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In einem alten, vor dem Abriss stehenden Bauernhaus in Sachsen-Anhalt wird ein ungewöhnlicher Fund gemacht: In Schuhkartons verpackt liegen anderthalbtausend Briefe und Postkarten, geschrieben zwischen 1914 und 1945. Soldaten- und Heimatpost einer Familie. Absender und Empfänger waren Väter und Söhne an der Front, waren Mütter und Ehefrauen. Die Briefe verraten, wie der Krieg ins Leben der einfachen Menschen eingriff, wie er ihr Denken und Fühlen formte. Es sind berührende Dokumente und erhellende Zeitzeugnisse.
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Seitenzahl: 324
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Impressum
Für das eBook bearbeitete Ausgabe
ISBN eBook 978-3-355-50011-1
ISBN Print 978-3-355-01816-6
© 2013 Verlag Neues Leben, Berlin
Umschlaggestaltung: Verlag
Neues Leben Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Neue Grünstraße 18, 10179 Berlin
Die Bücher des Verlags Neues Leben
erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de
Was
tun
wir hier?
Soldatenpost und Heimatbriefe
aus zwei Weltkriegen
Herausgegeben von Frank Schumann
Vorwort
Die Tür stand offen. Durch die gesplitterten Fenster blies der Wind. Vor dem Häuschen türmte sich bereits Unrat, den die Nachbarn herausgetragen hatten. Das Lehmhaus sollte abgerissen werden, um Baufreiheit für die jungen Eheleute von nebenan zu schaffen. Zwei Jahre zuvor war die letzte Bewohnerin, Margot Gasse, auf den Dorffriedhof getragen worden, ohne Nachkommen hinterlassen zu haben. Kurz darauf waren die Erben, rechtmäßige wie illegale, eingefallen.
Man ließ sich keine Zeit, kippte den Inhalt der Schubladen zu Boden, Schränke wurden entleert mit einem Griff, Kisten und Kartons umgestülpt …
So fand ich das Anwesen im Frühjahr 1986 vor, wenige Tage später wurde es abgerissen, um Platz für ein neues Einfamilienhaus zu schaffen. Den Hinweis hatte ich von einem im Nachbarort lebenden Freund erhalten. Dieser Volker Kummer, ein vielseitig interessierter junger Mann, arbeitete beim Straßenbau und lichtete in seiner Freizeit für die Denkmalpflege Bauwerke ab, die abgerissen werden sollten. Er hatte bei einer solchen Gelegenheit in jenem Hause, ein wenig im Schutt stochernd, einige vergilbte handschriftliche Dokumente gefunden. Trotz ihres miserablen Zustandes schienen sie ihm zu wertvoll, als sie – wie beabsichtigt – dem Feuer zu überantworten.
Ein einziger Sonntag war noch verblieben, um unter Lumpen, wurmstichigem, zerfallenem Mobiliar, zwischen Porzellanscherben und Eingewecktem, auf dem staubigen Dachboden und in der angrenzenden Futterküche nach Papieren zu suchen.
Die einstigen Bewohner des Hauses waren offenbar seit Generationen vom Ehrgeiz besessen, alles Geschriebene und Gedruckte, das in ihre Hände gelangte, aufzubewahren. Wir klaubten Fotos, Briefe und Karten aus dem Müll, alte Zeitungen, Taufscheine und Arbeitsbücher, Milchabrechnungen und Zahlungsaufforderungen, Dokumente wie eine unbeschnittene, fälschungssichere »Reichskleiderkarte für Mädchen vom vollendeten 3. bis vollendeten 15. Lebensjahr« aus dem Jahre 1944. (Auf Abschnitt F sollten ab 1. Dezember 1945 ein Paar Strümpfe und »gegen 1½Punkte« Nähmittel bezogen werden.) In einer achtlos zertretenen Zellophantüte steckte, frisch und ungeknifft wie aus der Posamentenstickerei, schwarz-weiß-rotes Ordensband und daneben ein eisernes »Ehrenkreuz für Eltern«. Das hatte »Im Namen des Führers und Reichskanzlers« im März 1935 der Minna Donath, verwitwete Falkenhain, der Landrat verliehen, wie auf der nahebei liegenden Urkunde festzustellen war.
Die spätere Sichtung aller Unterlagen bestätigte einen wahrscheinlich einzigartigen Fund: Er bestand aus etwa anderthalbtausend Feldpostbriefen und Korrespondenzen aus der Heimat, die zwischen 1914/18 und 1941/45 geschrieben worden waren. Verfasst hatten sie, bis auf Ausnahmen, der Maurer Erich Donath, welcher 1915 bei Bolimow – auf dem »östlichen Kriegsschauplatz« – einundzwanzigjährig fiel, sein Stiefvater, der 1927 in Naundorf an Tuberkulose verstorbene Landwirt und Bahnarbeiter Karl Falkenhain vom Jahrgang 1872, und dessen Frau Minna Falkenhain. Aus ihrer Ehe ging 1906 eine Tochter Minna hervor, die am 18. November 1928 den Landarbeiter Friedrich Willy Otto Gasse aus dem nahe gelegenen Dorf Grabo heiratete. Dieser kam 1941 vierzigjährig zur faschistischen Wehrmacht und trug bis Kriegsende Uniform. Während jener vier Jahre führte auch er einen umfangreichen Schriftwechsel mit seiner Frau und seiner Tochter Margot, die am 11.Oktober 1933 in Naundorf geboren worden war.
Bei Naundorf handelt es sich um eine größere Landgemeinde im damaligen Kreis Torgau. (Heute gehört der Ort zum Landkreis Wittenberg in Sachsen-Anhalt.) Das 1932er Adressbuch für den Torgauer Kreis weist für Naundorf 1150 Einwohner aus und vermeldet die Existenz einer Station der Kleinbahn; die Witwe Minna Falkenhain wird als »Landwirtin« geführt und Otto Gasse als Maurer. Vier Vereine sind in jenem Jahr vor Aufrichtung der faschistischen Diktatur im Ort aktiv: der Kriegerverein, der Landbund, der Arbeiterunterstützungsverein sowie der Arbeiter-Rad- und Kraftfahrerbund, welche in Personalunion von Otto Gräfe geführt werden. Naundorf glich also unzähligen Dörfern im damaligen Deutschland. Die Dinge, von denen wir in der nachfolgenden Auswahl Kenntnis nehmen, sind darum so einmalig nicht.
