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Deutschlands wa(h)re Liebe: Lilo Wanders!
Doch wer ist Lilo, wenn sie nicht Lilo ist? Ernie Reinhardt!
Pünktlich zu seinem 70. Geburtstag blickt Ernie auf sein Leben zurück, auf das Aufwachsen in der niedersächsischen Provinz in den 1950ern, auf die Suche nach der sexuellen Identität als junger Mann in Hamburg, auf die Karriere als Bühnenkünstler und schließlich auch auf die Erschaffung von Lilo Wanders, die sich in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation einbrannte.
Ernie Reinhardts Lebensgeschichte ist abwechslungsreich, dramatisch und zuweilen urkomisch – eben genau wie Ernie selbst. Es ist eine Geschichte von Selbstzweifeln und Selbstfindung, von Triumphen und Misserfolgen. Ernie erzählt, wie er vom schüchternen Jungen zur schillernden Diva wurde, warum er sich die meiste Zeit seines Lebens in die zweite Reihe gestellt hat, und wie er es geschafft hat, nach jedem Tiefschlag wieder auf die Beine zu kommen – auch dank seines Publikums.
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Ernie Reinhardt blickt auf sein Leben zurück: Aufgewachsen in der niedersächsischen Provinz der Fünfzigerjahre, begibt er sich nach seinem Coming-out als junger Mann auf Identitätssuche nach Hamburg und beginnt eine bemerkenswerte Bühnenkarriere, die von der Erschaffung der ikonischen Figur Lilo Wanders gekrönt wird. Die schillernde Berühmtheit brennt sich in das Gedächtnis einer ganzen Generation. Ernies Geschichte ist eine über Schicksalsschläge, Selbstzweifel, Misserfolge und zahlreiche Triumphe. Hier wird nichts ausgespart. Er schildert Begegnungen mit sperrigen Stars, die Familiengründung mit seiner Frau Brigitte, durchleidet die Einsamkeit der Pandemie und schwelgt gleichermaßen in Liebesfreud und Herzschmerz. Und wir erfahren, wie er nach jedem Tiefschlag, auch dank seines Publikums, wieder auf die Beine kommt.
Autor
Ernie Reinhardt wächst in der Lüneburger Heide auf und zieht Mitte der Siebzigerjahre zum Studium nach Hamburg. Eigentlich. Stattdessen entdeckt er die Bretter, die die Welt bedeuten. Nach Solotourneen und Auftritten mit schwulen Theatergruppen eröffnet er 1988 mit Corny Littmann das Schmidt Theater auf der Reeperbahn. Er verkörpert Legenden wie Marlene Dietrich und Evelyn Künneke und erschafft schließlich Lilo Wanders, die von 1994 bis 2004 die TV-Serie Wa(h)re Liebe moderiert und zur europaweiten, gefeierten Kultfigur wird.
ERNIE REINHARDT
Waren Sie nicht mal
Lilo Wanders?
Licht und Schatten auf der Bühne meines Lebens
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Originalausgabe September 2025
Copyright © 2025: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Schreibbegleitung und Lektorat: Hendrik Heisterberg Dieses Projekt wurde vermittelt von dots&plots by Lisa Bitzer & Nina Dias da Silva.
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Michael Reh
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
GS ∙ FP
ISBN 978-3-641-33804-6V001
www.goldmann-verlag.de
Inhalt
Prolog: »Waren Sie nicht mal Lilo Wanders?«
Kapitel 1: Liebe Constanze!
Kapitel 2: Wenn der Junge mal nicht vom anderen Ufer ist
Kapitel 3: Eine nicht aufzuhebende Abwesenheit
Kapitel 4: Wir haben Mutter ermordet
Kapitel 5: Das Herz ist ein Muskel
Kapitel 6: Brühwarme Politschwestern
Kapitel 7: Für ein entschiedenes »Vielleicht«
Kapitel 8: Ich weiß, dass du ein Kind von mir willst
Kapitel 9: Wie mir zum ersten Mal die Wanders begegnete
Kapitel 10: Die Maschen fallen, das Leben beginnt
Kapitel 11: A Star Is Born
Kapitel 12: Das war ich nicht, das war Lilo
Kapitel 13: Und dann habe ich geweint
Kapitel 14: Von Sex soll die Rede sein
Kapitel 15: Es gibt nichts, was es nicht gibt
Kapitel 16: You better work, bitch!
