Fast einsame Weihnachten - Hanna Julian - E-Book

Fast einsame Weihnachten E-Book

Hanna Julian

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Beschreibung

Anderthalb Jahre nach dem Unfalltod seines Ehemanns hat Marek ein einsames Weihnachten in einer Berghütte geplant, um eine heilsame Trauer zu erleben. Als Florian, der Sohn des Vermieters, nur noch schnell eine Reparatur am Dach durchführen muss, geschieht ein Unglück, das ihn zwingt, eine Nacht bei Marek zu bleiben. Ein Zufall? Doch auch andere Vorgänge bringen Marek ins Grübeln, denn irgendwie scheint sein verstorbener Mann immer noch präsent zu sein. Wie wird er auf seine und Florians Annäherung reagieren?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel – Einen Monat zuvor

2. Kapitel – Nägel mit Köpfen

3. Kapitel – Die Ankunft

4. Kapitel – Hüttenzauber

5. Kapitel – Gipfelstürmer

6. Kapitel – Der Besuch des Bibliothekars

7. Kapitel – Florians Geschichte

8. Kapitel – Ein ungeplanter Ausbruch

9. Kapitel – Von oben herab

10. Kapitel – ein schmerzhafter und ein erfreulicher Absturz

11. Kapitel – Vorweihnachtswunder

12. Kapitel – Kaminfeuer, außen wie innen

13. Kapitel - Heiligabend im Winterwunderland

14. Kapitel – Alles andere als weihnachtlich

15. Kapitel – Mit einem Fuß in der Hölle, mit dem anderen im siebten Himmel

16. Kapitel – Briefe eines Toten

17. Kapitel - Am zweiten Weihnachtstag ist es noch nicht zu spät für Wünsche

Epilog

Impressum

Leseprobe zu „Engel – sein härtester Job“

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Prolog

»Bei drei ziehe ich deinen Fuß raus, okay? Eins, zwei …« Marek kniete neben dem verletzten Florian. Schneeflocken fielen auf die beiden Männer, die vom äußeren Erscheinungsbild kaum unterschiedlicher hätten sein können. Marek war schlank und hochgewachsen, mit dunklem Haar und braunen Augen. Florian war muskulös und breitschultrig, er hatte halblange blonde Haare und blaue Augen, die sein Gegenüber nun alarmiert ansahen.

»Warte! Bevor du ziehst, wollte ich dir sagen, dass die letzten Stunden mit dir etwas ganz Besonderes für mich waren. Also, vielleicht findest du das jetzt übertrieben, weil wir nicht … also, weil wir uns nur unterhalten haben. Aber ich möchte trotzdem, dass du es weißt.«

Marek hatte unwillkürlich lächeln müssen, als Florian sich im letzten Moment daran hinderte, auszusprechen, dass es nicht zum Sex zwischen ihnen gekommen war – und das obwohl wirklich absolut nicht viel gefehlt hatte. Aber der Moment war vergangen, und beide hatten wohl die Hoffnung gehabt, er würde auf andere Art irgendwie wiederkehren. Doch momentan sah es dafür mehr als schlecht aus.

»Ich fand die vergangenen Stunden – die Gespräche und die Wanderung – mit dir ebenfalls sehr schön«, erwiderte Marek. Er konnte einen Hauch von Bedauern über die verpasste Situation nicht aus seiner Stimme verbannen. Ernst sagte er: »Es wird sicher wehtun, wenn ich dich befreie.« Mit einem Lächeln fügte er an: »Aber ich bin mir sicher, dass du es überleben wirst. Es ist also zu früh für letzte Worte.«

»Mag sein. Aber ich erledige die Dinge immer am liebsten so schnell wie möglich. Insbesondere, wenn sie mir wirklich wichtig sind.« Florian versuchte ebenfalls zu lächeln. Seine Mundwinkel, um die ein leichter Bartschatten lag, schafften es auch ein Stückchen in die Höhe, aber seine Augen entlarvten, dass eine gute Portion Angst vor dem Kommenden mitschwang.

»Du hast recht, denn ich erinnere mich, dass du gewillt warst, sofort deinen Job zu machen. Und vermutlich bin ich schuld, dass wir jetzt erst in der Klemme stecken, wo es bereits dunkel wird. Wenn ich dich von Anfang an hätte machen lassen, wärst du schon heute Mittag durch das Dach gekracht.«

»Ich bin froh, dass wir zuvor noch ein wenig Gelegenheit hatten, uns näher kennenzulernen. Wer weiß, vermutlich hättest du mich sonst einfach hier erfrieren lassen, wenn ich immer noch nur so ein dahergelaufener Fremder für dich wäre.«

Marek zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Gut möglich. Was gehen mich schließlich irgendwelche rumliegenden Männer an?«, fragte er dann grinsend.

