Was du nicht siehst - Franziska Elea - E-Book

Was du nicht siehst E-Book

Franziska Elea

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Beschreibung

„Ich sterbe und keiner sieht es.“ Solange sie sich zurückerinnern kann, lebt Franzi mit Angststörungen, später kam die Diagnose Borderline dazu. Wovor sie sich nicht fürchtet, ist, sich verletzlich zu zeigen. In ihrem Buch erzählt sie nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern bricht auch mit dem Stigma psychischer Krankheiten und legt schockierende Missstände in unserem psychiatrischen System offen.

Wer den Instagram-Account von Franziska Elea besucht, sieht Bilder einer schönen jungen Frau: Sie trägt hübsche Kleider, führt eine glückliche Beziehung, zeigt sich verträumt in Blumenfeldern oder lachend am Urlaubsstrand – und über 200.000 Leute schauen ihr dabei zu. Doch kaum jemand weiß, was sich hinter der nur scheinbar perfekten Fassade verbirgt:

Eine Kindheit und Jugend, die von emotionaler Vernachlässigung geprägt war, mehrere stationäre Therapie-Aufenthalte, der Wunsch, einem perspektivlosen Umfeld zu entfliehen, in dem Franzi immer die Aussätzige war. In ihrem Buch gibt sie Einblicke in die Ursachen ihrer Krankheitsgeschichte, schildert ihre Erfahrungen in der Psychiatrie, die lange Suche nach wirklicher Hilfe und schließlich ihren Weg zur erfolgreichen Influencerin. Aufklärung im Bezug auf die komplexe Persönlichkeitsstörung Borderline liegt ihr ebenso am Herzen wie ein Appell an alle Leser*innen: Über psychische Erkrankungen zu sprechen darf kein Tabu mehr sein und sich therapeutische Unterstützung zu suchen ist keine Schande.

Ein Buch für alle, die ihren Platz in der Welt suchen, durchs System gefallen sind, nie aufgegeben haben oder gerne davon lesen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 327

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echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer

1. Auflage

Originalausgabe

© 2023 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling

Covergestaltung: Luca Feigs, unter Verwendung eines Motivs von © Lena Faye

Satz: Luca Feigs

Herstellung: Carina Ries

ISBN 978-3-7459-1043-8

www.emf-verlag.de

Für die Liebe meines Lebens

Inhalt

Vorwort

Ein komplizierter Start

Das hochsensible Kind – fünf Jahre später

Das Spargel-Trauma

Mimi malt mit Momo

Geschwisterliebe

Schlaflos in Rodalben

Das Haus am Ende der Straße

Ausgesetzt im Nirgendwo

Fehlende Körpergrenzen

Die kleinen Trigger des Alltags

Realität oder Wahnsinn?

Der Neue

Freiheit oder Freundschaft?

Du musst erwachsen sein!

Gefährliche Schmerzventile

„Jetzt reiß‘ dich doch mal zusammen!“

Ersatzliebe

Einmal glücklich sein …

Vermeintliche Erlösung

Bergab

Psychologe Nummer 1, 2, 3 …

Es ist aus!

Klapsenkinder

Hol mich hier raus!

Was dich nicht umbringt …

„Ich kann nicht mehr!“

Willkommen zurück!

Time Out

Der alltägliche Wahnsinn

Im falschen Film

Die Razzia

Einer für alle

„Herzlichen Glückwunsch …

Pirmasens

ABIIIIII!

Der Umzug

Schöne, oberflächliche Welt

Party, Party!

Willkommen an der Ludwig-Maximilians-Universität

Lukas

Tag X

Isarhaus

Chris

Der passende Deckel

Keine Panik!

Ein neuer Versuch

Der Zusammenbruch

Frau Martinez

Bergauf

Follow my dog

Check my blog!

Hey, ihr Lieben …!

Follow me

Papa

Chris 2.0

Money, Money, Money

Ein wahr gewordener Traum

Ben

Das Burn-out

Leo 2.0 – drei Jahre später

Chris 3.0 – ein halbes Jahr später

Danksagung

Hilfsangebote

Vorwort

Hallo Mama,

es war nicht immer leicht zwischen uns und ich fürchte, dass dir ein paar Dinge, die Platz auf den folgenden Seiten gefunden haben, nicht gefallen werden. Im Grunde wünsche ich mir nichts mehr als eine normale Mutter-Tochter-Beziehung mit dir zu führen und ich hoffe so sehr, dass wir in Zukunft irgendwie einen gemeinsamen Weg finden.

Ich schreibe dieses Buch nicht, um mit dem Finger auf dich zu zeigen oder dich an den Pranger zu stellen, sondern um meine Geschichte zu verarbeiten. Vielleicht macht sie jemandem da draußen Mut, vielleicht lernt ein anderer etwas daraus oder weiß dadurch besser, mit einem Borderline-Angehörigen umzugehen.

Ich schreibe dieses Buch auch, um Gehör bei dir zu finden. Du kannst meine Nachrichten ignorieren oder den Hörer einfach auflegen, wenn du nicht wissen willst, was ich zu sagen habe, aber eine gedruckte Geschichte lässt sich nicht einfach so löschen.

Auf diesen Seiten steht meine Wahrheit, und ich wünsche mir so sehr, dass du sie als solche irgendwann anerkennen kannst. Weder erwarte ich Wiedergutmachung noch Rechtfertigung, sondern möchte einfach nur, dass du mich endlich siehst – so wie ich bin.

Ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist. Manchmal gibt es einfach keinen Schuldigen, und für mich ist es glasklar, dass es am natürlichen Lauf der Dinge und unserer Familiengeschichte liegt, dass ich ein solches Leid erfahren musste – dass wir alle ein solches Leid erfahren mussten. Jeder auf seine eigene Art und Weise. Innerhalb unserer Familie ist nie ein Geheimnis daraus gemacht worden, wie du selbst aufgewachsen bist und wenn ich daran denke, wie schwer du es als Kind hattest, fährt mir ein Stich durchs Herz. Diesem kleinen Mädchen, das nur schlechte Vorbilder hatte und so viel Gewalt und Gleichgültigkeit erfuhr, könnte ich niemals Schuld zuweisen. So wie man deine Mutter nicht beschuldigen kann, weil sie ebenfalls ihr Päckchen zu tragen hatte, vielleicht sogar ein noch größeres.

