Vom Zarenpalast zu Coco Chanel - Gunna Wendt - E-Book

Vom Zarenpalast zu Coco Chanel E-Book

Gunna Wendt

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Beschreibung

Großfürstin Maria Pawlowna Romanowa (1890–1958) war eine ungewöhnlich kluge und eigensinnige Frau. Ihr rastloses Leben führte sie aus dem Zarenpalast quer durch Europa bis nach New York – ihre Ruhestätte fand sie auf der Insel Mainau, die ihr Sohn Graf Lennart von Bernadotte in ein Blumenparadies verwandelt hatte. In jungen Jahren wurde die junge russische Aristokratin mit dem schwedischen Prinzen Wilhelm verheiratet. Nach fünf Jahren verließ sie ihn wieder – und löste einen Skandal aus. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie als Krankenschwester an der deutsch-russischen Front; durch die Oktoberrevolution ins Exil gezwungen, gelangte sie nach Paris, wo sie für ihre Freundin Coco Chanel als Designerin arbeitete. Sie war Modeberaterin, Reisefotografin und Autorin von Memoiren, die in den USA zum Bestseller avancierten. Die Biografie einer vielseitigen Frau, die ihrer Zeit voraus war – von der Erfolgsautorin Gunna Wendt.

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Großfürstin Maria Pawlowna Romanowa (1890-1958) war eine ungewöhnlich kluge und eigensinnige Frau. Ihr rastloses Leben führte sie aus dem Zarenpalast quer durch Europa bis nach New York – ihre Ruhestätte fand sie auf der Insel Mainau, die ihr Sohn Graf Lennart Bernadotte in ein Blumenparadies verwandelt hatte.

 In jungen Jahren wurde die junge russische Aristokratin mit dem schwedischen Prinzen Wilhelm verheiratet. Nach fünf Jahren verließ sie ihn wieder – und löste einen Skandal aus. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie als Krankenschwester an der deutsch-russischen Front; durch die Oktoberrevolution ins Exil gezwungen, gelangte sie nach Paris, wo sie für ihre Freundin Coco Chanel als Designerin tätig war. Sie war Modeberaterin, Reisefotografin und Autorin von Memoiren, die in den USA zum Bestseller avancierten.

Gunna Wendt, geboren 1953 in Jeinsen bei Hannover, studierte Soziologie und Psychologie in Hannover und lebt seit 1981 als freie Schriftstellerin und Ausstellungsmacherin in München. Zuletzt erschien von ihr im insel taschenbuch Lou Andreas-Salomé und Rilke

Gunna Wendt

Vom Zarenpalast zu Coco Chanel

Das Leben der Großfürstin

eBook Insel Verlag Berlin 2013

© Insel Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: bürosüd, München

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Eine Großfürstin wird geboren

Kapitel 2

Ein Zar als Großvater

Kapitel 3

Einsame Kindheit im Kreml

Kapitel 4

Der geteilte Vater

Kapitel 5

Erziehung einer Großfürstin

Kapitel 6

Eine französisch-schwedische Karriere – die Gründung des Hauses Bernadotte

Kapitel 7

Geliebter Willy

Kapitel 8

Als kaiserliche Hoheit am schwedischen Königshof

Kapitel 9

Lennart, der kleine Prinz

Kapitel 10

Liebesversuche

Kapitel 11

Abenteuerliche Flucht vor einem Guru

Kapitel 12

Auf der Suche nach Sinn

Kapitel 13

In schlimmer Zeit am richtigen Ort

Kapitel 14

Zu »retroaktiver Trauer« verurteilt

Kapitel 15

Maria und Coco

Kapitel 16

Aufbruch in die »Neue Welt«

Kapitel 17

Der wiedergefundene Sohn

Stammbaum

Quellen und weiterführende Literatur

Prolog

Auf der Blumeninsel Mainau im Bodensee hat gerade die Saison begonnen. Die Frühlingsstraße mit ihren unzähligen bunten Tulpen steht in voller Blütenpracht. Im Palmenhaus ist die Orchideenschau zu sehen. Ich besuche Gräfin Birgitta Bernadotte, die älteste Tochter aus der ersten Ehe des Inselgründers Graf Lennart Bernadotte, um mit ihr über ihre Großmutter Maria Pawlowna zu sprechen.

