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Gay - Drama - Romance Von New York in eine Kleinstadt in Alabama ziehen? Genau davon träumt Josh! Nach einem folgenschweren Unfall setzt er seinen Wunsch in die Tat um. Er nimmt einen Job als Bibliothekar an und ist umgehend ein Teil des quirligen Lebens in Tiny Hollow. Das Farmhaus, das er gekauft hat, liegt hinter dem Grundstück des herrschsüchtigen Ranchers Ruben Willow. Entschädigt wird Josh für den unangenehmen Weg durch das Kennenlernen von Aidan Scott. Als er von dessen Lebensgeschichte erfährt, ist Josh zutiefst bestürzt, denn er hat sich längst Hals über Kopf in den attraktiven Nachbarn verliebt. Aber Aidan ist mit Willows Tochter Nancy verlobt. In der eigenwilligen Isabell Harding findet Josh eine gute Freundin und Vertraute. Doch auch sie hat ihre Geheimnisse, die Josh auf so manche Probe stellen. Das Kleinstadtleben steckt nicht nur voller Herausforderungen, die Josh nicht erwartet hatte, sondern einige Umstände erfordern von ihm auch eine gehörige Portion Mut. Josh ist bereit, über sich selbst hinauszuwachsen, um zu helfen wo er kann – und sich den Traum von einem glücklichen Leben zu erfüllen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1. Kapitel – Ankunft in Tiny Hollow
2. Kapitel – Ein Neubeginn
3. Kapitel – Überraschender Besuch
4. Kapitel – Noch mehr überraschender Besuch
5. Kapitel - Alte Liebe
6. Kapitel – Ein Notfall
7. Kapitel – Geheime Informationen und Erkenntnisse
8. Kapitel – Missverständnisse
9. Kapitel – Böse Erinnerungen
10. Kapitel – Heftige Gefühle
11. Kapitel – Ein wilder Ritt im Stormy Horse
12. Kapitel - Mut und Demütigungen
13. Kapitel – Der Wettbewerb und ein langes Gesicht
14. Kapitel – Ein wundervoller Abend
15. Kapitel – Hinter verschlossener Tür
16. Kapitel – Was in der Bibliothek passiert, bleibt dort
17. Kapitel – Die Wahrheit ist unschlagbar
18. Kapitel - (Wett)Kampf für die Freiheit
19. Kapitel – Zwei schockierende Neuigkeiten
20. Kapitel – Zwischen Regalen und der Wahrheit
21. Kapitel – Die betrunkene Prinzessin
22. Kapitel – Der Preis des Sieges
23. Kapitel – Durchblick … mehr oder weniger
24. Kapitel – Kontrollverlust und Lust
25. Kapitel – Von der Macht des Feuers
26. Kapitel – Wie im Krimi
27. Kapitel - Vom Tod und vom wahrhaftigen Leben
Epilog
Impressum
Leseprobe zu „Fast einsame Weihnachten«
Weitere Gay Romane von Hanna Julian
Im Radio lief „All I Want For Christmas“ – schon wieder! Josh musste zugeben, dass es ein schöner Song war. Trotzdem nervte das Lied, wenn man es zum unzähligen Male in unterschiedlichen Interpretationen vorgespielt bekam. Darum war er froh, das Taxi verlassen zu können. Er zahlte und stieg aus dem Fahrzeug.
Josh hatte gerade die Tür geschlossen, als der geschäftige Fahrer auch schon wieder in den New Yorker Stadtverkehr einfädelte. Hupen war zu hören – wie üblich, wenn ein Autofahrer alle Regeln missachtete. Aber das Warnsignal galt gar nicht dem Taxi, aus dem er gestiegen war, sondern ihm selbst, wie Josh zu spät erkannte. Ein anderes Taxi preschte auf ihn zu. Offenbar hatte dessen Fahrer entschieden, der soeben frei gewordene Platz auf dem Gehweg sei ein guter Ort, um ebenfalls einen Fahrgast abzusetzen. Und offenbar war ihm Josh zu langsam, denn das Taxi touchierte sein Bein hart mit dem Kotflügel. Das tat höllisch weh! Josh fiel, dabei prallte er mit der rechten Körperhälfte gegen ein Werbeschild.
Als er dalag und vor Schmerz kaum noch Luft bekam, raste das Taxi davon. Weit kam es jedoch nicht, denn der Fahrer fuhr bei seinem Fluchtversuch gleich in den nächstbesten Bus. Das Chaos, das dann auf der 5th Avenue folgte, entging Josh. Einige Passanten hatten sich um ihn versammelt. Josh bekam nur am Rande mit, dass ein älterer Mann die anderen bat, Platz für ihn zu machen, damit er sich um den Verletzten kümmern könne. Als der Mann neben ihm in die Hocke ging und sich als Arzt vorstellte, nickte Josh mühsam. Sprechen fiel ihm zu schwer, aber er hoffte, damit sein Einverständnis deutlich gemacht zu haben, dass der Arzt ihn sich ansehen dürfe.
Vorsichtig tastete der Mann nach seinem Rumpf und diagnostizierte auf die Schnelle mehrere geprellte, wenn nicht sogar gebrochene Rippen. Beim Bein war er sich sicher, dass es gebrochen war. Möglicherweise sogar ein komplizierter Bruch und zusätzlich ein Schaden am Knie, mutmaßte er – und er sollte damit Recht behalten.
Sechs Monate später
„Komm schon, Josh, das Schmerzensgeld war die Sache doch wert, oder? Und hey, das Ding macht dich interessant!“ Phil Baker war ein ehemaliger Mitschüler aus dem College und seit seiner Kanzleieröffnung Joshs Anwalt. Die beiden Männer verband eine lockere Freundschaft. Phil grinste Josh an, als wäre die Krücke, die dieser immer noch benutzen musste, das coolste Accessoire überhaupt. Außerdem hatte er einen provokanten Unterton benutzt, als er das Wort „Ding“ aussprach. Das war typisch für Phil, und ehemalige Klassenkameraden zeigten sich immer noch erstaunt, dass der ständig über die Stränge schlagende Chaot tatsächlich Anwalt geworden war.
Josh atmete hörbar durch, doch er wartete einen Moment, bevor er mit so ruhiger Stimme wie möglich erwiderte: „Ja, das Schmerzensgeld lässt sich wirklich sehen. Gute Arbeit, Phil. Allerdings halte ich es auch für durchaus angemessen, aufgrund der Voraussicht, dass ich wohl noch einige Monate mit dieser Gehhilfe rumlaufen muss. Und glaub mir, interessant ist sie durchaus nicht. Sie macht einen Gehandicapten aus mir. Ich muss jedes Mal höllisch aufpassen, dass mich andere Passanten nicht einfach umrennen, wenn ich irgendwo zu Fuß hinmuss.“
Phil rieb sich mit der Hand über das makellos rasierte Kinn. „Verstehe. Aber ich kann dir leider auch nicht helfen, außer mit dem Schmerzensgeld, das ich für dich erwirken konnte. Keine Ahnung, wann du die Krücke wieder loswirst, denn ich bin nur dein Anwalt – nicht einer deiner Ärzte. Allerdings haben auch Ärzte sich schon geirrt, und die Möglichkeit besteht, dass du dich schon früher als gedacht ohne Krücke wieder ins New Yorker Nachtleben stürzen kannst.“
„Das ist sehr unwahrscheinlich.“
Phil schüttelte den Kopf, stand von seinem Stuhl auf und ging um den Schreibtisch herum zu Josh. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Na klar lässt du jetzt den Kopf hängen. Aber als Bibliothekar sitzt du doch ohnehin die meiste Zeit auf deinem Hintern. Und was diesen Hintern in der Freizeit angeht, wette ich, dass die Kerle trotz Krücke immer noch drauf stehen. Sieh dich mal an! Dein Knie mag momentan hinüber sein, aber dein Gesicht ist nach wie vor ein Hingucker. Ganz ehrlich, Josh, wenn ich schwul wäre, würde ich sofort auf dich anspringen. Du bist toll in Form!“ Josh schickte dem Freund ein Lächeln, das bitterer nicht hätte sein können. „Was denkst du denn, wie lange ich noch so sportlich aussehen werde? Aus dreimal die Woche Fitnessstudio mit hartem Workout ist zweimal wöchentliches Reha-Training geworden. Und glaub mir, die Schwulen in meinem Alter haben genug damit zu tun, selbst auf die Vierzig zuzugehen. Die wollen keinen Typen an ihrer Seite, der schon wie ein Achtzigjähriger wirkt.“
„Du übertreibst. Und überhaupt, du bist doch erst Mitte dreißig. So manch einer würde sein rechtes Knie dafür hergeben, wenn er dein Aussehen hätte.“
Josh seufzte. „Ich erwarte nicht, dass du es verstehst. Aber ich kann so nicht weitermachen.“
Stille. Phil ging zu seinem Schreibtisch zurück, nahm den Hörer seines Telefons in die Hand und drückte einen Knopf. Seine Sekretärin meldete sich umgehend.