Wa(h)re-Liebe-Abc: Zugabe
Kapitel 17: Die Sextante aus der Schmuddelsendung
Kapitel 18: Mama ist wieder da
Kapitel 19: Blondinen auf Boulevardbühnen
Kapitel 20: So spät wie möglich jung sterben
Kapitel 21: Vibratoren, Theater und Tränensäcke
Kapitel 22: Kein Käfig, keine Narren
Kapitel 23: Sternenstaub und Pustekuchen
Epilog: Weil du so heil bist
Danksagung
PROLOG:
»Waren Sie nicht mal Lilo Wanders?«
Ende der Neunzigerjahre fuhr ich mit einem Taxi von meiner Wohnung auf St. Pauli zum Hamburger Flughafen. Ich bemerkte schon seit einer Weile, dass mich der Fahrer im Rückspiegel musterte.
Zu dieser Zeit befand ich mich auf dem Höhepunkt meiner Bekanntheit, 95 Prozent der Bundesbürger wussten, wer ich war, und es kam nicht selten vor, dass mich wildfremde Menschen anstarrten oder sogar ansprachen – selbst wenn ich ohne meinen Parteihut unterwegs war, wie ich die blonde Perücke nenne, die zu meinem Markenzeichen geworden ist. Auch wer es nicht zugab, saß oder lag am Donnerstagabend oder zur Wiederholung von Wa(h)re Liebe in der Sonntagnacht vor dem Fernsehgerät.
Weitere Minuten der stillen Fahrt vergingen, und als sich unsere Blicke das nächste Mal im Rückspiegel trafen, fragte der Fahrer: »Waren Sie nicht mal Lilo Wanders?«
Im ersten Moment war ich schrecklich beleidigt. Aber dann musste ich lachen.
Ich bin Lilo Wanders. Ich verkörpere sie, ich verbreite ihr Wissen und ihre Lebensansichten, und ich ernte ihre Erfolge. Ich erzähle ihre Geschichten und meistens fülle ich diese Rolle mit Freude aus. Ich bin die Wanders. Wenn Lilo »ich« sagt, meint sie sich, die blonde Person, die es eigentlich nicht gibt. Wenn sie spricht oder schreibt, hat sie keine Ahnung, dass sie gar nicht existiert, obwohl sie als eingetragenes Warenzeichen beim Deutschen Patent- und Markenamt in München registriert wurde und etliche Leute glauben, dass sie ein echter Mensch ist.
Ohne das Make-up, die Perücke und die Kleider ist ich ein anderer. Amtlich angemeldet und evangelisch getauft als Ernst-Johann Reinhardt, nach meinem Großvater Ernst väterlicherseits und meinem Urgroßvater Johann mütterlicherseits. Eine schwere Bürde, wenn die Altersgenossen Klaus, Thomas oder Rainer heißen, selbst Erwin oder Hans-Heinrich wären in meiner Kindheit und Jugend für mich erträglicher gewesen. Den Namen Ernst-Johann gab es vielleicht in traditionsbewussten Adelskreisen, aber nicht in den bürgerlichen Familien des dörflichen niedersächsischen Mittelstands, in den ich hineingeboren wurde.
Privat nennt man mich nämlich anders. Möchten Journalistinnen oder Journalisten in einem Artikel über Lilo Wanders besonders investigativ erscheinen, übernehmen sie diesen von mir nicht sonderlich gemochten Namen gern von Wikipedia. Ansonsten benutzen ihn nur das Finanzamt oder andere Einrichtungen des Staates, und dabei möchte ich es gern belassen.
Aus Erni wurde Ernie, ausgesprochen Örnie, das finde ich für mich ganz passend, denn er und nie entsprechen meinem Wesen. Für mich beinhaltet dieser Name, dass ich mit konventioneller Männlichkeit nichts am Hut habe und fast immer auf der Seite der Frauen bin, wenn es um die Befindlichkeiten der Geschlechter geht. Wäre ich heute jung, würde ich als Geschlechtseintrag für mich divers wählen.
