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Jedes Buch, das Sie lesen, lieber Leser, ist auch eine geladene Waffe, eine Stellungnahme, eine politische Äußerung, mit der Sie sich offenbaren (…) Wissen Sie, ob Ihre Nachbarn lesen? Was sie lesen? Wissen Ihre Nachbarn, dass Sie ein Bücherleser sind? Dass Sie im eigenen Hause Flüchtlinge und Andersdenkende verstecken? Hat es bei Ihnen gerade geklopft? Nach der Flucht aus seiner traumatisierenden Karriere als Lehrer an einer ideologisierten Gesamtschule erhält Paul Krieger eine zweite Berufschance als Dozent an einer Hochschule, wo er mit seinem französischen Kollegen Michel, der kein erotisches Abenteuer auslässt, zunächst in den Palästen der Literatur schwelgt, bevor er Vertretungsprofessuren antritt und den Leser auf skurrile Kongressreisen nach Kanada, Afrika und Indien mitnimmt. In der Heilanstalt von Davos auf dem Zauberberg leidet er unter Alpträumen von einem Tölpelprofessor, lernt einen Seelenzergliederer kennen, führt ein Zwiegespräch mit seinem Alter Ego, dem anderen, der seiner Frau nachstellt, erlebt eine Rebellion der Tiere vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte und begegnet dem Pariser Mediziner Paul Broca, der durch die Vermessung des Schädelvolumens versucht, die Überlegenheit der weißen Rasse zu beweisen. – An seinem Schreibtisch schließlich sucht Paul Schutz vor den Weltvernichtern, denn die Humanität schmilzt wie die Butter in der syrischen Sonne. Manfred Overmann gelingt nach der humorvollen Darstellung seines ironisch-absurden Porträts deutscher Lehranstalten in seinem zweiten Roman in einem spitzzüngigen Dialog mit dem Leser eine philosophisch-pädagogische Gesellschaftskritik, die vermeintliche Wahrheiten, auch in historischer Perspektive, in Frage stellt und den Leser zur Stellungnahme und Handlung auffordert: Ein Vielleser ist gesellschaftlich nicht ungefährlich, er ist prekär, brisant und mit Vorsicht zu betrachten, zu observieren, denn er könnte ein Gegner sein, ein Staatsfeind werden und zum Umsturz aufrufen.
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2019
ibidem-Verlag, Stuttgart
Inhaltsverzeichnis
Der Aufstand der Buchstaben
An den Leser
Erinnerungen
Neubeginn
Mit der regionalen Postkutsche nach Ludwigsburg
Welchen Roman sollen wir schreiben oder wollen Sie lesen?
Szenen einer Ehe
Paul und der Andere – Skurrile Erfahrungen auf dem Zauberberg
Der Schreibtisch als Schutzbunker vor den Weltvernichtern
Brief vom Zauberberg an den Leser – Rebellion der Tiere
Erste Forschungen – Die Bremer Stadtmusikanten in Kanada
Michels erotische Abenteuer
Die Rosen von Göttingen
Der Geburtstagskuchen: Afrika wird aufgeteilt
Der weiße liebe Gott: Beobachtungen vom Zauberberg
Brief vom Zauberberg an den Leser: Leere schwarze Schädel
Weltkongress der Französischlehrer in Afrika
Ein Abstecher nach Indien
Zurück ins Flachland
Gebet an den Tod
Epilog - Durchbruch des Dämons
Impressum
ibidem-Verlag
Dies ist eine wahre Geschichte,
mit allen Lügen, die dazugehören.
Was war also das Leben? Es war Wärme, das Wärmeprodukt formerhaltender Bestandlosigkeit, ein Fieber der Materie, von welchem der Prozess unaufhörlicher Zersetzung und Wiederherstellung unhaltbar verwickelt, unhaltbar kunstreich aufgebauter Eiweißmolekel begleitet war. Es war das Sein des eigentlich Nicht-sein-Könnenden, des nur in diesem verschränkten und fiebrigen Prozess von Zerfall und Erneuerung mit süß-schmerzlich-genauer Not auf dem Punkte des Seins Balancierenden. Aber wiewohl nicht materiell, war es sinnlich bis zur Lust und zum Ekel, die Schamlosigkeit der selbstempfindlich-reizbar gewordenen Materie, die unzüchtige Form des Seins. Es war ein heimlich-fühlsames Sichregen in der keuschen Kälte des Alls, eine wollüstig-verstohlene Unsauberkeit von Nährsaugung und Ausscheidung, ein exkretorischer Atemhauch von Kohlensäure und üblen Stoffen verborgener Herkunft und Beschaffenheit.
(Thomas Mann, Der Zauberberg, 1924, Frankfurt am Main, Fischer Verlag 1975, S. 248, Kapitel: Forschungen)
„Worauf warten Sie noch?
Haben Sie etwa Angst vor den Buchstaben?“
Wie üblich schlug ich ebenfalls an diesem Abend, zu später Stunde nach Ablauf des geschäftigen Tages am Schreibtisch sitzend, meine Bücher auf, um bei tristem Lampenlicht in aller Ruhe und Abgeschlossenheit in stiller Kammer, fern von den lärmenden Alltagsmenschen und geschäftlichen Pflichten, meine wissenschaftlichen Studien fortzusetzen. Allein die notwendige Konzentration wollte sich nicht einstellen, um die Seelengeister zu einer geduldigen Betrachtung der Texte anzuregen.
Ein wenig konsterniert, begann ich meine sich sträubenden Gedanken mit forcierter Anstrengung und übersteigertem, wenn auch zweifelhaftem Eifer zu sammeln und in den aufgeschlagenen Werken zu blättern, ohne jedoch eine logische Ordnung ausfindig machen zu können. War es mein überforderter Geist, der sich eher nach Schlaf als nach einem weiteren Lektüremarathon sehnte und mir deshalb den Gehorsam verweigerte, in eine weitere Leserunde einzubiegen?
Zwar hatte ich bereits bei dem Gedanken, nach Mitternacht noch ein wenig an meinem Vortrag über Die Abschaffung des Subjekts und das Problem der Différance im Denken des französischen Philosophen Jacques Derrida zu arbeiten, einen leichten neuronalen Muskelkater empfunden, der sich unseligerweise trotz meines Gedanken- und Lesetrainings manchmal durch nervliche Übersäuerung einstellte, als sei ich ein untrainierter Leser oder Schreiber, jedoch wollte ich mich nicht von diesem jedem Sportler und Vielleser bekannten Schmerz in meinem Handlungswillen bevormunden lassen, das Lektüretraining vorzeitig zu unterbrechen, zumal in Kürze einige wichtige Wettkämpfe in den Vortragsprogrammen stünden, bei denen ich nicht zu den Letzten zählen wollte. Selbst auf die Gefahr hin, dass, wie bereits in der Vergangenheit erlebt, einige Mikrotraumata in Form von Erinnerungsrissen aufträten, wollte ich die Zügel des Erkenntnisdranges nicht aus der Hand geben und versuchte verzweifelt die Lebensgeister wiederholt an die Front zu schicken.
Nicht der Körper, sondern der Geist sollte die Ursache ihrer Bewegung sein. Nicht der Geist, sondern der Körper war der Knecht. Walle! Walle/ Manche Strecke,/ Daß, zum Zwecke Wörter fließen Und mit reichem, vollem Schwalle zu dem Vortrag sich ergieße(n). Und nun komm (t), ihr alte (n) Bücher!/ Nehmt die schlechten Buchstabenhüllen,/ Seid schon lange Knecht gewesen;/ Nun erfülle(t) meinen Willen!/ In zwei Reihen stehe(t),/ Oben sei ein Kopf,/ Eile(t) nun und gehe(t)/ mit dem Sinnestopf! Walle! Walle/ Manche Strecke,/ Daß, zum Zwecke Wörter fließen Und mit reichem, vollem Schwalle zu dem Vortrag sich ergieße(n).