„Jolene, verbinden Sie mich bitte mit meinem Psychiater, Dr. Eiserfield.“ Während er wartete, fragte Josh: „Warum rufst du jetzt deinen Psychiater an? Ich sagte dir doch, dass du einen guten Job gemacht hast, du brauchst dich nicht in eine Sinnkrise zu stürzen.“
„Ich rufe Dr. Eiserfield doch nicht für mich an, sondern für dich!“
„Für mich? Warum?!“
„Na, weil du mir gerade mitgeteilt hast, dass du Suizidgedanken hegst!“
„Ich habe WAS?!“
„Du hast gesagt, dass du so nicht weiterleben willst.“
„Das habe ich nicht gesagt! Ich habe gesagt, dass ich so nicht weitermachen kann. Und das werde ich auch nicht – weil ich nämlich nach Alabama ziehen werde.“
Phil legte auf. „Nach Alabama … du willst nach Alabama ziehen?“
„Ja.“
„Okay, das Schmerzengeld war doch zu niedrig. Du hast offenbar auch Hirnschäden davongetragen.“
„Meinem Kopf geht es physisch und psychisch gut. Aber durch den Unfall habe ich endlich begriffen, dass ich meinen Traum umsetzen sollte, bevor es vielleicht irgendwann zu spät ist.“
„Deinen Traum umsetzen …? Alabama ist dein Traum?“
„So ist es.“
„Dann mach Urlaub dort. Oder nimm dir eine längere Auszeit. Ein paar Wochen in dieser von Mücken verseuchten, heißen Umgebung mit ihren spießigen Leuten, und du wirst deine Liebe für New York im Handumdrehen wiederentdecken.“
„Wenn es dir hilft, es als temporäre Auszeit zu sehen, dann tu das. Aber ich glaube inzwischen, ich hätte viel häufiger davon sprechen sollen, was wirklich in meinem Kopf vorgeht.“
„Ehrlichgesagt scheint mir das auch so. Ich habe nie gewusst, dass du dich in New York unwohl fühlst. Ich meine, immerhin bist du hier aufgewachsen.“
„Vielleicht ist es genau das, warum ich mich ein bisschen geschämt habe, es zuzugeben. Im Tiefsten meines Herzens bin ich ein Landei. Wenn ich Bücher über das Kleinstadtleben lese, finde ich mich da wieder. Die Ruhe, die saubere Luft …“
„Der Gestank nach Landwirtschaft und Viehzucht.“
„Sei nicht so zynisch, Phil. Aber selbst, wenn es dort so riecht, ziehe ich das den hier allgegenwärtigen Abgasen bei Weitem vor.“
„Vielleicht würde dir ein Spaziergang im Central Park helfen. Warte, ich sage nur kurz Jolene Bescheid, dass ich für eine Stunde weg bin, und sie den nächsten Termin verlegen soll.“
Josh schüttelte den Kopf. „Lass ruhig. Du musst nicht mit mir im Central Park Gassi gehen, um mir New Yorks schöne Natur vor Augen zu führen. Ich liebe den Central Park. Und ich blicke gerne auf die Bucht und den Hafen. Aber ich spüre, dass mich in Alabama etwas erwartet. Ich kann es schlecht beschreiben – zumindest nicht, ohne dass du gleich wieder deinen Dr. Eiserfield anrufen möchtest. Als Freund bitte ich dich jedoch, mir zu vertrauen. Ich weiß, was ich will. Und nun habe ich auch die Möglichkeit, es zu tun.“
„Dank des Geldes, das ich dir verschafft habe?“
Josh nickte. „Das auch. Dank des Geldes kann ich ein Haus anzahlen, das ich in die engere Wahl genommen hatte.“
„Du hast dir schon ein Haus ausgesucht?“
„Ja, richtig. Aber vor allem habe ich heute Morgen eine Jobzusage erhalten.“
Der Anwalt atmete tief durch. Er kratzte sich am Hals. Ehe er einen weiteren negativen Kommentar machen konnte, fuhr Josh fort: „Die Stelle des Bibliothekars ist vorigen Monat frei geworden. Ich war dort und habe mich vorgestellt. Und nun gehört der Job mir!“ Josh strahlte. Phils Blick hingegen verdüsterte sich.
„Wie mir scheint, hast du bereits alles vorbereitet … und mir keinen Ton davon gesagt.“
Josh machte eine versöhnliche Geste.
„Ich ahnte, dass du nicht viel davon halten wirst. Aber es ist mein Leben, Phil. Und dieses Leben werde ich von nächster Woche an in Tiny Hollow führen.“
„Tiny Hollow? Sicher, dass es in dem Kaff überhaupt Leute gibt, die lesen können?“
„Ganz sicher, Phil. Deine Herablassung ist unnötig. Tiny Hollow war ein Dorf, das zwar mal mickrig anfing – und deshalb wohl auch diesen Namen bekam. Inzwischen ist es aber eine nette Kleinstadt geworden, mit einem umfangreichen kulturellen Angebot. Die Einwohner legen viel Wert auf gesellschaftliches Leben, Gemeinschaft und unterhaltsame Zusammenkünfte. Lesekreise werden regelmäßig gebildet. Es gibt ein Laientheater, bei dem sich etliche Bewohner aktiv beteiligen. Außerdem finden verschiedene Ausstellungen das gesamte Jahr über statt. Im Ort selbst gibt es eine Kunstgalerie mit sorgsam ausgewählten Werken, die teilweise auch von talentierten Mitbewohnern stammen. Angelwettbewerbe, Feste und unkompliziert einberufene Stadtversammlungen zählen ebenfalls zu den Annehmlichkeiten von Tiny Hollow.“
„Du klingst wie ein Reiseführer. Aber abgesehen davon hört sich das für mich alles eher wie der Stoff aus einem Albtraum an.“
„Darum gehe ich ja auch nach Tiny Hollow und nicht du. Aber ich freue mich auf deinen Besuch, wenn du dich dazu irgendwann mal durchringen kannst.“
Phil schüttelte vage den Kopf. „Wir werden sehen, ob du es so lange dort aushältst, bis ich mich zu einer Reise in dieses Kleinstadt-Kaff aufraffe.“
Die Fassade der Kirche am Ende der Straße war offenbar erst vor kurzem frisch gestrichen worden. Das Weiß strahlte so hell im Sonnenschein, dass Josh seine Sonnenbrille aufsetzte. Der Himmel war wolkenlos; die Luft flirrte vor Hitze. Josh war weit davon entfernt, sich über die Temperaturen zu ärgern, die ihn beim Verlassen des klimatisierten Autos umfingen. Er hatte den neu gekauften Ford Ranger direkt vor der Bibliothek an der Hauptstraße geparkt.
Als er sich das Auto bei einem Gebrauchtwagenhändler in New York ausgesucht hatte, war er noch unschlüssig gewesen, ob er wirklich einen Pick-up wollte. Aber nun kam ihm die Wahl richtig vor, als er sah, wie nur wenige Meter von ihm entfernt ein Mann seine Einkäufe aus dem Supermarkt einfach auf die Ladefläche seines Autos warf. Das sah immens locker und dadurch ziemlich beeindruckend aus. Kurzum: sexy. Josh hoffte trotzdem für ihn, dass die Sachen es unbeschädigt bis zu ihm nachhause schafften. Der Mann mit dem muskulösen Oberkörper und dem Vollbart schaute zu ihm hinüber. Er runzelte die Stirn, dann kam er auf Josh zu, der das Muskelspiel seines Gegenübers mit gemischten Gefühlen verfolgte.