Diese einfachen Leute haben vermutlich weder vor noch nach dem Kriege derart oft korrespondiert wie in jenen zwei mal vier Jahren. Die Art und Weise der Mitteilungen weist auf fehlende Übung hin. Schreiben war in dieser Zeit aber lebenswichtig, es war gleichsam die Nabelschnur zwischen den Familiengliedern, durch die man Kraft gewann. Und sei es mit der Nachricht, dass die Kuh gekalbt hatte oder dass Urlaub in Aussicht stand. Die Briefeschreiber waren wenig begabt, zu abstrahieren und zu analysieren. Aber selbst in scheinbar unbedeutenden Vorgängen und vermeintlich privaten Ereignissen spiegelt sich immer der Charakter einer Gesellschaft. Darum erfährt man bei der Lektüre dieser Briefe nicht nur, wie der Krieg in das Leben der Menschen eingriff und wie er sie veränderte. Diese Aufzeichnungen machen begreiflich, wodurch es möglich wurde, dass innerhalb eines halben Jahrhunderts ein ganzes Volk zweimal zur Schlachtbank geführt werden konnte. Dieselbe Minna Falkenhain beispielsweise, die in ihren Briefen – vor allem nach dem Tode ihres Sohnes 1915 – den Krieg zunehmend verfluchte, trat noch im Jahr des faschistischen Machtantritts in die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung (NSKOV) ein und zahlte ihre Beiträge unerschüttert weiter, als auch der eigene Schwiegersohn in den nächsten Krieg ziehen musste. Und sie klebte sogar ihre Marken im Voraus bis 1946. Unwissenheit und Fatalismus, provinzielle Enge und auch ein wenig Aberglauben bestimmten Haltungen und Handlungen der Briefeschreiber.
Wenn man die Dokumente aus dem Ersten und aus dem Zweiten Weltkrieg miteinander vergleicht, wird erschreckend spürbar, dass Aufgeschlossenheit und Wissen um gesellschaftliche Zusammenhänge eher ab- denn zunahmen. Der Faschismus machte nicht alle zu Faschisten, aber es gelang ihm, bei den meisten Deutschen die in Jahrhunderten gewachsenen humanitären Empfindungen und Verhaltensweisen zu paralysieren. Die verheerenden Wirkungen faschistischer Ideologie sind in den Dokumenten nicht zu überlesen, mitunter meint man, mit mittelalterlicher lokaler Borniertheit konfrontiert zu sein. Hierbei handelte es sich sowohl um die Folgen politischer Manipulierung wie auch fehlender gesellschaftlicher Kommunikation, die bekanntlich vom Naziregime systematisch unterbunden wurde.
Soziale Ungerechtigkeit und Entmündigung wurden wahrgenommen und kritisiert, ihre Ursachen aber ebenso wenig erkannt wie die Kausalität bestimmter Ereignisse. Sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg reflektierten die Absender das Herannahen des »Feindes«. Und obwohl man zuvor das Grausame, das Unmenschliche des Krieges verurteilte, verschwendete man nun keinen Gedanken darauf, dass das Zurückschlagen der »Feinde« vielleicht nur die Reaktion auf die von Deutschen zuvor verübten Verbrechen war. Stattdessen bedient man sich der Terminologie der Herrschenden. »Der Russe wird seine Dresche kriegen«, heißt es bei dem Wehrmachtssoldaten Otto Gasse. Kriegsmüdigkeit und menschliche Vernunft führten, wie Karl Falkenhains Briefe bezeugen, im Ersten Weltkrieg zu Verbrüderungen deutscher und russischer Soldaten an der Ostfront. Ein Vierteljahrhundert später waren die gleichen Menschen schon wieder bereit, in einen neuen Krieg zu ziehen. Bestätigung der These, dass das kollektive Gedächtnis mitunter nicht sehr lange wirkt.
Auch wenn die beiden Kriege in den nachfolgenden Dokumenten eine erhebliche Rolle spielen, handelt es sich bei der Sammlung nicht um eine Weltkriegsdarstellung aus der Sicht unmittelbar Betroffener. Es existieren ausreichend wissenschaftliche Abhandlungen dieses Themas, wir verfügen über viele Erinnerungsberichte aus jener Zeit, die literarisch verdichtet sind. Die Frage aber »Wie war es wirklich?« bekommt auch mittels solcher authentischer (und bewusst für diese Ausgabe nicht bearbeiteter) Aussagen eine Antwort. Natürlich hat ein mitteldeutscher Landarbeiter wie Otto Gasse seine Umgebung nicht nur naturalistisch in seinen Briefen beschrieben, seine Schilderungen sind gefiltert durch das Erkenntnisraster einfacher Leute – und das ermöglicht Schlüsse. Jene nämlich, wie ein bestimmtes Kulturniveau gesellschaftlicher Verhältnisse bei den Menschen funktionierte und wie ihre Weltsicht dadurch geprägt wurde. Briefe sind eine Art Jedermann-Literatur. Im Unterschied zu vielen anderen Dokumenten sind sie jedoch mehrdeutig interpretierbar, was vor allem dem Kenntnisstand des Lesers geschuldet ist. Der Leser dieser nachfolgenden Auswahl von 200 Dokumenten soll sich selbst sein Bild machen. Allerdings sollte er dies nicht von der Warte moralischer und intellektueller Überlegenheit tun.
Die knapp gehaltenen Marginalien sollen helfen, den historischen Kontext zu vergegenwärtigen, sie können aber nicht eine Chronik der Zeitereignisse liefern. Beispielsweise wird man in den Briefen zwischen 1914 und 1918 auch über Lebensmittelverknappung und Schweineablieferungen lesen, nicht aber weitergehende Ausführungen zu diesem Kapitel. Es hat gewaltige Massenabschlachtungen von Vieh damals gegeben. Vor dem Kriege zählte man in Deutschland 25,3 Millionen Schweine, von denen jedes fünfte importiertes Futter fraß. Aufgrund der britischen Wirtschaftsblockade und wegen der irrigen Auffassung, dass die Kartoffel für den menschlichen Verzehr erheblich wichtiger sei, als sie an Schweine zu verfüttern, wurde von Januar bis März 1915 mehr als der dritte Teil des gesamten Schweinebestandes in Deutschland getötet. Nachdem die 9 Millionen Schweine abgestochen waren, stellte man fest, dass es für 3,5 Millionen Tonnen Kartoffeln plötzlich keine Verbraucher mehr gab – und die Industrie andererseits war nicht im Stande, diese riesige Menge anderweitig zu verwerten. Ebenso ging es mit dem anfallenden Fleisch. So kam es, dass trotz des Hungers in den Städten Kartoffeln verfaulten und Fleisch verdarb. Am 28. Oktober 1915 führte man offiziell zwei fleischlose Wochentage ein und am 21. August 1916 die Fleischkarte. Ab 1917 wurde die widerstandsfähige Kohlrübe Grundlage der deutschen Volksernährung. In den Briefen wird man solches nicht erfahren – wohl aber die Auswirkungen dieser Politik.
