Wenn Tote töten - Jürgen Reitemeier - E-Book

Wenn Tote töten E-Book

Jürgen Reitemeier

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Beschreibung

Ein neuer Fall für die Kult-Cops aus dem Lipperland! Jupp Schulte ermittelt auf Mallorca: Abgeschoben nach »Lippisch-Sibirien« haben sich Polizeirat Jupp Schulte und seine Kollegen scheinbar mit ihrem Schicksal arrangiert. Da bittet ausgerechnet der wenig beliebte Kollege Hubertus von Fölsen das Team um Hilfe - und eine erste Spur führt auf die liebste Ferieninsel der Deutschen.

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Reitemeier / Tewes · Wenn Tote töten

JÜRGEN REITEMEIERWOLFRAM TEWES

Wenn Tote töten

PENDRAGON

26. Dezember 2004

Um 7: 58 Uhr Ortszeit schlummerte Philipp Lang noch friedlich in seinem kleinen, aber feinen Strandbungalow im thailändischen Küstenort Khao Lak. Nichts deutete darauf hin, dass sich in diesen Sekunden etwa 500 Kilometer südwestlich das drittstärkste je gemessene Erdbeben der Geschichte ereignete. Niemand ahnte, dass dies eine Flutwelle auslöste, in deren Folge rund um den Indischen Ozean 230 000 Menschen ihr Leben verlieren würden.

Die elegante Ferienanlage direkt am Strand erwachte langsam. Ein älterer Mann auf einem knatternden Moped brachte frisches Brot zur Anlage, einige Frühaufsteher blinzelten in die Morgensonne, andere kamen bereits hungrig, aber erfrischt vom Strand zurück. Es schien ein Tag wie jeder andere zu werden, mit viel Sonne und entspannten Mitmenschen. Während zu Hause in Deutschland ein kühler und regenreicher zweiter Weihnachtstag den Menschen die Festtagsstimmung verderben würde, war hier alles so, wie es der Urlaubsprospekt versprochen hatte. Ein Paradies für den, der es sich leisten konnte.

Philipp Lang konnte es sich leisten. Geld war die kleinste Sorge des jungen Mannes. Sein Problem war persönlicher. Mit seinem despotischen Vater hatte er vor zwei Monaten, nach einem Riesenkrach, völlig gebrochen. Das Porzellan war auf immer und ewig zerschlagen, da gab es nichts mehr zu kitten. Aus, vorbei. Aber heute war immerhin der zweite Weihnachtstag und als Philipp Lang eine halbe Stunde später aufstand, beschloss er, nach dem Schwimmen seine Mutter anzurufen. Wenn dummerweise sein Vater ans Telefon gehen würde, konnte er wortlos auflegen. Er stieg in seine Badehose, warf sich ein Handtuch über die Schulter und ging gut gelaunt über den fast 100 Meter breiten Strand, bis die seichte Brandung seine Füße benetzte. Das Wasser war herrlich, ideal temperiert und glasklar wie immer. Lang genoss das frühe Bad, bemerkte aber die ungewöhnlichen kleinen Blasen auf der Wasseroberfläche. Er verschwendete jedoch keinen weiteren Gedanken daran und kraulte nach einigen Minuten gemütlich zum Strand zurück.

Während er sich von der Sonne trocknen ließ, beobachte er zwei stattliche Marinekreuzer, die nicht weit vor der Küste hintereinander her fuhren. Dazwischen tummelten sich mehrere Fischerboote, die wohl gleich mit ihrem Fang in den Hafen zurückkehren würden. Der Strand war nun schon recht belebt. Kinder spielten in der Brandungszone, bauten Burgen im Sand, während ihre Eltern sich auf den Strandliegen rekelten. Etwas entfernt bestieg eben eine kleine Gruppe Taucher ein Motorboot, das sie bis zu dem großen Korallenriff vor der Küste bringen würde. Tauchen, dachte Lang, das würde er auch gern können und nahm sich vor, in den nächsten Tagen endlich mit einem Tauchkurs zu beginnen.

Langsam bummelte er zurück zu seinem Beach Resort, warf sich in seinem Bungalow ein dünnes Hemd über, um vor der Sonne geschützt zu sein, nahm das Handy und setzte sich auf seine Terrasse. Von hier aus hatte er einen fantastischen Blick über den Strand hinweg auf das türkisfarbene Meer. Er zündete sich eine Zigarette an, paffte ein wenig, dann wählte er die Nummer seines Elternhauses im lippischen Schieder. Als er die Stimme seiner Mutter hörte, schmunzelte er zufrieden und sagte: „Fröhliche Weihnachten!“

Seine Mutter schien reichlich verwirrt zu sein, denn sie sagte mit schlaftrunken wirkender Stimme: „Wer ist denn da? Philipp, bist du es?“

Als er dies bestätigte, wurde sie offenbar hellwach.

„Wo bist du denn, mein Junge? Geht es dir gut?“ Dann, als er auch dies beantwortet hatte, fragte sie: „Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Es ist hier fünf Uhr in der Frühe. Aber das ist ganz gut so. Ich kann sowieso nicht mehr so lange schlafen und sonst wäre vielleicht auch dein Vater ans Telefon gegangen. Und der … na ja, darüber wollen wir jetzt nicht reden. Erzähl mir lieber, was du da unten in Thailand treibst? Wann kommst du denn zurück?“

„Ich komme nicht mehr zurück. Gewöhn dich besser schon mal an den Gedanken.“

Während er sprach, schweifte sein Blick über den weiten Strand. Plötzlich stutzte er. Was war das denn? Wo war das Wasser geblieben? Dort, wo eben sanfte Wellen auf den Strand gerollt kamen, war jetzt nur noch feuchter Sand. Er stand auf, um besser sehen zu können. Tatsächlich, der Strand war mehr als dreimal so breit wie sonst.

„Das Meer!“, rief er hektisch ins Telefon. „Das Meer ist weg!“

„Was redest du denn da?“, fragte seine Mutter und wirkte verärgert. „Bist du betrunken?“

„Nein! Das Wasser zieht sich zurück. Immer weiter. Es ist kaum noch zu sehen!“

Philipp Lang nahm das Handy vom Ohr und starrte fasziniert auf das Naturschauspiel. Hunderte von Touristen standen ebenfalls an der ehemaligen Wasserkante. Viele hielten eine Videokamera oder ihre Handys hoch und filmten.

„Wie spät ist denn bei euch?“ Er erschrak, als er die Stimme seiner Mutter im Handy hörte, riss sich zusammen und antwortete: „Es ist zehn Minuten vor Zehn. Aber du glaubst nicht, was hier gerade passiert. Ist ja der Hammer! Das gibt’s doch gar nicht.“

„Philipp, ist alles in Ordnung bei dir?“, krächzte es aus dem Handy.

„Jaja, alles okay“, gab er zurück und ließ das Meer keine Sekunde aus den Augen. „Es ist einfach weg. Das Meer meine ich. Als hätte jemand den Stöpsel rausgezogen. Oder träume ich das alles nur?“

Seine Mutter dachte offenbar an ganz andere Ursachen. „Hast du irgendwas geraucht? Philipp, ich habe dir immer gesagt, du sollst so was nicht anfassen. Du weißt genau, wo …“

Wie ferngesteuert drückte er das Gespräch weg. Das Schauspiel vor seinen Augen nahm ihn derart gefangen, dass er sich unmöglich auf seine Mutter konzentrieren konnte. Die Sonne stand in seinem Rücken, blendete ihn daher nicht. Trotzdem war er unsicher, ob es sich um eine Lichtspiegelung handelte oder um eine gewaltige Regenfront, die von Westen, also vom offenen Meer her, auf ihn zukam. Am Horizont, weit entfernt, zeichnete sich eine dunkle Wand ab, die langsam, aber stetig in die Höhe wuchs. Die beiden Marinekreuzer waren gut zu sehen, auch die schienen sich dieses spektakuläre Schauspiel in Ruhe anschauen zu wollen. Einige der Fischerboote hatten bereits die Nase in Richtung Küste gedreht und kamen langsam zurück. Andere hatten noch ihre Netze draußen. Auch das kleine Schiff mit den Tauchern tuckerte munter aufs offene Meer hinaus, der dunklen Wand entgegen. Niemand schien sich Sorgen zu machen.

„Ist das eine Nebelwand oder eine riesige Welle?“, fragte eine nahe Stimme so plötzlich, dass Philipp Lang vor Schreck zusammenzuckte. Sein Bungalow-Nachbar kam nun zu ihm und zeigte auf das Phänomen am Horizont.