»Sie war eine wirkliche Großfürstin«, erinnert sich Gräfin Birgitta und scheint bis heute darüber erstaunt: »Immer war sie die Großfürstin, sogar, wenn sie arbeitete, und das tat sie ständig.« Kaum angekommen im Schloss, habe sie sich im Kaminzimmer ihren Nähplatz eingerichtet, so als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt.

Das Kaminzimmer im zweiten Stock des Nordflügels, in dem die Privaträume der gräflichen Familie liegen, diente von jeher dem zwanglosen Zusammensein in kleiner Runde. Vor allem am späten Nachmittag oder Abend traf sich dort die Familie Bernadotte, manchmal wurden Freunde eingeladen. Es war ein Ort der Ruhe und Entspannung, doch darauf nahm Maria Pawlowna keine Rücksicht. Wenn sie anwesend war, beanspruchte sie jegliche Aufmerksamkeit für sich. »So klein sie war, sie stand immer im Mittelpunkt«, berichtet Gräfin Birgitta.

Sie und ihre drei jüngeren Geschwister waren als Kinder nicht gerade begeistert, wenn sie hörten, dass sich ihre Großmutter angekündigt hatte. Denn dann war es vorbei mit der freien Erziehung, die sie aus Schweden gewöhnt waren. Die Mädchen durften nicht mehr in Hosen zum Essen erscheinen und mussten zur Begrüßung einen tiefen Knicks machen. Doch mit diesen »Hofmanieren« arrangierten sich die Geschwister schnell und parodierten sie. Genau wie die Angewohnheit Maria Pawlownas, sich bei den Mahlzeiten immer den Teller vollzuladen, um schließlich weniger als die Hälfte zu verspeisen. So etwas hatte in ihren Kreisen einst als vornehm gegolten. Für ihre Enkel war es am schlimmsten, dass die Großmutter überhaupt kein Verständnis für sie aufbrachte. Sie nahm sie nicht ernst, machte sich sogar über sie lustig. »Wir waren ihr lästig. Ja, ich glaube wirklich, sie hat Kinder gehasst«, so Gräfin Birgitta, »immer hat sie auf uns herumgehackt. Wir hatten zeitweise regelrecht Angst vor ihr.«

Auch Maria Pawlownas Sohn, der Schlossherr Graf Lennart Bernadotte, sah den Besuchen seiner Mutter mit gemischten Gefühlen entgegen. Lange Zeit hatte er ihr nicht verzeihen können, dass sie ihn als kleines Kind verlassen hatte. 1913 war sie vom schwedischen Königshof geflohen, hatte sich von ihrem Ehemann Prinz Wilhelm von Schweden nach fünfjähriger Ehe getrennt und ihren vierjährigen Sohn aufgegeben. Erst Anfang der 1940er Jahre näherten sich die beiden wieder einander an, doch er betrachtete sie nie als Mutter, sondern eher als entfernte Verwandte, für die er sich verantwortlich fühlte. Sie lebte damals in Argentinien, hatte wenig Geld, und Lennart Bernadotte unterstützte sie finanziell, gemeinsam mit seinem Großvater, König Gustaf V. von Schweden. Mindestens einmal im Jahr lud er sie auf die Mainau ein. »Ihre Koffer und Handtaschen füllten ein ganzes Auto. Es fehlten weder eine Nähmaschine noch Malutensilien und die Schreibmaschine, und mindestens zwei Kameras mit unterschiedlichen Negativformaten und mit dazugehöriger Optik waren immer dabei. Ein Dutzend Bücher auf Englisch und Französisch lagen auf dem Nachttisch und anderswo herum, und sie lebte in einer steten künstlerischen Unordnung, aus welcher sie jedoch immer mit unfehlbarer Sicherheit herausfand, was sie suchte«, berichtet Lennart Bernadotte in seiner Autobiografie.

