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Fehler sind menschlich, doch wenn sie Ärzten unterlaufen, kann es ihre Patienten die Gesundheit oder gar das Leben kosten. Das falsche Bein operiert, Medikamente verwechselt oder eine lebensbedrohliche Krankheit übersehen – falsch oder gar nicht behandelt zu werden, ist der größte Albtraum jedes Kranken. Der Patientenanwalt Peter Gellner vertritt seit vielen Jahren Betroffene und ihre Angehörigen nach medizinischen Behandlungsfehlern und erstreitet Recht und Schadensersatz für sie. In seinem erfolgreichen Podcast "Tatort Krankenhaus" schildert er echte Fälle aus seiner Kanzlei: tragische Schicksale von Patienten und ihr juristisches Nachspiel. Dieses Buch versammelt 30 dieser spannenden Geschichten aus dem Grenzgebiet von Recht und Medizin, darunter viele neue und bislang unveröffentlichte Fälle. In diesem Buch geht es nicht darum, medizinisches Personal an den Pranger zu stellen. Vielmehr sollen Fehler aufgedeckt und Patienten und auch das medizinische Personal sensibilisiert werden. Die juristischen Einschätzungen und Tipps, die die Autoren an die Hand geben, helfen, die eigenen Rechte zu kennen, denn jeder kann irgendwann selbst in diese Situation geraten.
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Seitenzahl: 237
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wichtiger Hinweis
Dieses Buch dient ausschließlich der allgemeinen Information und stellt keine Rechtsberatung oder medizinische Beratung dar. Trotz sorgfältiger Recherche übernehmen die Autoren und der Verlag keine Haftung für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der Inhalte. Rechtliche und medizinische Fragen sollten stets mit einem qualifizierten Anwalt oder Arzt oder einer zuständigen Fachstelle geklärt werden.
Um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, wurdenNamen, Orte und andere Details im Buch abgeändert.
Originalausgabe
1. Auflage 2025
© 2025 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbR
Türkenstraße 89, 80799 München
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Marija Džafo
Umschlagabbildung: ADragan/Shutterstock.com
Layout und Satz: Daniel Förster
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-96905-378-2
ISBN E-Book 978-3-96905-379-9
Vorwort
Augenlasern im Akkord
Stimmbandlähmung
Tödliche Verwechslung
Schlaganfall
Neue Brüste im Ausland
Die verlorene Spitze
Es begann mit harmlosen Zahnschmerzen
Die geplatzte Wärmflasche
Katzenbiss
Die Wunderheilerin
Überdosis
Drama im Kreißsaal
Vitamin K
Unendliche Hüfte
Fehllage
Fake News und Schwarzer Peter
Keine Zugangskontrolle
Wer schön sein will, muss leiden
Unvollständiger Werkzeugkoffer
Die verirrte Magensonde
Herr Maier ist nicht Herr Meier
Aussage gegen Aussage
Arzt als Patient
Das abgeschnürte Bein
Durchbohrt
Der Fixateur
Abgerutscht
Grauer Star
Die Fallhand
Die Querschnittslähmung
Die Autoren
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns sehr, Sie zu unserem gemeinsamen Buch Wenn Ärzte Fehler machen begrüßen zu dürfen – ein Buch, das aus fast drei Jahrzehnten Erfahrung in zwei unterschiedlichen, sich aber hervorragend ergänzenden Berufsfeldern entstanden ist. Wir, Tanina Rottmann als erfahrene Radiomoderatorin, und Peter Gellner, Fachanwalt für Medizinrecht und seit fast 30 Jahren leidenschaftlicher Patientenanwalt, dürfen euch durch dieses Buch begleiten. Unsere unterschiedlichen Hintergründe – Medien und Recht – wollen wir nutzen, um komplexe Sachverhalte verständlich aufzubereiten und Patientinnen und Patienten sowie medizinische Fachkräfte gleichermaßen anzusprechen.
Peter Gellners Weg in den Bereich des Patientenrechts war ebenso anspruchsvoll wie motivierend. Er durchlief ein intensives juristisches Studium, sammelte zahlreiche praktische Erfahrungen und stellte dabei stets die Interessen und Rechte der Patienten in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Seine langjährige Tätigkeit in der Kanzlei hat ihn mit den unterschiedlichsten Facetten von Behandlungsfehlern konfrontiert – von berührenden Einzelfällen bis hin zu erschütternden Mängeln im System. Diese Erlebnisse haben ihn angetrieben, den Patienten nicht nur als juristischer Berater, sondern auch als engagierter Fürsprecher zur Seite zu stehen.
In Peter Gellners langjähriger Arbeit begegnete er immer wieder spannenden Fällen von Behandlungsfehlern – Geschichten, die zu lange im Verborgenen blieben. Ihm wurde bewusst, dass es an der Zeit war, diese Fälle systematisch zu dokumentieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schließlich fanden wir mit der Idee zueinander (als ehemalige Nachbarn), aus seinen Fällen doch einen Podcast zu machen. Dabei stand nie der Wunsch im Vordergrund, einzelne Ärztinnen und Ärzte zu verurteilen oder öffentlich an den Pranger zu stellen, sondern vielmehr, gemeinsam zu verstehen, welche Fehler passieren können, und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Die Idee, über diese Fälle zu berichten, entsprang also dem Anliegen, authentisch und sachlich aufzuklären sowie einen Beitrag zur Verbesserung der Arzt-Patienten-Kommunikation zu leisten.