„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht anstarren“, verteidigte Josh sich rasch, denn der andere Mann, den man durchaus als Typ „Schrank“ betiteln konnte, wirkte so, als würde er ihm jeden Moment die Faust auf die Nase schmettern. Vorsichtshalber holte Josh die Krücke aus dem Wagen und stützte sich darauf – einen Versehrten würde der Mann hoffentlich nicht ganz so hart rannehmen.
„Sind Sie der neue Bibliothekar?“, fragte der andere Mann jedoch gut gelaunt und hielt Josh die Hand hin. Seine Erscheinung schien zum Glück überhaupt nicht zu seinem Charakter zu passen. Mit einem verbindlichen Lächeln fuhr er fort: „Ich bin Jason Brand. Meine Frau Mandy hat die Bibliothek geführt, seit Peter Winscom gestorben ist. War ein guter Kerl, der alte Peter. Wenn er auch die Nase kaum aus seinen Büchern gehoben hat. Ich hoffe, Sie sind da anders und wollen auch ein bisschen feiern.“
„Ja – Nein … vielleicht“, stammelte Josh, dann holte er seine Vorstellung schnell nach: „Ich bin Josh Dearing.“
„Stimmt es, dass Sie aus New York kommen?“
„Das stimmt.“
„Und Sie wollen hier leben?“
„Leben, arbeiten …alles. Vielleicht sogar feiern.“ Josh lächelte.
Der andere nickte nachdenklich. Dann hob er die Hand und klopfte damit Josh auf die Schulter.
„Die beste Entscheidung Ihres Lebens!“
„Meine Freunde in New York sind da anderer Meinung“, gab Josh zu. Jason zuckte mit den Schultern. „Weil die Vorurteile gegen Kleinstädte haben. Sie werden schon sehen, dass ich recht habe. Aber jetzt lasse ich Sie mal reingehen. Mandy wartet schon. Es gibt bestimmt vieles zu regeln. Trotzdem … schicken Sie sie bitte nicht so spät nach Hause. Unsere jüngste Tochter Charlene hat nämlich heute Geburtstag. Sie wird fünf, und Sie wissen ja bestimmt, wie viel Arbeit so ein Kindergeburtstag macht.“
„Ich habe keine Kinder.“
„Das ist dann wiederum die schlechteste Entscheidung Ihres Lebens. Aber sowas lässt sich ändern“, erwiderte Jason Brand, ohne eine Antwort zu erwarten. Er wandte den Blick ab, nahm die Hand von Joshs Schulter und winkte in Richtung Bibliothek. Josh wandte sich um. Am Fenster stand eine dunkelhaarige Frau, attraktiv, wie er feststellte – sie winkte ebenfalls.
„Das ist sie, meine Mandy.“ In Jasons Stimme lag eine gehörige Portion Stolz. Mit einem Lächeln, das nun wieder Josh galt, versicherte er: „Sie werden sehen, die Frauen in Alabama sind die besten der ganzen Welt. Wenn Sie das Herz von einer erobern können, werden Sie zum glücklichsten Mann, das verspreche ich Ihnen.“
Offenbar hatte es noch nicht die Runde gemacht, dass er schwul war, dachte Josh. Er hatte es bei seinem Vorstellungsgespräch Bürgermeister Tom Wilson gegenüber erwähnt. Ob der es allerdings überhaupt zur Kenntnis genommen hatte, konnte Josh nicht sagen. Der Bürgermeister war an dem Tag kurz angebunden gewesen. Vermutlich hatte es damit zu tun gehabt, dass er nur eine halbe Stunde nach dem Vorstellungsgespräch eine Versammlung wegen des anstehenden Sommerfests leiten musste. Und es war heiß an dem Tag gewesen – sehr heiß! So, wie auch jetzt. Josh spürte, wie ihm ein Schweißtropfen über die Stirn lief.
„So, ich muss los. Willkommen in Tiny Hollow!“ Der Mann wandte sich um, um zu seinem Auto zu gehen.
„Danke, Mr. Brand“, beeilte sich Josh zu sagen. Der andere hob die Hand, während er weiterging und wedelte damit in der Luft herum. „Einfach nur Jason und du. Hier reden wir uns gegenseitig fast alle mit Vornamen und unkompliziert an. Du wirst dich sicher schnell dran gewöhnen, Josh.“
Damit stieg er in seinen Pick-up und fuhr davon. Josh holte ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über die Stirn. Dann ging er in Richtung Bibliothek. Vor den Stufen angekommen, die bis zur Tür führten, schöpfte er Atem. Kaum hatte er die Krücke auf die erste Stufe gesetzt, ging die Tür auf und Mandy Brand kam ihm entgegengeeilt. Ihr kurzer Rock schwang bei jedem Schritt. Sie band eilig ihre dunkle Mähne im Nacken mit einem Haargummi zusammen. Dann streckte sie die Hand aus – im Gegensatz zu ihrem Mann jedoch nicht, um Josh zu begrüßen, sondern um ihn zu stützen. Dazu fasste sie seinen Arm mit offenbar so viel Kraft, wie diese zierliche Person aufbringen konnte. Mandy schien körperlich genau das Gegenteil von ihrem Mann zu sein. Schlank und fast schon zerbrechlich wirkte die junge Frau. Sie lächelte ihn an.
„Mr. Dearing, es ist ja so schön, dass Sie hier sind! Gestatten Sie, dass ich Ihnen helfe? Ich hörte, dass Sie in New York einen Unfall hatten, aber ich wusste nicht, dass Sie an einer Krücke gehen müssen, sonst wäre ich natürlich sofort herausgekommen, um Ihnen zu helfen.“ Sie hatte rote Flecken im Gesicht bekommen, was ihre Schönheit jedoch keineswegs beeinträchtigte.
„Danke, Mrs. Brand, die Treppen schaffe ich allein. Ich muss nur kurz zu Atem kommen. Die Hitze hier ist ungewohnt für mich.“
„Daran gewöhnt man sich schnell. Oder nie.“ Sie lächelte etwas schief, ließ ihn jedoch los und schien nun unschlüssig, ob sie zu schnell nachgegeben hatte.
Um seine Worte zu unterstreichen, erklomm Josh die Stufen so rasch er konnte. Oben angekommen, drängte sie sich jedoch bereits an ihm vorbei, um die Tür mit einem beherzten Schwung zu öffnen. Strahlend sagte sie: „Herzlich willkommen in Ihrem neuen Reich.“
Josh war unbehaglich zumute. „Bis jetzt war das Ihr Reich, wie ich hörte. Sind Sie sicher, dass Sie es mir gerne überlassen?“ Sofort nickte Mandy heftig.
„Auf jeden Fall! Die Arbeit macht Spaß, aber das sind viel zu viele Stunden für mich. Ich habe drei Kinder, müssen Sie wissen …“
„Wovon eins heute Geburtstag hat. Charlene, wenn ich mich richtig erinnere“, sagte Josh lächelnd.
„Sie sind sehr gut informiert, dafür, dass Sie gerade erst angekommen sind. Aber da Sie Jason praktisch in die Arme gelaufen sind, ist das kein Wunder. Mein Mann ist so redselig wie ein Waschweib.“
„Er hat auch Arme wie ein Waschweib – eines, das rund um die Uhr ganze Wäscheberge bewältigt.“
„Oh ja … das macht das Training. Wenn er nicht gerade arbeitet oder mit den Kindern unterwegs ist, stemmt er in der Garage Gewichte. Aber genug von Jason. Darf ich Ihnen jetzt die Bibliothek zeigen?“
„Das wäre großartig!“
Die roten Flecken in Mandys Gesicht nahmen an Intensivität zu. Sie ging voran und breitete die Arme aus.
„Die Bibliothek existiert inzwischen seit rund hundert Jahren. Anfangs war der Bestand wohl recht klein, aber inzwischen können wir durchaus mit Stolz sagen, dass wir zu so gut wie jedem Thema etwas anbieten können. Neuerscheinungen natürlich inklusive. Themen wie Handarbeiten, Tierhaltung, Kochen, Backen, Kindererziehung, Heimwerken, Angeln, Kinderbücher und Romane sind natürlich die am meisten ausgeliehenen Bücher.“
„Natürlich“, pflichtete Josh bei.