Maria Pawlowna legte viel Wert auf gute Kleidung, entwarf und nähte alles selbst. Dazu brachte sie Stoffe, Muster, Entwürfe und Skizzen mit und verwandelte einen Teil des Kaminzimmers in kürzester Zeit in ein Schneideratelier. Dort traf sie auf optimale Arbeitsmöglichkeiten: viel Platz, gutes Licht und – meistens – gute Gesellschaft. Ohne Arbeit konnte sie nicht sein. Wenn sie nicht nähte, malte sie. Überall im Schloss hängen ihre Bilder: vorwiegend Landschaftsaquarelle, die von einer großen künstlerischen Begabung zeugen.

Im Nachhinein sieht Gräfin Birgitta ihre Großmutter als durch und durch widersprüchliche Persönlichkeit. Einerseits trauerte Maria Pawlowna alten Zeiten nach und versuchte, diese durch aristokratische Sitten zu konservieren – kamen Gäste ins Schloss, hielt sie regelrecht Hof –, andererseits stand sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden. »Wäre sie nicht so tief im Leben verwurzelt gewesen, hätte sie es wohl auch nicht geschafft, sich durchzubeißen.« Eine Großfürstin, die sich nicht zu schade zum Arbeiten war – in Gräfin Birgittas Erzählung schwingt jetzt Bewunderung mit. Viel Energie habe Maria Pawlowna gehabt und sei gleichzeitig vom Leben gezeichnet gewesen. Immer habe man ihre Rastlosigkeit gespürt, die dazu führte, dass sie sich nirgendwo zu Hause fühlte. Oder war es umgekehrt: War sie so rastlos, weil sie kein Zuhausegefühl kannte? Dabei habe sie jedoch nicht unglücklich gewirkt, sondern sei von der Grundstimmung eher fröhlich, manchmal sogar ausgesprochen lustig gewesen.

Eigenartige Freundinnen und Freunde habe ihre Großmutter gehabt, erzählt Gräfin Birgitta: eine griechische Prinzessin sei darunter gewesen und einige sehr religiöse Russen. Maria Pawlowna selbst habe zwar immer eine Reise-Ikone im Gepäck gehabt, die sie in ihrem Zimmer aufstellte, aber das sei das Einzige gewesen, das auf ihren Glauben schließen ließ. Doch sei sie immer froh gewesen, wenn sie Russisch sprechen konnte.

Mit ihren Verwandten auf der Mainau verständigte sie sich auf Schwedisch. Von den Enkeln wurde sie »farmur« (schwedisch: Großmutter väterlicherseits), von ihrem Sohn »Marie« genannt. Zu seiner Verwunderung kannte sie sich mit den Sitten in Schweden sehr gut aus, obwohl sie nur wenige Jahre dort gelebt hatte. Manchmal trug sie sogar ihre schwedische Tracht – als Ehefrau Prinz Wilhelms war sie auch Herzogin von Södermanland gewesen. »Aber letztlich passten das Russische und das Schwedische einfach nicht zusammen«, resümiert Gräfin Birgitta, blickt zur Wand auf das Porträt Prinz Wilhelms und richtet das Wort an ihn: »Nicht wahr, Großvater, ich lüge nicht!«

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Maria Pawlowna in Konstanz, wo sie 1958 starb. Gräfin Birgitta berichtet, die Großmutter sei zum Schluss immer mehr in die Vergangenheit eingetaucht. Ihre Gedanken hätten sich nur noch um den Menschen gedreht, den sie am meisten geliebt hatte: um Dmitri, ihren jüngeren Bruder. Er war bereits 1942 in Davos verstorben. Nach dem Tod seiner Schwester wurden seine sterblichen Überreste auf die Mainau gebracht, wo er neben ihr in der Schlosskirche St. Marien seine letzte Ruhestätte fand.