Wenn ich blond bin, agiere und spreche ich als Lilo, wenn ich privat bin, sage ich »die Wanders«, wenn die Rede auf mein Alter Ego kommt.
Ich gebe zu, für manche ist es kompliziert. Nicht nur bei meinen Personalpronomina. Bis heute passiert es mir ständig, dass mich Menschen in einem Moment als Ernie und im nächsten als Lilo ansprechen. Ich selbst brauchte in meiner Anfangszeit in der freien Theaterszene keine Trennschärfe zwischen den beiden Ichs. Lilo war nur eine Rolle von vielen, die ich erfunden hatte. Später wurde ich dann mit mir selbst deckungsgleich, denn die ursprünglich grelle Karikatur Lilo musste im Lauf der Zeit einige Entwicklungen durchmachen und zu einem Menschen werden.
Dazu fällt mir eine Begegnung im November 2007 ein. Lilo moderierte die Buchvorstellung des österreichischen Autors Robert Menasse im Literaturhaus Hamburg. Vor zahlreichen Menschen las er Passagen aus seinem klugen und sehr witzigen Roman Don Juan de la Mancha. Zwischendurch sprachen wir auf dem Podium über Liebe, Sex und Tod, und ich war ein bisschen verliebt. Kurz danach wurde das Buch an einem Sonntag im Deutschlandfunk als Buch der Woche vorgestellt – und verrissen. Ich konnte nicht fassen, dass ein Roman einerseits zum Buch der Woche gekürt wird und der Kritiker dem Autor andererseits die Aussagen seines Ich-Erzählers als persönliche Peinlichkeiten und teilweise als faktisch falsch bemängelte. Entweder wusste er nicht, dass das literarische Ich nicht die Stimme des Erzählers sein muss, oder er mochte Robert Menasse als Person nicht. Diese Abneigung oder Fehleinschätzung des Rezensenten erinnerte mich daran, dass mir als Ernie schon manche pointierte Äußerung von Lilo vorgehalten und die Kunstfigur mit ihrem Erfinder verwechselt und in einen Topf geworfen worden war.
Die Figur Wanders hat allerdings hin und wieder noch immer ihre Brüchigkeit, die mir große Freude bereitet. Wenn ich bei einer Gala in die Öffentlichkeit gehe, kann es sein, dass Lilo in einem gigantischen Fummel daherkommt, statt einer schicken Handtasche aber eine Plastiktüte trägt.
Ein anderes schönes Beispiel ist die angebliche Wanders-Autobiografie, die ich 1995 unter dem Titel Tja, meine Lieben veröffentlichte. Eine Lektorin des ECON-Verlags überredete mich, Lilos erfundene Lebensgeschichte zu schreiben. Ich bekam Lust darauf, zu fabulieren, hatte in Erwartung einer riesengroßen Menge verkaufter Bücher Dollarzeichen in den Augen und musste auswählen, was und wie ich erzählen wollte. Letzten Endes wurde das Buch dann eine Parodie auf Schauspielerinnenautobiografien und ziemlich hanebüchen. Bei einer Signierstunde warf mir eine alte Dame empört vor: »Das ist ja alles nicht wahr.« Genau das war die Absicht. Die Wanders ist eben anders.
Entscheidungen sind mir nie leichtgefallen, und das ist bis heute so geblieben. Hätte ich ein Familienwappen, stünde als Wahlspruch darauf: Jederzeit für ein entschiedenes VIELLEICHT. Dazu passt mein Problem, eine Geschichte stringent zu erzählen, so wie jetzt auch hier. Immer wieder komme ich vom Hundertsten ins Tausendste. Gerade fällt mir zum Beispiel der Film Men in Black 3 ein, in dem ein Außerirdischer namens Griffin auftritt. Er besitzt die einzigartige Fähigkeit, die unendlichen Möglichkeiten vorherzusehen, die aus jeder Situation entstehen können. Ich will nicht behaupten, ich sei in der Lage, die Zukunft vorauszusagen, aber beim Blick zurück könnte aus jeder Erinnerung eine andere Geschichte entstehen. Jede Anekdote führt zu einer weiteren, die berichtenswert erscheint, jeder Satz bedeutet eine Weggabelung, an der ich mich für die eine oder die andere Richtung entscheiden muss, obwohl ich am liebsten beide nehmen würde.