„Aber wir haben auch andere Themen im Angebot, die Sie vielleicht überraschen werden.“
„Was zum Beispiel?“
„Humor …“
„Überrascht mich jetzt nicht wirklich“, gab Josh amüsiert zurück.
Mandy lächelte verschmitzt.
„Ziemlich schwarzer Humor zum Teil. Würde man gar nicht glauben, wer diese Titel ausleiht.“
„Verraten Sie es mir?“
„Das dürfen Sie gerne selbst herausfinden. Außerdem haben wir eine nicht kleine Bandbreite an erotischer Literatur.“ Die Flecken in ihrem Gesicht gewannen wieder an Farbe hinzu.
„Aber da verraten Sie mir, wer die ausleiht?“
„Hauptsächlich die einsamen Farmer, die am Stadtrand leben.“
„Schön, dass die so belesen sind.“ Josh verkniff sich lieber die Bemerkung, dass für Selbstbefriedigung eigentlich Videos im Internet praktischer waren.
„Naja, einige Frauen leihen auch solche Titel aus. Hocherotische Romane, die als Lovestorys mit historischem Setting getarnt sind. Die meisten packen aber trotzdem Handarbeitsbücher drauf, damit man die Bücher nicht so direkt sieht.“
„Handarbeitsbücher … passt ja.“
Mandy bekam große Augen, dann prustete sie: „Sie sind mir ja einer!“
Josh zuckte nur mit den Schultern. Er ging ein paar Schritte durch die Reihen mit Büchern und nahm einen Stephen King Band aus dem Regal: Es.
„Horror geht natürlich auch gut“, merkte Mandy an. Josh nickte und stellte das Buch ins Regal zurück.
„Vielleicht möchten Sie später allein durch die Räume gehen. Wir haben eine bezaubernde Leseecke für Kinder, einen Kaffeeautomaten und mehrere bequeme Stühle im hinteren Bereich für die Erwachsenen. Außerdem gibt es einen Kartei-Schrank, an dem die Leser selbst recherchieren dürfen.“
„Keinen Computer für die Leser?“
Zu seiner großen Überraschung lachte Mandy amüsiert auf. „Wenn wir selbst keinen Computer benutzen, warum sollten wir dann den Lesern einen zur Verfügung stellen?“ Josh fiel die Kinnlade runter. „Wir benutzten keinen Computer?“, hakte er ungläubig nach. Mandy schüttelte den Kopf.
„Kommen Sie mit mir. Ich erklärte es Ihnen.“
Josh folgte ihr zur Ausleihe. Mandy wies auf die vielen Schränke, zog eine der Laden heraus und präsentierte die zahlreichen Karten, die allein in dieser steckten. Natürlich kannte Josh so etwas von früher – zumindest vom Hörensagen … bevor es eben normal wurde, Computer zu benutzen.
„Sie werden das sicher sonderbar finden, aber unser Karteikartensystem ist sogar relativ neu. Peter hat es eingerichtet und perfektioniert, nachdem er die Computer vor ein paar Jahren aus der Bibliothek verbannt hat.“
„Das heißt, es gab ein Computersystem, aber der frühere Bibliothekar hat es rausgeschmissen? War er dieser Technologie nicht gewachsen?“
„Ich würde es eher so formulieren: Peter hatte die Nase voll von einer Technologie, die die Stadtbibliothek zu einer Institution machte, die Menschen drangsalierte. So zumindest hat er es damals dem Stadtrat gegenüber erklärt.“
„Und der Stadtrat hat ihm recht gegeben?“
„Ja, was vielleicht zum Teil auch daran lag, dass Mildred Wilson – die Frau des Bürgermeisters – zu diesen drangsalierten Personen gehörte.“
Josh verlagerte die Position, stützte sich auf die Krücke und rieb sich mit der freien Hand über die Stirn. Die Hitze – offenbar gab es auch keine Klimaanlage in diesen Räumen – machte ihm ebenso zu schaffen wie die seltsamen Geschichten, mit denen er sich plötzlich konfrontiert sah.
„Inwiefern wurden die Leute denn drangsaliert?“
„Nun, das Computersystem erfasste die Ausleihfristen automatisch.“
„So soll es sein.“
„Aber es versendete auch automatisch Erinnerungen und schließlich sogar Strafgebühren, wenn Bücher zu spät abgegeben wurden.“
„Auch das ist eigentlich korrekt – und auf angenehme Art fortschrittlich.“
„Das mag für New York gelten, aber eben nicht für Tiny Hollow.“
„Erklären Sie mir, was so schlecht an dem funktionierenden System war?“
„Einfach alles. In dieser Stadt gibt es so gut wie niemanden, der ein Buch pünktlich zurückbringt. Dafür gibt es einfach zu viele Ereignisse, die das verhindern.“
„Was für Ereignisse?“
„Ein Kalb oder ein Fohlen wird geboren. Manchmal auch ein Kind. Oder eins der Rinder erkrankt, wenn nicht sogar die ganze Herde. Der Laster geht kaputt und man muss sich um die Reparatur kümmern. Das Dach ist undicht und muss geflickt werden. Eins der Kinder hat Masern, schlägt sich einen Zahn aus oder die Schwiegereltern melden sich urplötzlich zum Besuch an und müssen vom Flughafen abgeholt werden. Es gibt so viele Gründe, warum eine rechtzeitige Rückgabe scheitert.“
„Ah – ja …“, gab Josh zurück. Für einen Moment war er wirklich sprachlos. Mandy schien das alles vollkommen logisch zu finden. Dass auch Menschen in Großstädten ein Leben führten und es trotzdem rechtzeitig schafften, ihre Bücher und andere Medien zurückzugeben, schien für sie kein Argument zu sein – deshalb sparte sich Josh auch direkt, diese Nichtigkeit ins Feld zu führen.
„Wie war das denn bei der Frau des Bürgermeisters? Hat ihre Kuh ein Kalb geboren? Oder hatte ihr Kind Masern?“
„Mildred hat keine Kuh und auch kein Kind. Nein, sie war natürlich mit der Organisation des Jugendtheaters beschäftigt und musste Peter Pan mit den Kindern einstudieren. Da blieb keine Zeit, um die ausgeliehenen Bücher zurückzubringen. Aber vor allem brauchte sie das Buch doch noch, um ein Gefühl für das Theaterstück zu bekommen.“
„Warum hat sie die Ausleihe dann nicht einfach verlängert?“
„Na, weil Peter doch wusste, dass sie ein Theaterstück mit seinem zauberhaften Namensvetter aufführte. Ihm war vollkommen klar, dass sie es nach der Premiere zurückbringen würde. Aber dem System war das nicht klar. Das schickte eine E-Mail nach der anderen an die arme Mildred. Zuletzt mit der Androhung eines Ausschlusses aus der Bibliothek! Das muss man sich mal vorstellen: die Frau des Bürgermeisters, die so viel für die Jugend und die Kultur unternahm, sollte als Kriminelle gebrandmarkt werden, der man nicht mal zutraute, ein Buch zurückzubringen.“
„Tatsache ist doch, dass sie genau das auch nicht getan hat.“
Mandy schüttelte missbilligend den Kopf. „Es liegt mir fern, Sie belehren zu wollen. Aber einen wirklich gut gemeinten Ratschlag möchte ich Ihnen geben: Wenn Sie in dieser Stadt kein Fremder bleiben möchten, dann versuchen Sie sich ein wenig in die Lebensweise hier einzugewöhnen.“ Sie schickte ein entschuldigendes Lächeln hinterher, aber kurz hatte Josh gesehen, dass diese zierliche Frau durchaus ihren Mann stehen konnte. Er lächelte ebenfalls.
„Das werde ich versuchen“, versprach er. Dann fügte er an: „Sollten Sie sich nicht langsam auf den Weg nach Hause machen? Ich denke, Sie haben noch alle Hände voll zu tun, für die Geburtstagsparty.“
„Stimmt, das habe ich. Aber Sie sollen noch wissen, dass ich bereits bekanntgegeben habe, dass die Bibliothek heute Nachmittag geschlossen bleibt.“
Josh sah sie überrascht an. „Haben Sie das rechtzeitig angekündigt?“ Mandy winkte ab. „Keine Sorge, in einer Kleinstadt wie unserer spricht sich sowas schnell rum.“
„Haben Sie das wegen der Geburtstagsfeier Ihrer Tochter getan?“
„Was? Nein! Das habe ich für Sie gemacht!“
„Für mich?“, fragte Josh erstaunt.
