Was am Ende bleibt - Marija Barisic - E-Book

Was am Ende bleibt E-Book

Marija Barisic

0,0

Beschreibung

Begegnungen, manche sind flüchtig, manche dauern ein Leben lang: Was bleibt davon, wenn wir eines Tages, am Ende, zurückblicken? Marija Barišić und Laura Fischer ha- ben mit Menschen am Ende ihres Lebens über die Liebe gesprochen. Ein Buch, das berührt, überrascht und motiviert, von nun an im eigenen Leben einiges anders zu machen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 220

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marija Barišić

Laura Fischer:

Was am Ende bleibt

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Isabella Starowicz

Satz: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-99001-364-9

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort

Freiheit

Die Fernfahrerbar

Nähe und Distanz

Fuchs, du hast die Gans gestohlen

Rache

Schweigen

Wie unsere Tochter zu uns fand

Begegnung

Die kalte Ehe

Die Entscheidung

Vergebung

Der rote Gummischlauch

Treue

Von Hosen und Röcken

Eine zweite Chance

Ohnmacht

Das Medaillon

Leidenschaft

Der alles weiß und alles kann

Abgrund

Die zwei Söhne

Wollen, nicht müssen

Allein

Die Firma

Die Namen der meisten Personen, die in diesem Buch zu Wort kommen, wurden auf ihren Wunsch hin geändert. Einige wenige wollten allerdings mit ihrem Klarnamen genannt werden. Sie wurden dementsprechend markiert. Die Geschichten geben nicht den exakten Wortlaut der geführten Interviews wieder, der Inhalt der Gespräche wurde jedoch nicht verfälscht. Alle Geschehnisse, Orte und Personen, die in den Geschichten vorkommen, beruhen auf Angaben der interviewten Personen.

Vorwort

Über das Erinnern

Welche Geschichten haben Platz in diesem Buch gefunden? Welche wurden uns erzählt, an welche wurde sich erinnert? Es sind oft die dramatischen Geschichten, die traurigen, die, die ein Loch in das Leben der Erzählenden gerissen haben. Die, die bis zum Schluss nicht vergessen werden können. Es ist die Erinnerung an Kinder, Eltern, Partner und Freunde, die Erinnerung an eigene Fehler und die Fehler von anderen. Nicht alle Erinnerungen sind qualvoll, oft sind sie ein Andenken an einen Menschen, an eine Entscheidung oder an ein ganz anderes Leben.

Erinnerungen sind nie linear, nie wie eine Geschichte mit Anfang, Ende und strukturiertem Mittelteil. Manchmal verschwimmen Zahlen und Orte, Erinnerungen können nacherzählt sein, so lange, bis man sie glaubt, können verdrängt werden oder im eigenen Unterbewusstsein geschönt, um sie erträglicher zu machen. Die Gefühle, die mit diesen Erinnerungen verknüpft werden, sind dadurch aber nicht weniger wahr. Erinnerung ist immer authentisch, egal, ob sie das Erlebte eins zu eins widerspiegelt.

Erinnern funktioniert nicht über Standbilder und nicht über Fotoalben. Lebendig werden Erinnerungen in Malereien, wie in dem Buch, voll mit den Zeichnungen ihres Mannes, das eine Dame aufbewahrt. Oder über das Medaillon, das einen Herren durch sechs Jahre russische Kriegsgefangenschaft getragen hat. Das Medaillon ist der Schlüssel zu einer Erinnerungswelt, die ihm bis heute die Angst von vor 77 Jahren wieder in die Augen treibt und Tränen herausholt.

Menschen in Pflegeheimen lassen meistens vieles ihres Besitzes in ihren Wohnungen. Mit kommt nur diese Sammlung an Erinnerungen, ob sie mitmöchte oder nicht. Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, freuen sich, sie mit Ihnen zu teilen. Um Sie zu unterhalten, um Sie zu berühren oder um Sie zu warnen, vor Fehlern, die schon gemacht wurden, die wir deshalb nicht mehr zu machen brauchen.