„Es wird immer höher“, sagte er mit besorgter Stimme. „Und es kommt schnell näher. Bin mal gespannt, was die beiden Kriegsschiffe gleich machen. Die sind am nächsten dran. Die werden ganz schön ins Schaukeln kommen.“

„Na ja“, wiegelte Lang ab. „Das sind seetüchtige Schiffe. Die werden ein bisschen wackeln und das war es. Was mich mehr irritiert, ist das Verschwinden des Wassers. Ich war oft in meinem Leben am Meer, aber so was habe ich noch nie erlebt.“

Unten am Strand wurden die Stimmen lauter. Immer mehr Kameras wurden in die Höhe gehalten.

„Es ist wirklich eine Welle“, rief der Nachbar, angesteckt von der plötzlich aufkommenden Unruhe unter den Touristen. „Und was für eine! Wahnsinn! Die muss meterhoch sein!“

Beide Männer starrten auf den Horizont, bis ihnen die Augen brannten.

„Dahinter kommt noch eine.“ Der Nachbar wurde immer aufgeregter. „Und gleich erwischt sie die Kriegsschiffe. Da, es geht schon los. Sehen Sie?“

Lang winkte genervt ab. Er konnte selbst sehen, dass die beiden mächtigen Schiffe ganz plötzlich ins Schaukeln kamen. Es musste eine gewaltige Kraft sein, die diese vielen Tonnen Stahl so leicht in Bewegung setzen konnte. Die Schaukelbewegungen der Schiffe nahm zu, fast schien es, als tanzten sie auf dem Wasser. Dann plötzlich …

„Das gibt’s doch nicht“, schrie der Nachbar mit heiserer Stimme in einer Mischung aus Erregung und Entsetzen. „Es ist gekentert. Ich fasse es nicht. Und da … jetzt auch das andere! Die gehen unter. Das kann nicht sein. Die saufen ab, Mann!“

Lang gab keine Antwort, er hätte auch nichts zu sagen gewusst. Er stand genauso schreckensstarr wie sein Nachbar – unfähig, sich zu regen. Das konnte nicht wahr sein. Zwei große, moderne Schiffe kentern einfach so vor seiner Nase und sinken. Mit wahrscheinlich mehreren hundert Menschen an Bord. Unmöglich, dieses Drama so schnell in seiner vollen Tragweite zu erfassen. Auch den vielen Schaulustigen am Strand schien es so zu gehen. Keiner rührte sich, alle starrten auf das Wasser. Vor Schreck gelähmt, wie das Kaninchen vor der Schlange.

„Was wird denn jetzt aus den Fischerbooten?“, warf der Nachbar die nahe liegende Frage auf. „Wenn die von der Welle erwischt werden, haben die doch überhaupt keine Chance.“

Nur Sekunden später wurde seine Frage beantwortet. Die Wand kam in atemberaubendem Tempo näher, wurde immer höher. Und dann rollte sie über die völlig hilflosen Fischer hinweg, riss sie mit und drückte sie unter Wasser. Jetzt erst, wo die Riesenwelle etwa einen Kilometer vom Strand entfernt aufragte, reagierten die ersten Touristen. Sie rissen ihre friedlich im Sand spielenden Kleinkinder hoch, rafften die Badesachen zusammen und machten sich, immer noch erstaunlich gelassen, auf den Weg zurück zu ihren Hotels. Andere schienen hingegen völlig ungerührt zu sein und filmten mit einer in Anbetracht der Bedrohung absolut irrationalen Ruhe einfach weiter. Die Faszination des unmittelbar erlebten Dramas war stärker als jede Vernunft. Auf seiner Terrasse wurde Lang immer unruhiger.

„Die Leute müssen doch verschwinden!“, rief er seinem Nachbarn zu. „Sind die denn völlig bescheuert? Warum bleiben die stehen?“

Als hätten sie ihn gehört, brach plötzlich auch am Strand Panik aus. Die Menschen klaubten, als gäbe es nichts wichtigeres, hektisch ihre Habseligkeiten zusammen und rannten nun ebenfalls in die erhoffte Sicherheit ihrer Hotels. Ein Mann aber blieb stehen und filmte weiter, schien sich der furchtbaren Gefahr nicht bewusst zu sein. Philipp Lang musste hilflos zusehen, wie die gigantische Wand aus Wasser, die nun nur noch wenige Hundert Meter entfernt war, immer höher wurde. Der Gedanke an die Menschen, die bereits jetzt in den Fluten umgekommen waren, bereitete ihm Übelkeit. Er konnte die Augen nicht von dem einsamen Mann am Strand lassen. Sah, wie die Welle immer näher kam, wie sie sich bei Auftreffen auf den Strand veränderte, kurz noch mal höher wurde, dann unter Höllenlärm zusammenbrach, rasend schnell alles überflutete und den Mann, der bis zuletzt seine Kamera hochhielt, mitriss wie ein Stück Treibholz.

„Scheiße! Das kommt bis hierher!“, schrie der Nachbar und rannte zurück in seinen Bungalow. Auch Philipp Lang erkannte nun die tödliche Gefahr, verließ die Terrasse und lief um sein Leben. Fliehen wollte er, so schnell und so weit weg wie möglich. Innerhalb der nächsten Sekunden prallte die ungeheure Wassermasse auf den Bungalow, zerschlug ihn in kleine Stücke und riss die Einzelteile mit sich auf dem Weg hinein in den Ort.

Philipp Lang hatte eben die schmale Uferpromenade erreicht, steuerte auf den Eingang eines der Hotels zu, um sich in Sicherheit zu bringen, als die Flut auch ihn erreichte. Sie war schneller gewesen als er. War auf einmal da, plötzlich, gewaltig. Sie hob ihn an wie ein Spielzeug, wirbelte ihn herum, schleuderte ihn gegen eine Hauswand und rollte mit unverminderter Kraft ohne ihn weiter landeinwärts. Nichts konnte sie aufhalten.

Als Lang Sekunden danach aus der kurzen Ohnmacht erwachte, hing er quer zwischen den massiven Edelstahlpfosten eines Gartentores. Hatte er dieses Inferno wirklich überlebt? Er versuchte, sich freizustrampeln, schrie aber vor Schmerz, als er das rechte Bein bewegen wollte. Gebrochen? Egal, dachte er. Hauptsache überlebt. Die Welle war weitergerollt, hatte wie eine gigantische Walze alles hinter und vor sich plattgemacht. Nur ihn hatte sie nicht erwischt. Er atmete trotz der Schmerzen tief und dankbar aus. Dann schaute er nach vorn … und verlor augenblicklich jede Hoffnung.

Die Welle hatte ihren Scheitelpunkt erreicht und zog sich nun wieder zurück. Zurück zu ihrem Ursprung, dahin, wo sie hergekommen war, dem Indischen Ozean. Erst langsam, als wehrte sie sich gegen den Rückzug. Dann gewann sie an Masse und an Tempo und ihr Sog wirkte sich noch fürchterlicher aus, als die Flutwelle vorher. Sie saugte alles an, was noch stand oder lag und riss es mit unwiderstehlicher Kraft mit ins Meer. Dorthin, wo sich im selben Augenblick eine zweite Welle, höher und mächtiger als die erste, anschickte, dem ohnehin fast völlig zerstörten Ort den Rest zu geben.

1

Jetzt stand Polizeirat Jupp Schulte schon 20 Minuten auf dem Bielefelder Bahnhof und wartete auf den ICE nach Düsseldorf.

Die Züge von und nach Berlin sind immer pünktlich, hatte ihm seine Tochter Ina heute Morgen beim Frühstück versichert. Mit denen fahren die Bundestagsabgeordneten, hatte sie schmunzelnd zum Besten gegeben. Gegenüber den Politikern versuchen die Bahnchefs noch einen guten Eindruck, in Bezug auf Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit abzugeben, hatte sie weiter erklärt.

Während Schulte an die Worte seiner Tochter dachte, ertönte über ihm ein surrendes Geräusch. Er ging ein paar Schritte nach vorn, um auf der Anzeigentafel, die direkt über seinem Kopf hing, zu lesen. Dort stand ein neuer Text. „Das Eintreffen des ICE 646 verzögert sich um weitere zehn Minuten.“

Hinsichtlich der Autorität der Bundestagsabgeordneten und des daraus resultierenden Einflusses auf die Pünktlichkeit der Züge, in denen die Volksvertreter möglicherweise mitfuhren, musste sich seine Tochter wohl geirrt haben, mutmaßte Schulte. Allein die Tatsache, dass die Politiker rechtzeitig in ihr Wochenende kamen, war wohl doch kein Grund für die Bahn, auf diesem Streckenabschnitt die zugesicherte Pünktlichkeit an den Tag zu legen, die ihm seine Tochter prophezeit hatte.

Um 11: 30 Uhr hatte Schulte einen Termin bei Klaus Erpentrup, seinem ehemaligen Chef. Der war vor mehr als einem Jahr die Treppe hinaufgefallen und bekleidete jetzt das Amt eines Staatssekretärs im Innenministerium.