Eine andere Konsequenz des Krieges war die Verluderung des Umgangs der Menschen miteinander. Sie zeigte sich in der Beschimpfung und Denunziation der Nachbarn, in der Genugtuung, die man empfand, wenn auch die Söhne anderer fielen, in der Verrohung der Gefühle. Keine Liebe in Deutschland ... Gewiss spielten dabei auch charakterliche Anlagen der Briefeschreiber eine Rolle, dennoch kann man viele von ihnen fixierte Erscheinungen als für die Zeit symptomatisch gelten lassen und sie als Pars pro Toto nehmen. Die Grausamkeit des Krieges fand nicht nur auf den Schlachtfeldern und an den Fronten statt: Sie begann und sie endete in den Köpfen und den Herzen der angeblich Unbeteiligten. Der von der kaiserlichen und später von der faschistischen Propaganda in ganz anderem Sinne verbrauchte Begriff »Heimatfront« benennt unbeabsichtigt diese Tatsache. Der Krieg verzehrte die Menschen, egal, wo sie sich aufhielten. Geradezu symbolisch ist das Ende des Obergefreiten Otto Gasse: Vier Jahre befand er sich im Hinterland, davon die längste Zeit als Pferdekutscher bei einer Flakbatterie am Rande des Ruhrgebietes. Obwohl er vermutlich außerhalb eines Übungsschießplatzes nicht einmal eine Waffe benutzte, blieb er trotzdem »im Felde«. Der Kriegstod holte ihn am 2. September 1945, morgens gegen 7 Uhr, in einem Koblenzer Lazarett ein. Auf dem städtischen Hauptfriedhof, oberhalb der Mosel und unterhalb eines Hochbunkers, der heute eine Gedenkstätte ist, liegt er in einem Ehrenhain, der für die Koblenzer Kriegstoten angelegt wurde – einige hundert Meter entfernt vom »Deutschen Eck«, wo einst Kaiser Wilhelm I. ritt. Der seit Kriegsende barhäuptige Denkmalsockel bekam 1953 eine schwarz-rot-goldene Fahne aufgepflanzt und diente als »Mahnmal der deutschen Einheit«, war doch der Plan der französischen Militärregierung, den Sockel abzubauen und durch ein neues »Denkmal für Frieden und Völkerverständigung« zu ersetzen, an Geldmangel gescheitert. 1993 kehrte der rekonstruierte »Kartätschenprinz« zurück.
Über die Schrecken beider Weltkriege wurde viel veröffentlicht. Ursachen und Verlauf sind bekannt. Diese Dokumentenauswahl, die Nachricht gibt von einer durchschnittlichen deutschen Familie in zwei Kriegen, in deren kleine Geschichte die große einbrach, will einen Blick freigeben auf das, was neben den aufgezeichneten Kriegshandlungen und außerhalb des publik gewordenen politischen Widerstandes passierte, den Blick auf einen Alltag, der vom Donnern der Kanonen überdröhnt wurde, den Blick auf das normale Leben in Deutschland, das ja irgendwie weiterging. Unser gesellschaftliches Gedächtnis braucht viele Quellen.
Frank Schumann
Am 1. August 1914 beginnt mit der Allgemeinen Mobilmachung in Deutschland und Frankreich sowie der deutschen Kriegserklärung an Russland der Erste Weltkrieg, am 3.September erklärt Deutschland Frankreich den Krieg
Wehrmann Karl Falkenhain an die Ehefrau
Reinsdorf, den 29.9.1914
Liebe Frau und Kinder!
Ich will Euch benachrichtigen, dass ich in der Nacht von Sonntag auf Montag die erste Wache in Kleinwittenberg gemacht habe, und zwar bei den Russen, Schwarzen und Franzosen, alles bunt durcheinander.
Liebe Frau, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie viele Menschen am Sonntag da waren, um die Gefangenen zu sehen. Aber viel haben sie nicht gesehen, denn rein durfte keiner, und von weitem war nicht viel zu sehen.
Besten Gruß und Kuss
Unter dem Eindruck der Niederlage im Westen an der Marne und der am 2.November gegen Deutschland verhängten britischen Wirtschaftsblockade beginnen deutsche Regierungsbeauftragte separate Friedenssondierungen mit Russland.
Jäger Erich Donath an die Mutter
Naumburg, den 2.11.1914
Liebe Mutter und Schwester!
Ich will nur mitteilen, dass ich gut angekommen bin. Auf dem Bahnhof wurden wir in Empfang genommen. Zum Mittagessen gab es mehr Fleisch als Reis, aber es hat geschmeckt. Nachmittag bekamen wir sämtliche Sachen, wir sind alles Infanterie. Wir haben uns erkundigt – wir kommen nicht weg. Die Kaserne ist noch voll.
Abends 7 Uhr wurden wir Bürgerquartieren zugeteilt. Ich bin ganz allein auf einem Boden und ohne Verpflegung. Hier bleibe ich vierzehn Tage.
Liebe Mutter, sei doch so gut und schicke mir meine Uhr. Habe keinen Wecker, muss aber früh um 5 aufstehen, um 6.45 Uhr zum Dienst zu kommen.
Grüße alle, Euer Erich
Beginn des deutschen Gegenangriffs in Richtung Lodz am 11.November (bis Mitte Dezember). Er bringt die russische Offensive gegen Posen und Schlesien zum Stehen. Am 1.November erscheint im Zentralorgan der Bolschewiki »Sozialdemokrat« das von W.I.Lenin formulierte Manifest »Der Krieg und die russische Sozialdemokratie«. Mitte November schickt Lenin dieses Kampfprogramm gegen den Krieg an sozialdemokratische Blätter in Deutschland, Frankreich und England.
Hedwig Riemer an Cousin Erich Donath
Naundorf, den 10.11.1914
Lieber Cousin!