»Wenn wir noch ein wenig warten, siehst du mich auch gar nicht mehr. Der Schneefall soll von jetzt an immer heftiger werden. Das reinste Schneechaos – und wenn selbst wir Bergmenschen davon sprechen, dann wird das alles andere als harmlos, das kannst du mir glauben.«

»Ich glaube dir. Und es steht wohl außer Frage, dass du die Nacht bei mir in der Hütte verbringst. Den Berg hinabsteigen kannst du heute jedenfalls nicht mehr.«

Florian wollte etwas erwidern, aber stattdessen entwich ihm nur ein gequältes Stöhnen. Sein Gesicht wurde von großen Schneeflocken getroffen; er wischte sie mechanisch mit seinen zweifellos schon steifgefrorenen Fingern fort.

»Bist du soweit?«, fragte Marek nach einem kurzen Blick zum immer dunkler werdenden Himmel.

»Gleich. Zuerst habe ich noch eine Bitte an dich. Egal was passiert, bitte ruf meinen Vater nicht an. Er macht sich sonst nur unnötig Sorgen und versucht womöglich noch, im Dunklen den Berg hinaufzukommen. Aber er ist zu alt für solche Scherze und bringt sich selbst höchstens in Gefahr. Ich weiß, dass du dich vermutlich verpflichtet fühlst, ihm Meldung zu machen, aber ich bitte dich wirklich, es noch nicht zu tun. Morgen vielleicht, wenn es wieder hell ist.«

»Okay, ich verspreche es dir. Es sei denn, wir müssen dich doch unerwartet noch heute beerdigen. Dann werde ich ihn informieren, dass ich das einfach schon mal allein übernehme.« Er verschwieg wohlweislich, dass sein Handy nach wie vor immer noch keinen Empfang hatte, und er so oder so keine Hilfe rufen konnte.

Florian verzog in gespielter Empörung das Gesicht. Er zitterte inzwischen am ganzen Körper. Marek entschied, dass sie nun genug Zeit mit ihren Blödeleien verbracht hatten. Und er hoffte, dass die Scherze zumindest – wie stumm von ihm geplant – ein klein wenig für Entspannung bei Florian gesorgt hatten, denn nun musste er endlich handeln!

1. Kapitel – Einen Monat zuvor

»Die Kaffeemaschine wird morgen geliefert. Ich habe eine Markenmaschine bestellt – leider weiß ich gerade nicht mehr welche genau. Aber so ein Ding für Kapseln. Die Marke, für die George Clooney Werbung gemacht hat.«

»Nespresso«, half Marek aus.

»Ja, stimmt! Mama findet die super.«

»Den Kaffee oder doch eher Clooney?«

»Beides. Hoffe ich doch! Und ich glaube, Papa mag den Kaffee auch sehr gerne. Zumindest haben sie das bei meinem letzten Besuch gesagt – und auch, dass ihre Maschine leider kaputt gegangen ist. Ist doch super, oder?«

»Ja … super, dass die kaputt ist«, erwiderte Marek ironisch. Der Redeschwall seiner Schwester Lilly nervte ihn gewaltig, aber er wagte auch nicht, das Handy einfach auf die Arbeitsplatte zu legen, während er einen passenden Topf aus dem Regal suchte, um Pasta zuzubereiten.

»Das Geld kannst du mir dann ja an Heiligabend geben.«

»Welches Geld?«, fragte Marek verwirrt.

»Hast du mir etwa nicht zugehört?«

»Nein. Ja … also, nicht so richtig. Kann sein, dass ich am Anfang was nicht mitgekriegt habe.« Seine ältere Schwester seufzte deutlich hörbar. »Okay, Marek, nochmal zum Mitschreiben: Ich habe für dich und mich schon das Geschenk für unsere Eltern gekauft. Eltern – Mutter und Vater. Die Menschen, die wir an Weihnachten wie immer gemeinsam besuchen werden.«

»Ich war letztes Jahr nicht dort«, erinnerte Marek. Seine Schwester seufzte erneut, diesmal klang es zurückhaltender. »Ich weiß. Aber seit Kais Tod sind inzwischen anderthalb Jahre vergangen. Es ist mir klar, dass es im letzten Jahr noch zu früh für dich war, um einen auf heile Familie zu machen, nachdem dein Mann im Sommer verunglückt war. Jeder hat verstanden, dass du dich eingeigelt hast …«

