Wer die Toten stört - Carolyn Haines - E-Book

Wer die Toten stört E-Book

Carolyn Haines

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Beschreibung

Ein Wohlfühl-Krimi mit Geist und Humor Sarah Booth Delaney ist eine unkonventionelle Südstaaten-Schönheit mit einem Problem: Ledig, über 30 und ohne Arbeit, steht sie kurz davor, den angestammten Familiensitz zu verlieren. Obendrein wird sie vom Geist des Kindermädchens ihrer Ururgroßmutter heimgesucht, der sie mit Freude immer wieder auf ihre bedauernswerte Lage hinweist. Aus Zufall und der Not heraus wird Sarah Privatdetektivin - und schlittert gleich in einen handfesten Mordfall: Hamilton Garrett V. kehrt nach über zwanzig Jahren zurück nach Zinnia, Mississippi. Als Kind soll er in der Kleinstadt seine Mutter getötet haben. Was ist dran an dem Gerücht? Und ist es vernünftig, dass Sarah sich in den mutmaßlichen Mörder verliebt? Bald wird sie selbst zur Verdächtigen - und stellt fest: Wer die Toten stört, steht sehr schnell mit einem Fuß im Grabe ... Dieser spannende Kriminalroman bildet den Auftakt der Cosy-Crime-Reihe um die sympathische Privatermittlerin Sarah Booth Delaney - für alle Fans von Tante Dimity, M. C. Beaton und Cherringham. Band 2: "Kein Friede seiner Asche". eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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EPUB

Seitenzahl: 506

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Inhalt

Cover

Weitere Titel von Carolyn Haines

Die Serie

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Danksagung

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Ein Gespräch mit Carolyn Haines, Autorin von »Wer die Toten stört«

Weitere Titel von Carolyn Haines

Witzige Cosy-Crime-Reihe – Sarah Booth Delaney ermittelt:

Band 2: Kein Friede seiner AscheBand 3: Und führe uns in VersuchungBand 4: Ein Jeglicher hat seine SündeBand 5: Und leise tönt der GrabgesangBand 6: Unselig sind die Friedfertigen

Atmosphärische Südstaaten-Romane (Einzeltitel):

Am Ende dieses SommersDas Mädchen im FlussDer Fluss des verlorenen MondesIm Nebel eines neuen Morgens

Die Serie

Sarah Booth Delaney ist eine unkonventionelle Südstaaten-Schönheit mit einem Problem: Ledig, über 30 und ohne Arbeit, steht sie kurz davor, Dahlia House, den von ihr bewohnten angestammten Familiensitz, zu verlieren. Obendrein wird sie von einem streitbaren Geist heimgesucht: Jitty, das einstige Kindermädchen ihrer Ururgroßmutter und nie um einen altklugen Ratschlag verlegen.

Durch Zufall wird Sarah Privatermittlerin und versucht nicht nur, ihre Geldprobleme, sondern fortan auch Kriminalfälle im Mississippi-Delta zu lösen. Unterstützung erhält sie dabei von ihrer Freundin Tinkie Richmond und der Journalistin Cece, die einmal ein Mann war. Ab den Bänden 2 und 3 gesellen sich Hund Sweetie Pie und Pferd Reveler zu ihr und sorgen für tierischen Beistand.

Klassische Spannung, trockener Humor und ein Ensemble charmant-schräger Charaktere machen die Cosy-Crime-Reihe um Sarah Booth Delaney so liebens- und lesenswert!

Über dieses Buch

Ein Wohlfühl-Krimi mit Geist und Humor

Sarah Booth Delaney ist eine unkonventionelle Südstaaten-Schönheit mit einem Problem: Ledig, über 30 und ohne Arbeit, steht sie kurz davor, den angestammten Familiensitz zu verlieren. Obendrein wird sie vom Geist des Kindermädchens ihrer Ururgroßmutter heimgesucht, der sie mit Freude immer wieder auf ihre bedauernswerte Lage hinweist.