Der Geist der Bücher, den ich mich zu beschwören angehoben hatte, verweigerte jedoch meinem Willen den Einlass in den Tempel des Wissens, um das Orakel der Buchstabenatome zu befragen, und es gelang mir trotz der Liebkosungen der alten Seiten nicht, in die verborgene Bedeutung meines wohlgeordneten Gegenübers einzudringen. Die Buchstaben wollten sich nicht wie Wassertropfen zu sinnvollen Wörtern in einem Textfluss zusammenfügen lassen.
War ich es gewohnt die Buchstabenwürmer von links nach rechts und von oben nach unten in ihrer linearen und kausalen Weltordnung zu betrachten, so beharrten sie hier und jetzt auf ihrer Unabhängigkeit, ihrer Individualität und Einzigartigkeit. Die einzelnen Gestalten dehnten sich mal explosionsartig zu Textwucherungen aus, zu Verästelungen und merkwürdigen interstellaren Konglomeraten, um neue Sonnen und Planeten zu erzeugen, dann zogen sie sich wieder wie schwarze Löcher zu Knoten zusammen und verschlangen jeden Versuch einer Sinnkonstruktion.
Des Weiteren folgte auf die Kapitelüberschriften kein Text, sondern eine lose und unverbundene Buchstabenansammlung, als hätte man mit dem Alphabet eine neue, jedoch unerkennbare Weltformel gewürfelt. Nicht vorhandene Absätze türmten sich zu leeren Seiten auf und ergossen sich im Nichts, welches ein wie auch immer geartetes Ewas auflöste.
Unter den kleinen Gesellen in ihren schwarzen Roben verbreitete sich schließlich eine so starke Unruhe, dass sie sich ungeordnet und diffus wie auf der Flucht über die einzelnen Seiten des Buches und über die Ränder des Weltalls hinaus ins Nichts zu retten versuchten, wobei jedwede mir bekannte Lese- und Weltordnung zerstört wurde.
Das Nichtsein dehnte sich exponentiell aus, und selbst die Fußnoten am Ende des Universums drohten in die Zeit vor dem Urknall verdrängt zu werden. Der Fließtext floss nicht mehr, und die Buchstaben versickerten wie das pulsierende Lebensblut im weißen Sand. Und die Erde war wieder wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebete nicht mehr auf dem Wasser und in den Büchern. Und ich sprach: Es werde Licht! aber es ward nicht Licht.
Hatte sich der alte Hexenmeister wegbegeben? Wollten seine Geister nicht mehr nach meinem Willen leben? Seine Wort und Werke/ Merkt ich und den Brauch/ jedoch meine Geistesstärke/ fand in den Werken keinen Hauch des Wunders der Lektüre, des Universums‘ Sinn und Brauch. O, du Ausgeburt der Hölle!/ Soll das ganze Buchstaben-Haus ersaufen?
Erstaunten Auges gedachte ich, das Licht von der Finsternis zu scheiden, um die erhitzten, nebulösen Gestalten aus der Nacht in den Tag zu retten, und versuchte sie durch das Hissen der Friedensfahne zu besänftigen, indem ich meinen konzilianten Geist als Vermittler in dieser Affäre in das aufbegehrende Lager sandte. Allein dieser Versuch wurde trotz der oratorischen Geschicklichkeit und rhetorischen Überzeugungskünste des Gesandten von keinerlei Erfolg gekrönt, weil sich die Buchstaben wie außerirdische höhere Lichtwesen verhielten, die von den ersten und den letzten Dingen wussten und nicht geneigt waren, mit den niederen Erdgeistern verhandeln zu wollen. So kehrte der Botschafter meines allzu menschlichen Verstandes, in seiner Vermittlerrolle erbärmlich gescheitert, zu mir zurück, um über den negativen und unmoralischen Ausgang der Unterredung zu berichten.
Eine solche Auflehnung gegen die bestehende Ordnung, welche ungeachtet jeglicher Tradition die gesetzlichen Vorschriften der gesellschaftlichen Anordnungsgrammatikalität geradezu ignorierte und verwarf, empfand ich als eine derartige Insolenz, dass ich in fieberhafte Exaltation geriet. Helft mir, ach!/ ihr hohen Mächte!/ Herr, die Not ist groß!
War nicht meine Geisteskraft der Schöpfer dieser ansonsten leblosen skurrilen Wesen, dieser seelenlosen Schattenkreaturen, die nur aus materieller Schwärze bestanden? Wollten sie sich selber zum Prometheus ihrer eigenen Schöpfung erheben? Die Leugnung meiner bildenden und zeugenden Kraft empfand ich als undankbaren Frevel, und ein stürmischer Zorn entbrannte in meinen tobenden Adern.
Sollte ich diese verräterischen Gestalten nicht strafend wie eine Schnecke in ihrem Haus zerdrücken und in ihrem Einband seelenlos der unendlichen Einsamkeit des Nicht-Seins preisgeben? Eingekerkert lebten sie bedrückt und beschnitten auf einzelnen Lebensblättern, die ihr Leben von der Geburt bis zum Tode zwischen zwei Buchdeckeln fristeten. Manche von ihnen waren noch sehr jung und lebten auf den ersten Seiten direkt hinter dem Frontdeckel, um undercover verdeckt aus der Kindheit neue Lebensszenen zu entwerfen, während die älteren Kameraden unter ihnen immer in der Nähe des Rücken- oder Grabdeckels wandelten. Der Verlauf ihres Lebens war wie eine mechanische Uhr vorherbestimmt, welche die Länge der Seiten, Sätze, Wörter, Silben sowie die Anzahl der Buchstaben im Rhythmus der Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden wie ein Metronom vorgab.
Die kleinsten Gestalten unter ihnen hatten nur eine Lebenserwartung von Bruchteilen von Sekunden. Wenn sie sich hingegen mit ihren Gefährten zusammenschlossen, konnten aus den Mikroorganismen der atomaren Buchstabenwelt komplexere Zellformationen mit großen Energien entstehen, die angefangen von der ersten Seite im evolutionären Akt des Schreibens ganze Bibliotheken von Lebewesen hervorbrachten, sofern der Schöpfer genügend Nahrung, Sauerstoff und Flüssigkeit zu sich nahm, um den wachsenden Organismus durch den flüssigen Saft seiner Tinte mit allen lebensnotwendigen Stoffen zu versorgen.
Auf diese Art und Weise entstand das Nerven- und Muskelgewebe dieser Buchstabendäumlinge, entwickelten sich Organe zu Kapiteln, die den Buchblock der einzelnen Zellseiten über das verklebende Bindegewebe im Rücken verbanden. Die Buchdeckelhaut schützte schließlich den ganzen Organismus vor Läsuren und bildete eine Barriere gegen mechanische oder chemische Angriffe aus der Umwelt, welche das Leben im Inneren bedrohen könnten. Auf der Titelseite dieser Geschichte stand: MENSCH.
In mehreren Bänden und Auflagen vereinigten sich die unzähligen kleinen Gestalten zu Familien, Sippen und Stämmen, die sich durch gemeinsame Abstammung und Verwandtschaftsbeziehungen zu Völkern und globalisierten Gesellschaften entwickelten. Um nicht ihre kulturelle, religiöse und ethnische Identität zu verlieren, versuchten sie immer, dem Titel ihres Buches und der Schrift ihrer DNA treu zu bleiben, bis in den Tod. Die Dauer ihrer Existenz war allerdings unweigerlich durch die Seitenjahre vorgegeben, und es gab keine Abweichungen. Zwischen den Buchdeckeln herrschte eine absolut deterministische Abfolge und keinerlei Freiheit.