Um abschließend noch einige Worte über die Liebe zu verlieren, möchte ich zwei interviewte Damen zitieren:

Die Liebe ist der Inhalt des Lebens in allen Lebenslagen.

Aber ich habe nachgedacht und bin auf viele Arten von Liebe gekommen.

– Laura Fischer

Über Lektionen

Und? Was bleibt über nach all den Gesprächen? Was hast du über die Liebe gelernt?

Die Antwort auf diese Fragen, die mir in letzter Zeit immer wieder gestellt werden, halten Sie, lieber Leser, liebe Leserin, gerade in Ihren Händen. Denn jede Geschichte, die Sie auf den folgenden Seiten dieses Buches erwartet, ist das, was für mich nach den Gesprächen übergeblieben ist und was ich nun mit großer Freude an Sie weiterreichen darf. In der Hoffnung, dass auch Sie etwas über die Liebe lernen. Und das werden Sie. Davon bin ich überzeugt.

Sie werden lernen, dass Geschichten über die Liebe immer auch Momentaufnahmen der Zeit sind, in der die Liebe erlebt und gelebt wird. Die meisten Personen, die in diesem Buch so offen und ehrlich über ihre Erfahrungen erzählen, wurden kurz vor, während oder nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Sie spiegeln den Zeitgeist einer Generation wider, die unter ganz anderen Umständen und Regeln groß geworden ist als meine. Das werden Sie vor allem an den Sätzen erkennen, die sich so oder so ähnlich lesen: Das kann man sich heute ja gar nicht mehr vorstellen, aber damals…!

Warum ist das wichtig?

Weil Geschichten über die Liebe, und das werden Sie auch lernen, nie getrennt betrachtet werden können von der Zeit, in der sie spielen. Die Zeit ist es, die die Rahmenbedingungen für Liebe festlegt: Mit ihren Vorstellungen von Richtig und Falsch, von Männern und Frauen, von Normal und Abnormal entscheidet sie letztlich darüber, wie wir lieben und von anderen geliebt werden. »All meine Beziehungen sind am Unverständnis gescheitert, wie eine Frau zu sein hat und ein Mann zu behandeln ist«, hat eine Dame einmal zu mir gesagt, deren Geschichte Sie in diesem Buch noch lesen werden, und die die zweite Lektion hier mit diesem Satz ganz gut auf den Punkt bringt.

Das Dritte, was Sie lernen werden – und damit will ich Sie auch schon in die Lektüre dieses Buches eintauchen lassen – ist: dass Menschen am Ende ihres Lebens nicht nur über die Liebe sprechen, die sie erfahren haben, sondern vor allem über die, die ihnen vorenthalten wurde. Eine, die nicht da war, obwohl sie da sein hätte sollen. Am treffendsten hat das wahrscheinlich die Dame mit den meeresblauen Augen ausgedrückt, die gleich zu Beginn unseres Gespräches meinte: »Ich habe die Liebe daran erkannt, dass sie nicht da war.« In Fällen wie diesen kann die Frage nach dem Warum einen das ganze Leben lang begleiten und selbst am Sterbebett noch großen Schmerz auslösen.

Aber: Auch der Schmerz gehört zur Liebe und niemand, wirklich niemand, der liebt, entkommt ihm. Auch das werden Sie lernen, aber nun will ich mein Versprechen von oben einlösen und Sie wirklich eintauchen lassen: Lesen und lernen Sie am besten einfach selbst! Und haben Sie eine Freude daran.

– Marija Barisic

Freiheit

Hilde ist siebzig Jahre alt und hat nur noch 17 Prozent ihrer Lunge. Nach einer Stunde fällt ihr das Atmen so schwer, dass sie ihre Sauerstoffmaske wieder aufsetzen muss. Sie hat nicht Angst vorm Tod, sagt sie, sie hat Angst vorm Sterben, weil sie nicht ersticken will. Sonst denkt Hilde nicht viel an den Tod, lieber füllt sie Kreuzworträtsel aus – für die gibt es eine Lösung, für den Tod nicht.