Aus Zufall und der Not heraus wird Sarah Privatdetektivin – und schlittert gleich in einen handfesten Mordfall: Hamilton Garrett V. kehrt nach über zwanzig Jahren zurück nach Zinnia, Mississippi. Als Kind soll er in der Kleinstadt seine Mutter getötet haben. Was ist dran an dem Gerücht? Und ist es vernünftig, dass Sarah sich in den mutmaßlichen Mörder verliebt? Bald wird sie selbst zur Verdächtigen – und stellt fest: Wer die Toten stört, steht sehr schnell mit einem Bein im Grabe …

Über die Autorin

Carolyn Haines (*1953) ist eine amerikanische Bestsellerautorin. Neben den humorvollen Krimis um Privatermittlerin Sarah Booth Delaney hat die ehemalige Journalistin auch hochgelobte Südstaaten-Romane geschrieben, die auf sehr atmosphärische Weise die Mississippi-Gegend im letzten Jahrhundert porträtieren. Für ihr Werk wurde Haines mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Harper Lee Award.

In Mississippi geboren, lebt die engagierte Tierschützerin heute mit ihren Pferden, Hunden und Katzen auf einer Farm im Süden Alabamas.

Homepage der Autorin: http://carolynhaines.com/.

Carolyn Haines

Wer die Toten stört

Sarah Booth Delaneys erster Fall

Aus dem amerikanischen Englisch von Dietmar Schmidt

beTHRILLED

Digitale Erstausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1999 by Carolyn Haines

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Them Bones“

Originalverlag: Bantam Books

Published by arrangement with Bantam Books, a division of Random House, Inc.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2001/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © shutterstock: evannovostro | cristatus | MSSA | majivecka | Felix Lipov | benedix

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-5642-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Debby Porter Pruett, meine Jugendfreundin. Wir haben die Siebzigerjahre überlebt – und auch die Achtziger überstanden. Hol deine schicken hochhackigen Schuhe hervor, Mädchen, denn uns gehört das neue Jahrtausend!

Schreiben ist eine einsame Betätigung, aber die Mitglieder des Deep South Writers Salon haben mich wenigstens vor dem Alleinsein bewahrt. Ihnen allen danke ich für das kundige Lesen und Redigieren, für ihre Freundschaft und den Mut, den sie mir gemacht haben. Danke, Jan Zimlich, Susan Tanner, Renee Paul, Stephanie Chisholm und Rebecca Barrett.

Dank schulde ich außerdem Neil Sheffield, der mir das Mississippi-Delta aus seiner persönlichen Sicht gezeigt und mich hinsichtlich mehrerer wichtiger Aspekte berichtigt hat, von denen zuvorderst die Eigenschaften von Vogelschrot und die vielen Varianten der Blues-Musik zu nennen wären.

Einmal mehr bewies Marian Young, wie unschätzbar wertvoll eine gute Agentin sein kann.

Und nicht zuletzt ein herzliches Dankeschön an Stephanie Kip und Kate Miciak von Bantam Books. Sie hatten mir versprochen, es werde Spaß machen, und sie haben nicht geflunkert.

1

Die Frauen in meiner Familie neigen zu Wahnsinn und geheimnisvollen »Unterleibsbeschwerden«. Ich bin mir nie darüber schlüssig geworden, ob hier eins das andere bedingt oder ob beide Gebrechen auf einen Fluch zurückzuführen sind, mit dem die weiblichen Delaneys für früher begangene Verzweiflungstaten belegt wurden – Taten, die für gewöhnlich mit einem Mann zusammenhingen, der sich der Flasche oder einer Waffe näher verbunden fühlte als seiner Frau.

Meine Gedanken jedenfalls wurden nicht vom Wahnsinn beherrscht, sondern von tiefer Melancholie, als ich durch das regenüberströmte Küchenfenster von Dahlia House auf die leere Zufahrt starrte. Ein nebliger Schleier hatte sich über die alte Plantage gelegt und verhüllte die kahlen Platanen. Das ist mein letzter Thanksgiving Day auf unserem Land, dachte ich. Die Tradition von Dahlia House geht zu Ende – ich bin die Letzte der Delaneys, dreiunddreißig Jahre alt, unverheiratet, eine arbeitslose Versagerin.