Und diese materiellen Wichte versagten mir ihren Gehorsam, verweigerten sich meines lesenden Anblicks, versuchten aus den dunklen Mauern des Einbands zu entkommen, flohen hinweg, flüchteten, evaporierten und lösten sich auf. In tobender Wut riss ich ihnen die Eingeweide aus dem Körper, zerfetzte ihre Glieder und warf sie kapitelweise aus dem Fenster, bis nur noch ein leichter Herzschlag zwischen den Sargdeckeln zu spüren war. Die quälende Gärung meiner schlagenden Brust ließ mich die ruchlosen Verräter mit besessener Tollheit zu Boden schleudern, um sie mit stampfenden Titanenfüßen zu zertreten, bevor ich, wie vor einem Krematorium stehend, die Reste der geschundenen Gestalten aufsammelte und sie dem Höllenpfuhl der gierigen Feuerfurien meines lodernden Kamins als Opfergabe darbot, um die Götter milder zu stimmen, damit sie mein Trauma beendeten.
Allein als die brennende Seele seinen eigenen Leib zerriss, fühlte der Schöpfer ihren Untergang als den Seinigen.
Buchstaben, lieber Leser, haben ihr eigenes Leben wie Sie und ich und möchten nicht als skurrile Wesen diskriminiert werden. Meistens sind sie schwarz, jedoch nicht unsere Sklaven. Sie lassen sich nicht einfangen und auch nicht zu unserem dienlichen Zwecke deportieren. Sie lassen sich nicht entwurzeln oder ausradieren und auch nicht über Bord werfen. Man kann sie nicht ertränken oder verbrennen, erschlagen oder foltern, denn sie leben in ihrer eigenen geschützten Welt zwischen dem Ursprung und dem Ende des Multiversums. Sie unterwerfen sich außerdem nicht dem Geist eines autoritären Lesers oder Plantagenbesitzers, der immer Recht behalten und über ihren Lebenssinn bestimmen möchte. Sie lassen sich weder taufen noch umerziehen, noch akzeptieren sie falsche Namen oder einen fremden Herren.
Die Weißen, welche sie immer wieder bevormunden wollten, sind für sie unsichtbar und nicht von dieser Welt; sie existieren gar nicht, nicht einmal im Nichts. Wer ihre Schwärze verneint, verneint die menschliche Würde, nicht zuletzt sich selbst und hört auf zu existieren. Wer ihre Gesellschaftsordnung verändert, negiert ihre Kultur, ihre historische Bedeutung, verhindert aber nicht ihr Sein in der Unendlichkeit des Werdens. Wer sie einsperrt, verfällt dem Nichts wie in einem finsteren Verlies ohne Licht und Erkenntnis. Wer sie jedoch erblickend befreit, wird durch ihr unendliches Licht der Aufklärung geblendet und verfällt in einen ewigen Zweifel. Sie sind Lichtgestalten aus einer anderen Welt, aus der einzigen Welt.
Manche Erdenbewohner behaupten, sie seien göttlichen Ursprungs, und es sei für uns niedere Primatenmenschen eine Gunst, gar eine Offenbarung, wenn sie mit uns in Kontakt träten und ihre höhere Kultur teilten. Sie seien nahezu allwissend und kennten sowohl den Ursprung der Dinge als auch ihren Endzweck. Sie seien ein Volk der Gelehrten und Gebildeten, in dem schon jedes Kind eine unendliche Schöpfungskraft besäße und in unendlichen neuen Verbindungen Welten generierte. Das Schauen ihrer Ideen wäre für uns ein unendliches Streben, aber wir müssten uns mit ihren Abbildern begnügen, mit ihrem Schatten, weil ihre Intelligenz von der unseren über tausende von Lichtjahren getrennt wäre.
Wir selber existieren nur, wenn sie uns beim Lesen wahrnehmen. Esse est percipi: Sein ist Wahrgenommenwerden. Ohne diese parallelen Bücheruniversen, in denen wir das lebende Privileg besitzen, uns bewegen und an der allgemeinen Weltvernunft partizipieren zu dürfen, weil uns die Lichtgestalten in ihrer unendlichen Toleranz an ihrer Existenz teilnehmen lassen, indem sie für uns schwarze Roben anlegen, damit wir sie schauen können, gäbe es uns gar nicht. Denn sind wir nicht nur eine akzidentielle Idee, die an ihrem Sein partizipiert? Eine Art spirituelle Symbiose?
Also lassen Sie, lieber Leser, das Buch aufgeschlagen, denn wenn der Deckel zufällt, wird es Nacht, und Sie werden von der Schwärze der Finsternis aufgesogen und von den ungelesenen Seiten zerdrückt. Diese Buchstaben sind Ihre Teilhabe am Sein; ein anderes Leben haben Sie nicht.
Und wie gestaltet sich Ihr Sein heute? Sie haben sich wieder für einen neuen Planeten entschieden, auf dem andere Buchstaben leben. Welche Beziehungen werden Sie eingehen? Welche Gespräche werden Sie führen, welche Gedanken spinnen? Welche Lebensgeschichten wollen Sie in dieser Textwelt gestalten? Sie ist immer nur eine Welt von vielen im Textoversum, jedoch mit der Unendlichkeit der Paratexte verwoben, die nicht zuletzt auch Ihre Lebensseiten beschreiben.
Nunmehro stehen Sie und ich wieder am Anfang. Das Nichts wartet auf seine Geburt durch das Schreiben, aber erst das Lesen gestaltet die ewige Geburt zur Welt. Welcher Schreibgenerator liegt in unseren Genen? Was müssen wir schreiben? Was müssen Sie lesen? Was drängt uns dazu? Wer determiniert unsere Geschichten? Wer generiert unsere Fabeln? Mit welcher Freiheit lesen Sie uns? Mit welchem Zwang deuten Sie uns? Wer entscheidet, welches Buch Sie kaufen? Ob Sie es lesen oder vielleicht lieber verschenken? Welcher Dialog entsteht zwischen uns beiden? Wer besitzt mehr Freiheit? Wer ist stärker vorherbestimmt? Werden wir wieder Freunde werden oder verstoßen Sie uns, womöglich ungelesen oder nur angelesen, angebissen oder angeknabbert wie ein trockener Zwieback in das hinterste Regal Ihrer Bibliothek, in welchem die Spinnen bereits darauf warten, uns mit dem Schleier des Vergessens zu umweben? Wer werden an diesem Ort, in Reih und Glied wie Zinnsoldaten aufgestellt, unsere Nachbarn sein? Mit wem werden wir uns unterhalten? Mit wem werden wir streiten und disputieren? Mit wem werden wir lachen und uns amüsieren? Mit wem werden wir uns liieren? Mit wem werden wir reisen oder speisen?
Seien Sie nachsichtig und stellen uns nach der Lektüre bitte in einer guten Gesellschaft ab. Und zwischendurch begleiten wir Sie gerne mit in Ihren Salon, an Ihren Schreibtisch, in Ihre Küche. Gerne frühstücken wir auch mit Ihnen, essen zu Mittag oder zu Abend. Sie können uns außerdem mit auf Reisen nehmen, etwa ins Ausland, damit Sie in der Fremde immer einen vertrauensvollen Begleiter haben, der Ihre Sprache spricht. Wir fliegen gerne, fahren gerne Zug oder mit dem Bus. Sogar das Radfahren stört uns nicht, jedoch ist es für Sie gefährlicher. Nur eine Bitte: Legen Sie uns nicht neben einen Fernseher oder selbst in seine Nähe, denn das stumpfe Starren in eine leere Röhre verschlägt uns den Verstand, macht uns stumm und einfallslos.
Trotz und allem Ihrer Liebe zum Buch, seien Sie immer vorsichtig, denn der Bücherleser gilt als halbgescheiter Mensch, als fast schon intelligentes Tier, mit Niveau und Anspruch. Wer liest, denkt nach, wer nachdenkt ist kritisch, zweifelnd und bildet sich eine eigene Meinung, die das Selbstvertrauen stärkt; wer eine eigene Meinung und Selbstvertrauen hat, entfaltet seine Persönlichkeit, entwickelt Mut und weicht von der allgemeinen Lehrmeinung ab, stellt in Stein gemeißelte Dogmen in Frage; ein Vielleser ist gesellschaftlich nicht ungefährlich, er ist prekär, brisant und mit Vorsicht zu betrachten, zu observieren, denn er könnte ein Gegner sein, ein Staatsfeind werden und zum Umsturz aufrufen.