Möglicherweise verstehst du ja, was ich meine und die folgenden Kapitel ändern deine Perspektive vielleicht ein wenig. Hoffe ich zumindest. So oft habe ich es schon gesagt, aber hier noch mal offiziell: Ich verzeihe dir alles, was in den vergangenen 29 Jahren passiert ist. Das Einzige, was ich dir nicht verzeihen könnte, wäre, wenn du nach allem, was Ella und ich durchgemacht haben, immer noch die Augen vor der Wahrheit verschließt. Ich warte jeden Tag auf ein Zeichen von dir und sehne mich danach, zu erfahren, wie es sich anfühlt, von einer Mutter bedingungslos geliebt zu werden. Denn ich werde jeden Moment meines Lebens und für immer deine Tochter sein.

Deine Franzi

Ein komplizierter Start

In den frühen Morgenstunden des 17. Juni 1993 erblickte ich im Elisabethen-Krankenhaus in Rodalben das Licht der Welt. Eine kleine 8000-Seelen-Stadt, irgendwo im Nirgendwo nahe der deutsch-französischen Grenze in Rheinland-Pfalz.

Hier kennt jeder jeden und jeder weiß etwas über jeden. Wie zum Beispiel, dass meine Mutter gerade ihr erstes Kind, ein gesundes Mädchen, zur Welt gebracht hatte. Das war bereits eine ziemlich nervenaufreibende Angelegenheit gewesen. Denn wie es schien, hatte mich das Universum schon damals auf dem Kieker. Die Nabelschnur hatte sich um meinen Hals gewickelt, ich war ein Sternengucker-Baby, wie man so schön sagt, und lag mit dem Gesicht nach oben. Nach diversen Stunden schreien und pressen, gab mir die Saugglocke den Rest. Meine Herztöne fielen ab und das Ärzteteam leitete den Notkaiserschnitt ein ... So schien es, als hätte mich der Tod bereits verfolgt, bevor mein Leben überhaupt begonnen hatte.

Die ersten Wochen zu Hause waren auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Von morgens bis abends heulte ich und meine Eltern waren irgendwann so verzweifelt, dass sie mit mir einen Arzt aufsuchten. Er fand nichts, also gingen sie zum nächsten. Auch dieser fand nichts. Laut Erzählungen waren wir bei mindestens fünf Experten, die uns alle wieder getrost nach Hause schickten mit dem Befund, dass manche Säuglinge nun mal viel weinen. Es gibt sogar einen Fachbegriff für sie: Schreibabys.

Wie man richtig mit einem solchen Kind umgeht, wissen die meisten Eltern nicht so recht. Leider fühlen sich Mamas und Papas mit der Situation oft maßlos überfordert. Auch meine Eltern. Sie taten, was sie konnten und für richtig hielten, aber „abstellen“ ließ ich mich nun mal nicht.

Da meine Mutter ihren Bürojob an den Nagel gehängt hatte, als sie schwanger geworden war, sorgte mein Vater von da an als Alleinverdiener für unsere kleine Familie. Er arbeitete in einem Chemiekonzern, der unter anderem Klebstoffe und Fenster­profile herstellt, und war von frühmorgens bis abends auf der Arbeit. Mama war also die meiste Zeit mit mir allein, und ich kann mir kaum vorstellen, wie anstrengend diese Situation mit einem pausenlos schreienden Baby für sie gewesen sein muss.

Eine Mutter, die sich dauerhaft im emotionalen Stresszustand befindet – sei es wegen eines weinenden Kindes oder aus anderen Gründen – kann einem Säugling keine Sicherheit bieten. Neugeborene sind unglaublich empfindsam und spüren ganz genau, wenn Erwachsene um sie herum in Aufruhr sind. Diese Anspannung überträgt sich zwangsläufig auf das Kind, welches deshalb wiederum schreit und dadurch Stress bei der Mutter auslöst. Ein Teufelskreis, aus dem man sicherlich nur sehr schwer entfliehen kann.

Bei meiner Mama führte die Überforderung dazu, dass sie auf mein Schreien irgendwann nicht mehr mit Zuwendung reagieren konnte. Wenn sie es gar nicht mehr aushielt, legte sie mich in mein Bett und schloss die Tür hinter sich, in der Hoffnung, dass ich damit aufhörte. Wie ich heute durch meine Therapeutin weiß, hat dieser Umgang mit einem Schreibaby weitreichende Folgen für die Entwicklung der Psyche eines Kindes, für die die Erlebnisse und Erfahrungen der ersten Lebensjahre absolut ausschlaggebend sind. Und dennoch ist dieser Umgang mit Schreibabys immer wieder zu beobachten.

Es gibt ja sogar Bücher, zum Thema „Weinen lassen“ oder „Ausschreien lassen“, selbst manche Kinderärzte raten dazu. Die kollektive Unterschätzung der Auswirkungen, die der Umgang einer Mutter mit ihrem Kind auf die mentale Gesundheit als Erwachsener hat, stellt ein großes Problem in unserer Gesellschaft dar.

Ihr müsst euch das so vorstellen: Ein Baby wächst im Bauch seiner Mutter neun Monate lang heran und wird plötzlich aus seiner sicheren, gewohnten Umgebung in eine kalte, unbekannte Welt herausgepresst. Es kann sich weder selbst versorgen, noch sagen, was es braucht oder möchte und ist existenziell auf Fürsorge und Hilfe von außen angewiesen. Ein Säugling versteht nicht wirklich, was da gerade passiert und kann sich nur auf seine Sinne verlassen. Selbst wenn die Nabelschnur bereits durchtrennt wurde, weiß ein Baby auf kognitiver Ebene nicht, dass es nun ein eigenständiges Individuum ist. Es hat noch kein Gefühl für seine Körpergrenzen, weiß nicht, wo sein Körper aufhört und der eines anderen Menschen anfängt. Die Aufgabe der Mutter besteht nun darin, das Kind langsam und schonend an die neuen Umstände zu gewöhnen. Körperliche Nähe und Zuwendung geben dem Neugeborenen in dieser Zeit der Umgewöhnung ein unverzichtbares Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Damit es ein gesundes Ich-Bewusstsein entwickeln und eine psychisch intakte Struktur aufbauen kann, ist viel Körperkontakt dringend notwendig. Das Bedürfnis nach Nähe teilen Babys uns auf die einzige Art und Weise mit, die ihnen möglich ist: Sie werden unruhig, zappeln, schreien, weinen oder wimmern und beruhigen sich in den meisten Fällen, sobald man sie schaukelt oder am Körper trägt. Da sich ein Säugling weder um sich selbst kümmern, noch um Dinge bitten kann, die er braucht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu schreien. Er schreit, wenn er Hunger hat, wenn ihm heiß oder kalt ist, wenn etwas wehtut, er sich nach Zuwendung sehnt, und so weiter.