Kapitel 1

Eine Großfürstin wird geboren

»Mein erstes ›öffentliches Auftreten‹ geschah, wie man mir erzählt hat, in einer goldenen, von sechs weißen Pferden gezogenen Kutsche, die berittene Husaren in roter Uniform begleiteten. So fuhr ich ins Winterpalais zu meiner Taufe«, heißt es in Maria Pawlownas Memoiren Education of a Princess. Sie wurde am 6. April (nach russischer Zeitrechnung) 1890 in Sankt Petersburg geboren – später feierte sie ihren Geburtstag am 19. April. Ihre Eltern, Großfürst Paul Alexandrowitsch und seine Ehefrau Alexandra, Prinzessin von Griechenland und Dänemark, teilten dem Zar umgehend das freudige Ereignis mit. Nachdem er Marias Namen ins Stammbuch eingetragen hatte, war ihre Zugehörigkeit zur Zarenfamilie besiegelt. Paul Alexandrowitsch war der jüngere Bruder des amtierenden Zaren Alexander III. Er war 1860 als sechster Sohn Alexanders II. geboren worden, würde also niemals eine Rolle in der Thronfolge spielen. Ihm wurde die übliche Erziehung für Großfürsten zuteil, in deren Zentrum die militärische Ausbildung stand. Er war beliebt bei seinen Verwandten. Sein Cousin, Großfürst Alexander Michailowitsch, schreibt in seinen Memoiren: »Er war der schönste aus der Familie, tanzte gut, wurde von den Frauen bewundert und wirkte sehr attraktiv in seiner Uniform, die ihm auf den Leib geschnitten zu sein schien.« Maria Pawlowna schwärmt: »Er war unendlich reizvoll. Jedes Wort, jede Bewegung, jede Geste war vornehm. Wer mit ihm in Berührung kam, fühlte sich von ihm angezogen.«

Die Geburt einer neuen Großfürstin war in Russland ein Ereignis von großer Bedeutung. Dementsprechend war die öffentliche Aufmerksamkeit: Zwei Wochen lang protokollierte man täglich den Gesundheitszustand von Mutter und Kind im Regierungsboten. Sogar auf der Titelseite des Blattes konnten die Leser sich über das Befinden von beiden informieren – bis hin zu Pulswerten und Körpertemperatur. Genau einen Monat später wurde die Taufe nach orthodoxem Ritus prunkvoll in der kaiserlichen Hofkirche des Winterpalastes gefeiert. Um die Zugehörigkeit der neuen Erdenbürgerin zur Romanow-Dynastie zu unterstreichen, wurde ihr von ihrer Taufpatin, der Zarin, der Katharinenorden verliehen. Die männlichen Großfürsten erhielten bei der Taufe den Andreasorden; beide Orden wurden bei allen offiziellen Anlässen getragen.

An der feierlichen Taufprozession durch Sankt Petersburg nahm die gesamte Zarenfamilie teil, jeder hatte seinen festen Platz, abhängig vom jeweiligen Rang. Der Zar zeigte sich als autokratischer Herrscher, demonstrierte seine enge Verbindung zur Kirche, manifestierte seine Herrschaft als gottgewollt.

Ansonsten waren in jenen Jahren öffentliche Auftritte der Zarenfamilie eher selten. Der regierende Zar Alexander III. scheute seit dem Attentat auf seinen Vater Alexander II. im Jahr 1881 die Öffentlichkeit. Schon seit langem war die autokratische Herrschaft der Romanows Kritik und Widerstand ausgesetzt, angefangen vom Dekabristenaufstand, der 1825 von Zar Nikolaus I. blutig niedergeschlagen wurde. Unter den Professoren und Studenten, aber auch unter den jungen Offizieren herrschte Aufbruchstimmung. Doch je heftiger die Forderungen nach Einführung einer konstitutionellen Monarchie wurden, desto stärker wurde das autoritäre System verfestigt. Mit Hilfe eines rigiden Überwachungsapparates und verschärfter Zensur sollten oppositionelle Bestrebungen im Keim erstickt werden. Nikolaus I. hatte damals nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Künstler und Dichter, darunter Alexander Puschkin, Nikolaj Gogol und Michail Lermontow überwachen lassen. Nachdem in Frankreich die Republik ausgerufen worden war, fürchtete der Zar, dass sich auch in seinem Reich viele einflussreiche Intellektuelle für diese Staatsform stark machen würden.