Ich mag es, mich in diese Labyrinthe zu wagen, verheddere mich auch manchmal im Gestrüpp der Worte, finde aber eigentlich immer wieder zurück zur Ausgangssituation.
Und nun hier die quälende Entscheidung: Erzähle ich, wie das alles damals anfing mit Wa(h)re Liebe und was davor war – oder erzähle ich die gefakten Wanders-Erinnerungen weiter?
Ich bin aber nicht nur Lilo. Ich bin auch Martha und Änne, Hermann, Karin und Zarah, Evelyn, Marlene und viele andere, die mich inspiriert, geprägt und zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Ein Mädchen im Jungenkörper, den ich aber nie anders wollte. Eine Frau, die in jeder Lebenssituation ihren Mann steht. Ein Mann, der all seine femininen Seiten in- und auswendig kennt. Und ein Mensch, der niemals aufgehört hat, großartige Frauen – und auch ein paar tolle Männer – zu feiern.
Aber an dieser Stelle in der Geschichte sind wir noch nicht. Die Wanders ist auch eine Wanderin in Gedanken und oft ohne Karte unterwegs, auch wenn sich rückblickend Fügungen ergeben.
Machen wir uns also auf den Weg und fangen ganz vorne an, vor Ernies und lange vor Lilos Geburt.
KAPITEL 2:
Wenn der Junge mal nicht vom anderen Ufer ist
Seit dem Frühjahr 1952 gingen zwei oder manchmal sogar drei Briefe in der Woche zwischen Dorfmark und Stuttgart hin und her. Hermann konnte sein Glück kaum fassen und verliebte sich bereits aus der Ferne in seine Briefpartnerin, während Karin eher pragmatisch darüber nachdachte, diesen höflichen und warmherzigen Mann trotz seines unübersehbaren Buckels als Partner in Betracht zu ziehen.
Zu telefonieren war ein Luxus, aber manchmal führten sie R-Gespräche miteinander, deren Kosten Hermann auf den Firmenanschluss buchen ließ. Langsam entstand eine Vertrautheit und zu Beginn des Sommers wurde ein erstes Treffen verabredet, für Karin verbunden mit einer langwierigen und komplizierten Bahnreise nach Hannover. Die gemeinsame Nacht in einem Hotel verlief liebevoll und ohne Peinlichkeiten und verstärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Kurz danach machte Karin per Brief einen Rückzieher, nicht wegen Hermanns Behinderung, wie sie schrieb, sondern weil sie fürchtete, den Ansprüchen der aus ihrer Sicht reichen und herrschaftlichen Familie nicht genügen zu können. Hermanns traurige Antwort war sehr nobel, aber er versuchte richtigzustellen, dass in der Hauptstraße 4 wahrhaftig kein Überfluss herrschte, der einschüchtern könnte. Er selbst bezog eher ein Taschengeld als ein Gehalt. Dafür wurden ihm Geschäftsanteile gutgeschrieben, die seinem späteren Erbe zugeschlagen werden sollten. Hermann erreichte, dass Karin einlenkte, und nun begannen sie über eine gemeinsame Zukunft als Ehepaar nachzudenken.
Eine Bedingung für die Einwilligung der Eltern war, dass Karin in Dorfmark zunächst bei der Apothekerfamilie Jordan die Führung eines Haushalts lernte, während sie in einem Zimmer unter deren Dach wohnte. Die sehr forsche und äußerst protestantische Hildegard Jordan, Mutter dreier Kinder und 20 Jahre älter als Karin, führte ein strenges Regiment. Karin putzte, lernte kochen, musste der Familie bei Tisch servieren, mit den Armen hinter dem Rücken dabeistehen und ohne Aufforderung Schüsseln und Platten anreichen. Ihrem Dienstbotenrang entsprechend, saß sie danach allein in der Küche und durfte die Reste essen. Eine wirklich harte Schule.