Aufgeschrieben von: Marija Barisic

Meinen Mann habe ich mit 18 Jahren geheiratet, weil ich auf Skiurlaub fahren wollte. Natürlich klingt das absurd, es ist auch absurd. Aber damals wäre es nicht denkbar gewesen, als junge, unverheiratete Frau einfach mal die Sachen zu packen und alleine wegzufahren. Ich habe geglaubt, dass Heiraten eine Form von Freiheit ist. Dass ich dann aber in keinem flauschigen Daunenbett, sondern in einem Bett voller Dornen aufwachen könnte, darauf hat mich kein Mensch vorbereitet. Stattdessen hat man uns lieber zu stillen, gehorsamen Ehefrauen erzogen. Im Alter von drei Jahren habe ich meinen ersten Schal gestrickt. Parallel dazu wurde mir eingeredet, dass Männer kein so gutes Händchen dafür haben. Natürlich nicht, denke ich mir heute, sie haben ja auch nicht mit drei Jahren schon zu üben angefangen.

Umgekehrt wurde den Männern eingeredet, dass wir Frauen alle Dummerchen waren, um die man sich kümmern muss. Und so wurden wir dann auch von ihnen behandelt. Das hat schon im Kindesalter begonnen, als mein Bruder uns Töchtern immer vorgezogen wurde. Nach meiner Geburt hat die Hebamme sich ja nicht einmal getraut, meinem Vater zu sagen, dass er schon wieder eine Tochter bekommen hat. Als wären wir Menschen zweiter Klasse, die es nur halb so sehr verdienten, auf der Welt zu sein.

Viele Frauen, die meisten von uns, haben die von ihnen erwartete Rolle sogar freiwillig angenommen: die Hausfrau als unfähiges Dummerchen. Man konnte es ihnen gar nicht übelnehmen, die Einstellungen wurden uns quasi mit der Muttermilch mitgegeben und zu Hause vorgelebt. Dieses unterwürfige Verhalten hat sich in den kleinsten Alltagssituationen gezeigt. Dass eine Frau zu ihrem Mann nicht einfach sagen konnte: »Ich will jetzt rechts abbiegen und du kommst bitte mit mir mit«, sondern sich vornehmen musste, ihn bis zur Weggabelung in ein Gespräch zu verwickeln, damit er dann gar nicht mitkriegen würde, dass sie gerade rechts abgebogen sind. Das Ergebnis dieser Fremdbestimmtheit, jeder Fremdbestimmtheit eigentlich, ist die Manipulation. Wie setzt du deinen Willen durch, ohne zu zeigen, dass du einen hast? Du manipulierst! Einen anderen Weg gibt es nicht. Das Sprichwort: »Der Mann ist der Kopf, die Frau der Hals« ist somit zum dümmsten und wahrsten Spruch unserer Zeit geworden.

Selbst meine Mutter, eine ausgesprochen starke Frau, hat meinen Vater immer als Heiligtum und Hausherren hochgehalten. Dabei war ich immer der Meinung, dass mein Vater einen Vollklescher hatte und meine Mutter weitaus intelligenter war. Vieles an diesem Verhalten hatte auch mit der Angst zu tun, keinen Mann zu finden, sobald man den Vorstellungen einer anständigen Frau nicht mehr entsprach. Und was ist eine Frau schon ohne Mann? Auch so ein Schwachsinn, der uns eingeredet wurde und den ich nach meiner Scheidung immer wieder zu hören bekam.

Ich wusste nämlich, dass ich kein Dummerchen bin und habe nie verstanden, warum ich so tun sollte als ob. Meine Ehe ist an diesem Unverständnis zerbrochen und meine anderen darauffolgenden Beziehungen auch. Wie eine Frau zu sein hat und ein Mann zu behandeln ist. Nichts, was mir dahingehend beigebracht wurde, hat jemals Sinn für mich gemacht. Nach fünf Jahren Ehe wusste ich dann: Entweder ich rette jetzt meine Ehe oder mich selbst. Ich habe mich für mich entschieden.