Kein Kind der Welt weint den ganzen Tag, weil es seinen Eltern auf die Nerven gehen will, sondern hauptsächlich aus dem Grund, dass ihm etwas fehlt. Das kann beispielsweise auch eine gesunde Mutter-Säugling-Beziehung sein.

Ein Neugeborenes überlebt faktisch nicht, wenn sich niemand um es kümmert. Da es nicht die kognitiven Fähigkeiten hat, zu erkennen, dass die Mutter es nicht verhungern lassen wird, hat es das Gefühl zu sterben, wenn niemand auf sein Geschrei reagiert. Das bedeutet, dass es jedes Mal aktiv unter extremer Todesangst leidet, wenn längere Zeit am Stück oder gar dauerhaft keiner kommt und es beruhigt. Diese Todesangst brennt sich tief ins Unterbewusstsein ein und begleitet uns im schlimmsten Fall unser ganzes Leben.

Das hochsensible Kind – fünf Jahre später

Mittwoch, 7:30 Uhr bei Familie Dully in Rodalben – ein Tag wie jeder andere, nur schlimmer: Mama war zu dem Zeitpunkt hochschwanger mit meiner Schwester Ella und ich ging mittlerweile in den Kindergarten am Ende der Straße. Wenn ich in der Früh aufstand, war Papa schon lange auf der Arbeit, also verbrachten wir den Morgen immer alleine. Unsere Dreizimmerwohnung wurde mit dem anstehenden Geschwisterchen allmählich ein wenig eng. Ich erinnere mich noch genau an den grauen Teppichboden im Kinderzimmer und die typischen, unschönen, braunen Retrofliesen, die in den 90ern in nahezu jeder unrenovierten Wohnung zu finden waren. Inzwischen hatte ich aufgehört, pausenlos zu schreien, war aber keineswegs ein „einfaches“ Kind. Ich langweilte mich immerzu, brauchte dauerhaft neuen Input, und war so sensibel, dass mir alles zu heiß, zu kalt, zu kratzig oder zu scharf war.

„Franzi, jetzt komm her, du musst deine Zähne putzen!“, rief Mama aus dem Badezimmer. Schon bei dem Begriff Zähneputzenzog sich alles in mir zusammen. Nur widerwillig, und weil ich wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, schlurfte ich zu ihr und stellte mich ans Waschbecken. Mama nahm die rosa Kinderzahnpasta mit dem breit lächelnden Krokodil auf der Tube in die Hand und presste ein paar Millimeter davon auf meine Zahnbürste.

„Bitte nicht so viel!“, jammerte ich wie immer, wissend, was mir in den nächsten Minuten bevorstand.

„Franzi, das ist nicht viel“, entgegnete meine Mutter genervt.

Ich spürte, wie sehr sie die tägliche Diskussion leid war.

„Warum kaufst du denn nicht die Zahnpasta mit dem Ernie? Die hier ist so scharf!“

„Die gab es im Supermarkt nicht mehr und wir schmeißen die hier jetzt nicht weg. Das kostet doch alles Geld, Franzi!“

Nachdem ich diese Diskussion verloren hatte, öffnete ich mit verzerrtem Gesicht und geschlossenen Augen meinen Mund und Mama fing an, mir die Zähne zu putzen. Nach fünf Sekunden begann ich zu jammern und zu schreien: „Aua, scharf! Das brennt!“

„Franzi, das kann gar nicht wehtun. Das ist eine Kinderzahnpasta! Die ist nicht scharf!“, entgegnete Mama, aber ich heulte weiter. In meiner Erinnerung breitete sich ein stechender Schmerz in meinem Mund aus, der über mein Zahnfleisch wanderte und tief bis in den Rachen hinein zu spüren war. Ich konnte wie so oft nicht verstehen, wie andere Kinder das aushielten.

Noch bevor die drei Minuten um waren, zog Mama die Zahnbürste gestresst aus meinem Mund. Mit einem angewiderten „Bäh!“ spuckte ich die Reste ins Waschbecken. Ich spuckte und spuckte und gurgelte mit Wasser, bis das Brennen in meinem Mund nachließ. Warum glaubte sie mir denn bloß nicht, dass das Ganze wirklich schmerzhaft für mich war?

Normalerweise ließ sie mich nicht vorschnell vom Haken, aber heute hatte sie weder Lust noch Zeit, mit mir zu diskutieren.

„Na gut, dann zieh dich jetzt an, wir haben gleich einen Arzttermin“, sagte sie und bugsierte mich bereits in mein Kinderzimmer. Entsetzen machte sich in mir breit. Oh nein! Das würde ja schon wieder wehtun!

„Ich geh nicht zum Arzt!“, protestierte ich.

„Doch du gehst, wir müssen da hin, keine Widerrede!“

Ein paar Minuten lang bettelte ich noch erfolglos, dann gab ich auf und schlüpfte schmollend in meine Klamotten. Ich konnte an nichts anderes als an den bevorstehenden Termin denken. Was würde heute wieder passieren? Wie viele Schmerzen musste ich aushalten und was würden sie mit mir anstellen?

Meine letzte Erinnerung an einen Besuch beim städtischen Kinderarzt Dr. Nase zog an meinem geistigen Auge vorbei. Wegen einer Spritze hatte es viel Geschrei gegeben, viele Tränen, eine gestresste, hilflose Mutter und Arzthelferinnen, die mich festgehalten hatten. Und Schmerzen. Schmerzen, die ich zuvor weder hatte absehen noch einschätzen können. In meiner Fantasie schnitten sie mich bei vollem Bewusstsein auf, um einen Tumor aus meinem Bauch zu entfernen. Dem war natürlich nicht so, aber Kinder haben oft irrationale Ängste und Zweifel, die für sie selbst sehr real sind. Ich hatte mangels Erfahrung noch nicht das umfassende Weltverständnis eines Erwachsenen, das einen Menschen in der Gewissheit wiegt, ohne Zustimmung normalerweise nicht einfach operiert zu werden. Außerdem wusste ich nicht, dass Fünfjährige sehr selten Tumore haben. All meine Erinnerungen an Arztpraxen waren leidvoll und schrecklich und ich hatte keine Idee, warum es an diesem Tag anders werden sollte.