Schulte sah auf seine Armbanduhr. Wenn dieser verdammte Zug nicht bald eintrudelte, würde er seinen Termin wohl nicht mehr halten können. Das wären schlechte Voraussetzungen für das anstehende Gespräch mit Erpentrup. Schulte wusste nicht, warum er mit ihm sprechen wollte. Als Schulte nach dem Grund der Unterredung gefragt hatte, hatte sich die Assistentin des Staatssekretärs bedeckt gehalten. Schulte hasste diese kleinen Spielchen von Erpentrup, mit denen er ihm mal wieder deutlich machen wollte, wer hier Chef an Bord war.

Ein solches Verhalten war einer der Gründe, warum Schulte Erpentrup noch nie leiden konnte, und genau darum hatte er ihm während der gesamten gemeinsamen Zeit in Detmold keinerlei Respekt entgegengebracht. Und nicht nur das. Wenn Schulte eine Möglichkeit sah, sich mit seinem alten Chef auseinanderzusetzen, dann hatte er diese wahrgenommen. Er war in der Vergangenheit keiner Fehde aus dem Weg gegangen. Jeden Fehler Erpentrups hatte Schulte gnadenlos genutzt, um ihn zu düpieren, auch vor den Kollegen. Dieses Verhalten war nicht ohne Folgen geblieben.

Die gegenseitige Abneigung galt im Übrigen für beide Männer gleichermaßen. Auch Erpentrup hatte Schulte von Anfang an nie Sympathie entgegengebracht und versucht ihn klein zu machen, wo es nur eben ging.

Die vielen Auseinandersetzungen, die die Polizisten ausgetragen hatten, sorgten erst für verhärtete Fronten und später, als Erpentrup mehr und mehr als Verlierer hervorgegangen war, wurde aus Abneigung Hass. Erpentrup hasste Schulte mittlerweile mit Inbrunst.

Schulte hatte nach der Beförderung Erpentrups für kurze Zeit gehofft, dass er ihn los war. Doch das war ein Irrtum. Im Gegenteil. Sein alter Chef hatte sich nicht einmal bemüht, sich in seinen neuen Job einzuarbeiten. Vom Anfang an schien es nach wie vor die oberste Priorität Erpentrups zu sein, Schulte fertigzumachen. Der neue Staatssekretär hatte noch nicht einmal eine Schamfrist gewahrt, bevor er Schulte aus seiner neuen, mächtigeren Position heraus vehement attackierte. Schon nach wenigen Wochen startete Erpentrup die erste Quälattacke aus Düsseldorf gegen seinen Lieblingsfeind Schulte.

Erpentrup ließ den Detmolder Polizeirat in eine, von ihm höchstpersönlich geschaffene Abteilung versetzen, die ab sofort als Abstellgleis für renitente Polizisten in nordrhein-westfälischen Polizeikreisen gehandelt wurde. Darüber hinaus hatte diese Versetzung zur Folge, dass Erpentrup weiterhin eine Art Chef von Schulte blieb und damit direkten Zugriff auf den Detmolder Polizisten hatte. Mit anderen Worten, der Kleinkrieg ging weiter. Gemeinsam in den Untergang – schätzte Schulte das Resultat ein. Und so stand er seit seiner Versetzung in die Abteilung Think-Tank regelmäßig auf irgendwelchen Bahnhöfen zwischen Detmold und Düsseldorf herum und ärgerte sich über die Unpünktlichkeit von Zügen.

Die knarrende Stimme: „Sehr geehrte Fahrgäste, es hat Einfahrt der ICE 646 nach Düsseldorf. Der Zug wird in Hamm geteilt. Wir weisen Sie nochmals darauf hin, dass anders als auf der Anzeigentafel ausgewiesen, nicht der vordere Zug weiter Richtung Dortmund, Essen, Düsseldorf fährt, sondern der hintere Zugteil. Wir bitten Sie, diese Änderung beim Einsteigen in den Zug zu berücksichtigen.“

Schulte fluchte, nahm hastig seinen Rucksack und spurtete Richtung Ende des Zuges.

2

Es war ein kleiner Triumphmarsch für ihn. Friedrich Lang blickte mit Besitzerstolz über das Firmengelände, taxierte den Zustand der Fahrzeuge, betrachtete mit einiger Schadenfreude die abblätternden Fassaden des Bürogebäudes und der beiden Werkshallen.

„Kein Wunder, dass dieser trostlose Laden pleitegegangen ist“, sagte er zu seinem Angestellten, der ihn begleitete. Als dieser beflissen nickte, fuhr er fort: „Na ja, jetzt gehört dies alles uns. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich hier Geld hineinstecke oder nicht. Vielleicht mache ich den Laden auch einfach dicht. So wie es hier aussieht, ist das sicher die bessere Lösung.“ Lang strich sich mit gespreizten Fingern, die er wie einen Kamm benutzte, eine dicke Strähne schlohweißen Haars nach hinten. Die Geste wirkte etwas affektiert, passte nicht zu der zwar eleganten, aber auch bulligen Erscheinung dieses Mannes. Friedrich Lang hatte sich gut gehalten, war immer noch, trotz seiner 73 Jahre, ein Hingucker. Er war das Gesicht in der Menge, mit seinem dichten weißen Haar, dem ebenso weißen gepflegten Vollbart und der stets leicht sonnengebräunten Gesichtshaut, den breiten Schultern und der teuren Kleidung. Er war nicht zu übersehen.

Nun stand er vor der Eingangstür des eingeschossigen Bürogebäudes und runzelte die Stirn.

„Machen Sie Fotos von allen Gebäudeschäden, die Sie erkennen können“, wies er seinen Angestellten an. „Vielleicht können wir den Kaufpreis noch ein bisschen drücken.“

In diesem Augenblick fuhr ein schwarzer BMW mit hohem Tempo auf das Firmengelände und wirbelte eine Staubwolke auf, als er direkt vor dem Bürogebäude zum Stehen kam. Die Wagentür flog auf und ein hochgewachsener Mann mit mindestens ebenso kräftiger Statur wie Friedrich Lang stieg aus. Trotz des teuren Autos wirkte sein Fahrer eher einfach. Mit hochrotem Kopf machte er ein paar schnelle Schritte auf Lang und dessen Angestellten zu, baute sich direkt vor ihnen auf und rief mit kräftiger, aber vor Wut fast überschnappender Stimme: „Du kannst es wohl gar nicht abwarten. Hast du jetzt endlich erreicht, was du schon immer wolltest? Mich fertigmachen, das war doch dein Ziel, oder? Mich zu Staub zertreten, mich so kleinzumachen, dass ich nie wieder hochkomme. So hast du dir das Ganze seit Jahren ausgemalt, du Mistkerl.“

Friedrich Lang verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Du bist ein schlechter Verlierer, Karl-Heinz“, sagte er und machte gleichzeitig seinem Angestellten mit einer Geste klar, dass er bei ihm bleiben solle. „Wir haben beide ein Spiel gespielt und du hast verloren. Du kanntest die Spielregeln so gut wie ich und hattest die gleiche Chance. Beklag dich nicht. Sei froh, dass deine Firma in gute Hände kommt. Vielleicht behalte ich sogar den Firmennamen. Arnold Autoteile. Ist zwar pleite, hört sich aber gut an. Das ist doch ein Angebot, oder?“

Karl-Heinz Arnold pumpte Luft. Er war nun noch dunkler im Gesicht als bei seiner Ankunft und sah besorgniserregend aus. Sein Hausarzt hätte, wenn er Augenzeuge gewesen wäre, ihm spätestens jetzt eine Beruhigungsspritze verpasst. Arnold blieb nichts anderes übrig, als sich mit einem ebenso lauten wie abstoßenden Fluch Luft zu verschaffen. Der Angestellte Langs wich erschrocken zurück, wäre gern ganz aus dieser beunruhigenden Szene verschwunden. Aber sein Chef machte ihm erneut mit einer energischen Handbewegung klar, dass er bleiben sollte. Friedrich Lang selbst zeigte sich wenig beeindruckt von der Wut Arnolds. Er stellte sich breitbeinig vor ihn und sagte, provozierend ruhig: „Ich an deiner Stelle wäre ganz vorsichtig, Karl-Heinz. Noch beschränkt sich deine Insolvenz auf dein Firmenvermögen. Wer weiß, welche Finanzierungslücken noch auftauchen. Vielleicht ist irgendwann auch dein schönes Häuschen an der Reihe. Und dein schickes Auto. Und der Schmuck deiner Frau. Sei froh, wenn ich dir diese Sorge abnehme. Du findest nicht jeden Tag einen Mitbewerber, der sich so kulant verhält.“

„Du nennst dich kulant?“ Arnold versprühte Speicheltropfen, als er nun lospolterte: „Du hast mich doch schon 2004 betrogen, du Drecksack. Da haben meine Probleme angefangen. Deinetwegen. Und in den Jahren darauf bist du noch schlimmer geworden. Das war doch kein Wettbewerb mehr, das war Krieg!“

„Jetzt halt aber mal den Ball flach“, rief Friedrich Lang, nun auch etwas lauter. „Was redest du denn? Ich wiederhole mich, aber ich sage noch mal: Du bist einfach nur ein schlechter Verlierer.“

Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da holte Arnold mit einer wuchtigen Bewegung aus und donnerte ihm die rechte Faust ins Gesicht. Lang stolperte rückwärts, wurde von der Hauswand des Bürogebäudes gebremst und fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Während Arnold sich die schmerzende Faust rieb, starrte der Angestellte erst entsetzt auf seinen bewusstlosen Chef, dann ängstlich auf Arnold. Aber dessen Furor schien mit diesem mächtigen Hieb fürs Erste ein Ventil gefunden zu haben, denn Arnold drehte sich um, setzte sich ins Auto und brauste davon.