Deine liebe Karte haben wir heute erhalten, worüber wir uns alle sehr gefreut haben. Ich habe jetzt so oft den Schlucken, dann sage ich immer: Otto denkt an uns, denn der ist auch weg. Und dann sprechen wir auch jedes Mal von Dir. Wie ich sehe, geht es Dir soweit gut, wenn Du das Schlechte nicht rechnest.
Wir haben wie Du auch kaum Zeit, wir werden nicht fertig und kommen manchmal nicht zum Essen. Aber wir haben es noch immer besser als Du. Wenn wir vom Felde kommen, können wir uns wenigstens trocknen. Ihr müsst Euch ja auf den nassen Boden hinschmeißen. Da kann man nichts dagegen tun, das ist das Soldatenleben. Es ist nur gut, dass auch die Reichen hinmüssen und nicht nur die Armen betroffen sind.
Morgen, Mittwoch, müssen alle anderen aus Naundorf fort. Ließ muss sich in Halberstadt melden, Leonhardt in Berlin, Gräfe in Torgau. Görz wird seine Order wohl auch gekriegt haben, von dem weiß ich aber nichts Bestimmtes. Ochsen-Richter muss nach Altenburg im Thüringischen zur Infanterie. Rülicke, Schmager, Gastwirt Müller sind nach Wittenberg. Wenn nur nicht Euer Vater fortmüsste! Von dort sind schon zweimal welche nach Russland gekommen. Als Du Dienstagabend weg bist, kam er nach Hause, am Freitagmorgen musste er schon wieder weg. Das wird schlimm für Deine Mutter. Die ist jetzt schon ganz gedankenschwach. Es ist ja auch sehr schlimm für sie, und es lässt sich nichts dagegen tun.
Von der Kolonie sind schon drei gefallen*, und zwar nur in der einen Woche, wo Du weg bist. Alle drei in Russland. Seidels Schuster ist am Sonntag vor acht Tagen auch nach Russland gekommen. Ob er dort ebenfalls seinen Tod finden wird?
*Die ersten drei Gefallenen aus Naundorf heißen Paul Gräfe (6.10.1914), Hermann Däumichen (11.10.1914) und Moritz Schüler (26.10.1914)
Ist in Naumburg Petroleumnot, oder hast Du abends ein bisschen Licht auf Deinem Boden?
Sei vielmals gegrüßt
von Deiner Cousine Hedwig
und von uns allen,
auch von O. Seidel
(daran aber wird Dir wohl nicht viel liegen)
In der Schlacht bei Langemarck fallen am 11. November allein 80 000 deutsche Soldaten.
Jäger Erich Donath an die Mutter
Naumburg, den 11.11.1914
Meine liebe Mutter und Minna!
Heute Abend habe ich mal Zeit, an Euch zu schreiben. Komme gerade vom Putzen beim Oberjäger. Weil ich an den ersten Tagen immer sauber geputzt war, hat er mich gefragt, ob ich bei ihm putzen wolle. Ein Soldat braucht immer Geld, so habe ich es übernommen.
Am Montag ist meine Uhr eingetroffen und heute zwei Briefe, von Bachmanns kam eine Karte. Du kannst Hedwigs Nachporto bezahlen oder nicht, die sie für meinen Brief zahlen musste. Uns ist gesagt worden, wir könnten auf Feldpost schreiben und brauchen deshalb die Briefe nicht zu frankieren.
Wir haben hier nichts zu lachen. Aber ich habe einen guten Oberjäger, mit dem sind wir zufrieden. Er gab mir heute Abend ein paar 10-Pfennig-Zigarren und sagte, ich soll zu morgen alles gut lernen. Diesen Sonntag werden wir nämlich vereidigt und können unsere Sachen nach Hause schicken.
Zu Mittag gibt es mehr Fleisch als alles andere. Am Sonntag gab es Salzkartoffeln mit Rindfleisch und eingemachte Pflaumen, gestern Bohnen mit Schweinefleisch und heute Milchreis mit Bockwurst. Ferner haben wir heute Geld bekommen – 6,60 Mark für 4 Wochen. Morgen kommen wieder 500 Mann weg. Wohin, weiß keiner. Wir sind jetzt im ganzen 2000 Soldaten, davon sind 700 in den Kasernen und die anderen im Bürgerquartier.
Es geht mir ganz gut. Der Tagesablauf sieht so aus: Früh 5 Uhr aufstehn, ½7 Uhr Dienst bis 11Uhr. 11.30 Uhr Mittagessen, von 2 bis 5Uhr Dienst. Über Mittag müssen wir alles putzen, und von 6 bis 7Uhr ist noch einmal Putzstunde.
Nun will ich schließen. Ich will noch den Fahneneid lernen, es ist schon 10 Uhr. Hier gibt es kein Petroleum mehr.
Seid alle vielmals geküsst
von Erich
Gruß an Bachmanns und Vehses
Zwischen dem 12.und 23.November entwickelt Karl Liebknecht Thesen über die Ursachen und den Charakter des Weltkrieges; sie bilden die Grundlage für die Erklärung der SPD-Fraktionsminderheit gegen die Kriegskredite in der Reichstagssitzung am 2.Dezember.
Die Türkei hat sich den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn angeschlossen und erklärt am 12. November England, Frankreich und Russland den Krieg.
Minna Falkenhain an den Sohn
Naundorf, den 24.11.1914
Lieber Sohn!
Wie ich lese, bist du halb krank und hast einen dicken Hals. Zieh Dir immer 2 Hemden an, damit Du auf dem Leib warm gehst. Es soll noch kälter werden, und wenn Du noch eine warme Unterhose brauchst, dann schreibe es mir. Nächste Woche schicke ich Dir was zu essen.
Otto Görz aus Lebien ist am Sonnabend fortgekommen – nach Magdeburg zur Infanterie. Der Dessauer Erich ist jetzt in der Türkei verkauft worden, das ist kein Deutscher mehr. Sie mussten das Schiff verlassen und rein in die Türkei machen, damit die Engländer sie nicht kriegten. Nun müssen sie zu Fuß als Soldaten gegen Russland ziehen. Wenn man solche schaurigen Nachrichten hört, könnte man Blut weinen. Gaßmanns Paul ist auch gefallen, und der Däumichen Hermann auch. Wie viele müssen ihr Leben noch hingeben?