Schon im Auto, auf dem Weg in die Stadt begann ich demnach wieder zu weinen.

„Mama ich will nicht zum Dr. Nase, ich habe Angst!“

„Da passiert doch nichts! Wovor hast du denn Angst?“, fragte sie.

„Der tut mir weh! Können wir nicht bitte an einem anderen Tag hingehen?“

„Franzi, der tut dir überhaupt nicht weh, bitte, ich habe heute keine Energie dafür. Wenn du brav bist, gehen wir danach ein Eis essen, okay?“

Mein Schluchzen wurde ein wenig leiser. „Wie viele Kugeln kriege ich dann?“, wimmerte ich.

„So viele du willst!“, antwortete sie.

„Krieg ich fünf?“

„Ja, du kriegst fünf, aber nur wenn du mich heute nicht blamierst …“

In der Gewissheit, erfolgreich verhandelt zu haben, versuchte ich, meine Angst irgendwie zu unterdrücken. Ich musste mich jetzt einmal kurz zusammenreißen und danach würde ich Zitrone, Schokolade, Erdbeere, Vanille und Stracciatella nehmen! Eis konnte ich ohne Ende essen, aber die Ration wurde von meinen Eltern leider immer auf drei Portionen beschränkt. Mama erzählte mir oft, wie viel Eis sie gegessen hatte, als sie mit mir schwanger gewesen war. Damals musste mein Vater täglich zu Wilhelms ins Dorf fahren, um ihr eine große Eis-­Meringue zu holen. Womöglich gibt es da einen Zusammenhang mit meiner Vorliebe.

Als wir die Kinderarztpraxis erreichten, wurde mir schnell übel. Obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte, konnte ich meine Angst einfach nicht kontrollieren. Schon im Eingangs­bereich des tristen, grauen Reihenhauses in Pirmasens roch es nach Desinfektionsmittel. Dr. Nase hatte den Ruf, der beste Kinderarzt in der Gegend zu sein. Sicher nicht der empathischste, aber der Beste. Stand meines heutigen Wissens über Psychologie würde ich ihn vielleicht sogar als Psychopathen bezeichnen. Seine Mitarbeiterinnen hingegen waren nett und jedes Kind bekam nach der Behandlung einen Lolli. Gerade als wir an der Anmeldung ankamen, verließ ein Junge vergleichbaren Alters den Behandlungsraum. Ihm wurde von der Empfangsdame zum Abschied ein großer Chupa Chups-Lutscher in die Hand gedrückt. „Hier, weil du so brav warst. Ganz toll!“, sagte sie.

Mich packte der Ehrgeiz. Ich würde meine Mama heute genauso stolz machen wie dieser Junge seine Mutter. Doch wir wurden erst einmal ins Wartezimmer verwiesen. Dort verbrachte ich für gewöhnlich die wohl schlimmsten dreißig Minuten meines Lebens. In meinem Kopf spielten sich blutige Operationen und hoffnungslose Wiederbelebungsversuche an reglosen Kinderkörpern ab, wie ich sie aus dem Fernseher kannte. Daher rechnete ich bei jedem Arztbesuch von vornherein mit einer Hiobsbotschaft, die mir den sicheren Tod in naher Zukunft vorhersagen würde. Dabei sollte ich ja heute eigentlich „nur“ geimpft werden. Das allerdings war aus meiner Sicht aus mehreren Gründen problematisch: Erstens würde eine mir unbekannte Flüssigkeit in meinen Körper injiziert werden. Und die könnte womöglich nachhaltig Spuren hinterlassen, mich irgendwie negativ beeinflussen oder gar umbringen. Was, wenn ich allergisch darauf reagiere? Mir ging es bisher an jedem Tag meines kurzen Lebens gut mit meiner körperlichen Verfassung. Warum daran etwas ändern? Zweitens war da diese unfassbare Angst vor der Nadel sowie die Ungewissheit darüber, wann der Stich stattfinden und wie tief die Spitze in meinen Körper eindringen würde. Vielleicht so tief, dass sie auf der anderen Seite meines Arms wieder herauskam? Woher sollte ich das wissen? Vielleicht ging sie ja auch in den Po, das wäre dann noch schlimmer, weil es mir schon als kleines Kind sehr unangenehm war, mich vor irgendwem zu entblößen.

Ein unaufhörlicher Gedankenterror, bis wir ins Behandlungszimmer gebeten wurden. Schon damals fiel es mir ungewöhnlich schwer, meine Gefühle irgendwie im Zaum zu halten. Medizinische Einrichtungen wie diese assoziierte ich mit dem Tod und als ich Dr. Nase inklusive all seiner Folterinstrumente auf mich warten sah, brannten mir die Sicherungen durch. Ich heulte, als würde der Sensenmann nach meinen Füßen greifen, noch bevor mich überhaupt jemand berührt hatte.

Dr. Nase hatte in diesen Situationen so etwas wie einen Standardspruch parat, den er immer aufsagte, wenn ein Patient Probleme machte: „Die Mutter beruhigt das Kind.“

Nicht etwa: „Können Sie Ihre Tochter vielleicht mal kurz in den Arm nehmen?“ Nein. „Die Mutter beruhigt das Kind.“ Immer wieder.

Meine Mutter konnte ihr Kind aber nicht beruhigen. Ich kann nachvollziehen, wie stressig und unangenehm das für sie gewesen sein muss. Sie wusste einfach nicht, was sie mit ihrer Tochter tun sollte, die aus jeder Mücke einen Elefanten machte und ständig weinte. Beim Zähneputzen, beim Anziehen, beim Spazierengehen, beim Essen, immer gab es „Theater“, wie sie es nannte.

Wenn fremde Menschen dabei zuschauten, schämte sich meine Mutter. Für ihren unkontrollierbaren Sprössling, die eigene Machtlosigkeit und ihren reißenden Geduldsfaden.