»Dafür habt ihr mir aber ziemlich viel Stress gemacht, obwohl ihr es angeblich verstanden habt.« Marek konnte und wollte den vorwurfsvollen Ton nicht unterdrücken. Ihm war klar, dass seine Familie es eigentlich nur gut gemeint hatte, aber die ständigen Anrufe, SMS und Nachrichten bei Telegram hatten ihn schier in den Wahnsinn getrieben. Im Grunde war es schlimmer gewesen, als wenn er einfach die üblichen zwei Tage bei seinen Eltern verbracht hätte. Dann hätten die sich nämlich nicht ständig Sorgen gemacht, er würde sich heimlich um die Ecke bringen wollen. Und er hätte in dem alten Ohrensessel, der schon seinem Großvater gehört hatte, Musik über Kopfhörer hören können, während die anderen sich unterhielten und ihn dabei unauffällig im Auge behalten konnten, um ihre Nerven zu beruhigen. So war das sehnlich erhoffte ruhige Fest für Marek jedoch zum Spießrutenlauf geworden – statt in Ruhe trauern zu können, war er aggressiv geworden. Aber das Gefühl von heilsamer Trauer wollte er in diesem Jahr unbedingt nachholen, um sich letztendlich daraus hoffentlich befreien zu können. Und das wollte er keineswegs an dem Ort tun, an dem er in den letzten drei Jahren mit Kai gemeinsam das Weihnachtsfest verbracht hatte.

Sein Mann war immer begeistert gewesen, von Mareks Familie derart herzlich aufgenommen worden zu sein, da er selbst keine mehr hatte. Und er hatte Weihnachten geliebt … Es tat weh, darüber nachzudenken. Marek wollte versuchen, damit einigermaßen abzuschließen. Ihm war immer noch nicht ganz klar, wie er das am besten anstellte, aber da würde ihm schon noch etwas einfallen. Ganz bestimmt wollte er sich aber nicht dem Wunsch der Familie beugen, nur damit die beruhigt waren. Inzwischen mussten sie wohl wissen, dass Kais Tod zwar schrecklich für ihn war, ihn aber nicht davon abhalten würde, sein Leben dennoch irgendwie zu meistern. Die Sorge um ihn war also vollkommen unangebracht.

»Ich werde dir das Geld überweisen, und du übergibst das Geschenk einfach für uns beide. Über Weihnachten bin ich nämlich … geschäftlich verreist.« Eine misslungene Notlüge, die seine Schwester natürlich auch sofort als solche erkannte.

»Verreist? Wohin solltest du über Weihnachten denn wohl geschäftlich reisen? Marek, deine Firma hat bis ins neue Jahr geschlossen, und was auch immer für Aufträge du noch abschließen musst, das wird wohl kaum über die Feiertage gehen. Oder willst du dich etwa zwischen die Familien eurer Kunden an den gedeckten Tisch setzen und ihnen Papiere zum Unterzeichnen hinschieben? Ich denke, das würde selbst dein Chef nicht von dir verlangen – vor allem auch, weil das wohl bei keinem eurer Auftraggeber besonders gut ankäme. Work-Life-Balance – hast du davon schon mal was gehört?«

»Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich Kundentermine habe. Ich will nur … einen Standort für eine neue Filiale prüfen«, strickte Marek an seiner dämlichen Lüge weiter. Seiner großen Schwester hätte er aber vermutlich sogar mit einer durchdachten Story nichts vormachen können, wie er bereits seit seiner Kindheit wusste. Lilly war zehn Jahre älter als er selbst und durchschaute immer sofort, wenn er flunkerte. Manchmal hatte sie seine Lügen trotzdem gedeckt, vor allem vor ihren Eltern. Sie hatte ihn jedoch jedes Mal ausführlich darauf hingewiesen, dass sie um seine Unwahrheiten wusste, und zweimal hatte sie ihm dafür sogar schmerzhaft an den Ohren gezogen. Aber diese Zeiten waren längst vorbei, und mit seinen fünfunddreißig Jahren hätte Marek sich das wohl auch kaum noch gefallen lassen. Allerdings log er inzwischen auch nicht mehr so häufig – außer in diesem Moment. Er sah ein, wie kindisch das war, also rückte er endlich mit der Wahrheit heraus. »Okay, vergiss den Quatsch mit der Arbeit. Die Firma hat zu, und ich mache Urlaub wie jeder andere normale Mensch. Ich habe dafür schon vor ein paar Tagen eine Hütte gebucht – in den Bergen.« Jetzt hatte sich zum Schluss doch wieder eine Lüge eingeschlichen.