Verliere Deine Gebete nicht und trage sie immer bei Dir. Vater trägt auch seine. Wenn er sie nicht tragen würde, wäre er vielleicht schon fortgekommen. Wart Ihr schon einmal in der Kirche, betet Ihr? Habt Ihr noch kein Neues Testament bekommen? Dann kaufe Dir doch eins, damit Du immer drin lesen kannst. Vergiss nicht den lieben Gott, der uns alle beschützt. Minna und ich beten sehr viel. Minna hat jetzt wenig Schule, weil Leonhardt fort ist.
Viele Grüße von uns allen,
Deine liebe Mutter,
Vater und Schwester
Schreib mir wirklich alles, ich will alles wissen, damit ich Ruhe habe.
Nach dem gescheiterten deutschen Durchbruchversuch bei Ypern zwischen dem 10.und 18.November erstarrt die gesamte deutschfranzösische Front bis zum Frühjahr 1918.
Jäger Erich Donath an die Mutter
Naumburg, den 28.11.1914
Liebe Mutter und Schwester!
Ich habe keine Lampe, seit acht Tagen nur ein Talglicht. So kann man nicht schreiben. Mir geht es ganz gut, der Schnupfen ist wieder weg. Bis Montag sind wir noch im Quartier, wohin wir dann kommen, wissen wir noch nicht. In die Kaserne auf keinen Fall, denn es sind wieder 400 Mann gekommen.
Wir machen jede Woche zwei Kriegsmärsche, heute Vormittag sind wir 23 Kilometer gelaufen, lauter Berge und durch den Wald. In den Tälern sind nur kleine Dörfer wie Labrun. Da ist man am Abend sehr müde.
Wenn Du ein Paket schickst, lege bitte Untersachen mit rein, keine neuen. Diese hier schicke ich dann nach Hause zum Waschen. Geld braucht ihr nicht mitzuschicken. Im Brustbeutel darf man soviel Geld haben, wie man will, nur im Portemonaie keine fünfzig Pfennig.
Das Putzen bekomme ich bezahlt, ich kriege alle 14Tage eine Mark, und Löhnung alle 14 Tage 3,30Mark. Dienstag gibt es wieder welche. Der Oberjäger wohnt bei seinen Leuten, seine Köchin macht mir alle Tage Kakao oder Schokolade, gestern Abendhabe ich Entenbraten mit Kartoffeln bekommen.
Diese Woche habe ich auch Gustav Dubro getroffen, da haben wir uns beide sehr gefreut. Er ist bald fertig mit der Ausbildung und wird wohl danach wegkommen. Wir gehen auch aller 14 Tage zur Kirche. Mit dem Brot sind wir zufrieden. Jeden dritten Tag gibt es Weißbrot. Das ist noch kleiner als ein 50-Pf.-Brot.
Nun seid alle vielmals geküsst
und bleibt gesund.
Viele Grüße von Erich
Minna Falkenhain an den Sohn
Naundorf, den 30.11.1914
Lieber Sohn!
Wir gratulieren Dir alle zu Deinem Geburtstag und wünschen Dir von ganzem Herzen, dass Du ihn gesund und munter verleben möchtest. Wir schicken Dir eine Kiste mit einem Aschkuchen, der ist von Hedwig Riemer. Die Butter ist von Vehsens Tanten, die Wurst und die Zigarren kommen von Voigts. Von uns kriegst Du morgen eine Kiste. Ich hatte erst alles in eine gepackt, doch die wog 13 Pfund, und ich hätte 1 Mark bezahlen müssen. Deshalb habe ich alles geteilt und in zwei Kisten verteilt.
Voigts haben sich ein Schwein geschlachtet, das sie von Vehsens gekauft haben. Ich habe auch eins verkauft, und am 11. Dezember schlachten wir unser zweites. Schicke also die leeren Kisten zurück, damit ich Dir davon etwas einpacken kann.
Krügers Mädchen wollen Dir auch eine Kiste schicken. Schreibe doch bitte, was da drin war.
Ich habe mich sehr geärgert, dass Du an Wittes Magd geschrieben hast. Die ist durchs ganze Dorf gerannt und hat erzählt, Du schreibst oft an sie. Den Spaß unterlass bitte künftig.
Onkel Bachmann war diese Woche nach Torgau bestellt. Der hat sich aber so verstellen können, dass sie ihn als Kranken nach Hause geschickt haben. Jetzt lacht er alle aus. Der große Herr Lehmann, der Vater von Emma, kann auch gut lachen. Nur unser Vater ist so dumm. Ich könnte mich zu Schanden ärgern.
Viele liebe Grüße
von Deinen lieben Eltern und Schwester
Am 2.Dezember gibt der Zentrumsabgeordnete Peter Spahn namens aller Fraktionen – mit Ausnahme der Sozialdemokraten – im Deutschen Reichstag eine Erklärung ab, in der die Kriegsziele der Regierung unterstützt werden. Karl Liebknecht, der in der Abstimmungsdebatte nicht hat reden dürfen, votiert als Einziger gegen die Kriegskredite. Seine schriftliche Begründung der Ablehnung wird auf Anordnung des Reichstagspräsidenten nicht in das amtliche Protokoll aufgenommen.
Jäger Erich Donath an die Mutter
Naumburg, den 5.12.1914
Liebe Mutter und Schwester!
An meinem Geburtstag sind wir alle umquartiert worden. Die Quartiere in Naumburg sind aber nicht gut. Das angekündigte Paket ist noch nicht eingetroffen. Oder hast Du es noch nicht abgeschickt? Falls nicht, so lege mir doch meine Zahnbürste, Taschenlampe und Mundharmonika mit rein.
Wir haben in dieser Woche schon geschossen, von unserer Inspektion war ich der Beste. Mit drei Schuss hatte ich 33 Ringe. Der Oberjäger hat sich gefreut. Wenn ich so weitermache, bekomme ich vielleicht einmal Urlaub, hat er gesagt. Die, die schlecht geschossen haben, müssen jeden Tag exerzieren. Gustav Dubro wird morgen eingekleidet und soll am 10.12. wegkommen.
Andermal mehr.
Es grüßt Erich
Hedwig Riemer an den Cousin Minna Falkenhain an den Sohn
Naundorf, den 12.12.1914
Lieber Cousin, lieber Sohn!
Nun schicken wir Dir die warmen Sachen, du wirst schon damit etwas anfangen können. Beim Vorhemd musst Du die raue Seite nach innen nehmen, dann ist es wärmer.