„Komm, Franzi, du kriegst auch ein Eis“, versuchte sie mich mit dünner Stimme zu besänftigen. „Es wird nicht wehtun, ein kleiner Pieks, dann ist es vorbei.“ Ich höre ihre Worte noch heute. In ihrer Stimme lag nichts Beruhigendes, sie klang eher verzweifelt. Sie wusste also selbst nicht, was passieren würde, das spürte ich damals. Mama war genauso hilflos und wollte sich nur nicht mehr schämen. Ich vertraute ihr nicht. Sie würde alles sagen, um mich dazu zu bringen, die Impfung über mich ergehen zu lassen. Während Dr. Nase weiter sein „Die Mutter beruhigt das Kind“ abspulte, machte er die Spritze fertig. Durch seine dicke, schwarze Brille schaute er mich entgeistert an. Er war ein großer Mann mit müden, dunklen Augen, die unter seinen Schlupflidern und dem strähnigen, zerzausten, grauen Haar hervorlugten. Seine Lippen waren schmal, sein Blick ausdruckslos und eine tiefe Nasenlippenfurche zeichnete sein Gesicht. Er kam mir vor wie ein alter, angerosteter Roboter, dessen Funktionstüchtigkeit nicht mehr so ganz zu trauen war.

Ohne eine Miene zu verziehen, kam er auf mich zu, die Spritze hoch erhoben. Ich saß auf einem hölzernen Erwachsenenstuhl und schrie. Ich schrie um mein Leben. Eine Flut von Panik löste sich in meinem Inneren und machte es mir unmöglich, mich in irgendeiner Weise zu beherrschen. Für mein Unterbewusstsein ging es buchstäblich um Leben und Tod.

Mama bettelte mich an, die Arzthelferin redete auf mich ein, Dr. Nase blieb unbeeindruckt. Er kam mir immer näher und ich sah ihn schon die Spritze in meinen Oberarm hämmern. Wie verrückt begann ich zu zappeln. Wenn ich zappelte, konnten sie ja nichts tun, dachte ich.

Dr. Nase gab seiner Helferin den Befehl mich festzuhalten und meinen Ärmel hochzukrempeln. Das Unheil war kaum noch aufzuhalten. Die Nadel kam immer näher. In mir herrschte nur noch die Entschlossenheit, mich irgendwie selbst zu retten. Was ich dann tat, ging quasi in unsere Familiengeschichte ein: Ich trat dem angesehenen, promivierten Dr. Nase mit aller Kraft gegen das Schienbein.

Während ich nun hier sitze und diese Zeilen schreibe, muss ich wirklich lauthals lachen, weil ich als Winzling, ohne darüber nachzudenken, schon Dinge tat, die andere sich niemals getraut hätten. Wenn auch im negativen Sinn.

Damals war die Situation allerdings alles andere als lustig. Der Arzthelferin fiel die Kinnlade herunter und meine Mutter sah Dr. Nase ehrfurchtsvoll mit geweiteten Augen an.

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, fluchte er. Dann legte er pikiert seine Spritze ab und bat meine Mutter, mit mir zu einem anderen Arzt zu gehen. Er wolle mich nicht mehr behandeln. So etwas hätte er in all seinen Jahren als Kinderarzt noch nie erlebt.

In diesem Moment, in dem ich eigentlich hätte erleichtert sein müssen, weil ich das Attentat gerade noch mal vereitelt hatte, erhaschte mich eine Welle ganz anderer Gefühle: Scham, Hilf­losigkeit und Schuld. Eine Schuld, die so tief reichte, dass ich das Gefühl hatte, von ihr in tausend Teile gesprengt zu werden. Ich hatte meine Mama bis aufs Blut blamiert und war das böseste, unerzogenste Kind, das jemals Dr. Nases Praxis betreten hatte. Außerdem hatte ich die Impfung nicht bekommen, und die war doch wichtig! Würde ich jetzt deshalbsterben?

Mama zerrte mich am Handgelenk hinter sich zum Empfangstresen her, wo man mir ausdrücklich zu verstehen gab, dass ich heute keinen Lutscher verdient hatte, geschweige denn ein Eis.

Vor der Tür erwartete mich außerdem noch das Donner­wetter meiner Mutter:

„Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich mich so geschämt wie heute! Du bist unmöglich, Franzi!“

Das hat sie immer gesagt, und obwohl ich mir als Kind nicht bewusst Gedanken darüber machte, was sie da zu mir sagte, spürte ich sehr genau, was sie dadurch zum Ausdruck bringen wollte. Für normale Menschen lag mein schreckliches Verhalten gar nicht im Bereich des Möglichen. Natürlich hatte sie recht, und da es mir so leidtat, musste ich schon wieder weinen. Es fühlte sich an, als lastete die Schuld der ganzen Welt auf mir, denn ich war das schlechteste Kind, das man sich vorstellen konnte. Ich wollte nicht, dass meine Mama glaubte, ich tat das alles absichtlich, um ihr das Leben zur Hölle zu machen. Es kam mir so vor, als sah sie in mir den kleinen Teufel, den sie nicht verdient hatte. Da mir alle Erwachsenen um mich herum mir immer wieder spiegelten, ich allein sei das Problem, akzeptierte ich diese Aussage als Wahrheit. Als Kind gab es für mich nur diese eine Aufgabe: Brav zu sein. Und die verkackte ich am laufenden Band. Niemand war so laut wie ich, so empfindlich und so böse. Mir taten Dinge weh, die überhaupt nicht schmerzhaft waren wie zum Beispiel eine lächerliche Spritze.An diesem Tag habe ich vor allem eine Sache gelernt: Ich kann mich auf meine eigene Wahrnehmung nicht verlassen. Sie belügt mich, wann immer ihr danach ist.

Hochsensible Menschen werden bereits mit dieser Besonderheit geboren. Oft wird der Begriff falsch interpretiert, denn nicht jeder empfindsame Mensch ist auch hochsensibel. Nicht jeder, der beispielsweise oft friert oder sehr schmerzempfindlich ist, leidet darunter. Hochsensibilität definiert sich dadurch, dass Reize im Nervensystem des Betroffenen stärker ankommen als bei anderen. Stellt man sich einen Reiz als eine kleine Welle vor, so verursacht er bei einer hochsensiblen Person einen Tsunami. Was für andere Menschen unangenehm ist, ist demnach für den Hochsensiblen kaum aushaltbar. Nicht nur in dessen Kopf, sondern ganz real am ganzen Körper. Oft wird uns vorgeworfen, wir seien einfach zu wehleidig oder reagieren übertrieben und unangemessen. Dabei sind wir tatsächlich viel empfindsamer als die meisten um uns herum. Spüren mehr, hören lauter, schmecken intensiver. Dadurch kann sich eine Kinderzahnpasta im Mund anfühlen wie tausend Nadelstiche und eine Spritze wie ein Messer, das auf der anderen Seite des Armes wieder herauskommt. Eine kratzende Strumpfhose gleicht manchmal Schleifpapier und die Kälte im Winter geht buchstäblich bis auf die Knochen.