3

Jetzt saß Schulte auf einem unbequemen Stuhl im Zimmer von Erpentrups Assistentin. Mit Annelore Bäcker verstand er sich mit jedem Besuch in Düsseldorf besser. Mittlerweile schien Erpentrup auch nicht mehr ihr Lieblingschef zu sein. Auch heute hatte Schulte den Eindruck, es hätte sich etwas im Verhalten der Verwaltungskraft verändert. Es schien, als sei die Frau, die anfangs ihrem Chef gegenüber loyal gewesen war, nun von dieser Haltung abgerückt. Als sie Schulte mitteilte, dass Erpentrup noch ein wichtiges Gespräch mit dem Innenminister zu führen habe, hatte sie gleichzeitig etwas ihre Augen verdreht und ihm eine Tasse Kaffee und ein paar Kekse angeboten. Auch das war neu. Bisher hatte Schulte die Wartezeit immer ohne diese kleinen Aufmerksamkeiten ertragen müssen. Da stimmt was nicht, dachte Schulte. Und im nächsten Augenblick hatte er die glorreiche Idee, Frau Bäcker zu fragen, ob sie Lust habe, mit ihm, nach dem Gespräch, gemeinsam mittagzuessen.

Die Sekretärin hatte ihn strahlend angelächelt und ein „gerne“ gehaucht. Dabei hatte sie Schulte zugezwinkert.

Während sie sich wieder ihren Aufgaben widmete, beschäftigte sich Schulte zum Zeitvertreib mit seinem Handy. Ich lege schon die gleichen schlechten Angewohnheiten an den Tag wie mein Enkel Linus, bemerkte er an seinem Tun. Doch dann wurde er von einem „Pling“ daran gehindert, weiter über die Macht und den Einfluss von Smartphones nachzudenken. Er hatte eine Textnachricht bekommen. Sein Kollege Oliver Hartel schrieb: „Hallo Jupp, bist du im hohen Alter von 61 Jahren noch so flexibel, dass du morgen kurzfristig zu meiner Abschiedsfeier kommen kannst? Wir treffen uns um 18 Uhr in deinem alten Büro in der Kreispolizeibehörde. Herzliche Grüße, Oliver“

Schulte zog die Stirn in Falten. Was war denn da wieder an ihm vorbeigegangen. Abschlussfeier? Von welchem Abschluss redete Hartel da?

Im nächsten Moment flog eine Tür auf. Erpentrup betrat das Vorzimmer.

„Ihnen scheint es ja gut zu gehen“, sagte der Staatssekretär und tat, als sei er gut gelaunt. Er machte jedoch keine Anstalten Schulte förmlich zu begrüßen. „Kommen Sie gleich mit in mein Büro. Da können wir schnell zur Sache kommen. Ich habe wenig Zeit.“

Auch wenn Schulte sich über diese Unhöflichkeit seines Vorgesetzten ärgerte, ließ er es sich nicht anmerken. Er führte seine Tasse zum Mund und nahm genüsslich einen Schluck.

„Ja, Herr Erpentrup, mir geht es gut. Frau Bäcker kocht aber auch wirklich einen sehr guten Kaffee“, entgegnete Schulte mit der ihm größtmöglichen Gelassenheit.

„Automatenkaffee, Schulte, Automatenkaffee. Wenn man heutzutage seine Sekretärin anweist, einen Kaffee zu kochen, hat man gleich die Gewerkschaft am Hals. Und hier in Düsseldorf sind die Wege zu diesem Verein ja bekanntlich besonders kurz.“ Erpentrup schnaubte. Seine Laune schien sich sekündlich zu verschlechtern.

Schulte genoss einen weiteren Schluck. „Ich muss schon sagen, für Automatenkaffee …“, er wiegte seinen Kopf, „nicht schlecht.“

Erpentrup wurde ungehalten.

„Schulte, ich will nicht mit Ihnen über die Kaffeequalitäten im Ministerium diskutieren. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen und nicht viel Zeit. Kommen Sie mit!“

Erpentrup erwartete wohl, dass Schulte seiner Anweisung stante pede folgte. Denn er sah sich nicht mehr zu dem Detmolder Polizisten um, sondern marschierte schnurstracks in sein Büro.

Schulte stellte bewusst umständlich seine Kaffeetasse ab. Danach bekam er von der Assistentin, Frau Bäcker, mit einer verschwörerischen Geste eine Visitenkarte in die Hand gedrückt und sie raunte ihm leise zu: „13 Uhr. Ich werde da sein.“

„Na, nun kommen Sie schon, Schulte!“, dröhnte Erpentrups Stimme durch die offenstehende Tür.

Schulte zwinkerte noch einmal verschmitzt in Richtung Frau Bäcker und verschwand aus dem Zimmer. Als er sich auf den ihm zugedachten Stuhl gesetzt hatte, kam Erpentrup ohne große Vorrede zur Sache.

„Was soll ich sagen“, begann er und knetete seine Hände. „Es besteht für Sie die Möglichkeit den Polizeidienst vorzeitig zu verlassen und dennoch Ihre vollen Pensionsansprüche in Anspruch zu nehmen. Das ist doch eine gute Nachricht, Schulte.“

Der Detmolder Polizist war sprachlos. Wollte man ihn jetzt auf diese Weise schassen? Er hatte schon von mehreren Kollegen, die etwas älter waren als er, gehört, dass man ihnen angeboten hatte, noch über das Pensionsalter hinaus weiterzuarbeiten. Und das unter lukrativen Bedingungen, denn es gab de facto zu wenig Polizisten in NRW. Das pfiffen die Spatzen von allen Dächern. Und nun bot Erpentrup ihm an, früher zu gehen und das ohne finanzielle Einbußen?! Seltsam, seltsam … Erpentrup musste ihn wirklich hassen, der zog wahrhaftig jede Karte, um ihn loszuwerden.

„Ja, da sind Sie sprachlos, mein Lieber“, unterbrach Schultes Chef ihn in seinen Gedankengängen. „Ich kümmere mich um meine Leute, Schulte, und als mir der Minister die Möglichkeit eröffnete, verdiente Kollegen für ihre geleistete Arbeit zu belohnen, indem wir ihnen ein paar Jahre ihrer Lebensarbeitszeit erlassen, da habe ich sofort an Sie gedacht.“

Erpentrup grinste kumpelhaft. „Und wenn Sie hier gleich unterschreiben“, Erpentrup schob Schulte einige Blätter und einen Stift hin, „haben wir das hier und heute gleich erledigt. Sie müssen dann nicht noch mal wegen irgendwelcher Formalitäten nach Düsseldorf kommen. Sie setzen Ihre Unterschrift unter den Vertrag und am 30. April ist für Sie der letzte Arbeitstag.“ Erpentrup sah auf seinen Computer. „Urlaub haben Sie ja auch noch jede Menge. Also mein Lieber, eine Unterschrift und sie können sofort zu Hause bleiben. Na, ist das ein Angebot, Schulte?“

„Sie sind ja schlimmer als jeder Staubsaugerverkäufer“, kam es spontan über die Lippen des total perplexen Schulte.

„Was soll das denn heißen?“, entgegnete Erpentrup verärgert.

„Na ja, ich meine“, rang Schulte nach Worten. „So ein vorzeitiges Dienstende, das will gut überlegt sein. Über eine solche Möglichkeit habe ich überhaupt noch nicht nachgedacht. Ich meine, okay, vorzeitig in Pension unter Zahlung der vollen Bezüge, das hört sich gut an, aber es will auch alles bedacht sein.“ Schulte blies die Luft aus seinen Lungen. „Ich meine, ich brauche Bedenkzeit.“

Erpentrup schien enttäuscht. Dennoch schlug er einen verbindlichen Ton an.

„Okay, okay, Schulte, ich kann Sie verstehen, aber ewig kann ich mein Angebot nicht aufrechterhalten. Wenn Sie sich nicht schnell entscheiden, kommt ein anderer Kollege in den Genuss des vorzeitigen Ruhestandes. Also denken Sie darüber nach, Sie haben vier Wochen.“

4

Friedrich Lang warf seinen Mantel achtlos auf das Sideboard, lockerte seine Krawatte und ließ sich ächzend in seinen Lieblingssessel fallen. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann betastete er vorsichtig seine geschwollene rechte Wange und das blutunterlaufene Auge.