Dabei hat mein Mann mir wirklich nichts Schlimmes angetan, zumindest für die damaligen Verhältnisse nicht. Geschlagen hat er mich nicht, nur einmal, da ist ihm die Hand ausgerutscht, nachdem ich mich geweigert hatte, mit ihm zu schlafen. Davor hatten wir noch einen großen Streit, weil er mir nicht glaubte, dass ich bei meiner Schwester zu Besuch im Krankenhaus war. Die hatte zu der Zeit eine Nierenbeckenentzündung und lag im Spital. Nach dieser Diskussion wollte er allen Ernstes noch mit mir schlafen. Ich habe ihm gesagt: »Zuerst bezeichnest du mich als Lügnerin und dann willst du Sex? Das empfinde ich jetzt ehrlich gesagt als Frechheit.« Zack! Da hat er mir auch schon eine Ohrfeige verpasst. Das war ihm zu aufmüpfig. Böse war ich ihm nicht, aushalten wollte ich es aber auch nicht. Er hat mich so behandelt, wie vermutlich hundert Millionen andere Männer ihre Frauen damals auch behandelt haben. Ich war nur eine von wenigen, die für sich beschlossen hat, einen anderen Weg zu gehen.

Als ich ihm sagte, dass ich mich scheiden lassen will, hat er sich ein Jahr lang geweigert, die Scheidungspapiere zu unterschreiben. Irgendwann hat es mir gereicht, ich habe meinen dreijährigen Sohn an der Hand gepackt und bin in eine andere Wohnung gezogen. Mein Mann wollte mir noch beim Übersiedeln helfen und hat mir nachgerufen: »In 14 Tagen bist du eh wieder bei mir, weil du bist zu blöd, um alleine zu leben!« Natürlich habe ich ihm das Gegenteil bewiesen, mir sagt man so etwas nicht zweimal.

»Du kannst doch einen Mann nicht verlassen!« Das war die Reaktion meines Vaters, als er von der Scheidung erfuhr. Ich dachte noch, dass er sich freuen würde, weil er mich die ganze Ehe über immer wieder gegen meinen Mann aufgestachelt hatte und der Meinung war, ich würde mir viel zu viel von ihm gefallen lassen. Das waren diese Diskrepanzen meiner Zeit, die ich nie verstanden habe: »Mach doch, aber wehe du machst es!«

Die Zeit nach der Scheidung war furchtbar. Nicht, weil ich meinen Mann vermisste, sondern das Geld. Die finanzielle Sicherheit. Ich arbeitete damals als Technische Zeichnerin, hatte einen kleinen Sohn, um den ich mich kümmern musste und nahm Aufputschmittel, um die Nächte durchzuarbeiten und neben meiner offiziellen Arbeit zusätzliches Geld zu verdienen. Eine Zeit lang hatte ich zwei Jobs gleichzeitig. Irgendwann konnte ich nicht mehr und brach vor meiner Arbeitskollegin in Tränen aus. Sie schleppte mich zu einem Psychologen. Ein Dreivierteljahr ging ich einmal die Woche zur Gesprächstherapie und kämpfte nebenbei um die Alimente für meinen Sohn.

Mit der Psychotherapie brach ich ein weiteres Tabu meiner Zeit, was in einer Zeit voller Tabus nicht schwierig war. »Du musst deppert sein, dass du einen Psychologen brauchst!«, haben sie alle zu mir gesagt, aber ihrer Meinung nach war ich ja auch deppert, dass ich mich freiwillig von meinem Mann geschieden hatte, also fiel es mir nicht schwer wegzuhören. Die Therapie war gleich nach der Scheidung die beste Entscheidung meines Lebens: Ich sage es Ihnen, der hat mich da heil herausgeholt, dieser Psychologe. Zu allen Menschen, die heute überlegen, ob sie eine Therapie machen sollen oder nicht, sage ich: im Zweifel immer ja. Es ist unglaublich, was man da alles über sich lernt. Ohne die Therapie und meine Mutter, die am Wochenende immer auf meinen Sohn aufgepasst hat, wäre damals gar nichts gegangen.