Da ich so zur Welt kam, wusste ich lange nichts von meiner Hochsensibilität. Für mich fühlen sich diese Dinge nun mal so an. So wie Farbenblinde auch oft lange nicht wissen, dass ihr Grau kein Türkis ist.

Für die Eltern hochsensibler Kinder ist es wichtig, deren Bedürfnisse ernst zu nehmen. Die Zahnpasta war für mich scharf, Punkt. Da mir Mama immer wieder versichert hat, sie sei es nicht, war die einzige logische Konsequenz, dass mein Empfinden falsch ist. Mama ist schließlich erwachsen und weiß es besser. So „lernte“ ich, meinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen nicht zu vertrauen.

Was ich fühle, entspricht also nicht der Realität.

Die eigene Wahrnehmung infrage zu stellen, ist mitunter das Schlimmste, was man einem Menschen emotional „antun“ kann. Für unser psychisches Überleben ist es wichtig, dass wir uns auf sie verlassen können. Ist dem jedoch nicht so, beginnt unsere gesamte Struktur, die ein normales Leben ermöglicht, zu bröckeln. Wir fragmentierenund werden im schlimmsten Fall, wenn gar nichts mehr von diesem Gerüst übrig ist, sogar psychotisch. Das bedeutet letztendlich, wir können nicht mehr zwischen Realität und Wahn unterscheiden.

Aus diesem Grund ist es so unglaublich wichtig, unserem Gegenüber richtig zuzuhören und achtsam zu sein. Jeder Mensch sieht die Welt durch seine eigene rosarote Brille, die durch seine individuellen Erfahrungen geprägt wurde. Auch wenn unsere Ansicht manchmal nicht mit der des anderen übereinstimmt, muss diese nicht zwangsläufig faktisch falsch sein. Anstatt einem Kind die eigene, subjektive Realität zwanghaft aufdrücken zu wollen, sollten wir als Erwachsene öfter mal genau hinsehen und hinhören. Etwas Raum dafür lassen, dass die Wahrheit auf der anderen Seite vielleicht tatsächlich etwas anders aussieht. Auch wenn sie nicht mit unserer eigenen Erfahrung übereinstimmt.

Das Spargel-Trauma

Ende der 90er gab es in meinem Kindergarten noch keine Nachmittagsbetreuung. Deshalb wurde ich regelmäßig von Tante Lucinda um zwölf Uhr mittags abgeholt. Eine kleine, fitte, alte Dame, die damals schon ungefähr 70 Jahre alt gewesen sein musste. Als Cousine meiner Oma mütterlicherseits war sie eigentlich nur entfernt mit mir verwandt. Lucinda hatte nie einen Mann oder eigenen Nachwuchs gehabt, daher fühlte sie sich mitverantwortlich, unsere Erziehung erfolgreich zu gestalten. Was erfolgreich bedeutet, liegt ja bekanntlich im Ermessen des Einzelnen – so auch in diesem Fall.

Als ehemalige Oberstudienrätin und eiserne Jungfrau stehen der katholische Glaube und Bildung bei ihr an erster Stelle. Dicht gefolgt von gesunder Ernährung. Man muss bedenken, dass Lucinda im Zweiten Weltkrieg aufwuchs und sich die Wertvorstellungen vergangener Generationen nicht unbedingt mit unseren heutigen decken. Vielmehr driften sie meilenweit auseinander.

Tante Lucinda war bereits in eine wohlhabende Familie hineingeboren worden, und da sie selbst immer gut verdient und nichts ausgegeben hat, ist sie eine Art Dagobert Duck der Familie. Wenn Omas Heizung mal kaputt war oder Geld zum Hausbau benötigt wurde, war Lucinda da.

Was andere Ausgaben betrifft, hielt sie sich allerdings streng an ihre Sparermentalität. Jeden Rest Tomatensuppe fror sie in einer Tupper-Dose ein. Gebrauchte Alufolie strich sie wieder glatt und legte sie in eine Schublade, um sie nochmals verwenden zu können.

Lucinda war streng. Sehr streng. Sie legte Wert auf Tischmanieren, Umgangsformen, Ordnung und Regeln. Seitdem ich mich erinnere, trägt sie eine Brille und man konnte sich nie mit ihr unterhalten, ohne dass sie stundenlange Vorträge über die Studienfahrten, die sie gemacht hatte und die Kapelle in Weimar, die einen außerordentlich prachtvollen Altar beherbergte, hielt. Sie wusste alles über Kunst, Jesus, Geschichte und Geografie, was an sich ja schön ist, hätte sie auch mal über etwas anderes geredet. Die meiste Zeit bei ihr verbrachte ich damit, im Garten oder Haushalt zu helfen, gesunde Lebensmittel zuzubereiten und zu essen, zu Jesus zu beten oder Gedichte aufzusagen. Sie liebte altmodische Kinderlieder und Lyrik und ließ dabei stets außer Acht, dass ich lieber mit meinem Tamagotchi gespielt oder in meinem Pokémon-Album geblättert hätte. Alles lieber als Gedichte. „Moderne“ Spielsachen waren bei Lucinda verboten, das entsprach nicht ihrer Vorstellung von sinnvollem Zeitvertreib. Dafür schleifte sie mich regelmäßig in ihren dreihundert Meter entfernten Schrebergarten, um Salat zu ernten, den wir anschließend in ihrer Küche gemeinsam zubereiteten. Schon mit fünf Jahren half ich ihr beim Kochen, und obwohl Lucinda eine Spülmaschine besaß, reinigten wir das Geschirr nach dem Essen per Hand. Denn alles musste tiptop sein, in ihrem Haus und auf dem ausladenden Hof, auf dem eine einzige riesige Tanne inmitten einer kleinen Rasenfläche wuchs. Zu ihr hatte ich eine besondere Beziehung, da ich außerhalb der Pflichtveranstaltung den ganzen Tag mit einem Roller den Hof rauf- und runterfuhr. Rauf und runter, Dutzende Male an der Tanne vorbei, bis ich gar keine Lust mehr hatte. Dann spielte ich mit mir selbst und der Tanne Fußball.