Es rumorte im russischen Volk, die Rolle des Herrschers und vor allem die Privilegien seiner Familienmitglieder und die Erbfolge wurden in Frage gestellt. Die Kluft zum Volk schien unüberwindbar. Umso wichtiger waren Anlässe wie diese Taufe. Hier konnte sich die Dynastie als großzügige Gastgeberin präsentieren und mit den Untertanen gemeinsam feiern. Die ganze Stadt war hell erleuchtet und festlich geschmückt.

»Große Inszenierung« stand von Anfang an leitmotivisch über dem Leben Maria Pawlownas. Das Entrée hat sie zwar noch nicht bewusst erlebt, doch es wurde ihr so oft geschildert, dass sie den Eindruck gewann, alles selbst gesehen und gehört zu haben: den Taufzug durch die Stadt, die Zeremonie, die nach orthodoxem Ritus ohne ihre Eltern stattfand, das Te deum laudamus, das der Hofchor zum Abschluss sang.

Eine großfürstliche Existenz war ihr bestimmt, geprägt von Verpflichtungen und Reglementierungen, ihre Lebensaufgabe sollte Repräsentation sein. Ein Leben mit zahllosen Privilegien, schließlich war sie in eine der reichsten Herrscherfamilien des 19. Jahrhunderts hineingeboren worden. Damals umfasste der engere Familienkreis mehr als fünfzig Personen und wuchs ständig. Rechtlich war die Dynastie unabhängig und ignorierte die allgemeingültigen Gesetze. Das einzige Gesetz, dem sie sich unterwarfen, war das Romanow'sche Familienstatut. Es bestimmte über Volljährigkeit, Ehe, Scheidung, Erbschaft. Die Mitglieder des Herrscherhauses unterstanden einzig ihrem gesetzlichen Oberhaupt, dem Zaren. Er war Vormund und Beschützer und beanspruchte Gehorsam, Ehrerbietung und Ergebenheit. Der Zar wollte seine Familie unter Kontrolle haben und Rivalitätskämpfe vermeiden. So verlangte er von den männlichen Dynastiemitgliedern, sobald sie volljährig waren, ein Loyalitätsbekenntnis, um seine Macht zu verfestigen.

Kapitel 2

Ein Zar als Großvater

Im Mainauer Schlossarchiv befindet sich eine Reihe von großformatigen Gemälden aus Russland, darunter ein Porträt des jungen Alexander II. Es zeigt einen kleinen Buben mit einem riesigen Gewehr. Die Waffe, die er in seinen Händen hält, scheint viel zu schwer für ihn zu sein, und – was noch auffälliger ist – er hält sie ohne Leidenschaft und Begeisterung. Er wirkt auf sonderbare Weise uninteressiert an der Waffe, die beinahe so groß ist wie er. Es scheint, als wäre sie ihm anvertraut mit der Anweisung, gut darauf aufzupassen und sie nicht fallen zu lassen. Von frühester Kindheit an war der Auftrag größer als der Mensch, dem er erteilt worden war. Und vor allem, es war ein Auftrag, der dem Wesen des Kindes so gar nicht entsprach und dennoch schicksalhaft wurde.