„Natürlich! Ich finde, Sie sollten erstmal zu Ihrem neuen Haus fahren und alles organisieren, was noch zu tun ist, bevor Sie sich an die Arbeit machen. Oder hatten Sie ernsthaft vor, die nächsten Stunden hier zu verbringen, statt sich Ihr neues Zuhause anzusehen?“
Josh schüttelte vage den Kopf. Er war verwundert, aber auch beeindruckt von Mandy Brand.
„Nein, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass ich mich erstmal im neuen Heim umsehen kann. Aber morgen bin ich pünktlich hier, wenn die Bibliothek öffnet.“
„Kommen Sie nach der Mittagspause, den Vormittag übernehme ich allein. Frühstücken Sie ganz in Ruhe und genießen Sie die neue Umgebung. Das sollte man tun, um richtig im neuen Zuhause anzukommen, finde ich. Den Nachmittag machen wir dann gemeinsam – ach, und bei der Gelegenheit können Sie mich auch gleich als offizielle Teilzeitkraft einstellen.“
Josh musste lachen. „Okay – so machen wir’s“, stimmte er zu. Wie sollte er auf so eine Hilfe auch verzichten können? Offensichtlich hatte er noch einiges zu lernen, um in Tiny Hollow zurechtzukommen.
Als Josh hinter dem Tresen saß und die Schränke mit den Karteizetteln fast schon liebevoll streichelte, stahl sich ein Grinsen auf sein Gesicht. Er war angekommen – endlich! Ja, dieses Gefühl der Zufriedenheit hatte er in New York vermisst. In Tiny Hollow war man also absichtlich rückständig. Es war Peter Winscoms freie Entscheidung gewesen, die Computer aus der Stadtbibliothek wieder zu verbannen. Und mit einem Bürgermeister, dessen Frau unter den technischen Neuerungen gelitten hatte, war ihm der Rückschritt offenbar auch denkbar einfach gemacht worden. Josh hatte im ersten Moment geglaubt, ihm würde das Probleme bereiten, doch wenn er jetzt richtig darüber nachdachte, fand er es ganz angenehm, sich auf etwas Neues – oder in diesem Fall wohl besser auf etwas Altes – einzulassen.
Mandy hatte im kleinen Pausenraum, der durch eine kaum scheinbare Tür hinter dem Tresen zu erreichen war, ihre Handtasche geholt. Sie kam zurück und blieb schräg neben Josh stehen. Ihr hübsches Gesicht zeigte ein sympathisches Lächeln.
„So habe ich Sie mir vorgestellt – zumindest in meinen hoffnungsvollen Träumen“, sagte sie mit so viel Wärme in der Stimme, dass Josh einen Anflug von Panik verspürte. Er wusste, wie er auf Frauen im Allgemeinen wirkte – aber das war absolut nicht seine Absicht!
„Ich äh … danke. Glaube ich.“ Er fühlte sich wie in der Junior Highschool, als Patsy White plötzlich vor ihm gestanden hatte, um ihm zu offenbaren, dass sie sich unsterblich in ihn verliebt habe. Er war nur höflich zu ihr gewesen und hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass das manchmal schon reichte, um ein Mädchen in sich verliebt zu machen. Ein Effekt, der in dieser Art nicht in seinem Sinne war, das hatte er damals schon genau gewusst. Darum war er zwar höflich geblieben, aber auch vorsichtiger geworden. Und er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Dinge gleich beim Namen zu nennen, zumindest, sobald er sein erstes hilfloses Gestammel hinter sich gebracht hatte.
„Sie haben von mir geträumt?“, fragte er daher mit einem schiefen Grinsen, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass er eine Antwort haben wollte. Nun riss Mandy die Augen weit auf, als wäre ihr erst klar geworden, wie ihre Worte verstanden werden konnten. Unweigerlich wurden diesmal nicht nur die üblichen Flecken in ihrem Gesicht rot, sondern auch der Rest, inklusive der Ohren.
„Ich meinte das nur, weil mir die Bibliothek wirklich am Herzen liegt. Als Kind habe ich schon Stunden hier verbracht, obwohl ich kaum lesen konnte. Peter und ich sind schon seit Ewigkeiten befreundet gewesen. Zu Anfang war er wie ein Grandpa für mich, aber je älter ich wurde, desto mehr hat er mich als eine Freundin angesehen. Ich wollte einfach gerne, dass er einen würdigen Nachfolger bekommt. Und als ich Sie gerade sah, dachte ich, dass er ihn bekommen hat. Sie scheinen hier genau in Ihrem Element zu sein. Obwohl Sie gerade erst angekommen sind, und zum ersten Mal auf Peters Stuhl sitzen, wirken Sie so, als hätten Sie das schon immer getan – das war es, was ich damit meinte. Tut mir leid, wenn es anders klang. Aber vielleicht sollten Sie wissen, dass Jason und ich eine sehr glückliche Ehe führen.“
„Das freut mich für Sie und für Jason. Es tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe. Aber ich dachte, wir klären das vielleicht besser, bevor wir zusammenarbeiten. Ich freue mich übrigens sehr darauf! Und Sie haben recht, ich fühle mich wirklich wohl hier.“
Mandy schien ebenfalls erleichtert, dass sie Tacheles geredet hatten. Sie seufzte zufrieden, hängte sich die Tasche über die Schulter und sagte: „Dann sehe ich mal zu, dass ich jetzt nach Hause komme. Frisch gebackene Fünfjährige warten nicht gerne zu lange auf ihre Party.“
„Das kann ich mir vorstellen. Gutes Gelingen!“
„Danke!“ Sie war bereits an der Tür, als sie sich nochmal umdrehte und mit einem Lächeln ankündigte: „Morgen zeige ich Ihnen dann die geheimen Karteikästen von Peter – die, mit den Zusatzinformationen. Bis dann!“ Ehe er etwas erwidern konnte, war sie auch schon durch die Tür. Josh war klar, dass er sie dank seines Handicaps selbst dann nicht einholen könnte, wenn er es wirklich wollte. Aber noch viel klarer war ihm, dass Mandy ihm einen Grund bieten wollte, auf den morgigen Tag ganz besonders gespannt zu sein. Und tatsächlich verspürte er einen Kitzel, den ihre Worte bei ihm bewirkt hatten. Denn was immer in dieser Kartei vermerkt war, schienen keine bibliographischen Zusatzinformationen zu den Büchern zu sein. Vorerst galt es jedoch seine Neugier zu zähmen. Trotzdem blickte Josh sich aufmerksam hinter dem Tresen um. Die geheimen Karteikästen blieben jedoch genau das – geheim!
*
Weil die Bibliothek am Nachmittag geschlossen bleiben sollte, mieden die Stadtbewohner sie offenbar bereits am Vormittag. Anders konnte Josh sich nicht erklären, dass immer noch kein einziger Mensch in den Räumlichkeiten aufgetaucht war. Er blickte zur Uhr: viertel nach eins. Am Fenster sah er Passanten vorbeigehen, doch niemand stieg die Stufen zur Bibliothek hinauf. Hoffentlich war das Ganze hier nicht ein Schuss in den Ofen. Was, wenn die Einwohner von Tiny Hollow überhaupt kein Interesse an ihrer Stadtbibliothek hatten? Was, wenn sie wirklich nicht lesen konnten, wie Phil es scherzhaft behauptet hatte. Josh lachte über diesen Unsinn und fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, dunkles Haar – eine Geste, die er oft vollführte, um sich gedanklich zu sammeln. Und es war ja Unsinn, so etwas zu denken, denn immerhin gab es eine umfangreiche Ausleiher-Kartei.