Wenn Frauen früher nicht lesen sollten, wollte man sie an Faden und Nadel binden, an Herd und Topf, an den Haushalt, die Kinder, den Mann. Sie sollte nicht selbständig denken, Fragen stellen und in Frage stellen. Der Mann, so schrieb Gottfried Benn, wolle von einer Frau nicht am Gehirn berührt werden, sondern ganz woanders. Bei manchen Frauen werden mit zunehmendem Alter die Bücher sogar wichtiger als die Männer. Flaubert schrieb 1858 in einem Brief, dass die einzige Art, unser Dasein zu ertragen, darin bestehe, sich an der Literatur wie in einer ewigen Orgie zu berauschen. Diese Orgie des Lesens dürfen wir allerdings nicht im Sinne eines hemmungslosen Ausschweifens verstehen, sondern die Orgie in ihrem ursprünglichen Sinne als heilige Handlung und geheimen Gottesdienst. Können wir durch das Lesen nicht mehr erfahren als durch unser alleiniges Leben? Bedeutet Lesen nicht die Teilhabe am Leben der anderen, ihren Erfahrungen, Freuden und Leiden? Ist nicht jede Lektüre eine Wiedergeburt in einer anderen Gestalt, ein physisches und spirituelles Karma?
Aber jedes Buch, das Sie lesen, lieber Leser, ist auch eine geladene Waffe, eine Stellungnahme, eine politische Äußerung, mit der Sie sich offenbaren, entblößen, verwundbar machen. Sie erinnern sich, dass Bücher, und nicht nur Bücher, gut brennen und verbrannt werden können. Wer der rechten Lehre und dem rechten Glauben angehört, hat im Allgemeinen nichts zu befürchten. Aber wie verhält es sich mit der linken Lehre? Der Papst ließ Luthers Schriften verbrennen und Luther die Schriften des Papstes. Ultraorthodoxe Juden verbrennen das Neue Testament. Die Amerikaner verbrennen den Koran. Muslime verbrennen Die satanischen Verse. Die Neonazis verbrennen noch heute das Tagebuch der Anne Frank. Die Nationalsozialisten verbrannten 1933 Tausende Bücher, aus deren Asche sich siegreich der Phönix eines neuen Geistes erheben sollte. Und heute stehen viele dieser Neuauflagen stolz und erhobenen Hauptes in Ihren Regalen!
Wissen Sie, ob Ihre Nachbarn lesen? Was sie lesen? Wissen Ihre Nachbarn, dass Sie ein Bücherleser sind? Dass Sie im eigenen Hause Flüchtlinge und Andersdenkende verstecken? Für den Islamischen Staat ist jedes Buch, außer dem Koran, ein Feind, jedes Buch Ketzerei, jedes Buch eine anrüchige Idee und Kriegserklärung gegen den rechten Glauben, jeder Belesene eine Zielscheibe. Deshalb schließt die Sittenpolizei Buchhandlungen, plündert Bibliotheken und durchsucht systematisch alle Häuser.
Hat es bei Ihnen gerade geklopft? Draußen herrscht das Inferno aus Dantes Göttlicher Komödie.Die Teufel zermalmen Ungläubige und diejenigen, die nicht der richtigen Partei angehören. Verführer und Schmeichler werden in die brennenden Flammen gestoßen und Homosexuelle von den Dächern. Väter peitschen ihre unkeuschen Töchter aus und Kinder denunzieren ihre Nachbarn, die daraufhin exekutiert werden.
Lieber Leser, warten Sie nicht ab, bis es vorbei ist. Denn wenn dem Warten auch die Hoffnung innewohnt, so entpflichtet es meistens vom Handeln, und der Wolf reißt weiterhin seine Opfer. Gehen Sie auf die Straße und verkünden die Botschaft der Bücher! Und verschenken Sie einige Ihrer Kostbarkeiten an die geistig Hungernden, die ideologisch Blinden und die Tauben, welche das gelesene Wort nicht hören wollen!
Wie Sie sich möglicherweise noch erinnern, lieber Leser, wurde Paul, unser Protagonist, von den Göttern dazu verurteilt, seinen ersten Lebensabschnitt contra eius voluntatum, d.h. gegen seinen Willen als angestellter Lehrer an einer Gesamtschullehranstalt zu verbringen. Eine Begründung für diesen Urteilsspruch gab es nie. Trotz zahlreicher Anschreiben an Zeus höchstpersönlich wurde ihm jegliche nachvollziehbare Auskunft verweigert. Das Fatum oder Schicksal offenbarte seine Planungen nicht und legte seinen dunklen Schleier über Pauls Lebensschiff, ohne ihm die Richtung seines Lebens anzeigen zu wollen.
Hatten die Bewohner des Olymps es noch nicht gelernt mit dem Sextanten und dem Kompass umzugehen und verließen sich in ihrer Steuermannskunst auf den Lebensmeeren der Erdenmenschen auf reine Sichtnavigation? Waren sie bei ihrer Beobachtung der Sonne, des Mondes und der Sterne, denen sie doch viel näher waren als wir, nicht in der Lage, den Lebensweg von Paul geometrisch durch Winkel- und Richtungsmessungen genau zu berechnen, so dass er an einer Gesamtschule mit amerikanischen Wildwest-Verhältnissen strandete, die der Kapitän für einen neuen ideologischen Kontinent mit starken Gewürzen wie Kardamom, Chili, Kurkuma, Curry und Ingwer hielt – Indien?
Gleich war nur die Armut, die materielle in Indien und die Geistige bei einigen Mitgliedern der Schulleitung, es sei denn, dass die ideologische Verblendung den objektiven Geist in ein subjektives Zwangskorsett steckte um zu verhindern, dass in der Dialektik des Denkens systemkritische Gedanken entstehen könnten. Für Paul war diese Schulform Neuland, terra incognita, ein Niemandsland, bewohnt von Lernerpopulationen, die er vorher weder während seiner Lehramtsausbildung an einem bilingualen Gymnasium, noch bei seiner anschließenden Lehrtätigkeit an einer französischen Grande École, d.h. Elitehochschule, angetroffen hatte. Viele der Lerner, die er an diesen Ufern entdeckte, sprachen eine andere Sprache und waren unterschiedlichster Herkunft. Sein Radar war gestört und orientierungslos, und zwar nicht nur in Hinblick auf seine moralischen Wertvorstellungen und humanistischen Bildungsideale, sondern insgesamt in der Konstruktion eines gesellschaftlichen oder individuellen Sinns.
Wie die Wilden und Eingeborenen einige hundert Jahr vor ihm, wurde er von den neuen weißen Konquistadoren und zivilisatorischen Ideologieträgern sowie den französischen, britischen und niederländischen Eroberern der Neuen Gesamtschul-Welt unterdrückt. Die archaischen Pfeile, die er in den Bogen seines Diskurses spannte, konnten gegen die Feuerwaffen der neuen Eroberer, die ihre Kultur und Zivilisation als die höhere mit übermächtiger Gewalt verteidigten, nichts ausrichten. Jede indigene Rothaut oder Schwarzhaut, die sich den Glaubensprinzipien der neuen Gesamtschul-Kolonialherren widersetzte, um eigenen Göttern, Sitten und Bräuchen zu huldigen, forderte ein peinliches Verhör heraus, wurde gefoltert und erniedrigt.