»Vor ein paar Tagen? Tut mir leid, Marek, aber das glaube ich dir genauso wenig. Wer über Weihnachten eine Hütte in den Bergen mieten möchte, kann das wohl kaum nur ein paar Tage vor Weihnachten tun. Und überhaupt: in welchen Bergen? Und mit wem willst du hin? Gib es jemand Neuen in deinem Leben, von dem ich noch nichts weiß?«

»Nein, es gibt keinen Neuen!« Marek hatte es mit so gereizter Stimme gesagt, dass Lilly schnell erwiderte: »Tut mir leid, das war blöd von mir. Also, wenn du ein Geheimnis draus machen willst, wo du über Weihnachten bist, meinetwegen. Aber ehrlich gesagt weiß ich noch nicht, wie ich mit Mamas und Papas Reaktion darauf umgehen werde. Es war letztes Jahr so ziemlich die Hölle bei denen, weil sie ständig immer nur Angst hatten, du könntest …« Sie verstummte. Marek ließ eine kleine Weile vergehen. Er würde es ebenfalls nicht aussprechen! Schließlich sagte er entschieden: »Ich gehe davon aus, dass in diesem Jahr niemand mehr Angst um mich an Weihnachten haben muss. Und wer nicht versteht, dass ich Kai jeden verfluchten einzelnen Tag vermisse – und nicht nur an Feiertagen – der hat immer noch nicht begriffen, was mein Verlust wirklich bedeutet.«

Lilly wartete einen Moment, bevor sie sanft erklärte: »Da hast du natürlich vollkommen recht. Und ich verstehe deinen Zorn über die Gedanken der Leute – die Gedanken unserer Eltern … und vielleicht auch über meine Gedanken. Aber du musst auch daran denken, dass die Statistiken beweisen, dass die Feiertage immer ganz besonders schlimm sind.«

»Du meinst, schlimm für Menschen wie mich? Die ihren Partner verloren haben?«

»Ja.«

»Dann verspreche ich dir jetzt, dass ich die Zeit nutze, um wieder auf die Beine zu kommen, okay?«

Seine Schwester zögerte kurz, dann erwiderte sie: »Ach, Marek. Das klingt so, als würdest du dich rechtfertigen müssen. Das möchte ich nicht.«

»Dann gestatte mir auch bitte, mich nicht zu rechtfertigen. Ich werde klarkommen. Und ich möchte es so. Ich, ganz allein mit mir! Über die Feiertage. Das wird mir guttun. Ich werde spazieren gehen, was Leckers kochen. Und alte Filme gucken oder Bücher lesen. Zu Silvester treffen wir uns dann bei Mama und Papa, wenn ihr alle Lust dazu habt. Dann vertreiben wir die bösen Geister fürs kommende Jahr. Aber vorher muss ich noch ein paar von meinen ganz persönlichen Geistern loswerden.« Er wusste, dass das nicht der richtige Ausdruck war, aber es klang allemal besser, als zuzugeben, dass er statt alten Filmen alte Fotos ansehen, und sich die Augen aus dem Kopf heulen wollte – ohne Publikum und ohne jemanden, der ihn tröstete. Es erschien ihm wichtig, auf seine eigene Art abzuschließen, ohne dass er – wie im Job – ständig kontrolliert und standhaft sein musste. Er wollte nur einmal das heulende Elend sein dürfen, das seit Monaten in ihm schlummerte und mit imaginären Fäusten gegen seine Magenwände, sein Herz und seine Kehle hämmerte, damit er ihm endlich Beachtung schenkte. Viel zu tapfer war er nach Kais Tod gewesen, und das hatte sich bitterlich gerächt. Vielleicht verstand auch Lilly das nun endlich, denn sie lenkte ein, indem sie versprach, die Eltern so gut wie möglich zu beruhigen und Marek über die Feiertage nicht zu kontaktieren.