Im Frühling 1953 feierten Hermann und Karin im Gasthaus Hartung ihre Verlobung, zu der er von ihr eine antiquarische Ausgabe des freizügigen Dekameron mit den 100 erotischen Novellen des Boccaccio geschenkt bekam, versehen mit der anspielungsreichen Widmung »Zur Erbauung in einsamen Stunden – immer die Deine«. Die Feier wurde vom Tod zweier junger Leute überschattet, die auf dem Weg zum Fest Hand in Hand auf einer Kuhweide an einem Stromschlag gestorben waren. Geheiratet wurde trotzdem im darauffolgenden Oktober, einen Monat nach Karins 25. Geburtstag.
In dem froschgrünen Gutbrod-Cabriolet, das sie gerade von ihrer verstorbenen Tante Bertha geerbt hatten, ging es auf eine kurze Hochzeitsreise ins Weserbergland. Dann begann der arbeitsreiche Alltag im Hause Reinhardt in Dorfmark.
Dort war zwischen ihnen beiden, dem jungen Pastor Heinrich Seegelken, der sie getraut hatte, und dessen Frau Rosemarie eine Freundschaft entstanden. Manchmal fuhr man zu viert nach Walsrode, wenn im Kino ein Theatergastspiel auf dem Programm stand, oder für ein Abendessen ins weit entfernte Ratzeburg an der Elbe. Das Pastorenpaar war lebenslustig, es wurde viel getrunken und gelacht, ohne missbilligende Überwachung durch Gemeindemitglieder oder Geschäftskunden.
Weihnachten 1954 wurde Karin schwanger, was aber nicht bedeutete, dass sie sich bei der Hausarbeit schonen durfte. Hermann wusste das, hatte aber nicht genügend Durchsetzungsvermögen, um so für sie einzutreten, wie es eigentlich nötig gewesen wäre. Den größten Teil seiner Energie musste er einsetzen, um den Alltag zu überstehen. Das schwere Stahlkorsett zu tragen, kostete Kraft, aber ohne war er kaum in der Lage, seinen Körper aufrecht zu halten. Karin verstand, dass er Zeit für sich allein brauchte und manchmal nicht ansprechbar war, und sie wusste, dass dieser an sich immer freundliche Mensch sehr unwirsch werden konnte, wenn er seinem Bedürfnis nach Rückzug nicht nachzukommen vermochte. Dann setzte sie sich unten an den Esstisch, schrieb Briefe und ließ Hermann mit seinem Weinbrand in dem ihnen zugestandenen Wohnzimmer auf der Angestelltenetage in Ruhe. Aus einer Art Vernunftehe war zwischen den beiden Unterdrückten eine aufrichtige Liebe erwachsen und das Warten auf ihr Kind verband sie noch stärker.
Als die Wehen einsetzten, fuhren die werdenden Eltern durch die Nacht über den Truppenübungsplatz nach Celle. Die dortige Landesfrauenklinik galt als die beste Geburtsanstalt im weiten Umkreis und so kam ich am Vormittag des 22. September 1955 als Ernst-Johann ohne Komplikationen auf die Welt, mit 61 Zentimetern das bis dahin größte in diesem Krankenhaus geborene Baby. Die frischgebackenen Eltern versuchten, von ihrem Kind als Ernst zu sprechen, aber dieser Name war vom Familienvorstand allzu stark besetzt. Also bekam ich den Spitznamen Butzi.
Auch Hermanns Schwester Marga und ihr langjähriger Verlobter Heinz hatten inzwischen geheiratet. Ihre Tochter Renate, genannt Püppi, kam im Mai 1956 zur Welt, war sofort der Liebling des ansonsten emotional gehemmten Großvaters, wurde verwöhnt und mir vorgezogen. Wenn Püppi schlief, mussten alle auf Zehenspitzen gehen, und ich wurde ständig ermahnt, leise zu sein. Ich war ein lebhaftes Kind, und um mich ruhigzustellen, bekam ich jeden Abend ein Beruhigungszäpfchen.
Die Dose stand in Reichweite meines Bettchens mit den Gitterstäben. Einmal hatte ich das Behältnis zu fassen bekommen, geöffnet und den ganzen Inhalt wie Bonbons verzehrt, was dazu führte, dass ich zwei Tage lang entspannt durchschlief. Es ist kaum erstaunlich, dass ich schon als Jugendlicher versuchte, mich mit allen möglichen Mitteln in diesen Zustand der Abwesenheit zu versetzen.