Alexander II. wurde 1818 als ältester Sohn Nikolaus' I. geboren. Er war damit Thronfolger. Seine Erziehung diente ausschließlich der Vorbereitung auf dieses Amt. Bereits im Dezember 1825 war dem Siebenjährigen mitgeteilt worden, dass er von nun an der Zarewitsch sei. Der kleine Junge, der gerade seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Malen, nachging, wurde plötzlich durch Schüsse aus seiner kindlichen Versunkenheit herausgerissen und von einem Offizier in den Winterpalast gebracht, wo seine Mutter Alexandra Fjodorowna (Charlotte von Preußen) ihn erwartete. Der Kleine wusste nicht, wie ihm geschah, als ihm der Andreasorden umgehängt und er mit dem Zeichen des Kreuzes gesegnet wurde. Schließlich erschien sein Vater, ein großer grimmiger Mann, dessen Erscheinung schon Furcht einflößte, und berichtete, dass der Dekabristenaufstand nach kurzem Gefecht auf dem Platz des Senats niedergeschlagen worden sei. Dem Zarewitsch wurde eine Husarenuniform angezogen, dann präsentierte man ihn dem Gardebataillon als neuen Thronerben.

Der kleine Alexander fürchtete seinen Vater und liebte seine Mutter. Die beiden waren in ihrem Wesen grundverschieden: Der Vater war autoritär, hartherzig und arrogant, die Mutter schwärmerisch, großzügig und lebenslustig. Zunächst hatte sie auf die Erziehung des Sohnes wenig Einfluss. Als er sechs Jahre alt war, wurde diese Hauptmann Merder übertragen, der den Jungen auf seine spätere Aufgabe vorbereiten sollte. Mut, Disziplin, Kampfgeist bildeten die Pfeiler der Ausbildung. Von nun an waren die Geschenke, die Alexander zu Geburtstagen und anderen Festlichkeiten erhielt, Waffen: Gewehre, Säbel, Pistolentaschen. Doch Alexander war ein empfindsames, zur Nervosität und Träumerei neigendes Kind, das sehr oft in Tränen ausbrach. So auch damals, als ihm sein Vater mitteilte, dass er nun der Thronfolger sei, und er schwören musste, dieses geheim zu halten und niemandem davon zu erzählen. Allein die ernsten Gesichter der anderen Familienmitglieder hatten ihn zum Weinen gebracht. Er war überfordert und ließ seinen Emotionen freien Lauf – ein Verhalten, das er als Erwachsener beibehalten sollte.

Seine Mutter setzte sich schließlich mit ihrer Auffassung durch, dass eine rein militärische Ausbildung nicht ausreichte, um sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. Sie beeinflusste ihren Mann dahingehend, Wassili Schukowskij, den berühmten Dichter und Übersetzer, zur Erziehung ihres Sohnes hinzuzuziehen. Der damals dreiundvierzigjährige Schukowskij war der Sohn einer Sklavin und eines Gutsbesitzers. Sein Patenonkel, ein benachbarter Gutsbesitzer, adoptierte ihn und ließ ihm in Moskau eine hervorragende Ausbildung zukommen. Er gilt als Begründer der russischen Romantik, von dem sich Puschkin anregen ließ.

Noch vor Alexanders Geburt hat Schukowskij dem Kind eine Ode gewidmet, in der es hieß »Stets wisse, dass bei deiner hohen Sendung / des Menschen Würde ist das höchste Gut … / das eigene Wohl vergiss für das der andern.« Daran knüpften die Gedanken an, die er später seinem Schüler mit auf den Weg gab: »Sei überzeugt, dass die Macht des Zaren von Gott stammt, aber dein Glaube daran soll so sein wie der von Marc Aurel. Auch Iwan der Schreckliche war dieser Überzeugung, aber er machte eine mörderische Verhöhnung Gottes und der Menschen daraus. Achte das Gesetz und bring den anderen durch dein Vorbild bei, es ebenfalls zu achten. Lerne die Bildung schätzen und trage zu ihrer Verbreitung bei. Achte auf die öffentliche Meinung. Wenn der Zar die Freiheit liebt, werden seine Untertanen den Gehorsam lieben. Die wahre Macht eines Herrschers beruht nicht auf der Menge seiner Soldaten, sondern auf dem Wohlergehen seines Volkes.« Schukowskij erarbeitete für seinen Zögling einen Lehrplan, wählte die Fächer und suchte die besten Lehrer aus. Alexander erhielt eine so umfangreiche und vielseitige Ausbildung, wie sie selbst in Herrscherkreisen unüblich war.