Paul wurde rot vor Wut und ärgerte sich schwarz. Durch die zahlreichen Konflikte sah er äußerlich mittlerweile aus wie der schwarze Tod: ein Schreckgespenst, noch nicht tot, aber auch nicht mehr im Leben. Es fehlten nur noch die Pestbeulen und verfärbenden schwarzen Flecken, die ihn während seiner Krisen auch in seiner äußeren Gestalt als das Gesellschaftsbild der Gesamtschule gefährdende Person stigmatisiert hätten. Niemand wollte sich von seinem freien Denken infizieren lassen, denn dieses versprach nur Ärger und Gefahr, während diejenigen, die mit den Gesamtschulwölfen heulten, sich fette Beute in Form von Beförderungsstellen erhoffen durften.
Tatsächlich fühlte Paul sich marginalisiert: Er war der Farbige unter den weißen Glaubensbrüdern, eine Art Afrodeutscher oder besser gesagt weißer Schwarzer, ein Albino-Neger, dessen Körperteilen noch heute in Afrika magische Kräfte nachgesagt werden, so dass manche Albinos verstümmelt oder getötet werden und mit ihren Körperteilen reger Handel betrieben wird. Darüber hinaus gilt Albinismus bei unaufgeklärten Menschen als ansteckend. Die Schulleitung der Gesamtschule mochte daher befürchten, dass getreue Kollegen von Pauls oppositionellem Virus befallen werden könnten und anschließend ihr Gesamtschulgelübde widerriefen, um sich einem anderen höchsten Gut zuzuwenden, etwa der Weisheit des tibetischen Buddhismus. Sollte eine solche Heilkraft von Paul ausgehen, dass das Trinken seines Blutes magische Kräfte versprach, während tatsächlich nur der Mangel des Pigmentstoffs Melanin dazu führte, dass Paul trotz seiner angeblich kriminellen Erziehungstheorien eigentlich eine weiße Weste behielt? Was meinen Sie, lieber Leser, haben wir hier ins Schwarze getroffen oder tut sich vielmehr ein Licht verschlingendes Schwarzes Loch auf, welchem wir alle entkommen möchten?
In diesem Gulag wurde Paul gemobbt, weil er nicht hinnehmen wollte, dass Anarchie und Freiheit nicht dasselbe seien, weil er den Verstoß gegen moralische und praktische Verhaltensregeln sanktionieren wollte. Er wurde gemobbt, weil er Leistung einfordern wollte, die mit Anstrengung verbunden war. Er wurde gemobbt, weil er nicht genügend gute Noten verteilte, die unabhängig von jeglichem Inhalt die Überlegenheit des Gesamtschulkonzepts exponieren sollten. Er wurde gemobbt, weil er eine Reduzierung der Gesamtschulwoche auf 50 Stunden einforderte und sinnentleerte Marathonkonferenzen boykottierte. Er wurde gemobbt, weil er der falsche Lehrer für diese Schulform war, das System aber niemanden aus seinem ideologischen Netzwerk entließ.
Entstand Ideologie nicht aus einer Psychologie der Masse, aus deren Mittelpunkt die Emanation der unsichtbaren Fäden sich wie aus dem Körper einer Spinne zu einem unsichtbaren Netz spannte, welches für jedes Individuum zur Falle werden konnte, und zwar genau dann, wenn es sich durch die perfide Unsichtbarkeit des Netzes verleiten ließ, seine eigne Individualität zu verleugnen, um sich dem Gefühl der Macht des Systems hinzugeben, welches mit seiner hypnotisierenden Kraft impulsive und reizbare Affekte aus dem Unterbewussten jedes Einzelnen zu eigenen Zwecken instrumentalisierte und sich selber idealisierte. Die eigene Identifikation mit der Stärke des Anderen verschmilzt schließlich mit der Kraft des Aggressors und leugnet jede eigene Verantwortung, wohingegen die narzisstische Libido die Vollkommenheit im Objekt der Gemeinsamkeit verherrlicht.
Paul saß fest wie an Stahlseilen gefesselt, während sich die Ideologie ausdehnte, deren Spinnenfäden 2,5-mal stärker als Stahl und 1,5-mal dehnbarer als Nylon waren. Eine Versetzung an ein Gymnasium war als genetische Mutation und Gefährdung der Art nicht vorgesehen. Zudem mussten einige Ideologieträger, die noch nicht völlig erblindet waren und ihre rosarote Brille von Zeit zu Zeit abnahmen, eingestehen, dass Paul weder ein sozial gestörter Autist noch ein Vollidiot war und bei vielen Schülern und immer mehr Eltern, die sich nicht damit begnügen wollten, dass ihre Kinder gute Noten erhielten, ohne gleichermaßen Inhalte zu assimilieren, immer beliebter wurde.
Es sprach sich herum, dass man bei Paul nicht nur etwas lernen konnte, sondern sein Unterricht, wenn auch etwas anstrengender, so doch immer interessant und witzig war. Denn für Schüler gab es nichts Schlimmeres als Langeweile, und eine gute Note, für die man nicht geackert hatte, führte auf Dauer erst recht zu keinerlei Befriedigung. Viele Schüler liebten Paul, seine unkonventionelle, aber immer originelle Art, die Schüler positiv zu perturbieren, zu verblüffen, sie herauszufordern, sie zu necken. Wenn dieses auch nicht für alle galt.
Paul unterrichtete im Prinzip sehr gerne, hatte man ihm während des Referendariats, das er im Zweiten Staatsexamen mit der Note sehr gut abschloss, sogar Naturtalent zugesprochen. Er ging gerne mit jungen Lernern um, liebte ihren aufblühenden Geist und Wissenseifer, ihren scharfen Witz, ihr provokatives Verhalten, ihre innere Rebellion gegenüber allem Tradierten, ebenso ihre emotionale Zuwendung, die sie offen zeigten, wenn sie einen Lehrer schätzten. Nachdem er eine Französischklasse einmal Ende der Jahrgangsstufe 8 abgeben musste, liefen einige Schülerinnen sogar weinend zum Schulleiter und beschwerten sich bei ihrem Klassenlehrer darüber, dass man ihnen ihren geliebten Französischlehrer wegnehmen wolle. Einige diskutierten sogar darüber, ob sie nicht gegebenenfalls die Klassenpflegschaft einschalten sollten, um sich gegen diese Fehlentscheidung und das in die Welt gesetzte Unrecht des Organisationsleiters zu wehren.
Paul mochte Schüler, die anders waren, unkonventionell und schräg, kritisch und ungläubig, war er doch selber als Jugendlicher durch die Drogenszene gereist und wäre in einem Horrortrip fast stecken geblieben.
Allerdings mussten diese Jugendlichen ein wenig Verstand haben, denn Witz ohne Esprit ist vulgär, Provokation als sinnlose Störung ein Affront, eine Beleidigung und Demütigung. Alberei, Geblödel, Jux und Dollerei gehören als infantile Verhaltensweisen zum normalen Schulalltag und können sogar eine kathartische Wirkung auslösen, gilt das Geifern, Poltern und Zetern doch dem Abbau eines Übermaßes an aufgestauten Emotionen oder Aggressionen, welche Schüler verständlicherweise aufbauen können, wenn sie bei immer gleichem Bühnenbild über Stunden einem unmotivierten und langweiligen Lehrer zuhören müssen, dem es nicht gelingt, sein Publikum zu begeistern. Wie oft wäre ich lieber als Schüler nach Hause gegangen, als diese Tortur von der Länge einer Wagneroper auszuhalten.
Bei allem gebührenden Respekt: Bedarf es bei diesem Spektakel nicht einer gewissen Grenzziehung, die wie auf dem Theater nach Regeln verlangt? Zeit, Ort und Handlungsvarianten der von einzelnen Schülern in der Klasse inszenierten und vom Lehrer tolerierten Farcen sollten durch einen Regelkodex festgelegt sein, damit die Konvivialität erhalten bleibt und die gemeinsame Heiterkeit nicht zur Betriebsstörung des Unterrichts oder zur Tragödie des Lehrers führen.