Wenn es nicht um Püppi ging, war mein Großvater im Privaten immer mürrisch. Nur mit Kunden wurde gelacht, aber nie von Herzen. Bezeichnenderweise litt er ständig an Verstopfung und konnte nur bei der Gartenarbeit entspannen. Ich lag in meinem Körbchen unter einem Apfelbaum, während Opa und Mama im Frühjahr und Sommer Seite an Seite den Garten bewirtschafteten und Obst und Gemüse ernteten. Schweigsam, denn das galt als Tugend. »Wie es innen aussieht, geht keinen was an«, war die Devise der Zeit. Krankheiten und Sorgen wurden verheimlicht, galten als Makel oder moralisches Versagen. Erst wenn solche Ereignisse offenbar wurden, gab es Mitgefühl und Anteilnahme, die vielleicht in der Krise schon hilfreich gewesen wären.
Mit Hermann ging es gesundheitlich bergab. Immer wieder hatte er besorgniserregende Atemprobleme und Herzbeschwerden. Aber Karin war schnell wieder schwanger geworden, und im Juni 1957 kam als zweites Kind mein Bruder Wulf in die Familie.
Ich war noch keine zwei Jahre alt und stand weinend an der Hand meines Vaters im Hof der Klinik in Celle, in der auch ich auf die Welt gekommen war. In den Fünfzigerjahren war es Kindern nicht erlaubt, die Neugeborenenstation zu betreten. Meine Mutter winkte, ebenfalls in Tränen aufgelöst, von einem Balkon, und ich war untröstlich, dass ich nicht zu ihr durfte.
Durch dieses freudige Ereignis rückten Hermanns Beschwerden in den Hintergrund, dafür machte ich Sperenzchen, wie man es nannte. Ich war feinfühlig, lebhaft und kaum zu bändigen; nun kam Eifersucht dazu und ich versuchte, dem Bruder einen Finger abzubeißen, was im letzten Moment verhindert werden konnte. Daraufhin wurde Atta, eine 16-jährige Schulabgängerin, tagsüber als Kindermädchen eingestellt. Um den beiden Kleinen Ruhe zu verschaffen, beaufsichtigte sie mich für einen Monatslohn von 30 Mark von halb neun bis halb zwölf. Sie hatte mich im Griff. Stundenlang schob ich in ihrer Begleitung meine Kinderkarre durch den Bürgerpark, wo wir die Enten fütterten. Kaum wieder im Haus, war ich obstinat, wie mir Tante Marga mit meinen drei Jahren vorwarf, was wohl bockig oder aufsässig heißen sollte.
Hermann war mit den Angestellten in einer Toto-Tippgemeinschaft, die eines Samstags tatsächlich eine erhebliche Summe gewann. Sein Gewinnanteil reichte für ein neues Auto und die Kosten einer Kur in Bad Pyrmont.
Für die Zeit seiner Abwesenheit übernahm Martha in Erbstorf den Zweitgeborenen und Karin reiste mit mir nach Haffkrug an der Ostsee, dies mit der Absicht, mir mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich weiß noch, wie wir auf einer langen Allee bis Pönitz wanderten, wo Karin als Kind mit Martha gelebt hatte. Wir besuchten eine Freundin von damals, die ich Tante Buhmann nennen musste und die mich, wie Karin es beschrieb, vermöbelte, als ich in einen Tobsuchtsanfall verfiel.
Diese Züchtigung sorgte dafür, dass bei mir, eher aus Angst denn aus Einsicht, ein Schalter umgelegt wurde. Nach der Rückkehr wurde ich meinem Bruder gegenüber extrem fürsorglich, und wachte fortan fast hysterisch darüber, dass ihm keine fremde Person zu nahe kam.
*
Im Hause Reinhardt gab es viele Regeln, die keine Erklärung brauchten, und Rituale, die niemand infrage stellte, weil sie anscheinend seit Anbeginn der Zeit galten.