Vielleicht nahmen die Leute Rücksicht, weil er sich erst an seiner neuen Arbeitsstätte zurechtfinden musste. Doch drei Runden durch sämtliche Gänge und die beiden Haupträume der Bibliothek hatten fürs Erste gereicht, um sich einen Überblick zu verschaffen. Im Gegensatz zu seinem früheren Arbeitsumfeld fiel die Stadtbibliothek von Tiny Hollow doch recht klein aus. Das musste nicht schlecht sein, aber er spürte, dass er unruhig wurde, weil er zu wenig zu tun hatte. Fast schon wünschte er sich, eine neue Kiste mit Büchern für die Ausleihe herrichten zu können, aber Mandy hatte ihm keine Arbeit für den heutigen Tag übriggelassen. Also hoffte Josh, die letzte Dreiviertelstunde noch irgendwie herumzubekommen, bevor er die Türen für den heutigen Tag verschließen und zu seinem neuen Haus fahren würde.
Josh hatte gerade angefangen, sich auf einem Zettel Notizen zu machen, was er alles noch erledigen musste, als die Tür zur Bibliothek geöffnet wurde. Zwei Teenies kamen herein. Mädchen im Alter von etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren. Die eine trug einen langen schwarzen Rock, dazu ein grünes Shirt. Die andere hatte zwar ebenfalls einen schwarzen Rock an, doch er endete noch vor der Mitte ihrer Oberschenkel. Dazu trug sie eine weiße Bluse mit Rüschen an dem offenherzigen Ausschnitt. Sie hatte sich eine kurze Krawatte umgebunden, deren Spitze wie die einer Kompassnadel genau zwischen ihren Brüsten lag.
Die sittsam Gekleidete hatte offenbar von Natur aus rotes Haar, das in langen Strähnen über die Schultern und den Rücken fiel. Ihre Haut war sehr hell, das Gesicht voller Sommersprossen.
Das andere Mädchen trug einen kessen dunklen Kurzhaarlook mit pinken Strähnen. Ihre Augen waren von dunklen Lidstrichen umrahmt, die sie asiatisch schmal aussehen lassen sollten, obwohl das Mädchen eindeutig keinen solchen Einschlag hatte. Josh gewann den Eindruck, dass sie wie eine Manga-Figur wirken wollte – wofür auch ihre Kleidung sprach. Der Kontrast zwischen den beiden Mädchen stach ins Auge, trotzdem wirkten sie wie ein eingeschworenes Team. Das bestätigte sich, als das Manga-Abbild schnurstracks auf Josh zukam, jedoch scheinbar mit der Rothaarigen sprach.
„Emily, hat deine Mom dir gesagt, dass der Neue so ein Schnuckel ist?“
Josh glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können.
„Nein. Sie hat ihn ja vorher auch nicht gesehen.“
„Habe ich denn recht?“, hakte die andere grinsend nach.
„Womit?“
„Na, dass er schnuckelig ist.“
Die Rothaarige nickte und schickte ein schnelles „Ja, du hast recht“ hinterher, als ihre Freundin sie auffordernd ansah.
Ungläubig schüttelte Josh den Kopf. Er räusperte sich und fragte so gelassen wie möglich: „Kann ich den jungen Damen helfen?“
„Helfen will er. Ich wüsste schon ziemlich gut, wie der mir helfen könnte.“ Das Manga-Girl setzte sich auf die Kante des Tresens, ihr Rock rutschte dabei so hoch, dass die schlanken Schenkel bis fast zum Schritt zu sehen waren. Josh hob eine Augenbraue.
„Wir haben da hinten bequeme Stühle, falls du sitzen möchtest.“ Er wies auf den Lesebereich.
„Oh, keine Sorge, ich weiß, wo hier die Stühle stehen. Und ich weiß auch, dass im kleinen Pausenraum eine Liege steht. Für Notfälle. Vielleicht bin ich ja ein Notfall – wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Sie nahm die Beine noch etwas mehr auseinander. Das war so aufreizend, dass nun sogar das andere Mädchen in einer Anwandlung von Fremdscham den Blick abwandte.
„Komm schon, Vanessa, wir sollten Mr. Dearing nicht von der Arbeit abhalten.“ Josh entschied, die provokante Vanessa einfach zu ignorieren und wandte sich stattdessen an das andere Mädchen.
„Darf ich davon ausgehen, dass du Mandy Brands Tochter bist?“
Das Mädchen nickte zögerlich. Dann trat es an den Tresen heran und reichte Josh die Hand: „Emily Brand. Sorry, wir wollten nur mal kurz schauen, ob meine Mutter noch hier ist.“
„Sie ist schon vor einiger Zeit gegangen, um alles für den Geburtstag deiner Schwester Charlene vorzubereiten.“
Ehe Emily antworten konnte, schaltete sich Vanessa mit einer Stimme ein, von der sie wohl glaubte, sie sei verführerisch.
„Die kleine Charlene wird erst fünf. Die weiß schöne Männer noch nicht zu schätzen. Nicht so wie ich jedenfalls.“
„Ich hoffe, sie lernt im Gegensatz zu dir, was charmant ist und was over the top bedeutet.“
„Was?“, gab Vanessa perplex zurück. Josh lächelte sie an und erklärte: „Ein offensiv freizügiges Verhalten ist nur vermeintlich sexy. Auf viele Menschen wirkt es eher abstoßend. Steht bestimmt auch in einem unserer Bücher. Soll ich mal nachsehen, ob ich dir dazu etwas empfehlen kann?“
Das Mädchen schickte Josh einen tödlichen Blick, rutschte vom Tresen und zog den Rock nach unten.
„Sie sind ganz schön unverschämt.“
„Damit scheinst du dich auszukennen. Aber ich denke, jeder hat eine zweite Chance verdient. Hi, ich bin Josh Dearing, und wie auch immer du mein Aussehen beurteilst, ist mir egal. Ich bewerte Menschen nicht nach ihrem Äußeren, sondern nach ihrem Benehmen anderen gegenüber.“ Er reichte ihr die Hand in einer Geste der Versöhnung, auch wenn sein Blick sie mahnte, sich nicht noch einmal danebenzubenehmen. Das Mädchen streckte ebenfalls die Hand aus und ergriff seine zögerlich.
„Vanessa Holding. Mein Vater ist der Besitzer des Stormy Horse – das ist die Bar am Ende der Oak Street.“
„Die werde ich sicher mal aufsuchen. Ich hoffe, dort gibt es auch gutes Essen?“
„Das beste der Stadt, Sir.“ Das letzte Wort kam so überraschend, dass Josh stutzte und Vanessa sich verlegen auf die Lippe biss. In diesem Moment wurde Josh klar, dass ihre aufreizende Art nur Schauspielerei war, der sie selbst nicht durchgängig Stand hielt. Er nickte leicht. „Ich freue mich darauf, es zu probieren. Möchtet ihr etwas ausleihen? Ich schließe nämlich heute pünktlich, aber ihr habt noch genügend Zeit, um euch etwas auszusuchen.“
„Nein, ich denke, wir sollten jetzt gehen. Ich muss nach Hause, um meiner Mom zu helfen. Und Vanessa, musst du nicht deine Hausaufgaben machen?“
„Mache ich später.“
„Mach sie lieber gleich. Du hattest doch deinem Dad versprochen, heute Abend im Stormy Horse zu kellnern.“
„Ja … die Trucker sind schon ganz heiß auf mich. So viel Trinkgeld bekommt man nicht vom artig sein.“ Sie schien wieder in ihre Vamp-Rolle zurückkehren zu wollen.
„Bist du nicht eigentlich noch zu jung für den Job als Kellnerin in einer Bar?“, fragte Josh. Im gleichen Moment, als er die Frage ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass es mit den Gesetzen hier wohl nicht so genau genommen wurde, denn beide Mädchen sahen ihn verwirrt an.
„Ich arbeite da ja nicht wirklich. Ich bringe den Gästen nur ihre Bestellungen“, brachte Vanessa mit einem süffisanten Lächeln hervor.
„Soweit ich weiß, ist das die Definition von Kellnern“, erwiderte Josh nicht weniger süffisant. Er ahnte, dass er mit der frechen Vanessa wohl den Plagegeist der Kleinstadt kennengelernt hatte – einen davon zumindest.