2. Kapitel – Nägel mit Köpfen

»Ich verstehe. Danke, aber für nächstes Jahr möchte ich nicht reservieren. Ich versuche es weiterhin für dieses Jahr. Auf Wiederhören!«

Marek legte auf. Es waren bereits etwa ein Dutzend Telefongespräche in ähnlicher Art verlaufen. Langsam gab er tatsächlich die Hoffnung auf, denn seit drei Wochen versuchte er vergeblich, auf den letzten Drücker noch eine Berghütte über Weihnachten zu mieten. Und nun blieben ihm nur noch wenige Tage, was die Sache noch hoffnungsloser erscheinen ließ. Dennoch wollte er diesen einen Anruf noch erledigen. Er schnappte sich den Zeitungsausschnitt, den er durch Zufall in der ansonsten leeren Schlafkommode von Kai gefunden hatte. Eigentlich dachte er, er hätte alles inzwischen leergeräumt, aber den Fetzen Papier hatte er wohl bislang übersehen. Warum er die Schublade überhaupt geöffnet hatte, wusste Marek nicht, aber das war inzwischen auch egal, denn ihm war klar, dass Kai diese Anzeige wohl ausgeschnitten hatte, um für sich und ihn eine Unterkunft über Weihnachten zu buchen. Sein Mann hatte mit Kugelschreiber einen kleinen Schneemann darauf gemalt, der Marek die Tränen in die Augen trieb.

Das war typisch für Kai gewesen – überall hatte er seine Kritzeleien hinterlassen, die zu so etwas wie seinem Markenzeichen geworden waren. Sicher hatte er die Anzeige schon einige Zeit vor seinem Unfalltod herausgetrennt, um heimlich die Nummer anzurufen, die eine traumhaft abgelegene Berghütte in den Bayerischen Alpen bewarb. Vermutlich hatte er die Nummer jedoch nie gewählt … Und eigentlich hatte auch Marek dort gar nicht anrufen wollen, um keine Geister heraufzubeschwören, die man wohl besser ruhen ließ. Aber nun musste er alle Telefonnummern abhaken, die ihm zuvor so verheißungsvoll erschienen waren. Klar, er hatte es auch mit Onlinebuchungen probiert, doch es war alles schon ausgebucht gewesen. Also hatte er kurzerhand telefonisch Kontakt mit den Anbietern aufgenommen. Aus einem dummen Impuls heraus hatte er gehofft, im persönlichen Gespräch würde er andere Ergebnisse erzielen, doch das war nicht der Fall gewesen. Jetzt als letzte Chance doch auf die alte Zeitungsanzeige zu hoffen, war mehr als blauäugig. Er wählte die Nummer trotzdem.

»Ja, Baumbach hier!«, meldete sich eine männliche Stimme in kernigem Tonfall.

»Guten Tag. Mein Name ist Marek Schönen. Es wird Sie vielleicht wundern, aber ich habe eine alte Zeitungsanzeige gefunden und wollte Sie daher fragen, ob Sie die Hütte mit dem Namen „Talblick“ immer noch vermieten.« Stille am anderen Ende. Marek fragte sich schon, ob er vielleicht die falsche Nummer gewählt hatte und sein Gesprächspartner sich belästigt fühlte. Doch dann erwiderte der Mann: »Ja, tu ich.«

»Das freut mich! Ich würde sie gerne über Weihnachten mieten, wenn das geht.«

»Jo.«

»Dieses Jahr, nicht nächstes oder übernächstes.«

»Hmhm.«

»Also, ich meine das Weihnachten in einer Woche«, stellte Marek nochmal klar, weil er das Gefühl nicht loswurde, dass sein Gesprächspartner mit den Gedanken irgendwo anders war. Schließlich kam jedoch mehr Leben in den Mann, und er ächzte: »Himmel, ist Weihnachten echt schon nächste Woche? Das geht ja mal wieder schnell.«

Marek stutzte. Sein Anruf war eigentlich nicht dazu gedacht gewesen, den Weckruf für den Geschenkeeinkauf eines Wildfremden zu sichern. Der schien jedoch plötzlich sehr geschäftstüchtig.

»Was jetzt? Wollen Sie die Hütte über Weihnachten, oder nicht? Wenn ja, richte ich alles für Sie her. Aber vor Silvester müssen Sie wieder raus sein, denn ab dem 31. Dezember ist sie schon vermietet.«

»Aber über Weihnachten noch nicht?«, erkundigte sich Marek noch einmal, um ganz sicher zu gehen, dass er nicht anreiste und sich dann mit einer Familie oder einem verliebten Paar um die Hütte streiten musste, weil der Vermieter offenbar etwas verwirrt war.