Das Hellgraue ist die Leibbinde, die musst Du drunterziehen, und das Dunkelgraue ist der Kopfwärmer. Wenn Du ihn überziehst, sind Kopf, Ohren und Hals warm. Die Holzkiste, Pappkartons und alle Sachen, die Du nicht brauchst, sollst Du nach Hause schicken.
Lieber Cousin, Dein Vater ist noch in Wittenberg, aber wir wissen auch nicht, wie lange noch. Morgen, Montag, werden sie auf der Brust geimpft, heute ist er noch mal zu Hause.
Deine Mutter hat Dir geschrieben, sie wolle Dich besuchen kommen. Aber das können wir nicht zulassen, das greift sie zu sehr an, sie hält die Fahrt mit der Bahn nicht aus. Wie soll sie allein wieder herkommen?
Lieber Sohn, nun will ich Dir noch mitteilen, dass das Geld, was ich Dir geschickt habe, von diesen Leuten ist: 5 Mark von Vehsens Tanten, 2 Mark von Hedwig Riemer, 2 Mark von Voigts Mutter. Das haben sie Dir zu Weihnachten geschenkt.
Lieber Sohn, wenn nun Eure Reise nach Frankreich beginnt, dann zieh Dich nur recht warm an. Sei nicht so leichtsinnig, wenn Du in Frankreich schlafen gehst. Durchsucht erst die Häuser. Den Leuten könnt Ihr nicht trauen, auch wenn sie noch so freundlich sind. Die ermorden Euch in der Nacht. Wenn Ihr zu zweit seid, dann muss stets einer wachen. Nimm Dir das alles an, denn Du stehst in großer Gefahr. Ihr müsst sehr vorsichtig sein. Wenn Ihr in Frankreich seid, dann schreibe sehr oft nach Hause, auch wenn es nur ein paar Zeilen sind, damit wir wissen, ob Du noch lebst. Schreibe auch an Deinen Vater.
Auf Wiedersehen!
Deine Eltern,
Schwester und Cousine
Am 8. Dezember wird das deutsche Ostasiengeschwader im Seegefecht bei den Falklandinseln vernichtet.
Hedwig Riemer an den Cousin Erich Donath
Naundorf, den 12.12.1914
Lieber Cousin!
Wir haben Deine Karte erhalten und uns alle sehr erschrocken, weil Du schreibst, dass auch Du fort musst.
Deine Mutter kann heute vor lauter Angst und Bange gar nicht schreiben, deshalb muss ich es tun. Mir geht es aber nicht viel besser, alle Glieder zittern mir, das siehst Du an der Schrift.
Lieber Cousin, es ist schon wieder ein Paket an Dich unterwegs. Am Mittwoch hat es Deine Mutter weggeschickt, hoffentlich bekommst Du es noch. Heute, Sonnabend, schickt sie Dir Geld, damit Du was auf der Reise hast. Von Ernestine sind fünf Mark und von mir zwei Mark, das soll Dein Heiliger Geist von uns sein. Morgen geht Deine Mutter nach Annaburg und kauft Dir Ohrenwärmer, Kniewärmer, Leibbinde und eine wasserdichte Jacke, die Du unter dem Rock tragen kannst. Auch lassen wir Dir gleich eine Stolle beim Bäcker backen. Das alles wird sie morgen Nachmittag als Eilpaket abschicken, damit Du es noch vor Deiner Abreise kriegst. Am Montag schlachtet Deine Mutter, dann schickt sie Dir am Dienstag gleich noch ein Paket.
Lieber Cousin, Deine Mutter lässt fragen, ob Du Deine Papiere und Schutzbriefe noch hast. Wenn Du sie verlegt oder verloren hast, schreiben wir sie Dir noch einmal ab, damit Du nicht ohne Briefe ins Feld ziehst. Und glaube daran, das ist die Hauptsache. Du sollst Dir auch viel Briefbogen und Karten kaufen und mitnehmen, damit Du fleißig nach Hause schreiben kannst, solange Du lebst. Man hofft ja, aber Du musst auf alles gefasst sein. Du musst in Deiner Brieftasche auch die Adresse Deiner Mutter haben. Im Falle Dir passiert was, können die anderen sie finden. Nur dadurch haben Däumichens erfahren, dass ihr Sohn tot ist, weil er die Adresse im Tornister hatte.
Lieber Cousin, so gehe in Gottes Namen und in festem Glauben hinaus ins Feld. Es hilft ja alles nichts, Du musst ja doch, obwohl wir Dich alle sehr bedauern.
Viele herzliche Grüße
von uns allen an Dich, lieber Cousin,
Deine Cousine Hedwig
Auf Wiedersehen, ja Wiedersehen
Ende Dezember 1914 beginnt an der gesamten Ostfront vom Kurischen Haff bis zu den Karpaten der Übergang zum Stellungskrieg. Zur gleichen Zeit kommt es an einigen Abschnitten der Westfront zu Soldatenverbrüderungen von Deutschen, Franzosen und Engländern.
Jäger Erich Donath an die Mutter
Naumburg, den 24.12.1914
Liebe Mutter und Schwester!
Wir waren alle ganz erschrocken, und Ihr werdet Euch auch gewundert haben, dass es keinen Urlaub gab. Heute, am Tag vor Weihnachten, sind wieder 2 Kompanien weggekommen. Nun sind wir dran, den Totenanzug haben wir schon bekommen.
Ich habe jetzt ein ganz feines Quartier bei zwei alten Leuten. Ich kriege früh, mittags und abends Kaffee und Kuchen. Auch ein schönes Bett habe ich. Wer weiß, wie lange noch. Bis zum 28. sind wir also hier in der Blumenstraße 4 bei Schulz, mehr wissen wir nicht.
Wir haben auch zu den Feiertagen Dienst. Damit haben wir nicht gerechnet. Du brauchst Dich aber nicht zu ängstigen. Nach dem Krieg kommen wir alle wieder. Oder denkst Du, ich will Naundorf nicht wiedersehen?
Bleibt alle hübsch gesund,
bis auf Weiteres.
Grüßt alle von mir.
Euer Sohn und Bruder Erich
Die Dessauer haben mir auch eine Weihnachtskarte geschrieben. Sie wollen mir drei Mark schicken als Weihnachtsgeschenk.
Am 1. Januar versenkt ein deutsches U-Boot ein britisches Linienschiff vor der Isle of Portland.
Minna Falkenhain an den Ehemann
Naundorf, den 1.1.1915
Vielgeliebter Mann und guter Vater!