Die Alimente habe ich mir dann mühsam mit der Hilfe eines Freundes, der Rechtsanwalt war, erstritten, weil mein Mann, gekränkt in seinem Stolz, sich wochenlang weigerte zu zahlen. Letztlich musste er sogar noch mehr Alimente zahlen, als wir ursprünglich vereinbart hatten, weil er leider, leider zu viel verdient hat. Natürlich habe ich ihm das gegönnt! Dieses Neidigsein seinem eigenen Kind gegenüber habe ich ihm nicht so leicht verziehen.

Nach dem Scheidungsdrama schaffte ich mir ein kleines Auto an und lernte, nur das zu kaufen, was ich wirklich brauchte. Mit diesen Rabattgutscheinen hätten Sie mich quer durch die Stadt jagen können, die haben mich nicht interessiert, wir hatten ja alles, was wir brauchten. Jahre später sagte mein Sohn, mittlerweile ein erwachsener Mann, zu mir: »Mama, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der sparen kann, ohne zu sparen.«

Ihn lieferte ich am Wochenende und in den Ferien immer bei meiner Mutter im niederösterreichischen Wieselburg ab, was mir Zeit und Raum zum Atmen verschaffte. So konnte ich dann nachts durch die Innenstadt ziehen, das Leben und meine wiedererlangte Freiheit genießen. Ich war ja noch jung, hatte eine recht gute Figur und war auch wirklich nicht hässlich. Nach meinem Mann hatte ich noch mehrere andere Beziehungen, die aber nicht länger als drei Jahre dauerten. Damals alleinerziehend zu sein, war nicht nur aus finanzieller Sicht schwierig, sondern vor allem auch, was andere Männer betraf. Wir unverheirateten Alleinerzieherinnen wurden ja wie Freiwild behandelt. Einmal, ich kann mich noch gut erinnern, hat ein Mann zu mir gesagt: »Du bist ja jetzt frei, du kannst ja zu mir sagen.« Ich habe mich damals nur umgedreht und gemeint: »Stell dir vor, ich bin sogar so frei, dass ich nein sagen kann.« Die dachten, wir wären offen für jeglichen Sex, nur weil wir zu Hause niemanden hatten, der auf uns wartete.

Zweimal ging das sogar so weit, dass ich auf der Straße überfallen wurde. Beim ersten Mal habe ich nur meinen Hut verloren, sonst bin ich glimpflich davongekommen. Der andere Mann wollte in meine Wohnung einbrechen, hat es aber Gott sei Dank nicht geschafft, weil ich mich rechtzeitig aus seinen Armen befreien und flüchten konnte. Der hätte mich sonst sicher vergewaltigt. Und wissen Sie, was mein Vater dazu gesagt hat? »Was hast du denn um neun am Abend alleine auf der Straße gemacht?« Das war sein Kommentar dazu, dass seine Tochter fast vergewaltigt worden wäre. Und er war damals nicht der Einzige mit dieser Meinung. Die Schuld wurde immer bei uns Frauen gesucht, das hat eine ganz lange Tradition. Einen Partner zu finden, der einen auf Augenhöhe behandelt hat, war alles andere als leicht. Und doch habe ich es immer irgendwie geschafft.

Einen, den wollte ich vor dreißig Jahren unbedingt heiraten, habe ich im Cats kennengelernt, ein Lokal im ersten Wiener Gemeindebezirk. Ich hatte gerade einen hitzigen Streit mit dem Barkeeper am Laufen, als der besagte Mann sich einmischte, Herbert ist sein Name. Meine Güte, keine Ahnung mehr, worum es da ging. Wahrscheinlich um Frauen und die Hierarchie. Wie so oft konnte ich meinen Mund nicht halten und Herbert hatte damals Angst, dass ich eine aufgelegt bekomme von diesem Riesenbarkeeper. Und so hat er mich dann zu seinem Tisch gezogen, um mich aus der Situation zu retten. Dort habe ich ihn kennengelernt und mich gleich Hals über Kopf in ihn verliebt. Fragen Sie mich nicht, wie er damals ausgesehen hat, ich bin kein Vergangenheitsmensch. Blond war er sicher nicht, das weiß ich, weil ich nie auf blonde Männer gestanden bin. Ich glaube, er hatte braune Haare, war nicht wahnsinnig viel größer als ich, aber zehn Jahre älter.