»Sie war natürlich vermietet. Aber die Leute haben abgesagt, weil sie im Lotto gewonnen haben und jetzt lieber nach Hawaii möchten. Sollen sie halt glücklich da werden, diese neureichen Schnösel! Was meine Hütte zu bieten hat, finden die auf keiner Insel. Absolute Ruhe, Weitblick ins Tal und auf die Bergkette im Westen. Gute Luft und Natur in Hülle und Fülle. Da sieht man Tiere vor der Haustür, die die Stadtmenschen nur aus’m Fernsehen kennen. Sie sind doch aus der Stadt?«

»Ja, bin ich. Aber ich kenne eine Menge Tiere. Also, ich habe schon viele in der Natur gesehen, wollte ich damit sagen.«

»Hm … schön, schön, Herr Schönen.« Er lachte rau. »Ist wichtig, ein Naturmensch zu sein, wenn man in der Hütte seine Zeit genießen will. Aber vor allem gibt’s hier jede Menge Schnee. Also, wenn’s schneit. Und das tut‘s jetzt schon seit Tagen. Bisher nur wenig, aber das soll sich ändern. Und das sage ich Ihnen gleich: wenn es soweit ist, ist das hier ein Winterwunderland, auf das man gefasst sein muss! Aber zum Skilaufen eignet sich der Berg nicht. Wollten Sie Skilaufen?«

»Nein. Nur ein bisschen in der Nähe wandern. Und sonst einfach die Einsamkeit genießen.«

»Jo, einsam haben Sie’s da! Vor allem, wenn echt so viel vom Himmel kommt, wie vorausgesagt wurde. Die Wetterheinis reden ja heutzutage schon von Schneechaos, wenn nur drei Flocken auf irgendeine Hauptstraße fallen. Aber hier kann es echt chaotisch werden, wenn das Zeug in Massen runterkommt.«

»Das macht mir nichts aus. Ich freue mich auf den Schnee. Und mein Auto hat natürlich Winterreifen drauf.«

»Mag sein, aber das Auto lassen Sie besser am Fuß des Berges stehen – da gibt’s einen Parkplatz. Der Weg rauf ist nämlich sehr eng und holprig, und die Seiten sind nicht befestigt. Viel zu gefährlich, wenn man da mit dem Auto ins Rutschen kommt, falls denn die Breite überhaupt ausreichen würde.«

»Ich verstehe. Nun gut, dann lasse ich das Auto unten stehen.«

»Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen, Ihren Kram raufzubringen. Ich habe nämlich ein Schneemobil. Ach ne, das ist ja kaputt. Bringen Sie halt besser nicht so viel Zeug mit. In der Hütte ist eh alles Wichtige vorhanden. Handtücher, Bettwäsche, Decken, Küchenutensilien, Waschmittel – alles da. Bringen Sie nur Shampoo und so persönlichen Kram wie Rasierzeug mit, dann wird’s schon passen.«

»Keine Sorge, ich werde nur das Nötigste dabeihaben. Und ich werde die Sachen sicher selbst hinbringen können. Wie weit ist es denn?«

»Jo … hm … so … ungefähr einen guten Kilometer den Weg bergauf, würd ich sagen. Geht in Serpentinen hoch, durch den Wald und über Wiesen am Hang entlang.«

Marek schwieg. Das klang echt ziemlich abgelegen und auch reichlich abenteuerlich. Vor allem, wenn man davon ausging, dass die Straße wohl tatsächlich eher ein schmaler Weg war. Sein potenzieller Vermieter schien seine plötzlichen Zweifel jedoch nicht zu bemerken, sondern fuhr unbeirrt fort, ihm von dem abgelegenen Urlaubsort zu berichten.

»Der Weg ins Tal ist bei schwerem Schneefall ziemlich anstrengend, hinauf ist er dann fast unmöglich. Ist traumhaft, wenn man es abgeschieden mag. Und man sollte sich vorher gut mit Lebensmitteln eindecken, denn Läden sind nur schwer zu erreichen, wenn sie denn an Weihnachten überhaupt geöffnet haben. Aber wenn Sie mir eine Liste geben, wird der örtliche Supermarkt die Sachen hinbringen, bevor Sie hier sind. Ich setze es dann mit auf die Rechnung, die Sie bitte vor der Anreise begleichen.«

»Ja, okay. Aber ich weiß ja gar nicht, ob der Supermarkt alles hat, was ich möchte.«

»Der hat fast alles. Um die Weihnachtszeit sogar so Zeug wie Hummer, Trüffel und Austern. Wer isst so‘n Schwabbelzeug?«