Nun hat wieder ein neues Jahr mit Sorgen und Angst begonnen. Wie lange wird es noch dauern, bis alles zu Ende ist? Mein lieber Sohn Erich hat mich auch getröstet und gesagt, ach Mutter, weine doch nicht mehr, ich komme wieder! Als wir am dritten Feiertag nach Naumburg kamen und Erich aufsuchten, sah er uns schon von weitem. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sich seine Beine vor Freude bewegten. Er dachte, er würde Urlaub kriegen, doch er musste zum Dienst. Nachmittags 4 Uhr kam er wieder. Wir blieben die Nacht dort. Seitdem habe ich nichts wieder von ihm gehört. Es fehlt ihm an nichts, nur die Sorge drückt, dass er fortkommt.
Ich war heute auch zur Kirche. Da hat der Pastor wieder so gebetet, dass alles in der Kirche geweint hat, so schön machte er das. Der Text war über den 90.Psalm. Ich habe ihn zum ersten Mal predigen hören. Der Pastor kommt aus Plossig, er machte das sehr schön. Also, mein lieber Karl, nimm Dir diesen 90. Psalm einmal vor. Alle, die solche Texte bei sich tragen, haben nach Hause geschrieben, dass sie sehr daran glauben und sehen, dass diese Briefe sie schützen. Mach es doch auch so. Sieh, der Eichelbaum bleibt auch hier. Der hat gesagt, er hat was an seinem Bein. Mach es doch auch so. Es ist doch genug, wenn einer fort ist.
Vorgestern war ich in Annaburg, da traf ich Vogels August, der geht in die Fabrik und ist gänzlich entlassen worden wegen seinem Reißen. Der war 14 Tage zu Hause und geht nun schon wieder normal arbeiten. Es fehlt ihm nichts. Er sagte, wäre er nur eher darauf gekommen, da hätte er nicht ein Vierteljahr im Schützengraben liegen müssen. Dreimal habe er sich krank gemeldet, beim dritten Male haben sie ihn entlassen. Wenn Du, lieber Karl, es auch so machen würdest, wäre es für Dich und mich sehr gut. Wir haben genug Sorgen wegen unseres Erichs, der ins Feld muss. Ein jeder wundert sich hier, dass Du mit fort sollst. Alle sagen, Du wärst krank genug gewesen. Warum teilt er das denen nicht mit?
Viele Grüße und Küsse
von Deiner herzensguten Frau.
Auf Wiedersehen.
Unter dem Eindruck der deutschen Misserfolge im Westen und der Gefahr einer russischen Offensive beschließt die Oberste Heeresleitung (OHL), das Schwergewicht der Kriegführung 1915 gegen Russland zu verlegen und im Westen defensiv zu bleiben.
Wehrmann Karl Falkenhain an die Ehefrau
Östlicher Kriegsschauplatz, den 14.1.1915
Liebe Frau und Kinder!
Ich will Euch mitteilen, dass wir am 12. abends 8 Uhr in Russland eingerückt sind und haben die erste Nacht in einem Rathaus auf Stroh geschlafen. Am 13. sind wir weitermarschiert. Nach 15 Kilometern wurden wir aufgeteilt. Vorgestern um 6 Uhr sind wir angekommen. Liegen 600 bis 700 Meter vor dem Feind, aber gesehen haben wir ihn noch nicht.
Besten Gruß und Kuss,
Dein lieber Mann und guter Vater
Minna Falkenhain an den Sohn
Naundorf, den 15.1.1915
Lieber Sohn!
Wie ich aus Deinem Brief ersehe, seid ihr noch immer hier. Vater ist bereits seit dem 6.Januar aus Wittenberg fort, doch ich weiß nicht, wo er hingekommen ist. Seine letzte Karte kam aus Halle. Der kleine Meißner schrieb von unterwegs eine Karte, da hieß es, sie kämen nach Russland. Mehr weiß ich nicht.
An Vehsens hast Du geschrieben, dass von der 1.Kompagnie 95 Mann fortgekommen sind. Vielleicht bleibt Ihr deshalb noch ein paar Wochen hier. Gott möge dafür sorgen, dass Ihr beide wieder gesund zurückkehrt. Er wird Euch in der Gefahr beistehen, wenn wir für Euch beten. Und denke daran, was Du bei Dir trägst. Das ist Dein Schutz. Alle, die so etwas bei sich tragen, hat er bisher beschützt. Mein lieber Sohn, denke immer daran, Du trägst Gott bei Dir, dann wird Dir nichts passieren. Wenn Du in Deinem Glauben aber wankst, kann er Dir nicht helfen. Höre nicht auf die, welche darüber lachen, das sind ruchlose Leute. Du weißt, unser lieber Vater glaubt auch an Gott und ist mit dem Glauben von uns gegangen, und er denkt auch, damit wiederzukommen. Also, mein lieber Sohn, nimm Dir zu Herzen, was Dir Deine liebe Mutter schreibt. Trage die Briefe vom lieben Gott bei Dir und verliere sie nicht. Gehe in Gottes Namen – und wenn Du draußen in ein Gefecht ziehst, fürchte Dich nicht, Du hast die Briefe bei Dir.
Also, mein lieber Sohn, lies Dir diesen Brief heute richtig durch. Und nimm Dir viel Papier mit, damit Du oft schreiben kannst. Mein lieber Sohn, zieh Dich warm an, das andere schickst Du her. Das hebe ich Dir alles auf, bis Du wieder nach Hause kommst. Deine Uhr, den Ring und die Schuhe und das Geld kannst Du vielleicht auch mitschicken. Unterwegs kommt es vielleicht weg.
Auf ein gesundes Wiedersehen.
In Naundorf sind noch alle gesund, was wir auch von Dir hoffen.
Auf der Karte bist Du sehr schön getroffen, und wenn Du noch eine hast, schicke sie an Hedwig Riemer, die andere haben Vehsens behalten.
Der Otto Seidel beschwert sich immer, dass Du nicht an ihn schreibst. Schreibe ihm doch mal eine Karte. Er wollte Dir jetzt auch ein Paket schicken, aber ich sagte ihm, Du wärst schon weg. Lehmanns Emma sagt immer zu Bachmanns Anna, Du wärst ihr Schatz. Schreibe nicht so oft an Lehmanns Emma, Bachmanns Anna ärgert sich darüber sehr. Viele herzliche Grüße von allen und von Deiner lieben Mutter und Schwester.
Auf Wiedersehen.
Jäger Erich Donath an die Mutter
Naumburg, den 16.1.1915
Liebe Mutter und Schwester!