Seit März 2024 produzieren wir gemeinsam den Podcast Tatort Krankenhaus – Wenn Ärzte Fehler machen, der rasch zu einem Erfolg wurde. Die überwältigende Resonanz von Patienten und medizinischem Fachpersonal hat uns gezeigt, wie groß der Bedarf an Aufklärung und fundierter Information in diesem Bereich ist. Die öffentliche Aufmerksamkeit, das Medieninteresse und der allgemein dringende Wunsch nach mehr Transparenz in der Medizin haben uns den Anstoß gegeben, unsere Erfahrungen in Buchform festzuhalten.
Beim genaueren Hinsehen offenbaren sich in den behandelten Fällen immer wieder ähnliche Muster: Kommunikationsdefizite, unzureichende Aufklärung, systembedingte Versäumnisse und manchmal schlicht menschliches Versagen. Doch in jeder dieser Geschichten schwingt auch eine wertvolle Lehre mit – die Chance, die Behandlungsprozesse nachhaltig zu verbessern. Unsere Absicht ist es, diese wiederkehrenden Muster zu beleuchten, um sowohl Patienten als auch Mediziner für ihre jeweiligen Verantwortlichkeiten zu sensibilisieren.
Dieses Buch richtet sich an alle, die sich mit der Thematik auseinandersetzen möchten – sei es aus eigener Betroffenheit, als Angehörige, als medizinisches Fachpersonal oder auch als juristische Fachkräfte. Unser Ziel ist es, Ihnen ein verlässliches Instrument an die Hand zu geben: Nutzen Sie die enthaltenen Fallbeispiele, um sich zu informieren, Ihre Rechte besser zu verstehen oder als Grundlage für präventive Maßnahmen in der medizinischen Praxis. Wir wollen nicht nur rechtliche Orientierung bieten, sondern auch dazu anregen, die Arzt-Patienten-Beziehung offener und transparenter zu gestalten.
Es ist keinster Weise das Ziel unseres Buches, das Vertrauen in die Ärzteschaft und in Kliniken zu erschüttern und Menschen von notwendiger medizinischer Behandlung abzuhalten. Geschildert werden tragische Einzelfälle und Fehler, die leider hin und wieder passieren. Uns geht es vielmehr darum, aufzuklären und zu informieren, sodass Sie Ihre Rechte kennen, sollten Sie selbst medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.
Wir laden Sie herzlich ein, sich auf eine Reise durch die Welt der Behandlungsfehler einzulassen – eine Reise, die ebenso sehr von Mut und dem Wunsch nach Verbesserung geprägt ist wie von der Erkenntnis, dass jeder von uns einmal als Patient oder als Angehöriger betroffen sein könnte. Mit diesem Buch möchten wir nicht nur informieren, sondern auch dazu anregen, über den Umgang mit Fehlern in der Medizin nachzudenken und gemeinsam Wege zu finden, das Vertrauen zwischen Ärzten und Patienten zu stärken.
Vielen Dank, dass Sie uns auf diesem Weg begleiten. Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche und inspirierende Lektüre!
HerzlichstTanina Rottmann & Peter Gellner
Christopher ist ein gut aussehender junger Mann, 21 Jahre alt. Seine Freunde nennen ihn den »Womanizer«. Er selbst ist von diesem Spitznamen nicht besonders angetan, aber wenn er ehrlich zu sich ist – sie haben schon recht. Bei Frauen kommt er mit seinem hübschen Gesicht, dem athletischen Körperbau und seiner lockeren Art gut an. Wenn er am Wochenende für seine Fußballmannschaft im Tor kämpft, dann stehen auffallend viele Damen an der Seitenlinie.
Im Grunde findet Christopher das alles sehr angenehm. Aber eine Sache stört ihn ganz gewaltig – seine »schlechten« Augen. Er ist stark kurzsichtig, minus fünf Dioptrien.
Kurzsichtigkeit wird auch Myopie genannt, ein Wort, das sich aus dem Griechischen myops ableitet, was in etwa »Blinzelgesicht« bedeutet. Man sieht es oft bei Kurzsichtigen, dass sie ohne Sehhilfe die Augen zu kleinen Schlitzen zusammenziehen, um etwas mehr erkennen zu können.
Christopher trägt eine Brille. Und von der ist er permanent genervt. Sie stört ihn beim Fußballspielen, und sonderlich sexy fühlt er sich damit auch nicht. Er hat es kurz mit Kontaktlinsen versucht, diese aber nicht gut vertragen.
Eine Freundin von Christopher hat sich die Augen »lasern« lassen, und das will er jetzt auch. Er entscheidet sich nach reiflicher Überlegung und umfangreichem Studium der Bewertungen im Internet für eine sogenannte Laser-in-situ-Keratomileusis-Operation – kurz LASIK.