Seine Ehefrau Silvia, eine gepflegte Frau von 70 Jahren, kam aus der Küche und blickte ihn erwartungsvoll an. Als er sich nicht äußerte, fragte sie: „Wo warst du?“

Er blickte zu ihr auf, wartete eine Weile mit der Antwort und sagte dann: „Bei der Polizei.“

Sofort leuchtete ihr Gesicht auf, als habe er ihr gerade eine besonders frohe Botschaft mitgeteilt.

„Du hast die Vermisstenmeldung für Lennart aufgegeben? Hast du dich überwunden? Danke, das freut mich. Endlich.“

Er starrte sie verständnislos an.

„Nein! Wieso Vermisstenmeldung? Ich war bei der Polizei, weil ich Anzeige erstattet habe gegen Arnold. Meinst du, ich lasse mir das gefallen? Du siehst doch, wie ich aussehe. Den Kerl mache ich platt.“

Silvia Lang schüttelte resigniert den Kopf.

„Das glaube ich jetzt nicht“, sagte sie leise. „So ein lächerliches blaues Auge ist dir wichtiger als dein Sohn? Hast du jeden Sinn für Prioritäten verloren?“

Bevor ihr Mann sich zur Wehr setzen konnte, fuhr sie, nun aber deutlich lauter, fort: „Friedrich, unser Sohn Lennart ist seit Wochen verschwunden. Wir haben keine Ahnung, wo er sein könnte. Nach all den Dramen in unserer Familie ist das Grund genug, sich Sorgen zu machen. Findest du nicht? Oder lässt dich das völlig kalt?“

Wieder befühlte Friedrich Lang sein Auge, als suche er damit eine Begründung für sein Verhalten. „So ein Quatsch. Du weißt genau, wie viel Lennart mir bedeutet. Hältst du mich für ein Monstrum? Drei Söhne hatte ich. Drei prächtige Jungs. Sie sollten mein Erbe antreten, mein Lebenswerk weiterführen. Ich würde in ihnen weiterleben. Das war der Plan. Jetzt sind die beiden älteren tot und mir bleibt nur noch Lennart. Er bedeutet mir alles, das musst du mir schon glauben. Alles!“

„Und warum unternimmst du dann nichts?“, schrie sie ihn an. „Besorg uns einen Privatdetektiv oder mach sonst was. Das Allermindeste ist es aber, zur Polizei zu gehen und eine Vermisstenmeldung aufzugeben. Was hindert dich denn daran?“

Er stand auf und drehte mit geballten Fäusten eine Runde um den Wohnzimmertisch.

„Ich habe dir schon 100 Mal gesagt, dass es Lennart gut geht. Wo er gerade ist, weiß ich nicht. Aber er macht eine Reise. Er bräuchte das einfach mal, hat er mir gesagt. Ein bisschen zur Ruhe kommen, den Kopf frei kriegen. Solche Phasen haben wir alle einmal. Silvia, der Junge ist erwachsen und weiß, was er tut. Er wird in den nächsten Tagen gesund und munter wieder hier auftauchen und mit frischer Kraft an die Arbeit gehen. Und jetzt komm mir nicht mit Mutterinstinkt und Vorahnungen. Ich kann es nicht mehr hören.“

Nach diesen Worten ließ er sich wieder in den Sessel fallen und betastete erneut die Schwellungen in seinem Gesicht.

Seine Frau drehte sich mit dem Rücken zu ihm und sagte leise: „Ich verstehe dich nicht. Früher warst du nicht so schlimm. Schau mal in den Spiegel, du würdest dich selbst nicht mehr erkennen. Nicht nur wegen der dicken Backe und dem Matschauge. Du bist nicht mehr derselbe Mensch. Seit Philipp bei dem Tsunami in Thailand umgekommen ist, hast du dich in dein Schneckenhaus zurückgezogen und bist nur noch in Abwehrhaltung gegangen. Ich weiß nicht, was Philipp damals aus dem Haus getrieben hat, aber ich habe so eine Ahnung, dass du mehr darüber weißt als ich. Wenn du der Meinung bist, dass mich das als Mutter nichts angeht, und wenn du so wenig Vertrauen zu deiner Ehefrau hast, dann … dann …“

Sie brach ab und schlug die Hände vors Gesicht.

„Du und deine Ahnungen“, brummte ihr Mann. Sie drehte sich wieder zu ihm, starrte ihn mit roten und etwas wässrigen Augen an, sagte aber nichts.

„Ist doch wahr“, empörte sich Friedrich Lang. „Du machst mir ständig Vorwürfe für Katastrophen, die ich nicht beeinflussen konnte und die ich auch nicht herbeigeführt habe. Was konnte ich denn dafür, dass 2004 dieser schreckliche Tsunami gekommen ist? Philipp war zufällig da, als Tourist. Ich habe ihn nicht dahin geschickt. Und als mein Bruder bei seiner Bergtour auf eigene Faust losgezogen und abgestürzt ist, da war ich nicht sein Bergführer. Genauso wenig war ich dabei, als Frederiks Segelboot in ein Unwetter kam und gekentert ist. Verdammt noch mal, Silvia. Ich habe unter diesen Schlägen genauso gelitten wie du. Und ich kann es nicht auch noch ertragen, dass du mir für all das die Schuld in die Schuhe schieben willst. Das ist zu viel.“

Sie schwieg lange Zeit. Dann setzte sie sich ebenfalls in einen Sessel.

„Vielleicht tue ich dir unrecht“, sagte sie. „Aber ich will einfach, dass du meine Sorgen ernst nimmst. Ich bin doch nicht hysterisch.“

Als wolle sie damit ein Versöhnungsangebot machen, wechselte sie nun das Thema.

„Was wird denn jetzt aus diesem Arnold?“

Ihr Mann schaute sie verwundert an. Unwillkürlich strich er wieder vorsichtig über sein geschwollenes Auge. Offenbar hatte schon der Name Arnold diesen Reflex ausgelöst.

„Der? Der liegt am Boden und kommt auch nicht mehr hoch. Und das hat er verdient, dieser Mistkerl.“

„Warum bist du so hasserfüllt? Früher war Arnold ein ganz normaler Konkurrent. Beide Firmen haben gutes Geld verdient und ihr seid anständig miteinander umgegangen. Warum ist das nun anders?“

„Weil die Zeiten härter geworden sind. Aber davon verstehst du nichts. Damit musst du dich auch nicht belasten. Manchmal muss man eben zupacken, wenn man in einem so harten Wettbewerb steht. Arnold hätte, wenn er mich in die Knie gezwungen hätte, dabei nichts anders gemacht. Das Geschäft ist ein Haifischbecken – fressen oder gefressen werden. Und bevor ich mich fressen lasse, beiße ich lieber als Erster zu. Aber das gibt diesem Scheißkerl nicht das Recht, mich zu schlagen. Jetzt werde ich ihm den Rest geben. Ich will, dass er auch noch sein Privatvermögen verliert. Halbe Sachen mache ich nicht.“

„Du müsstest dich mal reden hören“, sagte sie. „Du würdest dich vor dir selber ekeln.“

5

Was war denn das gewesen? Ein Rausschmissversuch erster Klasse? Schulte raufte sich die grauen Haare, die ihm wie immer ein bisschen wild und ungekämmt um seinen Kopf standen.

Mit so etwas hatte er nun gar nicht gerechnet. Vorzeitiger Ruhestand! Schulte hatte nach den Erörterungen Erpentrups mehr oder weniger orientierungslos das Innenministerium verlassen und lief nun ohne Ziel die Friedrichstraße entlang. Er musste zur Ruhe kommen, musste nachdenken. Was sollte das Ganze? Was hatte Erpentrup vor? Seine Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf und jeder Versuch, sie zu ordnen, misslang auf der Stelle. Komm, lass die Angelegenheit erst mal sacken, versuchte er sich aus dem Denkdilemma zu lösen.

Er kramte in der Tasche nach der Visitenkarte, die ihm Frau Bäcker zugesteckt hatte. Pastahaus II Mercator in der Friedrichstraße, das war der Treffpunkt, den die Assistentin Erpentrups vorgeschlagen hatte. Nudeln, warum nicht, dachte er und ließ die kleine bunte Karte wieder in der Tasche seiner Lederjacke verschwinden. Schulte sah auf seine Armbanduhr. Sie zeigte 12: 53 Uhr.

„Passt doch“, murmelte er, zückte sein Handy, suchte auf Google Maps den Standort des Restaurants und machte sich auf den Weg. Als Schulte wenige Minuten später die Gaststätte betrat, saß Frau Bäcker schon an einem Tisch, der es zuließ in aller Ruhe miteinander zu reden, ohne dass die Gäste an den benachbarten Tischen jedes Wort mitbekamen.