„Wir sollten jetzt echt gehen. Auf Wiedersehen, Mr. Dearing. Bitte sagen Sie meiner Mom nicht, dass wir hier waren, in Ordnung?“
„Ich werde es ihr nicht von mir aus sagen. Aber wenn sie mich fragt, werde ich nicht lügen“, stellte Josh klar. Emily nickte zögerlich, während Vanessa die Augen verdrehte. Sie fasste Emily an der Schulter und zog sie mit sich in Richtung Ausgang, während sie laut sagte: „Wie ich es mir schon dachte, der Typ ist zwar aus New York, aber wer freiwillig hierhin zieht, kann nur ein Versager sein.“
Damit verschwanden die beiden jungen Frauen. Josh stützte seinen Ellenbogen auf dem Tresen ab und legte sein Kinn in die Handfläche. Ein Versager also … er seufzte. Vermutlich hatte er nicht ernsthaft damit rechnen können, dass alle es gut fanden, dass er sein Leben derart umkrempelte. Aber im Grunde war das egal. Denn letztendlich ging es einzig und allein darum, wie er sich dabei fühlte. Momentan etwas erledigt, gestand er sich ein. Und er war Mandy Brand unendlich dankbar, dass sie die Bibliothek für den Nachmittag kurzerhand als geschlossen erklärt hatte.
Josh freute sich darauf, endlich sein Haus mit eigenen Augen zu sehen. Zwar hatte er bei seinem Besuch damals, als er zum Vorstellungsgespräch beim Bürgermeister war, ein Haus mitten in der Stadt besichtigt, doch die Maklerin hatte ihm mitteilen müssen, dass ein anderer Käufer letztendlich doch schneller gewesen war. Zugleich hatte sie ihm ein anderes Objekt angeboten, das dem, das er besichtigt hatte, zum Verwechseln ähnlich sein sollte – allerdings war es außerhalb der Stadt, am Ende der Willow-Ranch. Der Großgrundbesitzer hatte das Haus zum Verkauf angeboten, und dazu ein Stück Land, das pflegeleicht sein sollte. Josh hatte sein Interesse bekundet. Der Preis war erstaunlich niedrig gewesen, was daran lag, dass man einmal quer über die Willow-Ranch fahren musste, um das Haus zu erreichen. Und das bedeutete, dass man warten musste, falls die Pferde zu einer anderen Koppel oder zum Stall geführt wurden. Ruben Willow hatte sein Leben der Pferdezucht gewidmet und schien mit Menschen nicht allzu gut umgehen zu können … oder zu wollen. Die Maklerin hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es besser war, dem alten Mann aus dem Weg zu gehen. Für den niedrigen Kaufpreis war Josh jedoch bereit, dem eigenwilligen Typ ab und zu vom Auto aus zu winken, auch wenn er hoffte, mit den Pferden noch weniger zu tun zu haben als mit dem Ranch-Besitzer. Er hatte noch nie Kontakt zu Pferden gehabt und plante auch nicht, das zu ändern.
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Als Josh die Bibliothek abgeschlossen hatte und in sein Auto stieg, war er aufgeregt wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Der Umzugswagen mit seinen Sachen würde noch an diesem Abend eintreffen. Da er das Haus in möbliertem Zustand gekauft hatte, reichte ein Lieferwagen aus, um seine Habseligkeiten bringen zu lassen. Dementsprechend würde er schnell ausgepackt haben. Die Kisten mit den Büchern konnte er ohnehin erst nach und nach in Angriff nehmen. Vielleicht würde er einige sogar aussortieren, wenn er es übers Herz bringen konnte. Immerhin hatte er sich von viel mehr als Büchern getrennt – im Grunde von seiner gesamten bisherigen Welt. Und er spürte jetzt bereits, dass ihm das guttat. Es war schön, sich das Leben endlich so leicht wie möglich zu machen. Schlimm genug, dass es in gesundheitlicher Hinsicht so kompliziert geworden war. Wenngleich er sich ständig vor Augen führte, dass andere es viel schwerer hatten. Sein Handicap würde immerhin in nicht allzu weiter Ferne ein Ende haben. Er seufzte dennoch und legte seine Krücke auf die Rückbank. Dann stieg er ins Auto und half mit der Hand nach, sein Bein so zu positionieren, dass er problemlos die Pedale erreichen konnte. Zum Glück hatte der Wagen ein Automatikgetriebe; der Rest war kein Problem, sonst hätte er unmöglich das Haus außerhalb der Stadt kaufen können.
Josh schaltete das Navi ein und ließ sich von der neutralen Frauenstimme aus Tiny Hollow herausführen. Kaum hatte er die Stadtgrenze hinter sich gelassen und passierte ein Waldstück, verlor das Navi die GPS-Verbindung. Das war jedoch insofern kein Problem, weil ein großes Schild bereits die Willow-Pferde-Ranch ankündigte. Und tatsächlich erstreckte sich hinter dem Waldstück viel Land, auf dessen Weiden Pferde grasten. Es waren zahlreiche Tiere … zum Glück alle so weit weg, dass das Benutzen der Straße ohne Einschränkungen möglich war. Zudem trennte ein Elektrozaun die Koppeln vom Weg, sodass Josh wohl wirklich nur anhalten musste, wenn die Tiere von Menschenhand geführt den Standort wechseln sollten. Der Weg wand sich wie ein goldenes Band im Sonnenschein, gesäumt von grünem Gras, das wohl regelmäßig mit Wasser besprenkelt wurde. Das Land wurde von einem Stück Wald mit Nadelbäumen unterbrochen. Josh versuchte die plötzliche Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, während er den Weg zwischen Sumpfkiefern befuhr. Die Bäume waren hoch gewachsen. Josh blickte kurz zu den Kronen hinauf, die leicht im Wind schaukelten und fleckenweise Sicht auf den blauen Himmel freigaben. Fast hätte er die scharfe Linkskurve übersehen. Das Blenden der Sonne kehrte zurück, als er die Schatten hinter sich ließ. Hier waren die Koppeln mit Holzzäunen von der Straße getrennt. Ein braunes Pferd mit weißer Blässe war etwa fünfzehn Meter hinter der Kurve am Zaun angebunden.
Josh erkannte einen Mann, der neben dem Tier hockte. Er hatte schulterlange blonde Haare, die mit einem einfachen Haargummi zusammengehalten wurden. Josh schätzte, dass er gut fünf Jahre jünger war als er selbst. In der Hand hielt er einen Hammer und zwischen den Lippen mindestens fünf große Nägel. Josh bremste so sacht wie möglich, um keinen unnötigen Staub aufzuwirbeln. Er beugte sich in Richtung des geöffneten Beifahrerfensters.
„Hallo“, rief er zur Begrüßung als der andere Mann sich aufrichtete. Die Augen des Blonden waren von einem Blau, das dem Himmel glich. Er war auf attraktive Weise unrasiert. Einige der Bartstoppeln leuchteten leicht rötlich im Sonnenlicht. Neugierig sah der Mann zu Josh – der hatte allerdings zu seiner eigenen Überraschung die Sprache verloren. Es lag durchaus nicht in seiner Absicht, sich hier in jemanden zu vergucken, aber der Mann, der nun die Nägel aus dem Mund nahm, war absolut sein Typ: blond, kernig, kantiges Kinn und – abgesehen von dem bezaubernden Blau – ausdrucksstarke Augen. Zudem eine unfassbar gute Figur. Möglicherweise durch harte Arbeit, statt durch Workouts im Fitnessstudio – was ihn umso attraktiver machte.
„Hi! Sind Sie der neue Besitzer des Farmhauses?“, fragten die nun nagelfreien, hübsch geschwungenen Lippen. Ein Mund zum Küssen, schoss es Josh durch den Kopf.
„Ja, ich … mein Name ist Josh Dearing.“
„Hallo Josh – oder Mr. Dearing?“
„Nein, nein, Josh ist schon okay. Ähm … ist es noch weit bis zum Haus?“
„Gleich hinter der nächsten Kurve, im Anschluss ans Waldstück.“ Der Mann wies auf den Weg. Josh erkannte in einiger Entfernung ein weiteres Gebiet mit Bäumen. Wiederum Sumpfkiefern, doch diesmal von zahlreichen Laubbäumen unterbrochen.
„Okay … ist ein viel weiterer Weg, als ich dachte“, sagte er mit einem schiefen Lächeln.