Bei so einer LASIK-Operation wird mit einem Laser die oberste Deckschicht der Hornhaut entfernt und dann mit einem zweiten Laser die Hornschicht abgetragen. Im Idealfall wird dabei der Brechwert der Hornhaut so verändert, dass die Fehlsichtigkeit ausgeglichen ist. Brille ade!
Dieser Eingriff ist auch heutzutage immer noch eine der verbreitetsten Methoden innerhalb der Augenchirurgie.
Christopher stößt im Internet auf ein Unternehmen, das ihm perfekt erscheint. Dort sei man auf LASIK-Operationen spezialisiert. In einem kurzen und netten Telefonat ist ein Termin schnell gefunden. Als Christopher am OP-Tag eintrifft, ist er zuerst verwundert, fast schon schockiert. Das Wartezimmer ist voll besetzt. Er zählt grob durch und kommt auf etwa 50 bis 60 Patienten, die dort auf ihre Augenbehandlung warten.
Augenlasern im Akkord, denkt er sich und ist ein Stück weit beunruhigt. Aber nicht so sehr, dass er an diesem Punkt bereits Reißaus nehmen möchte.
Eigentlich sollte er um 13:00 Uhr operiert werden. Als er endlich an der Reihe ist, ist es schon Abend – kurz nach 20:00 Uhr. Sieben Stunden sind vergangen. Andere Patienten, die einen Termin nach ihm hatten, kommen gar nicht mehr dran, sondern werden mit einem Bus in eine weitere Niederlassung des Unternehmens verbracht – 150 Kilometer entfernt.
Auch das kommt ihm mehr als seltsam vor, dennoch bleibt er. Schließlich hat er schon so lange gewartet. Er will die Operation jetzt »durchziehen«. Und tatsächlich geht es nun endlich los. Christopher erhält ein sedierendes Medikament und eine weitere Medikation, die bewirkt, dass er nichts mehr sehen kann.
Zuerst soll das rechte Auge mit der LASIK-Methode behandelt werden. Dabei wird ein Ring um das Augenlid platziert, damit der Patient nicht mehr blinzelt. Das war zumindest der Stand der Medizin vor etwa zehn Jahren, als sich Christopher der Operation unterzog.
Die Ärzte versuchen drei Mal, die LASIK-Behandlung am rechten Auge durchzuführen, aber es gelingt ihnen nicht, weil der Ring jedes Mal herausspringt. Man trifft die Entscheidung, es zunächst am linken Auge zu versuchen.
Und dort hält der Ring wunderbar. Man versucht es nochmals am rechten Auge, aber wieder springt der Ring ab.
Jetzt entscheidet sich der Arzt um und wählt eine andere Operationsvariante, die mit Christopher so im Vorfeld nicht abgesprochen wurde – die LASEK-Methode. Was der Arzt allerdings nicht bedenkt: Ein Patient muss vor chirurgischen Eingriffen, bei denen der Arzt die ernsthafte Möglichkeit einer Operationserweiterung oder den Wechsel in eine andere Operationsmethode in Betracht ziehen könnte, hierüber und über die damit gegebenenfalls verbundenen Risiken aufgeklärt werden.
Hat der Arzt vor der Operation Hinweise auf eine möglicherweise erforderlich werdende Operationserweiterung unterlassen und zeigt sich intraoperativ, also während des Eingriffs, die Notwendigkeit einer Erweiterung, dann muss er, soweit dies möglich ist, die Operation beenden, den Patienten nach Abklingen der Narkoseeinwirkungen entsprechend aufklären und seine Einwilligung in den weitergehenden Eingriff einholen.
Zurück zur LASEK-Methode. Diese verwendet man, wenn die Hornhaut des Patienten sehr dünn ist. Im Vergleich zur LASIK-Methode wird die Hornhaut nicht mit dem Laser entfernt, sondern eine Alkohollösung auf das Auge aufgetragen und dieses mit einer Folie bedeckt. Die Alkohollösung löst die dünne Zellschicht auf der Oberfläche des Auges. Die Zellen kleben an der Folie und werden sanft aus dem Auge gewischt. Erst dann kommt der Laser zum Einsatz, um die Hornhaut zu behandeln.
Nachdem wie gesagt der Entschluss gefasst wurde, die LASEK-Methode anzuwenden, wird Christopher, der noch immer durch die Medikamente benommen ist und nichts sehen kann, in einen anderen Raum geführt, wo er etwas unterschreiben soll. Dabei handelt es sich offenbar um die Einwilligungserklärung für eine LASEK-Behandlung. Christopher unterschreibt das Formular zu diesem Zeitpunkt wortwörtlich blind. Eine anwesende Arzthelferin führt ihm dabei die Hand.