Es muss März oder April gewesen sein, der Frühling hatte gerade angefangen und Herbert war eigentlich verheiratet. Eine Zeit lang hatten wir eine Beziehung, dann wollte er sich von seiner Frau trennen und hat’s nicht gemacht. Das Problem war aber nicht seine Ehe, sondern seine Beziehungsunfähigkeit. Der war einfach ein beziehungsunfähiger Mensch! Ich kann mich noch gut daran erinnern, wir sind im Auto gesessen und auf der Donaubrücke gefahren, als er mir gesagt hat, dass er sein Leben mit mir teilen möchte. Nach der Brücke hat’s plötzlich geheißen, dass er sich jetzt von mir trennen muss. Ich bin ausgestiegen und musste mich erst einmal übergeben, so verletzt war ich. Irgendwann hat er sich dann wirklich von seiner Frau getrennt. Dann war zwei Monate Pause, bis er mich wieder angerufen hat und alles von vorne losgegangen ist. Dreimal habe ich dieses Spielchen mitgemacht, bis ich gesagt habe: »Herbert, nie wieder. Wir können Freunde bleiben, o.k.? Aber eine Beziehung: Nie wieder.« Davor habe ich gedacht, ich könnte ihn heilen, ihn von mir überzeugen. Die typischen Gedanken, die man als verliebter, dummer, junger Mensch halt so hat. Die Antwort auf die Frage, ob man jemanden heilen oder von sich überzeugen kann, ist übrigens Nein.

Seine Antwort auf mein Schlussmachen war: »Wenn du fünfzig bist und ich sechzig, heiraten wir.« Er hat mich dann auch wirklich gefragt, als ich fünfzig wurde, aber ich habe nur gesagt: »Herbert, du weißt ganz genau, dass du jetzt nur deswegen willst, weil du weißt, dass ich Nein sagen werde.« Das war’s dann, ab diesem Zeitpunkt waren wir wirklich nur noch Freunde und hatten als solche mal mehr, mal weniger Kontakt. Er hat immer wieder angerufen, dann haben wir ein bisschen telefoniert und das war’s dann auch schon. Zu dem Zeitpunkt war mir das alles schon egal, ich war ja längst wieder verliebt.

Diesmal aber so richtig, der war eigentlich meine große Liebe. Ich habe mir fest vorgenommen, heute nicht über ihn zu sprechen, das geht mir immer noch viel zu nahe. Ich habe ihn kurz nach Herbert kennengelernt, er hatte aber eine Freundin, die dann schwanger wurde und ich musste ihr den Weg freiräumen. Dreißig Jahre später sucht dieser Mann meine Nummer im Telefonbuch heraus und ruft mich an. Ohne dass auch nur ein Wort in der Zwischenzeit gefallen ist. Er meinte damals, er hätte zufällig eine Videokassette gefunden, auf der ich zu sehen bin und verspürte den starken Drang, mich anzurufen. Ich bin damals aus allen Wolken gefallen, habe mich mit ihm zum Essen getroffen, wo er meinen Kopf in seine Hände nahm und mich küsste. Nach dreißig Jahren.

Um mich war’s sofort wieder geschehen und so begann eine Affäre, die fünf Jahre dauerte, ohne dass seine Frau jemals was davon erfuhr. Jeden Dienstag oder Donnerstag ist er zu mir gekommen, als sie in der Arbeit war, – sie hat viel gearbeitet –, und verbrachte fünf Stunden mit mir, danach ist er wieder nach Hause gefahren. Ich habe nie von ihm erwartet, dass er sich trennt, das kann man von einem 65-jährigen Mann nach dreißig Jahren Beziehung nicht einfordern. Ich traue mich nicht zu beurteilen, wer wen mehr geliebt hat. Einmal hat er einen Stoß Zettel vom Tisch in die Luft geworfen und laut geschrien: »Was willst du eigentlich von mir? Ich kann ohne dich nicht leben!« Aber natürlich konnte er ohne mich leben, er ist ja am Ende des Tages immer wieder zurück zu seiner Frau gegangen.

