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Die kleine Josie findet auf der elterlichen Farm einen gesuchten Mann in der Scheune. Aus dem Radio erfährt sie von seinen schrecklichen Vergehen. Doch Josie schweigt, bis er ihr zeigt, was er getan hat. - "Zeit der (Un)Gnade ist eine Kurzgeschichte aus dem eBook "Böse Weihnacht", das weiterhin erhältlich ist.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Wintersonne ließ den Schnee glitzern, trotzdem war es bitterkalt. Die kleine Josie blies in ihre Hände, um sie zu wärmen. Der Weg vom Haus zur Scheune war nicht weit, und sie hatte beschlossen, dafür nicht extra die Handschuhe anzuziehen. Nur auf Drängen ihrer Mutter war sie in die dicken Winterstiefel geschlüpft und hatte sich den Mantel übergezogen. Auf der Farm war drei Tage vor Weihnachten viel zu tun. Josie half wo sie konnte, aber oft waren ihre Eltern froh, wenn sie sich mit sich selbst beschäftigte. Und da heute einige Gänse geschlachtet werden sollten, hatte ihre Mutter sie ermuntert, den Vormittag in der Scheune zu verbringen und mit dem alten Traktor zu spielen, den Josie so mochte.
Josie öffnete die kleine Tür, die in das große Scheunentor eingelassen war, und ging rasch hinein. Sie schloss die Tür wieder und betätigte den Kippschalter, woraufhin ein paar Glühbirnen ihren Dienst antraten. Es war immer noch recht düster, aber zum Spielen reichte es allemal. Josie mochte die Scheune – sie roch so gut nach Heu und altem Motoröl. Das Holz knarrte oft, vor allem, wenn es draußen stürmisch war.
Josie kletterte auf den Fahrersitz des alten Traktors. Sie griff nach dem Lenkrad und betätigte den großen Schalthebel. Natürlich passierte nichts, aber in ihrer Fantasie fuhr sie nun mit dem Traktor über eines ihrer riesigen Felder. Manchmal stellte sich Josie auch vor, sie würde damit durch die Stadt fahren und eine Parade anführen. Nebenan konnte man die Kühe im Stall muhen hören. Josie lauschte. Da war noch ein anderes Geräusch: atmen. Es kam aus der Ecke hinter den Heuballen. Josie krauste die Stirn. Vielleicht war Sweety zurückgekehrt – ihr Hund, der schon seit dem Herbstanfang verschwunden war. Josie kletterte vorsichtig vom Sitz und ging über die brüchigen Holzdielen. Es knackte unter ihren Füßen. Das Atemgeräusch verstummte. Josie trat in die Schatten der Heuballen. Auch sie hatte nun die Luft angehalten und lugte um die Ballen herum. Dort saß ein Mann. Er sah sie an. Josie blieb wie angewurzelt stehen. Der Mann fluchte. Josie kannte das Schimpfwort – ihre Eltern hatten ihr verboten, es zu benutzen.
„So etwas sagt man nicht!“, erklärte sie dem Mann. Er nickte. Sein zotteliges, dunkles Haar fiel ihm in die Augen. Er senkte den Kopf und atmete laut. Eigentlich stöhnte er sogar. Josie sah, dass sein Bein blutete.
„Tut es sehr weh?“, fragte sie. Er blickte wieder auf.
„Ein bisschen.“
„Wer bist du?“, fragte Josie. Er zögerte. „Mein Name ist Jack.“
„Was machst du hier?“
Er lehnte sich an die Wand zurück. „Ich ruhe mich nur etwas aus. Es wäre gut, wenn du niemandem davon erzählst, dass ich hier bin. Sobald es mir besser geht, ziehe ich weiter.“
Josie sah ihn kritisch an. „Also tut es doch nicht nur ein bisschen weh.“
Er lächelte schief. „Ein bisschen mehr.“
„Dann brauchst du einen Arzt, der ...“
„Nein!“, fiel er ihr ins Wort. Josie zuckte zusammen. Er hob beschwichtigend die Hand. „Ich brauche wirklich niemanden. Nur ein bisschen Ruhe.“
„Aber ich will hier spielen“, sagte Josie. Er nickte. „Das ist okay. Spiel ruhig. Wie ist dein Name?“
„Josie.“
„Und wie alt bist du?“
„Acht. Und du?“
Er lächelte – es sah nett aus, fand Josie
„Alt. Sehr alt sogar.“
„Du siehst gar nicht so alt aus.“ Josie beäugte ihn. Als er die Augen schloss, sagte sie flüsternd: „Schlaf gut.“ Dann ging sie wieder zum Traktor zurück und kletterte hinauf. Sie sang ein Schlaflied, während sie das Lenkrad hin und her bewegte, um auf imaginären Straßen zu fahren.
*
„Pssst“, machte Josies Mutter. Im Radio kam eine Meldung auf dem regionalen Sender. Josie setzte sich an den Esstisch zu ihren Eltern. Sie war gerade aus der Scheune zurückgekehrt und hatte sich ordentlich die Hände gewaschen, wie es abgemacht war. Gleich würden sie essen, aber erst musste sie still sein, das erkannte sie auch an dem ernsten Blick von Mutter und Vater.