Dass dies in rechtlicher Hinsicht nicht ausreichend sein kann, ist offensichtlich. Oftmals denkt der Laie, dass er sich mit seiner Unterschrift unter den Aufklärungsbogen aller Rechte enthoben hätte. Dem ist bei Weitem nicht so. Es ist stets auch ein mündliches Aufklärungsgespräch erforderlich. Dabei muss sich dieses am individuellen Risikoprofil des Patienten orientieren. Verharmlost das Aufklärungsformular beispielsweise spezifische Risiken, die bei dieser Behandlung auftreten können, dann trifft die Ärztin oder den Arzt ein Aufklärungsversäumnis. Der Patient erhält eine Fehlvorstellung über den Eingriff und die damit verbundene Komplikationsgefahr.
Hartnäckig hält sich auch das Gerücht, es müssten zwischen Operation und Aufklärung mindestens zwei Stunden liegen.
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung sieht die maßgebliche Bestimmung in § 630e BGB keine nach der Einwilligung einzuhaltende »Sperrfrist« vor, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde. Sie enthält kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen müsste, sondern kodifiziert die bisherige Rechtsprechung, der zufolge der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden muss, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahrnehmen kann.
Dass hier aber keine Abwägung seitens Christopher möglich war, daran ließ auch das Gericht im nachfolgenden Prozess – um dies vorwegzunehmen – nicht den geringsten Zweifel.
Christopher wird nach seiner »Blind-Unterschrift« wieder in den Behandlungsraum geführt, und es wird an beiden Augen eine LASEK-Behandlung durchgeführt. Mit dem Erfolg, dass es keinen Erfolg gab.
Christophers Sehvermögen ist seit der Operation massiv reduziert. Und auch zahlreiche Nachbehandlungen konnten sein Sehvermögen nicht verbessern – heute liegt seine Sehschärfe nur noch bei 30 Prozent auf beiden Augen. Und nicht nur das: Die LASEK-OP hat zu erheblichen Schäden geführt. Es sind Narben an der Hornhaut entstanden. Er klagt nach der Operation lange Zeit über Kopfschmerzen und Schwindel. Fußball spielt er heute gar nicht mehr.
Eine außergerichtliche Verständigung mit dem Unternehmen, das offensichtlich im Akkord Patienten behandelt und operiert, konnte nicht erzielt werden, sodass eine gerichtliche Klärung erforderlich wurde. Im Rahmen des Gerichtsverfahrens wurde das Gutachten eines renommierten Augenarztes eingeholt. Er stellte im Rahmen seiner Begutachtung fest, dass es durch die LASEK-Behandlung fehlerhaft und dem Arzt vorwerfbar zu schweren Veränderungen mit Narbenbildung und Trübungen gekommen sei und letztendlich auch eine Brille oder Kontaktlinsen keine Kompensation mehr herbeiführen könnten. Letztlich könne nur eine nicht risikofreie Hornhauttransplantation das Ergebnis positiv beeinflussen.
In rechtlicher Hinsicht führte zudem die erhobene Aufklärungsrüge aus den genannten Gründen zur positiven Feststellung eines Behandlungsfehlers. Tatsächlich stellt das Unterlassen einer therapeutischen Aufklärung auch einen Behandlungsfehler dar. Damit hat der Patient – aus seiner Sicht: leider – grundsätzlich den Beweis zu führen, dass ein medizinisch erforderlicher therapeutischer Hinweis nicht erteilt wurde und es dadurch bei ihm zum Eintritt eines Schadens gekommen ist.
Vor Gericht konnte schlussendlich das verklagte Unternehmen, das für Christophers Augen-OP verantwortlich war, von der Fehlerhaftigkeit seines Handelns überzeugt werden, sodass es sich auf eine Vergleichszahlung in Höhe von 50 000 Euro einließ. Letztlich ist das nur ein schwacher Trost für Christopher, der sich beim nächsten Mal nicht unter Druck setzen lassen, sondern sich die Zeit nehmen wird, um eine abgewogene und richtige Entscheidung zu treffen. Denn nicht nur das Für und Wider einer Operation gilt es abzuwägen, sondern auch die Anforderungen der Rechtsprechung an den Zeitpunkt der Aufklärung sind nicht ohne Grund in jahrzehntelanger Praxis ausgestaltet worden.
Die Aufklärung hat stets vor der Durchführung einer ärztlichen Maßnahme zu erfolgen. Abgesehen von Notfällen muss der Moment dabei so gewählt werden, dass dem Patienten genügend Zeit bleibt, die Vor- und Nachteile eines Eingriffs abzuwägen und sich frei zu entscheiden. Bei stationären Behandlungen genügt grundsätzlich eine Aufklärung am Vortag des Eingriffs. Eine Aufklärung am Vorabend reicht nach ständiger Rechtsprechung hingegen zumeist nicht aus, um die Entscheidungsfreiheit des Patienten zu gewährleisten; es sei denn, die Aufklärung erfolgt unmittelbar nach der Aufnahme zur stationären Behandlung und der Patient äußert den Wunsch, bereits am folgenden Tag operiert zu werden.