Sein Vater bestand allerdings darauf, dass Alexander mit elf Jahren in die Kadettenschule eintrat, wo er zunächst zum einfachen Soldaten, dann zum Unteroffizier ausgebildet wurde. Alexander beugte sich zwar dem Drill, genoss sogar die Begleiterscheinungen, die Orden, Tressen, kleidsamen Uniformen, doch die eigentliche militärische Ausbildung interessierte ihn überhaupt nicht. Er blieb sensibel, weichherzig, träumerisch.

Im Alter von achtzehn Jahren wurde er, zusammen mit seinem Lehrer, auf eine ausgedehnte Reise durch Russland geschickt. Er sollte das Land kennenlernen, das er einmal regieren würde: dreißig Provinzen innerhalb von sechs Monaten. Dass es sehr anstrengend werden würde, war vom Vater beabsichtigt. Er hoffte, den Sohn dadurch aus seinem Phlegma herauszureißen, das er mit Sorge konstatierte. Alexander bestand die Prüfung und war damit der erste Romanow, der Sibirien bereiste. Zurück in Sankt Petersburg zeigten sich Spuren der Strapazen. Er war erschöpft und litt an Hustenanfällen. Eine Kur in Bad Ems sollte nicht nur Heilung bringen: Ein längerer Aufenthalt in Deutschland bot zugleich die Chance, nach einer standesgemäßen Braut zu suchen, denn in den dortigen Fürstenhäusern gab es einige heiratsfähige junge Frauen. Alexander führte eine Liste potentieller Kandidatinnen mit sich, die die Sankt Petersburger Hofkanzlei für ihn zusammengestellt hatte. Bei einer Theatereinladung Großherzog Ludwigs II. von Hessen-Darmstadt lernte er dessen Tochter Marie kennen. Sie war fünfzehn Jahre alt, zart und blass. Obwohl sie gar nicht auf der Liste stand, entschied er sich sofort für sie. Am 4. April 1840 fand die Verlobung, ein Jahr später, am 16. April 1841, die Hochzeit statt. Aus Prinzessin Marie von Hessen-Darmstadt wurde Zarin Maria Alexandrowna. Schon im ersten Ehejahr wurde sie schwanger. Sie würde in den kommenden Jahren acht Kinder zur Welt bringen. Maria Pawlownas Vater Paul Alexandrowitsch war das jüngste und wurde 1860 geboren.

Nach seiner Heirat wurde Alexander zunehmend in Regierungsangelegenheiten einbezogen, wobei sich schnell herausstellte, dass er oftmals anderer Auffassung war als sein Vater. Nikolaus regierte mit eiserner Hand. Einschüchterung durch Machtdemonstration und präventive harte Strafen gehörten zu seinen bevorzugten Praktiken. Als Alexander II. schließlich seine Nachfolge antrat, bedeutete das ein schwieriges Erbe für den Siebenunddreißigjährigen: Russland befand sich im Krieg mit der Türkei und hatte eine starke europäische Koalition gegen sich. Gleichzeitig spitzte sich die innenpolitische Lage zu, das Zarentum war in einer Krise. Doch nach dem Tod seines Vaters blieb Alexander zunächst nichts anderes übrig, als das Versprechen zu erfüllen, das ihm der Vater abgefordert hatte, »alles zusammenzuhalten« und den Krieg gegen die Türkei weiterzuführen. Die russische Armee war schlecht ausgerüstet, hatte die Donau-Fürstentümer aufgeben müssen, die Krim stand unter Beschuss der Koalition aus Franzosen und Engländern. Erst nachdem Sewastopol gefallen war, ließ sich Alexander auf Friedensverhandlungen ein. Der Friedensvertrag, der am 30. März 1856 in Paris geschlossen wurde, bedeutete für Russland die militärische Niederlage.

Innenpolitisch hatte sich Alexander von Anfang an neue Ziele gesetzt: Er wollte das Vertrauen der Intellektuellen gewinnen. Die Zahl der Studenten an den Universitäten sollte nicht länger beschränkt sein, außerdem sollten sie wieder ins Ausland reisen dürfen, um sich weiterzubilden. Er lockerte die Zensur. Nun durften unter anderem auch die Werke Nikolaj Gogols, die unter Nikolaus verboten waren, wieder gedruckt werden.