Währenddessen wollen wir nicht in Pauls psychosomatisches Vergangenheitstrauma zurückkehren, denn Sie erinnern sich, lieber Leser, sicherlich noch an Die tolldreisten Geschichten, nicht die von Honoré de Balzac, sondern von Paul Krieger an einer Gesamtschule, an die Leiden des jungen Pauls, der keinen Selbstmord beging, dafür aber Professor werden wollte, oder? Falls dieses nicht der Fall ist, bemühen Sie einfach Ihr literarisches Gedächtnis oder gehen in die nächste Buchhandlung. Dort finden Sie alle vergangenen und zukünftigen Abenteuer aus Pauls Leben und vielleicht ebenso Ihre eigenen als Paratexte. Doch Paul meldet sich wieder selber zu Wort. Vermutlich hat er bemerkt, dass wir über ihn reden, und es ist in facto immer besser mit dem Betroffenen selbst zu diskutieren als über einen Dritten zu erfahren, was ersterer vermeintlich erlebt oder mitzuteilen hat.
„Wer gelitten hat wie ich, hat das Recht, frei zu sein“
(Goethe, Wilhelm Meister, Der Harfner, 8. Buch, 9. Kapitel)
Sie fragen sich, warum ich mich seit sehr langer Zeit nicht mehr bei Ihnen gemeldet habe? Ihnen nicht einmal geschrieben habe, lieber Leser? Ganz einfach. Ich war über viele Jahre national und international unter Einsatz der Totalität meiner Kräfte so stark in die Lehre der französischen Didaktik, Literatur und insbesondere Landeskundewissenschaften eingebunden, dass ich meine besten Freunde, Sie, liebe Leser, und sogar Frau und Kinder ungebührlich und moralisch fast respektlos vernachlässigt habe. Und als ich wieder aufblickte, um in der Familie Umschau zu halten, waren die Kinder bereits Erwachsene und hatten das Haus verlassen, um auf selbständigen Bahnen ihr Lebensglück zu suchen. Ich hatte eingestandenermaßen das Glück, dass meine Frau noch vor Ort war und das Schiff immer auf Kurs gehalten hatte. Ohne sie wären wir mutmaßlich alle erbarmungslos gestrandet und vor Kälte erstarrt. Das Nest war aber immer warm und wohl behütet. Welch ein Glück!
Meine neue Tätigkeit als Dozent an einer Hochschule, die ich nach der Flucht aus meiner traumatisierenden Gesamtschulkarriere in extremis und sozusagen vor dem Sprung von der Brücke antrat, stürzte mich in eine übertriebene Arbeitssucht, als wollte ich die durch meine Lehrertätigkeit für die wissenschaftliche Forschung verlorengegangene Zeit in wenigen Jahren aufarbeiten. Wie von einem Dämon getrieben, der meinen Eifer für die Lehre und Forschung ständig bis zur Erschöpfungsgrenze antrieb, nahm ich kein Leben außerhalb der Arbeitswelt mehr wahr.
Nicht, dass ich meine Familie nicht geliebt hätte, im Gegenteil, allerdings entsprach die neue Herausforderung als Dozent – glücklicherweise oder tragischerweise - meinem Telos, d.h. meiner innersten Natur als Endzweck, meinem Streben nach der Vollendung meiner Persönlichkeit im Wechselspiel mit der Welt. Aber die genetische Bestimmung, meine monadologische Anlage, die bereits im Kern meine Gestaltung in der Welt antizipierte, hatte möglicherweise die Kraft falsch bemessen, derer ich auf Dauer bedurfte, um das zu verwirklichen, wozu ich bestimmt sein mochte. Einen Burnout, wie er für das feurige Finale des Erdplaneten von manchen Wissenschaftlern für die Zeit in über sieben Milliarden Jahren berechnet wurde, weil die Erde dann in das Feuer der ebenfalls sterbenden Sonne stürzen wird, hatte die Natur nicht in meinen Genen programmiert; jedenfalls wusste ich nichts davon und arbeitete vorläufig mit immer gleicher Begeisterung an meinen Forschungen und erfreute mich meiner Studenten. Und keine Angst, lieber Leser: Sieben Milliarden Jahre ist noch eine lange Zeit, selbst wenn es bereits nach 1,6 Milliarden Jahren bei 60 bis 70 Grad Celsius auf der Erde unangenehm heiß werden dürfte und der Fluchtgedanke auf die geschmolzenen Pole zu Verbrühungen führen könnte.
War es für einen Gen-Demiurgen, der unser Leben in Gang setzte oder ursprünglich wie eine Uhr aufzog, ein zu komplexer Akt, jede Wechselwirkung mit der Mannigfaltigkeit der Welt zu kalkulieren, damit die Uhr nicht irgendwann stehen blieb oder das Gehäuse durch die unplanmäßige Infiltration von Staubpartikeln im Umgang mit den Mitmenschen und Kollegen ins Stocken geriet? Konnte er allumfassend jedes einzelne Sandkorn in Relation setzen, jeden einzelnen Menschen in seinem gesamten Umfeld, jede Interaktion, jeden Gedanken, jede gedachte und noch nicht gedachte Idee? War bei dieser universellen Aufgabe und Herausforderung nicht jeder Gott überfordert? Musste es nicht notwendigerweise zu Fehlern und Kollisionen kommen? Wenn nur ein Sandkorn an einer anderen Stelle läge, hätte dieses nicht fatale Auswirkungen für das ganze Weltgetriebe? Und wenn gar der Mensch selbst ein solches Sandkorn wäre, welches in der Schöpfung falsch am Platze läge? Würde dann die Harmonie der Erde oder sogar unseres Sonnensystems gestört werden? Oder das Universum sich nicht mehr ausdehnen wollen, weil es die Missgeburt Mensch nicht verantworten könnte?
Wenn wir zumindest die Freiheit besäßen, diese Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Andererseits würden wir dann die Allmacht und Vollkommenheit Gottes in Frage stellen. Lieber wollten wir noch ohne Gott leben und die Schuld bei uns selber suchen, denn nur der Freie kann tatsächlich schuldig sein. War Gott frei oder war er notwendig? Beantworten Sie diese Frage, und während des Intermezzos spielen wir weiter Blinde Kuh oder schauen den Film Interstellar und suchen zu Beginn des 21. Jahrhundert nach einem anderen bewohnbaren Planeten.
Vor Jahren wurde ich vom Grafen Wronski aus der Bahn geworfen und konnte nicht wieder rein, auch wenn ich weder mit Anna Karenina noch mit Effi Briest ein Verhältnis eingegangen war. Und nun bot sich mir die Gelegenheit, meine sozialen und kognitiven Gene an einer University of Education, der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg, zum Erblühen zu bringen, wo die Kollegen nicht nur wie an jeder Alma Mater mit Promotions- und Habilitationsrecht in ihrem wissenschaftlichen Auftrag zukunftsweisend forschten, sondern über jede Universität erhaben hinaus auch Forschungsaufgaben in den Erziehungswissenschaften und Fachdidaktiken wahrnahmen, die unter dem pragmatischen Handlungsaspekt des lebenswirklichen Realitätsbezugs zukünftiger Lehrer standen.
Während meines eigenen Studiums an der Sorbonne, an den Universitäten Köln und Bonn, hatte ich die einschlägige wissenschaftliche Ausrichtung in den Fachwissenschaften, welche den Menschen als Gesamtkunstwerk vernachlässigte, immer als Makel empfunden und kann aus diesem Grund derzeitig uneingeschränkt feststellen, dass es an keiner Universität eine bessere Lehrerausbildung gibt als an einer Pädagogischen Hochschule. Ich war also in der Besten aller möglichen Welten angekommen.
Um an meiner neuen Stelle jedoch nicht wie vorher an der Gesamtschule auf neue Minenfelder zu treten, musste ich es lernen, unauffälliger zu sein, zu werden. Weder zu groß noch zu klein, weder zu dick noch zu dünn, weder schön noch hässlich, weder zu intelligent noch zu dumm. Ein wenig unsichtbar und geistig, aber noch genügend Materie, um von den Studierenden und den Kollegen wahrgenommen zu werden. Der Weg zum Opportunisten und Selbstverleugner war in meinen Genen allerdings nicht angelegt.