Frau Bäcker war eine Frau zwischen 40 und 50 Jahren. Man sah ihr an, dass sie regelmäßig Sport trieb, aber auch ein bewegtes Leben stand ihr ins Gesicht geschrieben. Keine Schönheit von der Stange, dachte Schulte, aber wie es aussieht eine interessante Frau.

Als Frau Bäcker Schulte bemerkte, stand sie auf und lächelte. Obwohl sie sich heute schon gesehen und begrüßt hatten, gab sie dem Detmolder Polizisten noch einmal die Hand. Schulte nahm und drückte sie. Er wusste aus eigener Lebenserfahrung, dass der Beginn solcher Treffen meist etwas zäh verlief. Da halfen eingeübte Höflichkeitsgesten oft über die erste Sprachlosigkeit hinweg.

„Bitte, setzen Sie sich doch“, bat ihn Frau Bäcker und lächelte ein wenig verlegen.

„Ich habe mir schon mal meinen Feierabendweißwein bestellt. Ein kleines Ritual, dem ich jeden Freitag fröne, seit Staatssekretär Erpentrup mein Chef ist. Heute ist zwar erst Donnerstag, fast Wochenende“, lächelte sie, als müsse sie sich für das Glas Alkohol am Mittag entschuldigen.

Schulte nickte verstehend und bestellte sich ein Bier. „Ein kleines Ritual, das ich mir leiste, jedes Mal, nachdem ich Erpentrup gesehen habe. Wäre ich ihm früher in Lippe nicht ständig aus dem Wege gegangen, ich wäre zum Trinker geworden“, griente Schulte verschmitzt.

Als sie die Bestellung aufgegeben hatten und Schulte sein Bier in der Hand hielt, stießen sie an.

„Auf die Hoffnung, dass uns dieser Chef nicht für immer erhalten bleibt“, gab Annelore Bäcker einen kleinen Trinkspruch zum Besten.

Nachdem sie einen ordentlichen Schluck genommen hatte, schnaubte sie. „Herr Schulte, Sie machen mir das Leben schwer. Immer wenn Sie hier auflaufen, ist der Alte schon drei Tage vorher ungenießbar und wenn nur Ihr Name fällt, ist der Tag für den Chef gelaufen.“

„Na, dann hat Erpentrup ja heute Morgen zu einem richtigen Befreiungsschlag ausgeholt“, sinnierte Schulte.

„Wieso?“, fragte Frau Bäcker verwundert.

„Er hat mir angeboten, zum nächsten Ersten in den Ruhestand zu gehen, unter Weiterzahlung aller meiner Bezüge“, berichtete Schulte.

„Oh“, war das Einzige, was Frau Bäcker darauf erwiderte. Und dann, nach einer längeren Pause fragte sie: „Und, werden Sie das Angebot annehmen?“

Schulte zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht, die ganze Geschichte kommt ein bisschen plötzlich. Eigentlich geht mir mein Job auf den Zeiger. Oft denke ich, schmeiß die Brocken hin, lieber heute als morgen. Und seit heute Morgen hätte ich die Möglichkeit. Aber was fange ich dann mit meinem Alltag an? Warten, dass mein Enkel aus der Schule kommt, um dann mit ihm Hausaufgaben zu machen und über Fußball zu reden? Nee, das ist nicht die Lösung. Außerdem möchte ich dieses Leben sowohl meinem Enkel als auch mir ersparen.“

Wieder schwiegen die beiden längere Zeit. Schulte stieß einen mächtigen Seufzer aus. „Ich weiß es nicht Frau Bäcker, ich weiß es wirklich nicht“, resignierte er. „Ich habe keine Ahnung, wofür ich mich entscheiden soll.“

Die Nudelgerichte kamen und die beiden aßen schweigend, bis Schulte fluchte, weil er sich mit Tomatensoße bekleckert hatte.

„Mist, das passiert mir jedes Mal“, schimpfte er und verwischte die roten Flecken auf seinem Pullover.

Frau Bäcker kicherte. Dann wurde sie ernst. „Also, dann werde ich jetzt mal Entscheidungshilfe leisten. Ich hoffe, dass Sie auf das Angebot von Erpentrup nicht eingehen. Der ist ein arroganter, intriganter, blasierter Affe. Und er ist ein schlauer Misthund, ein verdammt schlauer. Der macht nichts mal eben so. Und er ist auf keinen Fall der gute Mensch von Sezuan. Der ist verkommen und berechnend. Und er hat noch nie jemandem einfach so etwas Gutes getan. Erpentrup führt was im Schilde, das sage ich Ihnen, Schulte! Überlegen Sie sich das mit dem Dienstende genau. Wenn die Möglichkeit der vorzeitigen Pensionierung besteht, so wie Erpentrup die Angelegenheit präsentiert, dann sitzt da kein Zeitdruck hinter, obwohl der Alte das so darstellt. Ich bin jetzt schon so viele Jahre im Innenministerium. Ich habe viele Minister und Staatssekretäre kommen und gehen sehen. Aber glauben Sie mir Schulte, Verwaltungsmühlen mahlen langsam. Und wenn einer auf die Tube zu drücken versucht, dann ist da ganz gewaltig was faul. Gut, dass Sie nicht gleich unterschrieben haben.“

6

„Schönes Wochenende!“, rief Maren Köster ihrer Mitarbeiterin Pauline Meier zu Klüt hinterher, als diese gerade das Büro ihrer Vorgesetzten verlassen wollte. Die jüngere Frau gab den Gruß gut gelaunt zurück und verschwand. Da auch Manuel Lindemann und Oliver Hartel sich bereits verabschiedet hatten, war Maren Köster allein auf weiter Flur. Aber auch sie würde gleich ihre Sachen zusammenräumen und trotz Rufbereitschaft ins Wochenende entschwinden. Sie wollte gerade ihren PC herunterfahren, aufstehen und die Jacke vom Haken holen, als eine ältere, sehr gepflegt wirkende Frau in der Tür stand.

„Ihr Kollege hat mich zu Ihnen geschickt“, sagte die Frau schüchtern. Dann schaute sie auf das kleine Schild neben der Bürotür und wurde noch unsicherer.

„Bin ich denn hier richtig? Sie sind ja offenbar die Leiterin dieser Abteilung und ich weiß nicht, ob ich Sie mit …“

„Kein Problem“, unterbrach Maren Köster die Frau freundlich. „Es ist ja sonst niemand hier. Kommen Sie herein. Womit kann ich Ihnen helfen?“

Die Frau setzte sich auf den Besucherstuhl, faltete die Hände wie zum Gebet, räusperte sich und sagte: „Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ist das hier richtig?“

„Eigentlich nicht“, lachte Maren Köster, der die Frau leidtat. „Aber wo Sie gerade hier sind, nehme ich die gern auf. Worum geht es?“

Die Frau stellte sich als Silvia Lang aus Schieder vor.

„Es geht um meinen Sohn Lennart. Er ist seit Anfang des Jahres wie vom Erdboden verschluckt. Ohne mir irgendwas zu sagen. Anfangs habe ich mir keine Sorgen gemacht, weil mein Mann sagte, dass Lennart einen kleinen Burn-out, oder wie man das heute nennt, habe und dringend etwas Erholung bräuchte. Er hätte mit ihm gesprochen und ihm zu einer längeren Reise geraten. Geld spielt in unserer Familie nicht so sehr eine Rolle, wenn ich das mal so sagen darf. Eigentlich war das einleuchtend. Aber sagen Sie doch mal selbst: Würde ein Sohn einfach so auf eine längere Reise gehen, ohne seiner Mutter Bescheid zu sagen?“

„Wie alt ist denn Ihr Sohn?“, wollte die Polizistin wissen.

„38 Jahre. Warum, was spielt das für eine Rolle?“ Die Hauptkommissarin schmunzelte.

„Na ja, er ist immerhin kein Kind mehr. Keine Ahnung, wie andere Männer in seinem Alter das halten, aber so ungewöhnlich kommt mir das alles nicht vor.“

Frau Lang drückte den Rücken durch und sagte mit leicht erhobener Stimme: „Sie glauben mir also auch nicht, oder? Genauso wenig wie mein Mann und alle anderen. Halten Sie mich auch für hysterisch? Dann ist es allerdings Zeitverschwendung, die Polizei um Hilfe zu bitten. Hätte ich mir ja denken können.“

Mit diesen Worten stand sie auf und machte einen Schritt zur Tür.