Bei ambulanten Behandlungen muss differenziert werden: Der medizinische Fortschritt erlaubt heute ambulante Eingriffe, die weder einfach noch mit geringen Risiken behaftet sind. Bei kleineren ambulanten Eingriffen kann die Aufklärung daher am Tag des Eingriffs noch rechtzeitig erfolgen, wenn zwischen Aufklärung und operativer Phase ein gewisser zeitlicher Abstand liegt. Bei größeren, risikoreicheren ambulanten Eingriffen ist eine Aufklärung am Tag des Eingriffs hingegen in aller Regel verspätet.
Aber: Nicht jede späte Aufklärung macht die Einwilligung in eine ärztliche Behandlung unwirksam. Vielmehr hat der Patient in der Regel darzulegen, weshalb ihn der späte Zeitpunkt der Aufklärung in seiner Entscheidungsfreiheit und seinem Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigt hat.
Im Rahmen der Aufklärung heißt es also: Augen auf!
Verliebte haben gefühlt Schmetterlinge im Bauch. Anatomisch gesehen befindet sich zumindest einer im vorderen Bereich des Halses, nämlich die Schilddrüse, die unterhalb des Adamsapfels sitzt. Es ist ein kleines Organ und sieht mit ihren zwei Seitenlappen und dem verbindenden Mittellappen einem Schmetterling sehr ähnlich. Die beiden Seitenlappen schmiegen sich an die Luftröhre und sind unter dem Schildknorpel miteinander verbunden. Bei Erwachsenen ist die Schilddrüse ungefähr so groß wie eine Walnuss, bei Frauen wiegt sie bis zu 18 Gramm, bei Männern bis zu 25 Gramm. Die Schilddrüse spielt eine entscheidende Rolle im Stoffwechsel des Körpers, da sie Hormone produziert, die viele Körperfunktionen regulieren.
Viele Menschen leiden unter einer Unter- oder einer Überfunktion der Schilddrüse. Bei einer Unterfunktion werden nicht genügend Hormone produziert. Symptome können Müdigkeit, Gewichtszunahme, Kälteempfindlichkeit und auch Depressionen sein. Bei einer Überfunktion werden hingegen zu viele Hormone produziert. Symptome können Gewichtsverlust, Nervosität, Schlaflosigkeit sowie ein erhöhter Herzschlag sein.
Mitunter treten auch Schilddrüsenknoten auf. Dabei handelt es sich um Vergrößerungen oder Tumore in der Schilddrüse, die gutartig oder bösartig sein können.
Bei Erika, 51 Jahre alt, werden bei einem Krankenhausaufenthalt gleich zwei dieser Knoten im Bereich ihrer Schilddrüse festgestellt.
Erika, die seit mehr als 25 Jahren mit Friedrich verheiratet ist und eine erwachsene Tochter hat, die im Ausland lebt, musste sich schon zehn Jahre zuvor einer doppelseitigen Schilddrüsenresektion unterziehen, sodass bei ihr nur noch eine Restschilddrüse vorhanden ist.
Die Ärzte diagnostizieren bei ihr zwei kalte Knoten. Schilddrüsenknoten sind abnormale Wucherungen in der Schilddrüse, die in zwei Hauptkategorien unterteilt werden: kalte und warme Knoten. Diese Unterscheidung basiert auf der Funktionalität der Knoten und ihrer Fähigkeit, Schilddrüsenhormone zu produzieren.
Kalte Knoten sind Bereiche der Schilddrüse, die keine oder nur sehr geringe Mengen an Schilddrüsenhormonen produzieren. Sie haben in aller Regel ein höheres Risiko, bösartig zu sein, weshalb sie weiter untersucht werden müssen. Warme Knoten sind Bereiche der Schilddrüse, die übermäßig aktiv sind und mehr Schilddrüsenhormone produzieren als das umliegende Gewebe.
Warme Knoten sind in der Regel gutartig und haben ein geringeres Risiko für eine bösartige Entartung. Sie können jedoch zu einer Überfunktion der Schilddrüse führen.
Die Behandlung von kalten und warmen Knoten hängt von verschiedenen Faktoren ab, einschließlich der Größe des Knotens, seiner Funktionalität und ob er Symptome verursacht oder nicht.
Wenn ein kalter Knoten, wie er bei Erika vorliegt, als verdächtig eingestuft wird, wird zumeist empfohlen, den Knoten chirurgisch entfernen zu lassen. So auch bei Erika: Die Ärzte halten eine regelmäßige Überwachung ohne OP nicht für sinnvoll, sondern empfehlen den operativen Eingriff. Der erfolgt dann auch etwa einen Monat später im selben Krankenhaus in ihrer Heimatstadt.
Am Abend vor der OP erhält Erika zusätzlich zum Aufklärungsgespräch mit dem Arzt ein »Merkblatt über die »Kropfoperation«.
In dem Merkblatt wird unter der Überschrift »Mögliche Komplikationen« erklärt: »Wegen der engen Nachbarschaft der Schilddrüse zu anderen Organen (zum Beispiel der Luftröhre) sowie Nerven und wichtigen Blutgefäßen lassen sich Nebenverletzungen nicht mit letzter Sicherheit ausschließen. Nach der Operation gelegentlich auftretende Heiserkeit, Sprach- und Atemstörungen bilden sich meist zurück, insbesondere wenn sie nur auf Schleimhautschwellungen beruhen. Bleibende Schäden eines oder beider Stimmbandnerven sind selten.«
Erika unterzeichnet dieses Formular und händigt es der Stationsschwester wieder aus.