Lucindas Einrichtung war typisch für eine ältere Dame: ungemütliche, braune Fliesen, dunkles Mobiliar auf Perserteppichen und kahle Wände mit hölzernen Bilderrahmen, aus denen einen die Mutter Gottes anstarrte. Und Jesuskreuze. „Gott segne dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus“ hängt noch heute in Holz geschnitzt neben der Eingangstür.

Die Decken in Lucindas Haus waren hoch, und aufgrund der kleinen Fenster herrschte immer eine eher düstere Stimmung. Passend zu meiner Laune, wenn ich dort war. Jeden Tag hatte ich Angst vor dem Mittagessen und betete, dass es Tomaten­suppe und gestampfte Karotten gab. Denn Lucinda servierte zum Mittagstisch nur Dinge, die Kinder nicht mochten: Rosenkohl, Brokkoli, den Salat aus dem Schrebergarten und Spargel. Letzteres fand ich ganz besonders eklig und meine Hochsensibilität verschlimmerte den schrecklichen Geschmack und den Würgereiz noch, den ich bei jedem Bissen bekam. Betteln, weinen und sich wehren machte bei Lucinda nicht viel Sinn. Sie duldete kein „Nein“ von einem Kind und hatte von Grund auf eine unerbittliche, lieblose Haltung gegenüber ihren Mitmenschen. Ein Lächeln schenkte sie nur denjenigen, die in ihrer selbst definierten Bildungshierarchie über ihr standen: Ärzten, anderen Akademikern oder Geistlichen. Wer also kein Pfarrer war und nicht studiert hatte, hatte Lucindas Respekt nicht verdient und sich ihr demnach unterzuordnen. Vor der Pension war Lucinda Lehrerin an der örtlichen Berufsschule gewesen und hatte früher sogar meine Mutter unterrichtet. Noch heute sehe ich die Ehrfurcht in Mamas Augen, wenn sie von ihrer Schulzeit mit Lucinda als Befehlshaberin spricht. Die gute Frau hatte demnach zur Zeit meiner Kindheit bereits vierzig Jahre Berufserfahrung im Bevormunden und Herumkommandieren von Kindern. Ob es um Betriebswirtschaftslehre oder Spargel ging, spielte keine Rolle.

Ich wusste daher, dass ich essen musste, also versuchte ich es jeden Tag aufs Neue. Lucinda konnte es nicht ausstehen, wenn ich mich am Mittagstisch so anstellte. In ihrer Kriegsmentalität gibt es kein Verständnis dafür, dass man Gemüse nicht mag. Sie kannte schließlich auch Zeiten, in denen nur Brot vorhanden war. Das kann ich grundsätzlich nachvollziehen, aber das Tragische im Leben ist doch, dass ja jeder meist gute Gründe für sein Handeln hat.

Eines Tages saßen wir also mal wieder nebeneinander am Küchentisch. Lucinda auf einem weißen Holzstuhl, ich auf dem brüchigen Schemel ohne Lehne, den ich als Kind – weiß Gott warum – bevorzugte. Es gab im Haus auch ein geräumiges Esszimmer mit samtüberzogenen Stühlen und einem großen, eleganten Holztisch. Trotzdem aßen wir immer auf der abwaschbaren Plastiktischdecke in der kleinen, dunklen Küche. Das Geld für den Strom, den die Deckenlampe verbraucht hätte, konnte man sich schließlich sparen.

Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck führte ich die Gabel mit dem aufgespießten Spargel zum Mund. Ich versuchte schnell zu kauen, um es hinter mich zu bringen. Als sich der für mich widerliche Geschmack in meinem Mund breitmachte, musste ich unmittelbar und aus tiefstem Herzen würgen. Lucinda stieß einen Schrei des Entsetzens aus. „Jetzt stell dich nicht so an, das kann doch nicht wahr sein!“, empörte sie sich. Ihre kalten, strengen Augen wiesen mich an, mich gefälligst zu beherrschen und ich bekam Angst. Also nahm ich noch einen Bissen. Wieder musste ich würgen. Jetzt sogar zweimal hintereinander. Spargel löste bei mir schlicht und ergreifend einen Würgreflex aus. Ich konnte nichts dagegen tun. Unglücklicherweise fasste Lucinda das als Kritik an ihren Kochkünsten auf und rutschte entschlossen und erzürnt neben mich. Sie schob mir den Spargel in den Mund. Gabel um Gabel. Bis zum letzten Bissen und kratzte am Ende – wie immer – noch die Reste aus Soße, Kartoffel und Gemüse mit Messer und Gabel zusammen, um sie mir zu verabreichen. Das machte sie immer, um sicherzugehen, dass nichts im Abfall landete. In der Zwischenzeit hatte ich angefangen zu weinen. Hilflosigkeit, Ekel, Zwang, Unverständnis. All das war zu viel für mich als Kind. Würde Lucinda heute versuchen, mir gewaltsam Spargel einzuflößen, würde ich mich wehren und zur Not einfach wieder gehen. Mit fünf kann man das nicht. Was die Erwachsenen sagen, ist Gesetz und was Lucinda sagt, steht sogar über dem Gesetz.

Wieder einmal hatte ich erfahren, dass das, was ich fühlte und wahrnahm, falsch war. Dass ich ungezogen war, Probleme machte und mit mir etwas nicht stimmte.

Selbstverständlich gab es ähnliche Vorfälle auch mit Rosenkohl, Brokkoli oder Salat. Manchmal kaute ich auf Letzterem so lange herum, bis nur noch ein bitterer Klumpen in meinem Mund übrigblieb. Da ich ihn einfach nicht herunterbekam, stopfte ich immer mehr Salat in mich hinein, zerkaute ihn und spuckte am Ende alles heimlich ins Klo oder in irgendeine Ecke. Keine Ahnung, warum ich Grünzeug grundsätzlich nicht in meine Speiseröhre befördern konnte, es war einfach so. Als hätte sich mein Schluckreflex dagegen gewehrt. Auch hierfür gab es kein Verständnis.