Irgendwann ist er bei mir tot umgefallen. Der Rettungsmann hat mich noch gefragt, ob ich mit ins Spital fahren will, aber natürlich habe ich Nein gesagt. Und auch zur Beerdigung bin ich nicht gekommen, das konnte ich seiner Familie, vor allem seiner Frau, nicht antun. Und so musste ich alleine trauern und mich selbst trösten. Über diesen Verlust werde ich nie hinwegkommen, wenn das heute noch wehtut, dann wird’s immer wehtun.

Herbert ist in all dieser Zeit nicht von meiner Seite gewichen. Er hat immer wieder angerufen, war die letzten dreißig Jahre immer präsent. Bis heute ruft er an, dreimal am Tag, und sagt »mein Mädchen« zu mir. Dann fragt er mich, ob er das überhaupt sagen darf und, ich bin so genervt, ich sage immer nur: »Herbert, nenn mich ruhig Mädchen, aber du weißt, dass ich niemandes Mädchen bin und schon gar nicht deines.« Seit ich so schwer krank bin, kommt er mich jeden Donnerstag besuchen, jetzt hat er Angst, dass ich bald verschwinde. Das ist die Angst vor dem Tod, die jeder alte Mensch hat und ich verkörpere den Tod gerade.

Ich führe ihnen allen gerade vor, wie das Sterben geht. Ich brauch’ nur die nächste Erkältung kriegen, eine Lungenentzündung und schon bin ich dahin. Mit 17 Prozent Lunge lebt es sich nicht lange. Aber wissen Sie was? Ich beschäftige mich nicht viel damit, sonst krieg’ ich Depressionen und das ist mir zu langweilig. Ich bereue keinen Tag meines Lebens und auch keine Liebe, denn die ist das Wichtigste. Und zwar die Liebe zu sich selbst, weil erst dann können Sie andere lieben. An zweiter Stelle kommt die Neugierde. Ich war immer ein fürchterlich neugieriger Mensch, neugierig auf das Leben. Und so habe ich viel erlebt. Man sollte nie so starr dastehen wie ein Baum, da reicht ein Sturm und man ist gebrochen. Wenn Sie wie eine Weide sind und mit dem Sturm mitwackeln, überleben Sie das Ganze.

Die Fernfahrerbar

Alle paar Minuten unterbrechen die beiden das Gespräch, um Bekannten zuzuwinken oder sie anzulächeln, ständig kommt jemand vorbei, um sie zu grüßen. Sie wirken wie ein lebendiges geselliges Paar. »Wir haben uns hier im Heim kennengelernt«, sagen sie, dann beginnen sie zu erzählen, nacheinander, durcheinander, und lächeln sich heimlich an, wenn sie dieselbe Geschichte gleich in Erinnerung haben.

Aufgeschrieben von: Laura Fischer

»Ich hasse ihn«, sagte ich als fünf- oder sechsjähriges Mädchen zu meiner Mutter. Als ich auf jedem Hof in Niederösterreich kniete und Rüben pflanzte für Geld, das ich nie sah. Die hölzerne Sparkasse, die er mir schenkte, blieb immer leer, oft nahm mein Vater mich noch mit in die Bar und ich musste zwischen den Beinen der Kartenspieler umherkriechen und das Kleingeld aufsammeln. Meistens sah er danach noch selbst nach, ob ich nicht etwas vergessen hatte. »Ich hasse ihn, wenn er bei der Tür reinkommt«, sagte ich mir, als ich vor meiner Mutter knien musste. »Hure«, sagte ich, so, wie er es mir befahl, dabei war sie keine, bei Gott nicht. Danach haben wir beide geheult, meine Mutter und ich. »Er soll bei lebendigem Leib krepieren«, sagte ich mir, und sagte ich meiner Mutter, als er die Hundepeitsche holte, ich dachte es mir, als er mich würgte, und dann dachte ich gar nichts mehr, dann war ich bewusstlos.