Die umfassendste Reform jedoch, die Alexander umsetzen wollte, war die Abschaffung der Leibeigenschaft, die er als nicht mehr zeitgemäß und vor allem als unmenschlich empfand. Russland hatte damals 61 Millionen Einwohner, 50 Millionen waren leibeigene Bauern, etwas über die Hälfte davon gehörten der Krone, die anderen kleineren und größeren Grundbesitzern. Bereits in den ersten Wochen seiner Regierungszeit hatte Alexander in Moskau russischen Adeligen erklärt, dass das Problem der Leibeigenschaft nur von oben und sofort zu lösen sei. Er forderte die Adeligen zur Kooperation auf. Doch nur wenige erklärten sich bereit, auf ihre Privilegien zu verzichten. Dennoch ließ er sich nicht entmutigen, und am 19. Februar 1861 war es endlich so weit: Alexander II. unterschrieb das Statut, das die Leibeigenschaft aufhob. Das Volk feierte ihn mit Kundgebungen und Straßenfesten als Befreierzar. Die Freude hielt nicht lange an. Sie endete, als die Leibeigenen erfuhren, dass es eine zweijährige Übergangszeit geben würde. Um die Befreiung zu realisieren, waren neue Organisationsformen notwendig: Friedensrichter wurden zur Vermittlung zwischen Großgrundbesitzern und Leibeigenen eingesetzt. In den Provinzen wurden Semstwos, lokale Selbstverwaltungsgremien, installiert, in denen alle gesellschaftlichen Schichten vertreten waren. Diese Gremien fanden in den Dumas der Städte ihre Entsprechung.

Alexander führte sein Reformwerk kontinuierlich fort, setzte auf Dialog und Offenheit, stellte sogar Regierungsentscheidungen zur Diskussion. Er baute das Eisenbahnnetz aus, gründete neue Gymnasien, auch für Mädchen, und ermöglichte Frauen die Lehrerinnenausbildung. Die Künste – Malerei, Musik, Literatur – erfuhren einen Aufschwung: So erschienen in der Jahren seiner Regentschaft die Romane Dostojewskis, Tolstojs und Turgenjews. Im Zuge der Abschaffung der Leibeigenschaft waren Reformen der Verwaltung und der Rechtsprechung notwendig geworden. Letztere sollte »rasch, barmherzig und für alle gleich« sein, und so entstanden Gesetze, die damals zu den modernsten in Europa gehörten.

Doch seine humanitären Leistungen wurden nicht von allen geachtet. Am 4. April 1866 musste Alexander erstmals am eigenen Leib erfahren, wie groß der Hass und die Entschlossenheit seiner Gegner sein konnten. Auf dem Rückweg von seinem täglichen Spaziergang im Sommergarten trat ihm plötzlich ein Mann entgegen und richtete eine Pistole auf ihn. Glücklicherweise warf sich ein Bauer dazwischen, so dass der Schuss abgefälscht wurde und sein Ziel verfehlte. Bei dem Attentäter handelte es sich um einen Studenten, der einem der Geheimbünde angehörte, die sich mittlerweile wieder im Umkreis der Universitäten gebildet hatten.

Es war eine schwere Zeit für Alexander, auch privat. Schon seit längerem bestand die Ehe mit Maria Alexandrowna, die so vielversprechend begonnen hatte, nur noch auf dem Papier. Das Leben am Hof mit seinen Repräsentationspflichten empfand die aus Hessen stammende Herrscherin als genauso anstrengend wie das feuchtkalte Klima Sankt Petersburgs. Sie wirkte erschöpft und früh gealtert. Als Deutsche auf dem Zarenthron bemühte sich Maria Alexandrowna – wie viele ihrer Vorgängerinnen –, russischer als die Russinnen zu sein und vertrat konservative Werte.