Ebenso wenig dafür, dass ich nicht jeden Sonntag mit Lucinda zur Heiligen Messe gehen wollte (ich hatte unter der Woche weiß Gott genug von ihr) und nein, die Gestaltung des Seitenschiffs in der Kirche in Rom interessierte mich auch nicht. Mama wusste, dass ich es hasste, von Lucinda abgeholt zu werden. Doch jedes Mal, wenn ich sie daran erinnerte, sagte sie, dass Lucinda es ja nur gut mit uns meinte. Sie täte so viel für die Familie und ich solle mich nicht so anstellen. Spargel sei gesund und eine Beziehung zu Gott schade schließlich auch niemandem.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Mama etwas Entlastung brauchte, dafür kann ich wirklich Verständnis aufbringen. Allerdings erschließt sich mir bis heute nicht, weshalb man seine eigenen Kinder regelmäßig in die Obhut einer verbitterten Dame abgab, die kaum weiß, wie man Liebe oder Einfühlungsvermögen schreibt.

Eigentlich existierte zwischen meinen Eltern eine Absprache: Papa geht arbeiten und Mama kümmert sich um Ella und mich. Wenn ich meinen Vater heute frage, was meine Mutter denn in der Zeit gemacht hat, in der ich im Kindergarten und bei Lucinda war, sagt er: „Das wüsste ich auch gerne.“

Mimi malt mit Momo

Im Spätsommer 1999 war es endlich soweit. Meine Einschulung stand unmittelbar bevor, und wie die meisten Kinder, konnte auch ich es kaum erwarten. In den Kindergarten zu gehen, war so uncool geworden! In diesem Alter freut man sich ja über jeden Meilenstein, der einen „größer“ macht und einem mehr Freiheiten und Rechte einräumt. Ich war ganz aus dem Häuschen, als meine ersten Schulbücher endlich bei uns eintrafen, und da ich von Anfang an glänzen wollte, begann ich in meinem Zimmer schon mal alles durchzublättern, mit mäßigem Erfolg. Ich konnte ja weder lesen noch etwas mit Zahlen anfangen. Das musste sich schleunigst ändern!

„Mama, welches davon ist das Lesebuch?“, fragte ich aufgeregt. Sie zog ein gelbes Heft mit einer Illustration hervor, auf dem ein Mädchen in einem blauen Oberteil abgebildet war, das ein Buch las. Oben links im Eck stand „Mimi die Lesemaus“, wie ich bald herausfinden sollte.

Zunächst war ich selbstverständlich überfordert, als ich einen ersten Blick hineinwarf. Keiner der Buchstaben sagte mir etwas, aber ich war fest entschlossen, das Rätsel zu lösen.

„Mama, wie geht Lesen?“, fragte ich sie aufgeregt interessiert und sie entgegnete: „Das lernst du doch in der Schule.“

Diese Antwort war für mich nicht zufriedenstellend.

„Ich will es aber jetzt lernen! Bitte, bitte, bring es mir bei!“, bettelte ich.

„Na, es gibt verschiedene Buchstaben und die fügst du dann zu einem Wort zusammen.“

„Okay, was ist das für ein Buchstabe?“

Ich deutete auf das M.

„Ein M.“

„Und der da?“

„Ein O.“

Sie sprach die Buchstaben so aus, dass ich sie direkt aneinanderreihen konnte.

„Aha, dann heißt das Moooo-moooo“, schlussfolgerte ich. Das genügte mir erst einmal. Ich verkroch mich in mein Zimmer. Nach einer Weile kam ich wieder heraus und fragte Mama nach dem I und dem T. Mit zwei weiteren Buchstaben verschwand ich wieder und brütete weiter über meinem Lesebuch. Kurze Zeit später wollte ich von ihr wissen, wie man ein L und ein A richtig ausspricht.

Heute sagt Mama, dass sie das Ganze schon ein wenig seltsam fand, sich aber nichts weiter dabei gedacht hatte. Sie beantwortete einfach alle meine Fragen und widmete sich dann wieder der Küche.

Das ging ein paar Tage so, bis ich schließlich mal wieder aus meinem Labor kroch, um zu zeigen, was ich gelernt hatte. „Mama guck, ich glaub ich kann’s! Du musst mir sagen, ob das richtig ist!“

Wir setzten uns an den Wohnzimmertisch und ich las vor, langsam und stockend, wie Kinder eben lesen, aber ich las: „Mimi malt mit Momo. Mia malt Lea. Mama malt mit Timo.“

Meine Mutter starrte mich ungläubig an und erzählt noch heute voller Stolz die Geschichte von dem Tag, an dem ich mir selbst das Lesen beibrachte. Dass ich irgendwie anders war als die meisten Kinder, ahnten meine Eltern schon damals. Allerdings dachten sie sich nicht viel dabei, außer: Manche Kinder sind eben schneller oder wissbegieriger als andere.

Da ich jedoch nur wenige Sätze lesen konnte, war ich noch ganz und gar nicht zufrieden mit meiner Leistung. Draußen auf offener Straße war ich meiner Unwissenheit nach wie vor vollkommen ausgeliefert und das gefiel mir gar nicht. Ich wollte richtig gut darin sein, wenn ich in die Schule komme. So fragte ich an jeder Ampel, an der wir hielten, was die Wörter auf den umstehenden Schildern bedeuteten und ärgerte mich, wenn wir weiterfuhren, bevor ich einen Begriff oder einen Satz vollständig entschlüsselt hatte. An keinem Laden gingen wir vorbei, ohne dass ich die Reklame lesen wollte. Jede Überschrift am Zeitungskiosk fiel meinem Ehrgeiz zum Opfer.

So kennt man mich auch heute. Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, bin ich wie besessen davon und setze alle Hebel in Bewegung, die nötig sind, um es zu erreichen. In diesem Fall wollte ich Lesen lernen.

Nach ein paar Wochen – sagt Mama – konnte ich es.

Geschwisterliebe

Zwischen meiner jüngeren Schwester und mir liegen ziemlich genau dreieinhalb Jahre. Ella war ebenfalls ein Schreibaby. Nicht ganz so schlimm wie ich, aber immer noch kein Vergleich zu den braven Sprösslingen von Mamas Freundinnen. Als sehr feinfühliges Kind spürte ich, wenn etwas nicht stimmte und meine Eltern eine Situation nicht unter Kontrolle hatten. Mama und Papa waren quasi machtlos und standen regelmäßig am Rande des Nervenzusammenbruchs, wenn Ella schrie. Sie versuchten, es dem Baby recht zu machen und waren dabei dauerhaft gestresst. Für mich waren diese Momente ein Spiegel dessen, was ich als Säugling erlebt hatte. Vielleicht in einer etwas abgeschwächten Form.