Im Jahre 2002 des Herren wurde ich als Studienrat im Hochschuldienst mit einer Stelle für den Fachbereich Französisch im akademischen Mittelbau verbeamtet, deren Stundendeputat sich auf 16 Seminarstunden belief, zusätzlich der schulischen Betreuung einer Studentengruppe im Praktikum im Umfang von vier Wochenstunden.
Jeder normal arbeitende Mensch und noch weniger diejenigen, die 50 oder 60 Stunden pro Woche arbeiten, könnte in diesem Zusammenhang auf die Idee kommen, dass ein solcher Arbeitsvertrag zu einer Überforderung des Arbeitnehmers führen könnte. Nein, jeder vernünftige, fleißige und arbeitsame Mensch würde seinen eigenen Arbeitsvertrag bereitwillig gegen den eines Hochschullehrers eintauschen wollen, sogar gegen den eines Gymnasial-, Real- oder Grundschullehrers mit einem Stundenumfang zwischen 25 und 28 Stunden pro Woche.
Jedoch arbeiten die Lehrer wirklich so wenig, wie es der üble Leumund vielerorts propagiert? Und welches sind ihre Arbeitsbedingungen? Wie viele Schüler stopfen wir auch weiterhin in die Klassen, die manchmal räumlich so klein sind, dass es nicht für alle Lerner genügend Sauerstoff zum Atmen gibt, so dass man die Fenster aufreißen muss, um nicht zu ersticken, während der Schallpegelmesser gleichzeitig anzeigt, dass der Lehrer wieder zur Schonung seines Trommelfells seine geräuschunterdrückenden Kopfhörer aufsetzen sollte.
Und welche multiplen Aufgaben muss jeder Lehrer im Unterricht gleichzeitig erledigen, wenn er 30 Schüler individuell fordern und fördern und en passant nicht zuletzt noch vernachlässigte Erziehungsprobleme korrigieren soll? Man bedenke, dass diese Person nicht nur Lehrkraft, Animateur, Betreuer, Lernbegleiter und Coach ist, sondern auch Psychologe, Pädagoge, Erzieher und Sozialarbeiter, und dass dieses Multitalent sich darüber hinaus noch auf allen Gebieten ständig fortbilden muss, um nicht als intellektueller und moralischer Apostel der Nation zu versagen. Denn wer möchte in unserer Zeit noch eine so große individuelle Verantwortung übernehmen? Es ist sicherlich nicht einfach, in der globalisierten Gesellschaft mit Milliarden von Gütern und Geldern umzugehen, aber Milliarden von Neuronen in jedem einzelnen Kopf sinnvoll anzuregen und noch weitere Köpfe zu koordinieren, fordert von jeder Lehrkraft fast ein göttliches Potenziell ein.
Seien Sie also nachsichtig, lieber Leser. Selbst wenn Ihnen nachmittags während eines Spaziergangs einmal ein Lehrer begegnet, dürfen Sie aus Unkenntnis der Verhältnisse die Seriosität und Tatkraft der meisten Kollegen an Schulen und Hochschulen nicht in Frage stellen, indem sie aus einer einzigen empirischen Beobachtung eine verallgemeinernde falsche Schlussfolgerung ziehen, nämlich dass Lämpel seinen Arbeitstag bereits abgeschlossen hätte. Wahrscheinlich sitzt er noch bis in die späten Abendstunden am Schreitisch, um sich auf den langen und gefährlichen nächsten Tag vorzubereiten, während Sie sich jeden Morgen darüber freuen, dass Ihre Kinder für einen halben oder sogar ganzen Tag das Haus verlassen.
In praxi würde ich darauf wetten, dass weder Sie noch irgendein Manager mit einer 50-Stunden-Woche seine Arbeit gegen die eines Lehrers tauschen wollte, der 25 Stunden pro Woche einer mehr oder minder motivierten Lernmeute ausgesetzt ist, für die er bei einer 40-Stunden-Woche nur 15 Stunden Zeit hat, das richtige Futter zu finden, sprich die Themen auszuwählen, diese binnendifferenziert für die heterogenen Klassen appetitlich vorzubereiten, individuell die richtigen Aufgaben für Gruppenarbeiten einzuplanen, methodisch variationsreich individuelle Lernprogressionen zu definieren und permanent zu evaluieren, zu diagnostizieren, zu beraten, zu erziehen, ganz geschweige von den ständigen Korrekturen, die jeden Pädagogen täglich wie einen Albtraum begleiten.
Wenn wir zum Beispiel drei Deutschkurse zu jeweils vier Stunden in der Woche sowie vier Französischkure mit drei Stunden addieren und mit einem Durchschnitt von 26 Schülern multiplizieren, ergeben sich 182 Korrekturen, die drei- bis viermal pro Halbjahr anfallen, d.h. 637 Klausuren, zu denen noch einige hundert Tests sowie das mehr oder weniger häufige Einsammeln zumindest einiger Hausarbeitshefte hinzukommen. Gleichzeitig steht jeder Lehrer fast täglich am Kopierer in der Schlange wie andere bei Ferienbeginn auf der Autobahn, sofern er nicht samstags oder sonntags freiwillig in die Schule fährt, um dort die zuvor sorgfältig ausgewählten, ausgeschnittenen und erneut aufgeklebten Fotokopien zu tausenden zu vervielfältigen, zu lochen oder zu heften. Ist sein Kopierbudget verbraucht, kann er mit anderen Kollegen verhandeln, ob diese ihm aushelfen möchten, ohne dass er dafür ihren Garten jäten oder ihre Küche anstreichen müsste. Meistens ist es einfacher, ein zusätzliches Kontingent aus eigener Tasche zu erwerben oder zuhause seinen Drucker anzuwerfen und statt der Schneide- und Klebearbeiten alle Unterrichtsmaterialen am Rechner zu entwerfen, nachdem man sich die entsprechende Software gekauft und sich in ihre Verwendung über Wochen eingearbeitet hat. Oder man verzichtet auf differenzierten Unterricht und arbeitet nur mit dem Lehrbuch, und zwar so lange, bis die Referendare uns als altbacken bezeichnen oder die Schüler aus Langeweile einschlafen, welches das Disziplinproblem nebenbei löste.
Nicht zu vergessen ist die Forderung an die Lehrer, sich permanent mit neuen und alternativen Methoden zu beschäftigen, sich auf dem neuesten Stand der Fachkenntnisse zu halten, sich als Informatiker und Programmierer weiterzubilden und an Fortbildungen teilzunehmen, worüber sich die Kollegen wegen der anfallenden Vertretungen beschweren, die Eltern wegen ausfallenden Unterrichts und der Schulleiter wegen des problematischen Managements. Und bevor der Lehrer abends todmüde in seinem Bett einschläft und noch an einige tölpelhafte Schüler denkt, darf er noch lesen, ohne sich allerdings die Titel der Bücher freiwillig ausgewählt zu haben, welche der Lehrplan ihm vorschreibt.
In den Herbst-, Weihnachts- und Osterferien arbeitet der Lehrer Lämpel den Korrekturstau ab und nimmt eine grobe Planung für die nächsten Unterrichtswochen vor, die anschließend täglich methodisch und didaktisch nach Lerntempo und Schwierigkeitsgrat angepasst wird. Die immer häufiger werdenden Konferenzen und teilweise wöchentlichen Teamsitzungen an bestimmten Schulformen, die Schüler- und Elternsprechtage, Elternpflegschaftsabende, Projektwochen, Tagesexkursionen, Studientage sowie Klassenkonferenzen, die für verhaltensauffällige Schüler einberufen werden, müssen ebenfalls noch verrechnet werden. Wenn wir zu guter Letzt noch hinzurechnen, dass ein großer Prozentteil der Energie des Lehrers durch negativen Stress und die Eulenspiegeleien der Schüler absorbiert wird, den er teilweise nur schwer vermeiden kann, ist es nicht erstaunlich, dass die Herzinfarktquote in der Bevölkerung bei Lehrern mit am höchsten liegt.