Am nächsten Tag wird sie wie geplant operiert und die Knoten an der Restschilddrüse werden entfernt. Bei dieser Operation passiert allerdings, was nicht geschehen sollte: Bei Erika werden die linken Stimmbandnerven verletzt. Das hat zur Folge, dass sie nach dem Eingriff permanent heiser ist. Sie klingt, als hätte sie gerade eine starke Erkältung hinter sich.
Auch nach Wochen hat sich ihr Zustand nicht verbessert. In den anschließenden Untersuchungen stellt sich heraus, dass Erika an einer Stimmbandlähmung leidet. Im anwaltlichen Erstgespräch versichert sie glaubhaft, dass sie über dieses Risiko weder bei der ambulanten Behandlung einen Monat zuvor noch während ihrer stationären Aufnahme unterrichtet worden sei.
Der Fall landet vor Gericht. Im Prozess ergibt das eingeholte medizinische Fachgutachten, dass die Nervenverletzung nicht auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen ist, sondern sich ein der Operation immanentes Komplikationsrisiko verwirklicht hat. An diesem Punkt geht es allein darum, ob Erika hinreichend über die Risiken des Eingriffs aufgeklärt wurde oder ob dem Krankenhausarzt eine Aufklärungspflichtverletzung vorzuwerfen ist. Falls ja, könnte Erikas Klage erfolgreich ausfallen und der Krankenhausträger müsste haften.
Wie wir im vorherigen Kapitel bereits gelesen haben, stellt sich in juristischen Auseinandersetzungen oftmals die Frage, wann – in zeitlicher Hinsicht – ein Patient aufgeklärt werden muss.
Losgelöst von Erikas Situation stellt sich die allgemeine Rechtslage wie folgt dar: Maßgeblich ist die gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der die Auffassung vertritt, dass die Vorschrift des § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB kein Erfordernis enthält, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen muss. Ist die Aufklärung ordnungsgemäß – insbesondere rechtzeitig – erfolgt, ist es Sache des Patienten, zu welchem konkreten Zeitpunkt er seine Entscheidung über die Erteilung oder Versagung der Einwilligung trifft. Sieht er sich zu dieser Entscheidung bereits nach dem Aufklärungsgespräch in der Lage, so ist es sein gutes Recht, die Einwilligung sofort zu erteilen. Braucht er allerdings noch Bedenkzeit, so kann von ihm grundsätzlich erwartet werden, dass er dies gegenüber dem Arzt zum Ausdruck bringt und von der Erteilung einer – etwa im Anschluss an das Gespräch erbetenen – Einwilligung zunächst absieht. Tut er das nicht, so kann der Arzt grundsätzlich davon ausgehen, dass der Patient keine weitere Überlegungszeit benötigt. Eine andere Beurteilung ist dann geboten, wenn für den Arzt erkennbare Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der Patient noch Zeit für seine Entscheidung benötigt (zum Beispiel bei besonders eingeschränkter Entschlusskraft), oder wenn dem Patienten erst gar nicht die Möglichkeit gegeben wird, weitere Überlegungszeit in Anspruch zu nehmen.
Und wir bleiben noch kurz ganz nah am Gesetzestext:
Die Aufklärung kann in bestimmten Fällen teilweise oder sogar vollständig entbehrlich sein. Eine unterlassene, unvollständige oder verspätete Aufklärung führt nicht zur Haftung des Arztes, wenn der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den konkreten Eingriff eingewilligt hätte. Doch wann ist das der Fall?
Bevor ein Arzt einen Patienten behandelt, muss er ihn untersuchen und ihm seine Diagnose sowie den voraussichtlichen Verlauf der Krankheit in behandelter und auch unbehandelter Form mitteilen. Der Patient muss erfahren, welche Chancen und Risiken mit der geplanten Therapie einhergehen, welche Alternativen es gibt und welche Folgen die unterschiedlichen Behandlungsvarianten für ihn persönlich haben können. Nur so kann der Patient eine informierte Entscheidung treffen und wirksam in seine medizinische Versorgung einwilligen.
Eigentlich. Denn in der Medizin gibt es immer wieder Fälle, in denen eine solch umfassende Aufklärung nicht möglich ist. Wenn etwa ein bewusstloser Patient nach einem Unfall ins Krankenhaus eingeliefert wird, ist ein informatives Gespräch natürlich ausgeschlossen. In so einem Fall darf der Arzt eine Behandlung ausnahmsweise ohne Aufklärung durchführen, allerdings nur, wenn anzunehmen ist, dass ein verständiger Patient nach einer umfassenden Information über die Chancen und Risiken in den Eingriff eingewilligt hätte.