»Äh, ich nicht. Aber Wildschweingulasch, Rotkohl und Klöße hätte ich schon gerne für Weihnachten. Vielleicht auch etwas Pistazieneis und natürlich Getränke, Brot, Eier, Obst, Aufschnitt und sowas.«

»Kein Problem. Wie gesagt, machen Sie in Ruhe eine Liste, und dann wird der Kram schon da sein, wenn Sie kommen. Ich kümmere mich darum, dass Florian mit einem vom Supermarkt die Sachen hinbringt.«

»Wer ist Florian?«

»Mein Sohn. Der kümmert sich, wenn ich es mal nicht kann.«

»Okay«, erwiderte Marek, der langsam ins Grübeln kam, ob er das alles schon wissen musste, obwohl er doch noch gar nicht verbindlich zugesagt hatte, die Hütte zu mieten. Andererseits würde er jetzt sicher keinen Rückzieher mehr machen, denn es schien sich um eine Fügung des Schicksals zu handeln, dass das Glück der vorherigen Mieter dazu geführt hatte, dass die Hütte nun doch kurzfristig frei geworden war. Und immerhin war ein Lottogewinn ein viel besserer Auslöser dafür, als beispielsweise ein Todesfall … unweigerlich musste Marek an Kai denken. Er schob die Erinnerungen an den Unfall seines Mannes schnell beiseite, doch der kurze Moment des auflebenden Schmerzes hatte ausgereicht, um ihn darin zu bekräftigen, Weihnachten tatsächlich an dem abgelegenen Urlaubsort zu verbringen, um über alles in Ruhe reflektieren zu können.

»Also gut, ich nehme die Hütte ab dem 23. bis zum 29. Dezember, falls Ihnen die Zeit reicht, um sie für die nächsten Gäste wieder bereit zu machen. Ich werde morgens gegen zehn abreisen, wenn Ihnen das reicht.«

»Ja, das bekomme ich schon hin. Die Hütte ist mit allem ausgestattet, was man so benötigt. Nur kein Internet oder Telefon. Den Schnickschnack braucht man an Weihnachten ja auch nicht, wenn man seine Ruhe haben möchte«, urteilte der seltsame Fremde am anderen Ende der Leitung, ehe er fortfuhr: »Feuerholz ist mehr als ausreichend vor Ort. Und keine Sorge, wenn Ihre Mietzeit rum ist, holen wir Sie notfalls mit dem Schneemobil raus. « Er lachte rau. Offenbar hatte er schon wieder vergessen, dass genau dieses Gefährt doch kaputt war. Geschäftig bat er dann: »Darf ich nochmal Ihren Namen und Ihre Anschrift haben? Und was die Liste angeht, die können Sie mir gerne bis übermorgen mailen. Wir kümmern uns dann um alles, damit Sie’s auch nett im „Talblick“ haben.«

Marek gab die gewünschten Daten durch. Als er aufgelegt hatte, hielt er den Zeitungsausschnitt, den er in Kais Schublade gefunden hatte, nachdenklich in der Hand. Was für ein seltsamer Zufall, dass er ausgerechnet mit diesem Anruf endlich Glück gehabt hatte. Nun standen seinen einsamen Weihnachten nichts mehr im Wege.

3. Kapitel – Die Ankunft

Trotz Navi war das Dorf gar nicht so leicht zu finden gewesen. Marek war froh, als er endlich das Ortsschild entdeckte. Die Scheibenwischer bemühten sich redlich, die stetig fallenden Schneeflocken aus seinem Sichtfeld zu schaufeln, aber stellenweise schienen sie ächzen zu wollen, dass sie derartige Mengen einfach nicht gewohnt waren und lieber wieder zurück in die wärmere Stadt wollten. Marek gönnte ihnen die bevorstehende lange Pause ebenso sehr wie sich selbst, als er das Auto auf dem beschriebenen Parkplatz abstellte. Ein anderes Auto stand bereits dort: der angekündigte alte Volvo, in dem sein Vermieter mit laufendem Motor auf ihn wartete, um Marek die Hüttenschlüssel zu übergeben. Als er ausstieg, erkannte Marek einen Mann um die siebzig, der in einen dicken Wintermantel gehüllt war, und dessen weißes Haar unter einer Pelzmütze hervorlugte. Die Augen des Mannes wirkten forschend, und er lächelte verhalten, als Marek ihm die Hand zur Begrüßung reichte.