Nun schicke ich alles nach Hause. Ich hatte nicht viel Zeit zum Einpacken. Ihr müsst jedes Papier untersuchen, denn ich habe noch 5 Mark mit reingelegt. Dann will ich mir noch einiges kaufen, was ich mitnehmen kann. Grüßt auch Hedwig und sagt ihr, dass ich nicht schreiben kann. Ich habe einen dicken Finger, den haben sie mir heute geschnitten. Es wäre aber wieder heil, ehe wir rauskommen, hat der Doktor gesagt.
Gestern rückten wir 2 Uhr früh aus, 8 Uhr kamen wir zurück. Draußen haben wir selbst gekocht. Heute sollten wir noch Dienst haben, aber sie haben uns zurückgeschickt.
Wir sollen nach Russland zum 21. Ersatz-Bataillon kommen, 350 Mann von hier. Auf der Fahrt werde ich mehr schreiben, ich habe jetzt keine Zeit mehr.
Auf ein gesundes Wiedersehen.
Es grüßt Euer Sohn und Bruder
Ich habe noch viele warme Sachen geschenkt bekommen, auch eine Tasche zum Umhängen.
Wehrmann Karl Falkenhain an die Ehefrau
Östlicher Kriegsschauplatz, den 20.1.1915
Vielgeliebte Frau und liebe Kinder!
Ich will Euch aus der weiten Ferne mitteilen, dass ich Gott sei Dank noch gesund und munter bin. Wir sind noch immer am selben Ort, wo wir ankamen. Wir liegen in einem Russenhaus auf Stroh, das ist wie Häcksel. Wir sind 40 Mann, aber es liegen auch noch Russenfamilien drin. Wie das aussieht, solltest Du mal sehen, Du würdest staunen. Die Häuser sind so niedrig, dass man sich beim Eintreten am Kopf stößt. Sie sind alle mit Stroh gedeckt. Schweine, Hühner, Gänse laufen in der Stube herum.
Unsere Stellungen liegen gegenüber den Russen. Wir kommen nicht voran, denn die schießen sehr. Außerdem liegt da ein Fluss, über den kommen wir nicht drüber. An den ersten Tagen hat es nur geregnet, da war es sehr dunstig. Boote können wir auch nicht benutzen, weil das Wasser gefroren ist. Die Russen gegenüber lassen sich nicht sehen, wir haben aber auch keine Sehnsucht nach dem Volk. Uns ist es am liebsten, wenn wir sie nicht sehen.
Wie Du schreibst, ist Erich nun in Frankreich**. Gräme Dich nicht so.
** Ein Übermittlungsfehler – Erich Donath war am 16.Januar nach Russland gekommen.
Herzliche Grüße und Küsse
von Deinem vielgeliebten Mann,
Euer guter Vater in der weiten Ferne
Ich will Dir meine Adresse mitschreiben, falls Du die erste Nachricht nicht gekriegt hast:
Wehrmann Karl Falkenhain
Überplanmäßiges Landwehr Inf. Batt. Nr. 6 Komp.
Post Mlawa über Soldau in Russland
Vom 7. bis 22. Februar tobt die Winterschlacht in den Masuren. Die erfolgreichen deutschen Angriffsoperationen führen jedoch nicht dazu, wie geplant in den Rücken der in Polen stehenden russischen Armeen vorzustoßen.
Minna Falkenhain an den Ehemann
(Stempelaufdruck: Zurück/Post Mlawa über Soldau in Russland)
Naundorf, 15.2.1915
Mein vielgeliebter guter Mann und guter Vater! Deine beiden Karten vom 1.2. und 6.2. habe ich nach fünfzehn bzw. zwölf Tagen erhalten. Du schreibst, dass Du wieder auf Vorposten bist und den Feind noch nicht gesehen hast. Das Beste wäre, Du würdest ihn nie zu Gesicht bekommen.
Der Kortsche Meißner hat an Hebolds geschrieben, dass er fünf Tage im Feuer gestanden habe. Du musst doch auch dabei gewesen sein, denn Du hast dieselbe Adresse wie er. Ich habe es von der Pfenigen gehört, als die sich Deine Adresse bei mir holte, weil sie Dir was schicken will. Die schicken jedem Pakete. Du müsstest Ihr also auf einer Karte danken. Aber erst, wenn Du was bekommen hast.
Ich freute mich, als ich bei Dir las, Du hättest Post von Erich bekommen, auch seine Fotografie. Ich hatte von ihm auch eine in Dein Paket gelegt, weil ich es nicht wusste, aber das schadet ja nichts, hast Du eben zwei. Aber ob er noch lebt? Seit dem 5.2. hat er nicht mehr geschrieben. Es war ein sehr trauriger Brief. Sie kämen nicht aus dem Feuer, und wenn sie mal abgelöst würden, kämen immer Granat- und Schrapnellschüsse geflogen, schrieb er. Sie seien ihres Lebens nicht sicher und müssten immer wieder vor. Die strafen sie ja ordentlich. Sie liegen immer auf Gottes Erdboden und oft ohne Stroh, und Essen und Trinken friert ihnen ein. Es ist ein wahrer Jammer. Ich bete Tag und Nacht für meine lieben Leute, die ich in weiter Ferne habe, damit sie der liebe Gott beschütze, und dass wir uns gesund wiedersehen. Aber wer weiß, wie das noch kommt, an ein Ende ist nicht zu denken. Man hört und liest in allen Blättern von den großen Riesenschlachten und dass Hindenburg gesagt habe, koste es, was es wolle, durchgesetzt wird es. Da wird nicht nach Eurem armen Leben gefragt. Wenn bloß der liebe Gott Euch zwei am Leben erhielte.
Nun will ich Dir noch Erichs Adresse aufschreiben, die ist noch etwas länger geworden:
Jäger Erich Donath
25. Reserve Armeekorps
49. Reserve Division
21. Reserve Jäger Bataillon
2. Kompanie, 4. Inspektion im Osten
Ich will nun schließen, ein andermal mehr.
Viele herzliche Grüße
von Deiner herzensguten Frau und Kindern,
hoffe auf ein baldiges Wiedersehen.
Mit vielen Grüßen und Küssen.
Bitte bald Antwort.
Seit 31. Januar wird in Berlin der Verkauf von Mehl und Brot rationiert.
Jäger Erich Donath an die Mutter
Schützengraben, den 16.2.1915
Liebe Mutter und Schwester!