Von einer solchen mutmaßlichen Einwilligung ist auch auszugehen, wenn ein Arzt während einer Operation feststellt, dass er mehr tun muss, als im Aufklärungsgespräch besprochen wurde. Das sind dann Maßnahmen, um das Leben des Patienten zu retten oder dessen Heilungschancen zu verbessern. Das gilt zumindest, wenn die Unterlassung der Behandlung medizinisch unvertretbar wäre.
Die Möglichkeit, eine mutmaßliche Einwilligung anzunehmen, stellt Ärzten aber keineswegs einen Persilschein zum eigenmächtigen Handeln aus. Um einen medizinischen Eingriff auf diese Weise zu legitimieren, muss die Maßnahme erstens dazu dienen, gesundheitliche Gefahren abzuwenden. Zudem müssen diese Gefahren deutlich schwerer wiegen als die Risiken, die mit dem Eingriff verbunden sind. So darf ein Arzt während eines chirurgischen Eingriffs die stillschweigende Einwilligung in eine OP-Erweiterung voraussetzen, wenn ein erneuter, nach weitergehender Aufklärung des Patienten durchgeführter Eingriff eine wesentlich ungünstigere Risiko-Nutzen-Prognose hätte. Allerdings muss ein Patient von Anfang an über das Risiko einer Operationserweiterung aufgeklärt werden, wenn eine solche Erweiterung vorhersehbar ist. Spätestens an dieser Stelle wird klar, wie wichtig eine ausführliche Aufklärung vor einem Eingriff ist.
Neben der mutmaßlichen Einwilligung gibt es auch die Rechtsfigur der sogenannten hypothetischen Einwilligung (630h Abs. 2 Satz 2 BGB). Auch in diesem Fall ist ein Eingriff, der ohne Einwilligung des Patienten erfolgt, ausnahmsweise rechtmäßig. Voraussetzung ist, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung den Eingriff in gleicher Weise vom selben Arzt hätte durchführen lassen. Mit dem Instrument der hypothetischen Einwilligung soll der Gefahr vorgebeugt werden, dass Patienten ein Aufklärungsversäumnis nachträglich missbrauchen, um einen Schadensersatzanspruch gegen ihren Arzt zu begründen. Will der Patient die Annahme einer solchen Einwilligung entkräften, muss er plausibel darlegen, dass er bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einen echten Entscheidungskonflikt geraten wäre und sich womöglich gegen den Eingriff entschieden hätte oder zumindest überlegt hätte, eine Zweitmeinung einzuholen oder sich zur weiteren Behandlung in ein spezialisierteres Krankenhaus zu begeben.
Wie aber ist es konkret in Erikas Prozess weitergegangen?
In erster Linie: langwierig. Das Verfahren zog sich insgesamt über einen Zeitraum von deutlich mehr als zehn Jahren, in denen irgendwann nicht mehr über eine Schadensumme in D-Mark, sondern in Euro verhandelt wurde.
Das in erster Instanz angerufene Landgericht wies die Klage von Erika ab. Sie legte Berufung ein, woraufhin ihr das zweitinstanzlich zuständige Oberlandesgericht vollumfänglich recht gab.
Das Oberlandesgericht ließ aber, was eher selten ist, die Revision zum Bundesgerichtshof zu. Dieses Rechtsmittel wurde von der Behandlerseite dann auch ergriffen. Die Revision führte schließlich zur Aufhebung des Urteils des Oberlandesgerichts und zur Zurückweisung an einen anderen Senat desselbigen Oberlandesgerichts. Dieser neue Senat ging nach erneuter Verhandlung von einer hypothetischen Einwilligung Erikas aus und wies die Berufung zurück. Diese Entscheidung wurde rechtskräftig und Erika verlor den Prozess.
Der BGH hatte zwar festgestellt, dass die angegebene Risikohöhe von Stimmbandverletzungen vom Fachmediziner im ausgehändigten Merkblatt nicht ausreichend zum Ausdruck gekommen ist und dadurch bei Erika der Eindruck entstehen konnte, dass keine ernstzunehmende Gefahr für ihre Stimmbänder zu erwarten war.
Sie habe aber nicht zur Überzeugung des Gerichts klarmachen können, dass sie bei ordnungsgemäßer Aufklärung zumindest in einen Entscheidungskonflikt dahingehend geraten wäre, ob sie die Operation nicht oder in einem anderen Krankenhaus hätte durchführen lassen. Dies sei jedoch erforderlich, um die hypothetische Einwilligung entfallen zu lassen.
Daher war das Urteil des Berufungsgerichts zur erneuten Verhandlung an einen anderen Senat zurückzuverweisen. Auch in diesem Verfahren konnte Erika das Gericht, wie bereits erwähnt, nicht von einem bei ihr vorherrschenden Entscheidungskonflikt überzeugen. Das Gericht ging davon aus, dass sie sich auch bei vollständiger und ordnungsgemäßer Aufklärung nicht gegen, sondern für eine Operation im beklagten Krankenhaus entschieden hätte.