„Bleiben Sie bitte sitzen!“, rief Maren Köster der Frau zu. Sie atmete tief durch, als Frau Lang wieder Platz nahm. Neben ihrer Ungeduld wusste die Polizistin um ihre zweite große Schwäche. Sie besaß viele Eigenschaften, die in ihrem Beruf gut und nützlich waren: Intelligenz, Mut, Beharrlichkeit, Kampfgeist und in den letzten Jahren hatte sie sogar die Kompetenz, stundenlange Besprechungen ohne Tobsuchtsanfälle zu überstehen, gewonnen. Aber es fehlte ihr jede Begabung für diplomatisches Fingerspitzengefühl. Für Deeskalation war eine Maren Köster einfach nicht zu gebrauchen. Schon oft hatten ihr Atemübungen dabei geholfen, eine gewisse professionelle Ruhe zu bewahren. So forderte sie die Frau jetzt auf, einfach mal zu erzählen, was ihr auf dem Herzen lag.

Frau Lang beendete ihre Familiengeschichte mit den Worten: „Aber mein Mann glaubt mir nicht. Er hat nur sein Geschäft im Kopf. Vor allem seinen Privatkrieg mit diesem Arnold, seinem Konkurrenten. Jetzt hat er es endlich geschafft und hat Arnold in die Pleite getrieben. Aber das …“

„Moment!“, rief Maren Köster dazwischen und schaute verwundert auf ihren Bildschirm. „Kann es sein, dass Ihr Mann erst heute Mittag ebenfalls eine Anzeige erstattet hat? Eben gegen diesen Herrn Arnold? Wegen Körperverletzung?“

„Ja, das stimmt“, winkte Frau Lang ärgerlich ab. „Als ob das irgendwie wichtig wäre. Alte Männer benehmen sich oft wie Kinder. Mein Gott, so ein Schlag ist nicht schön, aber deswegen stellt man doch keine Strafanzeige. Wenn der eigene Sohn vermisst wird, das ist etwas ganz anderes. Sind Sie auch Mutter?“

Maren Köster schüttelte energisch die prächtigen roten Locken, in die sich mittlerweile aber auch einige graue Störenfriede eingenistet hatten.

„Na ja“, murmelte Frau Lang, „dann können Sie das ja nicht verstehen.“

Kurz darauf saß die Hauptkommissarin wieder allein in ihrem Büro und gab sich ihren Gedanken hin. Was für eine seltsame Familie muss das sein, fragte sie sich, tippte ein letztes Mal auf ihre Tastatur und sah zu, wie der Bildschirm sich langsam verdunkelte. Wochenende!

7

Gestern auf dem Rückweg von Düsseldorf nach Detmold, hatte Schulte nachgeforscht, welchen Grund es für die seltsame Abschiedsfeier, zu der Hartel eingeladen hatte, gab. Jetzt war er sprachlos. Erpentrup hatte Hartel doch wahrhaftig auch ein Angebot gemacht. Er hatte Hartel eine Polizeirat-Stelle in seiner alten Heimat angeboten. In Ratingen. Soweit Schulte sich erinnern konnte, hatte der Kollege dort sogar seine Kindheit und Jugend verbracht. Und genau wie bei ihm hatte Erpentrup bei Hartel unheimlichen Druck aufgebaut. Voraussetzung für den Karrieresprung war, dass Hartel bereit dazu war, die neue Stelle schon nach Ostern anzutreten. Warum nur hatte Erpentrup, genau wie bei Schulte, so einen unglaublichen Zeitdruck ins Spiel gebracht? Was führte der Kerl im Schilde?

Schulte verfluchte sich dafür, dass er sich von seiner neuen Verbündeten, Annelore Bäcker, nicht die Mobilfunknummer hatte geben lassen. In den nächsten Tagen würde er sie nicht erreichen, weil Ostern vor der Tür stand. Irgendwas hatte Erpentrup vor. Doch Schulte konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was.

Der Abschied von Hartel war eine verdammt kurzfristige Kiste. Die Kollegen hatten noch schnell ein gemeinschaftliches Abschiedsgeschenk organisiert und Schulte hatte sich, ohne lange zu zögern, in diese Aktion mit reingehängt. Egal was es kosten würde, Hauptsache, er brauchte sich keine Gedanken über ein sinnvolles Präsent zu machen. Zu Hause hatte er seine Schränke durchstöbert und noch eine Flasche Whisky gefunden. Einen, der zwölf Jahre in verschiedenen Fässern gereift war und mindesten weitere 15 in der hintersten Ecke von Schultes Küchenschrank. Sollte wohl trinkbar sein, dachte er.

Als Schulte die Kreispolizeibehörde betrat, saß Volle gelangweilt in dem Glaskasten am Eingang.

Als Volle Schulte und vor allem die Flasche in Schultes Armbeuge sah, wurde er dienstlich.

„Mit der Flasche kann ich dich da nicht reinlassen, Schulte.“

„Warum nicht?“, fragte Schulte scheinbar verwundert.

„Der Landrat hat neulich ausdrücklich noch einmal darauf hingewiesen, dass das Trinken von Alkohol in allen Dienstgebäuden strikt untersagt ist“, blies Volle sich auf. „Den Schnaps, Schulte, den könnt ihr meinetwegen da bei euch, in Lippisch-Sibirien, in eurer Kneipe trinken. Aber nicht hier, bei uns in der Kreispolizeibehörde.“

„Jaja, ich weiß, Volle, der Landrat ist ein kluger Mann. Der hat schon die richtige Anordnung getroffen. Diese ständigen besoffenen Polizisten auf den Straßen, das geht gar nicht mehr.“

Volle gaffte. „Betrunkene Polizisten, davon habe ich noch gar nichts gehört.“

„Ich auch nicht“, grinste Schulte. „Aber der Landrat vielleicht.“

„Kann ich mir nicht vorstellen“, gab Volle dümmlich zum Besten.

„Ja und warum erlässt der Landrat dann so eine Verordnung?“, fragte Schulte mit aller Strenge, die er aufbringen konnte.

„Ja.“ Volle kratzte sich am Kopf. „Weiß auch nicht.“

„Ja, Volle, das weißt du mal wieder nicht. Aber du hast ja den ganzen Abend Zeit, darüber nachzudenken. Und jetzt mach endlich die Tür auf, ich habe es eilig!“, kam es im Befehlston von Schulte. Der Türöffner summte. Schulte drückte sie auf und winkte zum Abschied mit der Flasche Whisky.

Auf dem Weg zu seinem alten Büro spürte Schulte es wieder. Wehmut. Ja hört denn das nie auf, dachte er ärgerlich. Er wollte diese Rührseligkeit nicht. Doch je mehr er sich gegen dieses Gefühl wehrte, desto intensiver und andauernder bahnte es sich den Weg in sein Bewusstsein. Und mit jedem Schritt, mit dem er sich seinem alten Büro näherte, wurde der Druck auf seine Brust größer.

Wahrscheinlich würde er auch heute der Letzte sein, wie früher zu den Besprechungen und sonstigen Verabredungen. Schulte öffnet die Tür zu seinem alten Büro und da standen sie alle und warteten auf ihn. Maren Köster mit ernstem Gesicht, der nachdenkliche Manuel Lindemann, die immer gut gelaunte Pauline Meier zu Klüt und Hartel. Hartel, der damals erst aus Karrieregeilheit gegen das Team gearbeitet hatte und später viel Energie dafür aufwenden musste, um dazuzugehören. Und jetzt, wo er es geschafft hatte, verließ er Detmold. Verrückte Welt, dachte Schulte.

Er begrüßte alle seine Ex-Kollegen herzlich. Während er sie der Reihe nach umarmte, drückte er sich heimlich eine winzig kleine Träne weg.

Hartel gab ihm ein Glas in die Hand. „Zur Feier des Tages trinken wir Champagner“, pries er den Inhalt des Glases an.

„Welche Feier“, entgegnete Pauline. „Ich dachte, wir würden dir fehlen.“

Hartel sah betreten aus. „Ehrlich gesagt, ist das auch so. Ich darf gar nicht daran denken, dass ich demnächst nicht mehr mit euch zusammenarbeite.“ Er wurde sentimental. „Als ich am Mittwoch von Düsseldorf nach Detmold zurückfuhr, war ich guter Dinge. Endlich Polizeirat, geschafft, hatte ich mir eingeredet. Denn schließlich war ich vor zehn Jahren nach Detmold gekommen, um meinen beruflichen Aufstieg zu forcieren.“ Hartel schüttelte den Kopf. „Mein alter Chef in Düsseldorf hatte mir Großes versprochen. Zwei, drei Jahre in der Provinz, hatte er gesagt, dann werden Sie hier bei uns Polizeirat und anschließend geht es auf der Karriereleiter nach oben, ganz nach oben. Ich habe Großes mit Ihnen vor Hartel, hatte er angekündigt. Und drei Monate später war mein Protegé weg. Er wurde Staatssekretär in Potsdam und ich saß hier in Detmold fest.“

„Na ja, Hartel, vielleicht war es ja eine Hals über Kopf Entscheidung, dass du Erpentrup am Mittwoch gleich eine Zusage gegeben hast“, überlegte Maren Köster laut.