„Ja, das Land zieht sich. Aber das Haus ist gut in Schuss. Ich denke, Sie werden sich dort wohlfühlen. Ich habe es jedenfalls getan.“
Gerade als Josh ihn fragen wollte, was er mit dieser Bemerkung meinte, kam ein älterer Mann in vollem Galopp auf sie zugeritten. Die Hufe des Pferdes wirbelten mehr Staub auf als Joshs Auto während der gesamten Fahrt.
„Darf ich nach Ihrem Namen fragen?“, sagte Josh schnell, bevor der Mann sie erreichte. Der andere verzog das Gesicht – ob wegen seiner Neugier oder wegen der drohenden Ankunft bekam Josh beantwortet, kaum dass der andere leise erwidert hatte: „Ich bin Aidan Scott.“
„Aidan! Was zur Hölle treibst du hier?“, brüllte der Neuankömmling und brachte das Pferd so abrupt zum Stehen, dass Josh unweigerlich an das Ziehen einer Handbremse denken musste. Während das Maul des Tieres schäumte, spie der Alte: „Warum steht Daisy nicht im Stall?“
„Weil ich den Zaun reparieren wollte, bevor ich andere Sachen erledigen muss. Es dauert auch nur noch ein paar Minuten, dann bringe ich Daisy zurück.“
„Die Stute sollte überhaupt nicht raus heute! Die hat im Stall zu stehen bis der Hengst gebracht wird. Das hatte ich dir doch gesagt!“
„Der kommt doch erst in einer Stunde. Und ein wenig Bewegung tut ihr gut.“
„Dachtest du dir das so?“, höhnte der Alte. Dann brauste er wieder auf und brüllte: „Black Storm ist bereits hier! Und Tom Baker kocht vor Wut, weil sich nun alles verzögert. Ich habe Wochen gebraucht, um den Deal einzufädeln. Wenn er jetzt wieder fährt und eine andere Stute auswählt, um sie decken zu lassen, kannst du was erleben!“
Damit trieb er sein Pferd so unvermittelt an, dass es erschreckt aufwieherte, jedoch sofort wendete und eilig davon galoppierte.
Josh war ganz elend zumute, weil er miterlebt hatte, wie Aidan zusammengestaucht wurde. Der blickte dem Alten nicht mal hinterher, sondern rieb die Nase des Pferdes, das offenbar den Namen Daisy trug und ihn anstupste, als wolle es ihn trösten.
„Solch ein Arbeitgeber kann einem das Leben zur Hölle machen. Ich hoffe, er ist nicht immer so schlimm“, sagte Josh und beobachtete Aidans angespannte Muskeln, nachdem er mit dem Streicheln des Tieres aufgehört hatte.
„Doch, eigentlich ist er immer so“, erwiderte er. Dann steckte er sich die Nägel in den Mund, als wolle er auf diese Art jede weitere Konversation unterbinden. Josh verstand ihn – vor allem auch, weil Aidan nun schnell zusehen musste, seine Arbeit zu beenden, bevor der Alte noch mehr austickte. Das war er also vermutlich gewesen: der Ranchbesitzer. Vielleicht verstand er sich auf Pferde, auf Menschen allerdings wohl kein bisschen. Aidan begann damit, einen Nagel durch das Holz zu treiben, um eine Latte, die sich gelöst hatte, wieder ordnungsgemäß anzubringen.
Joshs Magen verknotete sich gleich mehrfach – zumindest fühlte es sich für ihn so an. Ihm war elend, weil Aidan sich mit so einem Boss rumschlagen musste. Zugleich hatte es Josh berührt, wie gut der hübsche Kerl zu der Stute war, die Willow nur als Gebärmaschine zu sehen schien. Und dann war da noch das Muskelspiel und die schönen Augen, die sich vollkommen auf die Arbeit zu konzentrieren schienen – bis sie ihn plötzlich anblickten. Erneut wurden die Nägel aus dem Mund genommen.
„Kann ich sonst noch irgendwie helfen?“, fragte Aidan.
„Nein, danke. Nun … man sieht sich.“
„Ja, bis dann.“ Aidan kümmerte sich wieder um seine Arbeit.
Bevor Josh losfuhr, hielt er jedoch nochmal kurz inne und rief: „War schön, denjenigen kennenzulernen, der nun in dem Haus wohnt.“
Kaum hatte er das gesagt, steckte er die Nägel zwischen seine Lippen zurück und Josh sah ein, dass die Unterhaltung damit wirklich beendet war. Er gab Gas und fuhr auf das Waldstück zu. Diesmal freute er sich auf die Schatten, die seine wirren Gefühle hoffentlich ein wenig abkühlen würden.
Was auch immer die Maklerin ihm hatte einreden wollen, dieses Haus war so fernab der Stadt gelegen, dass Josh sich eigentlich beschweren müsste. Doch als er die letzte Kurve passiert hatte, bot sich ihm ein Anblick, den er wohl seinen Lebtag nicht vergessen würde. Das Haus war wie aus einem Traum! Ein weißes Holzgebäude mit blauen Fensterläden. Die Veranda, die den Eingangsbereich umfasste, war groß und einladend. Eine Treppe führte hinauf, die Haustür war mit einem Fliegengitter versehen. Das Grundstück ums Haus war von Wiesen gesäumt, einige große Bäume standen darauf – darunter eine Virginia-Eiche, an deren starken Ästen Irisches Moos herabhing. Im Dunkeln oder im Nebel mutete das sicher gespenstisch an, nun jedoch – im hellen Sonnenschein – wirkte das feine Gebilde wie eine federleichte Decke, die die Natur selbst gehäkelt hatte.
Josh parkte den Wagen, stieg aus und sah sich um. Das Grundstück war mit allem ausgestattet, das Josh erhofft hatte. Mehrere große Regentonnen sorgten für einen guten Teil Gießwasser. Eine Hollywoodschaukel stand auf der Veranda, Blumenbeete umgaben den Seitenbereich des Hauses. Etwas weiter entfernt war ein Gemüsebeet angelegt worden, das Salat, Kohl, Tomaten und Bohnen enthielt. Alles war gut gepflegt, als hätte man schon vor langem an einen neuen Besitzer gedacht, der sich aus all dem etwas machen würde.
Eine hohe Scheune reckte sich dem Sommerhimmel entgegen – sie war rot gestrichen, hier war die Farbe jedoch rissig. Insgesamt wirkte das Gebäude etwas ungepflegt. Da Josh sie eigentlich nur als Unterstand für Gartenmöbel in Betracht zog, war ihm ihr Zustand nicht so wichtig. Dennoch war sie ein Element auf dem Anwesen, das er gekauft hatte. Er betrachtete sie dementsprechend aufmerksam. Ein kleiner Wassertank war auf dem Dach angebracht. Man konnte Strohballen durch eine geöffnete Luke erkennen. Neben der Scheune war ein Teil des Grundstücks überdacht; die geteerten Holzbretter wurden von stabilen Pfählen gestützt.
Darunter befand sich eine Unmenge an Holzscheiten, alle auf etwa dieselbe Größe gehackt, um wohl in den zum Haus gehörenden Kamin zu passen. Ein Traktor stand auf einem Stück Gras, das dort jedoch verdorrt und struppig aussah. Umso mehr fiel der gepflegte Zustand der restlichen Wiesen und Beete ins Auge. Außerdem erkannte Josh landwirtschaftliche Gerätschaften, die man vermutlich an den Traktor anhängen konnte. Von diesen Sachen würde er nichts benötigen. Aber sie dem unverschämten Willow anzubieten, verwarf er sofort wieder. Natürlich verstand er, dass der Rancher seine Abmachungen bezüglich der Pferdezucht einhalten musste. Aber einen Angestellten deshalb so anzubrüllen, war unnötig und unmenschlich noch dazu. Dass er es vor einem Zeugen getan hatte, machte ihn umso mehr zu einem Unmenschen.
Josh hoffte, dass Willow wenigstens begriff, dass ihm dieser Teil des Grundstücks nun nicht mehr gehörte, und er sich hier nicht blicken ließ. Von Aidan hoffte Josh jedoch genau das Gegenteil.
Als ihm klarwurde, dass er bereits wieder in schwärmerischen Gedanken schwelgte, rief er sich vehement zur Ordnung. Er atmete tief durch, nahm die Krücke aus dem Auto und begab sich in Richtung Haus.