Schon die Überschrift zu diesem Kapitel lässt leider keinen Zweifel daran, dass der Patient, um den es hier geht, nicht überleben wird. Er stirbt, weil sein behandelnder Arzt einen fatalen Fehler begeht. Einen Fehler, den der Arzt unumwunden zugibt und bitterlich bereut.
Opfer des zugestandenen Fehlers ist in diesem Fall Robert, dessen Leidensgeschichte sich äußerst dramatisch und bewegend darstellt. Robert ist 1970 geboren. Er arbeitet sein ganzes Berufsleben lang als Versicherungsberater. Seit 30 Jahren ist er glücklich mit seiner Frau Ilona, einer Friseurmeisterin mit eigenem Salon, verheiratet. Die beiden haben zwei erwachsene Töchter, wobei die eine noch studiert und die andere gerade ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau abgeschlossen hat.
Robert hat zwei sehr schmerzvolle Jahre hinter sich. Seine Mutter und auch sein Vater sind an Krebs verstorben. Robert und Ilona haben sich intensiv um Roberts Eltern gekümmert. Sie waren bei ihnen, als sie im Hospiz verstarben. Robert vermisst seine Eltern sehr. Die ganze Familie war sehr eng miteinander verbunden.
Im Dezember kommt Robert nach einem langen Arbeitstag aus dem Büro nach Hause, er hat viel gesessen, und Ilona bemerkt, dass er ein wenig, fast unscheinbar, humpelt. Er sagt ihr, er verspüre starke Schmerzen in beiden Beinen, das sei allerdings schon seit ein paar Tagen so. Ilona ist die »Kümmerin« in der Familie. Sie organisiert einen Termin bei ihrem langjährigen Hausarzt, und Robert kann wegen der akuten Schmerzen direkt am nächsten Tag in der Praxis vorstellig werden.
Dort werden diverse Untersuchungen durchgeführt. Man nimmt ihm unter anderem Blut ab. Am Tag darauf liegen die Laborergebnisse vor – sie zeigen erhöhte Entzündungswerte.
Es gibt zahlreiche Entzündungsparameter, also Werte, die bei Infektionen, Entzündungen und Gewebeschäden erhöht sind. Zu den verschiedenen Entzündungswerten, die mit Hilfe einer Laboruntersuchung des Blutes festgestellt werden können, zählen im Wesentlichen drei Messwerte: die Konzentration des C-reaktiven Proteins (CRP), die Blutsenkungsgeschwindigkeit und die Zahl der weißen Blutkörperchen (Leukozyten). Gerade der CRP-Wert ist landläufig als der maßgebliche Entzündungsparameter bekannt. Bei gesunden Personen ist die Konzentration von CRP im Blut normalerweise sehr niedrig. Die CRP-Konzentration erhöht sich bei bakteriellen Infektionen deutlich, während Virusinfektionen nur eine sehr geringe oder gar keine Erhöhung verursachen. Es ist zu beachten, dass die verwendete Maßeinheit mitunter zwischen den diversen medizinischen Einrichtungen variiert. Nämlich einmal Milligramm pro Liter (mg/l) und zum anderen Milligramm pro Deziliter (mg/dl). Der oftmals als Normal- oder Grenzwert angenommene Wert »bis 5« gilt für Milligramm pro Liter, nicht für Milligramm pro Deziliter.
Der Hausarzt verschreibt Robert wegen der hohen Entzündungswerte ein Antibiotikum. Die Behandlung hat aber leider keinen Erfolg. Roberts Beschwerden bleiben, seine erhöhten Entzündungswerte auch. Drei Monate nach dem ersten Besuch beim Hausarzt wird Robert stationär im Krankenhaus aufgenommen. Man will endlich Klarheit hinsichtlich der Diagnose und Ursache gewinnen. Bis dahin war es mehr oder weniger ein Rätselraten.
Im Krankenhaus wird dann zum ersten Mal ein Verdacht geäußert, vor dem die meisten Menschen riesige Angst haben: Es könnte Krebs sein. Bei Robert wird Leukämie vermutet. Der Begriff Leukämie bezeichnet verschiedene bösartige Erkrankungen des blutbildenden Systems, die umgangssprachlich als Blutkrebs bezeichnet werden. Alle Leukämien haben die Bildung von bösartigen Blutkörperchen gemeinsam. Anders als gesunde weiße Blutkörperchen vermehren sich die Leukämiezellen unkontrolliert und verdrängen die gesunde Blutbildung im Knochenmark.
Bedauerlicherweise bestätigt sich bei Robert dieser Anfangsverdacht nach mehreren weiteren Untersuchungen, die auf der onkologischen Station des Krankenhauses durchgeführt werden.
Robert beginnt eine Chemotherapie, die er größtenteils gut verträgt. Die erlösende Nachricht kommt fünf leidvolle Monate später: Er ist krebsfrei. Es geht ihm gut und die Schmerzen in den Beinen gehören der Vergangenheit an. Robert, Ilona und die beiden Töchter sind dankbar und glücklich. Vor allem, dass Robert das schwere Schicksal seiner an Krebs verstorbenen Eltern nicht teilen muss.
So weit, so überaus erfreulich.