„Das war es, Maren“, bestätigte Hartel. „Als ich dann am Mittwochabend in meiner Wohnung am Küchentisch saß, da dachte ich, was hast du nur gemacht? Wie konntest du dem Erpentrup wieder auf den Leim gehen?“ Er zuckte mit der Schulter. „Aber der Erpentrup hat so einen Druck gemacht. Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. So nach dem Motto: Ergreifen Sie die Chance, Hartel, ich weiß nicht, ob ich Ihnen den Job bis nächste Woche freihalten kann. Und dann lag auch schon der Vertrag auf dem Tisch und ich Blödmann habe unterschrieben.“

„Langsam wird es schwierig bei uns im Laden“, sinnierte Maren Köster. „Schulte weg, Hartel weg und ich sehe keine Chance, dass wir in nächster Zeit Ersatz bekommen. Das ist alles ein riesengroßer Mist. Im Moment geht es ja. Es ist nicht viel los, aber wenn wir einen größeren Fall reinkriegen, sehe ich schwarz.“

Am liebsten hätte Schulte gesagt, wenn alle Stricke reißen, kannst du immer noch auf mich und die anderen Kollegen zurückgreifen, die nach Heidenoldendorf abgeschoben wurden. Aber das verkniff er sich. Stattdessen sagte er. „Vielleicht solltest du zum Landrat gehen und ihn auf die Situation aufmerksam machen.“ „Man merkt, dass du in deinem Lippisch-Sibirien schon zu weit weg bist von den Detmolder Realitäten. Weißt du, was passiert, wenn du beim Landrat anrufst? In der Regel bekommst du frühestens einen Termin in sechs Wochen. Der sitzt da oben im Kreishaus in seinem Büro und die Höllenhunde im Vorzimmer lassen niemanden zu ihm durch. Da muss man schon sehr hartnäckig sein um durchzudringen. Maren Köster winkte ab. „‚Kurze Wege‘ war gestern.“

Pauline Meier zu Klüt schaltete sich ein. „Kommt, heute Abend reden wir nicht über die Mühen des Tages. Oliver geht, ich finde das schade und alle anderen Kollegen wahrscheinlich auch. Wir sollten uns einen schönen Abend machen, den wir hoffentlich lange in guter Erinnerung behalten werden.“

Schulte nickte. „Hast ja recht Meier, aber vorher muss ich euch noch was erzählen.“

Es wurde wieder still im Raum.

„Ich war gestern auch in Düsseldorf. Von Erpentrup einbestellt. Der hat mir den sofortigen Ruhestand angeboten. Von jetzt auf gleich. Der 30. April wäre dann mein letzter Arbeitstag. Und Erpentrup hat bei mir genauso einen Druck aufgebaut wie bei Hartel. Was ist da los? Was will der Kerl? Ich verstehe im Moment gar nichts.“

Alle starrten Schulte an.

„Du hast doch nicht etwa auch unterschrieben?“, fragte Maren Köster völlig fassungslos.

„Nein, habe ich nicht“, sagte Schulte. „Ich habe Erpentrup vertröstet. Das war gar nicht so einfach, das sage ich euch. Aber nun ist gut, ich wollte euch das nur kurz erzählen. Jetzt wird gefeiert.“

Schulte drückte Hartel die Flasche Whisky in die Hand. „Hier Hartel, wenn wir und Lippe dir zukünftig fehlen werden. Trink, um zu vergessen! Und jetzt sag uns, wo wir hingehen, um dir die Haare vom Kopf zu fressen.“

„Genau, unser Abschiedsessen“, fiel es Hartel wieder ein. „Wir gehen ins Rioja in der Detmolder Straße, eine neue Tapas-Bar. Ich habe einen Tisch bestellt. Ach ja, und damit ihr es wisst, ihr Lipper, ein Rheinländer lässt sich nicht lumpen. Es geht alles auf mich.“

8

Mai 1985

Voller Konzentration verfolgte er den Flug des Federballs. Vor Aufregung steckte er seine Zunge heraus, mit deren Spitze er Maß nahm. Sie wanderte vom linken Mundwinkel zum rechten. Flipp brachte seinen Schläger in Position. Diesmal würde er dem Ball einen Schlag verpassen, mit einer Wucht, dass er bis nach Schwalenberg fliegen würde. Bis nach Schwalenberg? Ach was, bis nach Amerika würde er fliegen.

Flipps Zunge war fast auf der rechten Seite seines Mundes angekommen. Und wieder war es wie bei den vorherigen Schlägen. Je mehr sich die Zunge dem rechten Mundwinkel näherte, umso schneller flog verrückterweise der Federball. Flipp wurde hektisch. Diesmal musste er es schaffen. Seinem kleinen Bruder Fredi war es ja auch schon gelungen den Ball zu treffen. Nicht richtig, aber immerhin.

Hastig riss Flipp den Schläger hoch. Doch da war das weiße Körbchen mit dem roten Gummipfropfen schon an ihm vorbeigeschossen und landete zwei Meter weiter hinter ihm im Gras.

Dann eben beim nächsten Mal, dachte Flipp. Er brachte den Federballschläger in Position und wartete darauf, dass sein Vater ihm einen Ball zuschlug.

Ich bin ein Kämpfer, dachte Flipp. Genau wie mein Vater es von mir verlangt. Ich gebe nicht auf, so lange nicht, bis ich den Ball nach Amerika geschlagen habe.

Doch der nächste Federball wurde von seinem Vater nicht mehr auf die Reise geschickt. Nein, der warf seinen Federballschläger achtlos hinter sich und sagte: „Mit dir hat es einfach keinen Zweck Junge, du hast die Motorik einer Bahnschranke. Lass es bleiben. So wie du mit dem Schläger herumhampelst wirst du den Ball nie treffen. Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen.“

Flipp war enttäuscht. Wie konnte er ein Kämpfer und ein guter Federballspieler werden, wenn sein Vater ihm nicht die Chance dazu gab? Dem kleinen Jungen stiegen die Tränen in die Augen.

Flipps Mutter hatte die Szene beobachtet. Sie sah den Vater wütend an und ging zu ihrem Kind.

„Ach was, Flipp“, sagte sie mit ihrer liebenswürdigsten Stimme zu ihrem Sohn. „Natürlich wirst du es lernen den Federball zu treffen.“ Sie beugte sich zu ihm hinab und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Dein Vater ist manchmal zu ungeduldig. Der hat nur vergessen, wie lange er damals als kleiner Junge gebraucht hat, um halbwegs gut Federball spielen zu können. Komm, wir üben noch ein bisschen.“

„Nichts werdet ihr üben!“, raunzte der Vater die Mutter an. Er hatte einen roten Kopf bekommen und sein Gesicht glich der Fratze des Teufels, den Flipp gestern in einem Puppentheater gesehen hatte.

„Das ist doch vertane Zeit. Und stell mich vor dem Jungen nicht wie einen Deppen hin!“, polterte der Vater weiter. „Ich konnte und kann immer noch Federball spielen“, brüllte er jetzt fast. „So dämlich wie der Kerl sich anstellt, wenn er versucht einen Ball zu treffen, das gibt es und gab es bislang kein zweites Mal. Ich jedenfalls war damals tausendmal geschickter, als dieser Bengel es jemals sein wird. Flipp hat zwei linke Hände! Der Junge ist so dermaßen ungeschickt. Ach was, der Junge ist nicht ungeschickt, der ist einfach zu doof. Da ist Hopfen und Malz verloren. Und dann dieses Geschlabber mit seiner Zunge.“

9

Bestens gelaunt stand Jupp Schulte vor dem Käsestand auf dem Detmolder Marktplatz und lauschte dem munteren Wortgeplänkel zwischen dem Standbetreiber und einer Kundin. Schulte kaufte so gut wie nie etwas auf dem Markt, aber er liebte es, hier zu bummeln, sich einfach treiben zu lassen, mal hier und mal dort zu schauen, gelegentlich ein bekanntes Gesicht zu treffen und einen kurzen Plausch zu halten. Er aß in der Regel ein Paar Wiener Würstchen vom Fleischerstand und ging anschließend auf zwei kleine Biere in die Braugasse. Schöner konnte man, seiner Meinung nach, einen Samstagnachmittag nicht einläuten.

Nun lauschte er dem ebenso lauten wie diffusen Stimmengewirr, das den Raum um ihn herum füllte und ihm ein Gefühl von Schwerelosigkeit vermittelte, als sei er leicht angeschickert. Heute, am Karsamstag, war besonders viel Betrieb. Die Leute deckten sich für die Ostertage ein. Plötzlich glaubte er, durch die ganze Kakofonie hindurch eine bekannte Stimme gehört zu haben. Er drehte sich um und sah einen Mann zwischen Käse- und Olivenstand verschwinden. Schulte öffnete den Mund, um ihm hinterherzurufen, aber da war dieser schon Teil der großen Masse und nicht mehr zu erkennen.