Das erste Mal geraucht habe ich als kleiner Bub mit sechs. Mein Freund aus der Schule ging damals immer zu den Russen, betteln. Ich bin 1945 geboren, kurz bevor die russische Besatzung begann. Einmal nahm mich der Freund mit. Einer der Russen gab mir eine Selbstgedrehte, das war nur Tabak in Zeitungspapier gewickelt. Manchmal bin ich mit dem Freund ins Russenlager gegangen, Kirschen klauen, und Marillen. Wenn sie uns gesehen haben, haben sie uns sofort weggejagt. Einmal habe ich den Stacheldraht oben am Zaun in die Augen gekriegt, geblieben ist mir aber nur eine kleine Narbe. Sonst ist nie etwas passiert.

In meinem Leben war ich oft Kellnerin. In Wirtschaften, Nachtlokalen, Cafés, überall, wo gerade eine Hand gebraucht wurde. Mit 16 war das noch in der Bar zu Hause in St. Pölten.

Ich sah sofort, wie er mich ansah, es war dieser männliche Blick, den ich mit 16 schon lange kannte. Er blieb bis nach meiner Schicht und fragte mich dann, ob er mich nach Hause begleiten durfte. Ich sagte ja. Wir gingen aus dem Lokal raus, die dunkle Straße entlang, und irgendwann legte er mir die Hand auf den Rücken. Ich kannte das schon, aber dann blieb er plötzlich stehen. Vorsichtig tastete er meinen Rücken entlang. Leise, fast zögerlich fragte er: »Darf ich mir das anschauen? Ich bin Arzt«, fügte er hinzu.

Ich hob die dünne Bluse an und er fuhr mir prüfend über den Rücken, über die Male, wo die Peitsche mir die Haut mitgenommen hatte. Er würde die Narben schleifen, sagte er. »Aber das kannst du dir nicht leisten.« Wer Schulden hat, muss sie abarbeiten, das wusste ich. »Bis du das abgebaut hast, bleiben wir zusammen«, sagte er. »Aber ich verspreche dir, ich rühr’ dich nicht an.«

Regelmäßig kam ich von da an verheult in die Arbeit, das Narbenschleifen tat so höllisch weh, aber gesagt habe ich nie etwas. Im Gegenzug habe ich gekocht, geputzt, den Garten gemacht, seine ganze Wohnung. Er hielt sein Versprechen, er rührte mich nie an, nie, nicht mal einen Kuss. Als die Narben fast weg waren, gab er mir noch eine Salbe mit, die durfte ich umsonst haben. »Die schenk ich dir«, sagte er, »weil mitgemacht hast du genug.«

Ich war siebzehn, als ich sie vom Nachtlokal nach Hause begleitete, obwohl sie nicht mit mir tanzen wollte. »Mit dir hab ich ja schon getanzt«, hat sie gesagt und den blonden Kopf geschüttelt, dabei war das mein älterer Bruder, der mir so ähnlich sah. Sie war gelernte Greißlerin1, und von da an begleitete ich sie immer von der Arbeit nach Hause. Irgendwann traute ich mich zu fragen: »Gehst du mit mir ins Kino?«

Aber sie meinte: »Da musst du meinen Vater fragen.«

Also ging ich hinauf und fragte. »Aber du musst sie so heimbringen, wie sie ist, und nicht irgendwie, weißt eh, einen Blödsinn machen«, sagte er zu mir. Und das habe ich auch nicht. Um elf war das Kino aus und pünktlich um zwölf war sie wieder zu Hause. Dann durfte ich mit ihr ins Kino gehen, wann ich wollte, oder ins Kaffeehaus, ihr einen Kaffee bestellen oder ein Stück Torte, wenn sie eines wollte. Und jeden Abend brachte ich sie wieder nach Hause, so wie sie war, ohne einen Blödsinn zu machen. So lange, bis ich drei Jahre später wieder zum Vater hinaufging. Diesmal aber, um um ihre Hand zu fragen.