Larven von ihren Ammenbienen. Nach drei Tagen wird die Mahlzeit der Arbeitsbienen jedoch zunehmend mit Honig und Pollen vermengt.

Anders die Bienenkönigin: Sie erhält das Gelée royale auch weiterhin pur und wird zeit ihres Lebens damit gefüttert. Der kostbare Futtersaft der Ammenbienen bewirkt, dass an bestimmten Genregionen ein Methylmolekül angehängt wird; und diese Markierung beeinflusst das Schicksal der Larven, indem es die Aktivität bestimmter Gene modifiziert. Statt nach wenigen Wochen oder Monaten zu sterben wie die Arbeiterinnen, steigt die Lebensdauer der Bienenkönigin auf drei Jahre und länger. Und statt mühsam den Insektenstaat am Laufen zu halten, kümmert sich die Monarchin ausschließlich darum, Nachwuchs in die Welt zu setzen.

Ähnliche Phänomene beobachten Forscher bei Ameisen. Sie sind soziale Insekten wie die Bienen und bilden einen Staat mit drei Kasten. Dessen weibliche Mitglieder – Königin, Soldatinnen, Arbeiterinnen – unterscheiden sich in Aussehen und Verhalten, obwohl alle Individuen die gleichen Gene teilen. Auch hier machen die epigenetischen Markierungen den Unterschied. Die Schalter, die das Schicksal der jungen Tiere bestimmen, werden durch Umweltreize wie Futter, Tageslänge oder Temperatur und Luftfeuchte im Nest gesetzt.32 Mitunter ändern sich die Zelleigenschaften sogar noch in höherem Alter. Bei der Ameisenart Harpegnathos saltator, die in Indien vorkommt, können sich selbst ausgewachsene Arbeiterinnen in Pseudoköniginnen verwandeln. Die ehemaligen Proletarierinnen verhalten sich dann wie echte Herrscherinnen, legen Eier und leben fünfmal länger.33

Der Molekularbiologe Roberto Bonasio von der Universität Pennsylvania, der dieses Phänomen im Jahr 2020 untersuchte, identifizierte rund zweitausend Gene im Gehirn der Tiere, die bei diesem Karrieresprung ihre Aktivität ändern:34 ein faszinierendes Meisterstück der Epigenetik!