»Hallo Herr Baumbach, ich bin Marek Schönen.«

»Na, das denke ich mir doch!«, brummte der alte Mann. Marek stellte fest, dass die Stimme seines Vermieters auch in echt so rau klang, wie am Telefon, als der anfügte: »Wer sonst sollte um die vereinbarte Zeit hier auftauchen? Ich muss wohl dazu sagen, dass der einzig begehbare Weg, den Berg rauf, ein Privatweg ist und zu meinem Land gehört. Sie können also davon ausgehen, dass Sie keinen Besuch von Wanderern bekommen werden. Es sei denn, die sind des Lesens nicht mächtig, denn die Androhung von Bußgeldern musste ich dann doch mal anbringen lassen. Nur Sie lassen sich davon bitte nicht beeindrucken. Das alles ist jetzt eine Woche lang allein Ihr Reich.«

»Das klingt gut. Und ich habe vor, das voll und ganz zu nutzen«, sagte Marek mit einem leichten Lächeln und entschiedener Stimme. Nichts würde ihn jetzt noch davon abhalten, den Berg zu erklimmen und für die vereinbarte Zeit in die Hütte einzuziehen.

»Das Geld ist gestern auf meinem Konto eingegangen. Alles bestens also. Die Einkäufe sind wie gewünscht erledigt und bereits verstaut. Ich denke, Sie werden alles auf Anhieb finden. Und falls Sie doch etwas vermissen, haben Sie heute noch einmal Gelegenheit, meinem Sohn das mitzuteilen. Florian wird Sie gegen frühen Nachmittag aufsuchen, um zwei Dachpfannen zu erneuern. Der Schaden ist gestern erst entstanden.«

»Oh. Gestern erst? Wie schlimm ist es denn?«

»Also, um ehrlich zu sein, ich selbst weiß es nicht. Flori und Karl vom Supermarkt haben es gesehen, als sie gestern Ihre Bestellung hochbrachten. Flori hat mir dann davon erzählt. Muss eine seltsame Sache gewesen sein. Die Schindeln fegten plötzlich vom Dach, obwohl kaum Wind war. Sind regelrecht im hohen Bogen runtergefallen. Er hat behauptet, das sah fast so aus, als hätte ein Geist sie runtergeworfen. Er hat viel Fantasie, mein Florian.«

»Hört sich fast so an …«, sagte Marek ein wenig unbehaglich. Er wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Der alte Mann schien jedoch sein leichtes Schaudern nicht zu bemerken.

»Na ja, auf jeden Fall hat Flori die Stelle provisorisch abgedeckt und dann sofort nachgesehen, ob in der Hütte alles trocken geblieben ist. Und ja, da ist alles in Ordnung, sagt er. Aber damit es so bleibt, müssen die Dachpfannen natürlich so schnell wie möglich erneuert werden. Er wird die mitbringen und draufmachen. Das geht ruckzuck, dann haben Sie endlich Ihre ersehnte Ruhe. Ich hoffe, Sie verstehen, dass wir Sie aber vorher nochmal stören müssen.«

»Natürlich, das verstehe ich. Die Reparatur geht vor.« Marek entschied, die eigenartige Geschichte nicht so ernst zu nehmen. Wer wusste schon, was diese Dorfleute sich so einfallen ließen, um die Zeit totzuschlagen.

»Wenn Sie in der Hütte sind, zünden Sie den Kamin an, dann wird es schnell warm und behaglich. Mein Sohn kommt wie gesagt kurz noch vorbei, dann ist alles erledigt.«

»In Ordnung. Gegen Nachmittag also?«

»Sobald er die Bücherei geschlossen hat, wird er sich auf den Weg machen.«

»Dann ist er der Bibliothekar des Dorfes?«

»Richtig. Aber keine Sorge, er ist nicht nur ein Bücherwurm, sondern auch handwerklich begabt. Sobald er die Dachpfannen erneut hat, wird er sie der gewünschten Ruhe überlassen. Sollten Sie jedoch noch Wünsche haben, dann teilen Sie Flori das bitte mit, und er wird sich darum kümmern.«

»Danke, das werde ich tun.«

»Gut, gut. Kommen Sie mit Ihrem Gepäck wirklich zurecht? Ich könnte Ihnen noch helfen, es hinauf zu tragen.«

»Nein danke, das geht schon. Vorausgesetzt, ich finde die Hütte.«

Der alte Mann lachte. »Die können Sie gar nicht verfehlen. Bleiben Sie nur einfach immer auf dem Weg. Das ist schon deshalb zu empfehlen, weil Sie sonst wieder im Dorf landen könnten – und zwar im Flug, falls Sie den Berg runterfallen.

---ENDE DER LESEPROBE---