Um 18 Uhr war offiziell Ladenschluss, aber die Stammkundschaft wusste, dass man auch noch später klingeln durfte. Falls etwas Dringliches vergessen worden war, wartete der Chef noch bis kurz vor sieben im Kontor. Danach folgte das Abendbrot und im Anschluss ging jeder seiner festgelegten Wege.
Das Hamburger Abendblatt, morgens auf der Altpapiertruhe neben der Küchentür zum Treppenhaus abgelegt, wurde nach Feierabend stets zuerst vom Hausherrn Ernst gelesen. Wehe, jemand hatte die Seiten vor ihm durchblättert, das bedeutete Ärger. Karin deckte den Tisch ab und erledigte den Abwasch, während Hermann schon nach oben ins Wohnzimmer der jungen Leute ging.
Opa Ernst begab sich, gefolgt von Oma Änne, schweren Schrittes in seine funzelig beleuchtete Stube. Er schaltete die Stehlampe neben dem Ohrensessel ein und entfaltete die Zeitung mit einem lauten Knall, während Änne auf das Schwarz-Weiß-Bild des Fernsehers schaute, der leise sein Programm abspulte. Sie war kurzsichtig, auf dem linken Auge fast blind, aber zu eitel, eine Brille zu tragen. Deshalb saß sie so, dass sie das Fernsehbild aus dem rechten Augenwinkel verfolgen konnte, und ähnelte mit ihrer duftigen weißen Dauerwelle dem Profil eines in die Jahre gekommenen Huhns mit roten Bäckchen. Jeden Morgen verteilte sie zwei Tupfen Lippenstift mit Kölnisch Wasser auf den Wangen – für sie der Gipfel der Frivolität.
Meine Tante Marga verzog sich immer schnell in ihr Wohnzimmer, das gleichzeitig das Kinderzimmer ihrer Tochter war. Heinz, ihr Mann, kam nur am Wochenende aus Munster, wo er für die englischen Soldaten als Pferdepfleger arbeitete. Marga war nicht böse darüber, die beiden hatten sich arrangiert und verbrachten den größten Teil ihrer gemeinsamen Zeit mit ihrem Schimmel und bei Reitturnieren.
Für Hermann mit seiner Bürotätigkeit hatte der Arbeitstag schon um Schlag 18 Uhr geendet. Als Erstes strebte er nach oben ins Schlafzimmer, um nach mir und meinem Bruder zu sehen. Wulfi schlief bereits, ich aber hielt mich an den Gittern meines Kinderbetts fest, sprang wie ein Gummiball auf und ab und krähte: »Papa, Papa!« Dann setzte er sich zu mir und erfand jeden Abend ein weiteres Abenteuer der Piele-Ente Watschwatsch, das ich mit in den Schlaf nahm. Noch heute horche ich auf, wenn ich einen Mann mit seiner Stimmfärbung sprechen höre, und die Erinnerung an meinen liebevollen Vater rührt mich.
Oma Änne hatte die Haushaltsführung nach einem Oberschenkelhalsbruch ganz an ihre Schwiegertochter abgegeben. Sie mochte sie, war aber oft irritiert von Karins Frohsinn, der dieser Familie völlig fremd war. Müßiggang allerdings konnte man ihr, weiß Gott, nicht vorwerfen. Sie hatte mit Erni und Wulfi dafür gesorgt, dass der Name Reinhardt weiter bestehen würde, und sie machte Hermann glücklich.
Meine Mutter stand frühmorgens als Erste auf und bereitete den Frühstückstisch. In der kalten Jahreszeit heizte sie im Keller den Ofen an, der das ganze große Haus mit Wärme versorgte. Vormittags erledigte sie die Einkäufe beim Bäcker und Schlachter – alle anderen Lebensmittel kamen aus dem Laden oder aus dem Garten –, bekochte die Großfamilie und einmal im Monat, an den langen verkaufsoffenen Samstagen, die Angestellten und Verkäuferinnen, die zur Pause nach oben kamen.