Ach was muss man oft von bösenKindern hören oder lesen!Wie zum Beispiel hier von diesen,
Welche Max und Moritz hießen.Die, anstatt durch weise LehrenSich zum Guten zu bekehren,Oftmals noch darüber lachtenUnd sich heimlich lustig machten.
Ja, zur Übeltätigkeit,Ja, dazu ist man bereit!Menschen necken, Tiere quälen,Äpfel, Birnen, Zwetschen stehlenDas ist freilich angenehmerUnd dazu auch viel bequemer,Als in Kirche oder SchuleFestzusitzen auf dem Stuhle.
(Wilhelm Busch, Max und Moritz, Vorwort)
An den Hochschulen ist die Stundenzahl zwar im Allgemeinen erheblich geringer, jedoch sind die Studentenzahlen in den Seminaren meistens um ein vielfaches höher. Möchten Sie am Ende des Semesters 120 Klausuren von jeweils zehn Seiten zu einer Einführungsveranstaltung in die Literaturwissenschaft korrigieren, 60 Hauptseminararbeiten von 20 Seiten, 20 Staatsexamensarbeiten von 50 bis 100 Seiten, zwei Doktorarbeiten von über 200 Seiten und nebenbei noch 20 Bücher und 100 Aufsätze bestellen und lesen, die Sie zur Vorbereitung auf ihre Seminare brauchen? Und wie verhält es sich mit der Forschung, mit Vorträgen im In- und Ausland, mit unfertigen Manuskripten für Fachzeitschriften, die noch geschrieben werden müssen, während Sie parallel an einem umfangreicheren Buch zur Literatur- und Landeskunde Québecs arbeiten, das nach zwei Jahren und 400 Seiten endlich fertig werden soll, wobei sie nebenbei realiter schon das nächste größere Projekt begonnen haben und 20 Studenten auf dem Flur vor ihrem Arbeitszimmer sitzen, weil sie ihre Seminararbeiten besprechen, Examensthemen festlegen oder die Inhalte für mündliche und schriftliche Prüfungen abklären möchten. Kein Wunder also, dass sich mancher Professor dazu entscheidet oder gezwungen ist, seine Forschungen zu vernachlässigen und keine Ruhe mehr findet, um seinen Garten zu kultivieren.
Nach der Rehabilitierung unserer Zunft in der öffentlichen Meinung erlauben Sie mir jedoch auch einige kritische Worte, weil das Beamtentum unseligerweise nicht bei allen Individuen zu Höchstleistungen beiträgt, insbesondere wenn einige von Natur aus unsportlich sind. Es ist zwar beruhigend, sich auf einer sicheren Stelle zu wähnen, um sich mit oder ohne Eifer und fernab der materiellen Sorgen der Lehre und Forschung oder den Lernenden hinzugeben; wer die Unkündbarkeit seiner Arbeitsstelle jedoch schamlos zum müßigen Flanieren und Promenieren ausnutzt, degeneriert zum sozialen Schmarotzer, und das auf Kosten des Steuerzahlers, d.h. zu Ihren Lasten. Vielleicht können Sie einige Ausgaben davon bei Ihrer nächsten Steuererklärung als Außergewöhnliche Belastungen absetzen, wenn Sie auf solche Missstände in Ihrem engeren oder ferneren Bekanntenkreis hinweisen.
Sicherlich wäre es besser, einen unfähigen Pädagogen, sofern Sie jemanden kennten, so schnell wie möglich zu entlassen, damit dieser bei den Kindern und Jugendlichen über Jahrzehnte keinen dauerhaften Schaden hervorrufen kann. Dieses ist im Beamtentum allerdings nicht vorgesehen, und es können leider nicht alle untauglichen Schulmeister, Pauker oder Professoren auf Stellen versetzt werden, wo sie keinen öffentlichen Schaden anrichten.
Leider ist vielen Lehramtsstudenten nicht bewusst, dass ihr pädagogischer und erzieherischer Auftrag häufig mindestens ebenso wichtig ist wie die wissenschaftliche Kompetenz in ihrem Fach. Insofern hatte mein früherer Schulleiter unter Umständen nicht ganz Unrecht, als er äußerte, dass jeder Lehrer primär ein Erzieher und Sozialarbeiter sei. Dieses muss den Studierenden, die sich nur für das Fach und die vermeintlichen Ferien interessieren, allerdings deutlich vor Augen gehalten werden. Anderenfalls verfällt der zukünftige Lehrer durch sein mangelndes persönliches Interesse und wegen der fehlenden Freude, an dem Aufbau jeder einzelnen, auch schwierigen Schülerpersönlichkeit mitwirken zu können, in eine existentielle Krise, die mangels Alternativen auf dem Arbeitsmarkt fatal werden kann.
Was mich anbelangte, so hatte ich das Glück, dass der Fachbereich Französisch nicht ganz so groß war, welches die Tatsache nach sich zog, dass wir am Lehrstuhl nur zu dritt waren. Und da die ehrwürdige Frau Professorin vorwiegend Didaktik lehrte, fielen alle anderen Veranstaltungen summa summarum auf meinen französischen Lektoren-Kollegen sowie mich selbst zurück, welches mir allerdings sehr Recht war, denn von didaktischer Theorie verstand ich in den ersten Jahren zunächst recht wenig.
Wissen Sie eigentlich, was Didaktik ist? Sie hat wohl etwas mit Schule und Lehren zu tun. Viel mehr wusste ich damals eigentlich auch nicht. Höchstwahrscheinlich sollte sie das explizit machen, was in jedem Lehrer, der ein wenig Naturtalent besaß, implizit angelegt ist: die Kunst des Lehrens, also die methodischen Schritte, welche ein Lehrer einsetzt, um das zu vermitteln, was er vermeintlich weiß oder wissen sollte. Ob dieses Wissen die Schüler interessierte, stand wieder auf einem anderen Blatt, und zwar manchmal auf einem weißen.
Eigentlich also eine einfache Sache. Versucht nicht jeder von uns alltäglich jemand anderem irgendetwas zu vermitteln? Und wenn Sie den Weg noch aufschreiben, den Sie dabei gegangen sind, haben Sie schon ein Lehrbuch verfasst und damit einige Kilometer Literatur. Also lehren wir alle und jeden Tag etwas, und das meistens ohne Lehramtsausbildung. Wie gefährlich! Noch gefährlicher wird es hingegen, wenn ein studierter Lehrer etwas lehren soll und nicht weiß, was oder wie.
Um ein solches Dilemma zu vermeiden, gibt es professionelle Lehramtsausbilder, die mit oder ohne Titel die zukünftigen Lehrer in der Lehre ausbilden, die man Didaktik nennt. Zugegebenermaßen haben einige wenige dieser Didaktiker noch nie an einer Schule unterrichtet, aber sie waren im Allgemeinen alle zumindest einmal Schüler und wissen, warum sie etwas oder auch nichts gelernt haben. Und dabei sollen sie helfen, das heißt, das eine zu befördern und das andere zu verhindern. Der Didaktiker ist also jemand, der zu verhindern versucht, dass jemand nichts lernt. Er hält die Schüler meistens wach, versucht ihre Aufmerksamkeit zu erwecken und sagt dann schnell etwas, bevor ihm niemand mehr zuhört.
Aber warum dieser Aufwand? Kann man überhaupt vermeiden, dass jemand etwas lernt? Ist nicht das ganze Leben ein einziges Lernszenario? Ist Lernen nicht sogar Voraussetzung für das Überleben? Und macht es nicht grundsätzlich Spaß, etwas zu lernen? Insbesondere wenn es einen Nutzen hat?
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