Die Haushaltshilfe Frau Beckmann kam jeden Morgen um neun Uhr, um Karin zur Hand zu gehen, die gröberen Arbeiten zu erledigen und, einmal im Monat, die beiden langen Korridore zu bohnern. Der heute selten gewordene Geruch nach Bohnerwachs versetzt mich sofort zurück in die Tage meiner Kindheit, und es muss an einem dieser Tage gewesen sein, als ich mit einem Putzlappen hinter Frau Beckmann her tänzelte und Oma Änne über mich Dreijährigen sagte: »Wenn der Junge mal nicht vom anderen Ufer ist.«
Ich wusste natürlich nicht, was damit gemeint war, erkannte aber, dass bei mir etwas anders war als erwartet. In meiner Kindheit trug ich ein stetig wachsendes Gefühl von Fremdheit in mir, konnte es aber in meinen jungen Jahren nicht einordnen. Schwul zu sein, bedeutet ja zunächst nicht, sexuell zu sein. Doch das eigene Sein scheint nicht mit dem der anderen übereinzustimmen. Vorbilder im Familienkreis oder in der Öffentlichkeit gab es damals keine für mich, überall ging es nur um Jungen und Mädchen und Männer und Frauen, Zwischenstufen waren nicht vorgesehen. In dieser, wie man es heute nennt, heteronormativen Welt, fühlte ich mich oft einsam.
Manchmal war Oma Änne nicht nur scharfsinnig, bisweilen lag tatsächlich Humor unter ihrer energisch gepflegten Höhere-Tochter-Attitüde. Einmal wunderte sich Karin darüber, dass der Kachelofen im Wohnzimmer besser zog als der in ihrem Schlafzimmer direkt nebenan. Unbedarft sagte sie beim Anheizen: »Aber dein Loch ist ja auch größer«, was dazu führte, dass sich Schwiegermutter und Schwiegertochter nach einem kurzen Moment lachend in den Armen lagen. Änne vertraute Karin irgendwann sogar an, dass Ernst den ehelichen Akt nur mit reichlich Alkohol im Blut hatte vollziehen können und dass dieser Teil ihrer Ehe mit Margas Geburt 1927 beendet worden war.
Trotz dieser Vertraulichkeiten gab es immer wieder Enttäuschungen und leise geführte Auseinandersetzungen. Anfang April 1958 beschrieb Karin in einem Brief an ihre Mutter eine Situation mit ihrer Schwiegermutter und der Schwägerin. Ohne lauschen zu wollen, hatte sie beim Abwasch in der Küche gehört, wie die beiden gehässig über sie hergezogen waren und ihre Haushaltsführung auf hämische Weise lächerlich gemacht hatten. In Karin kochte es. Sie öffnete die Tür und brüllte: »Ihr Weiber, ihr solltet euch was schämen, hier zu sitzen und zu lästern, während ich für euch die Arbeit mache und euch jeden Gefallen tu!«
Änne schlich in Püppis Zimmer, Marga aber hatte den Mut, in die Küche zu kommen und zu sagen: »Karin, ich schäme mich sehr.« Der Streit wurde begraben und Karins Ansehen stieg durch diesen für sie untypischen Gefühlsausbruch. Durchsetzungskraft und Lautstärke wurden in dieser Familie mehr gewürdigt als Freundlichkeit und Angepasstheit.
Ich wundere mich, dass ich schon als ganz kleiner Junge so viel aufnahm und registrierte. Vielleicht war das so, weil ich mich bei meinen Eltern sicher fühlte und sie meine schnelle Auffassungsgabe förderten.
Abenteuer ist kein Ort, sondern eine Zeit. Die Tage waren endlos lang, und rückblickend staune ich, wie abwechslungsreich und aufregend mein dörfliches Kinderleben in den ausgehenden Fünfzigerjahren war. Ich war allem und jedem zugewandt und verstand nicht, wenn mein Freiheitsdrang eingeschränkt werden sollte oder meine Naseweisheiten als frech galten.
Im geschützten Raum der Familie war ich immer ein bisschen vorlaut und kommentierte alles, was mir im Laufe des Tages begegnete.
Wenn ich zu aufgedreht war, musste ich mich vor das Bild von Goethe stellen, das im Schlafzimmer, versteckt zwischen Schrank und Fenster, in einer Ecke hing. Vor Opa Goethe hatte ich noch mehr Respekt als vor Opa Ernst und machte mir vor Angst fast in die Hosen.