»Sarah Booth Delaney, schieb deinen mageren weißen Hintern vom Fenster weg und hör auf, trübsinnig da rauszustieren wie deine Großtante Elizabeth – du weißt ja schließlich, was mit der passiert ist.«

Vielleicht ist an der Sache mit dem Wahnsinn doch etwas dran, denn seit meiner Rückkehr nach Zinnia im Staate Mississippi höre ich die Stimme Jittys, des Kindermädchens meiner Großmutter – in glockenreiner Klarheit. Ich drehte mich zu ihr um und stutzte beim Anblick ihrer Schlaghose und der glänzenden Polyesterbluse: Ihr neuestes Motto lautete wohl ›zurück in die Siebziger‹. Obwohl Jitty schon 1904 in hohem Alter verstorben ist, nimmt sie irgendein Gespensterrecht in Anspruch und kehrt in der Blüte ihrer Jugend wieder. Mit anderen Worten: Eine hüftenge Hose sieht an ihr besser aus als an mir. Und das ist nur eins von vielen Dingen, mit denen sie mich in den Wahnsinn treibt.

»Lass mich bloß in Ruhe«, warnte ich sie und ging zu dem schweren Eichentisch zurück, der sich im Besitz der Familie Delaney befindet, seit Dahlia House im Jahre 1860 erbaut wurde. Eine Woche nach Thanksgiving würde er zusammen mit dem übrigen Mobiliar versteigert werden.

»Du solltest lieber aufhören, den Kopf hängen zu lassen, und ihn stattdessen anstrengen«, entgegnete Jitty, setzte sich an den Tisch und musterte mit tadelndem Blick die Bescherung, die ich darauf angerichtet hatte. »Hier in der kalten Küche zu hocken und Teekuchen zu backen, während vor deiner Tür die Wölfe heulen. Wohin sollen wir gehen, wenn die Bank uns rausgeworfen hat? Unter der Brücke müssen wir dann schlafen und die Mülltonnen deiner feinen Freunde nach was zu essen durchwühlen. Wenn du nicht bald die Kurve kriegst, geraten wir noch tiefer in den Schlamassel.«

Wie Juwelen glänzten die klein gehackten roten und schwarzen Kirschen auf dem Schneidebrett. Ich beäugte die Flasche Jack Daniel’s, die daneben auf dem Tisch stand, ergriff sie mit meinen klebrigen Fingern und ließ den Whiskey in den Kuchenteig gluckern, dann setzte ich mir die Flasche an die Lippen.

»Du wirst doch wohl nicht deinem Großonkel Lyle Crabtree nachschlagen.« Jitty fixierte mich durch einen weiteren Modeartikel: eine rosa getönte Großmutterbrille. »Deine Beschwerden heilt kein Whiskey.«

Mit Jitty zu streiten war sinnlos. Das hatte ich längst versucht, und ich hatte auch probiert, sie einfach zu ignorieren. Beides zeigte keine Wirkung. Ich hob das Schneidebrett vom Tisch und strich die Kirschen in den Teig.

»In der Thanksgiving-Woche backen wir immer Teekuchen«, erinnerte ich sie. »Mein Leben ist auf dem Altar der Traditionen geopfert worden, und ich sehe überhaupt keinen Grund, ausgerechnet jetzt damit aufzuhören.«

»In einer Woche sind wir obdachlos.« Jitty schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. Um ihre Worte zu betonen, stützte sie sich dabei mit den Händen auf der Tischplatte ab. »’s ist die Pflicht der Familie Delaney, für mich zu sorgen. Als ihr meine Mama dem Boden Afrikas entrissen habt, seid ihr eine Verpflichtung eingegangen, und vor der könnt ihr euch jetzt nicht so einfach drücken. Ihr gehört zu mir.«

»Ich habe niemanden von irgendwo fortgerissen.« Dieses Thema waren wir schon oft durchgegangen, und Jitty genoss es jedes Mal aufs Neue. Ich war es gründlich leid.

»Die Sünden der Väter«, murmelte sie dunkel. Das war eine ihrer beliebteren dunklen Andeutungen.

Mit beiden von Kirschstücken und Teig bekleckerten Händen ergriff ich ein Messer und prüfte die Schärfe der Schneide, indem ich mit dem Daumen darüberstrich.

Jitty schnaubte. »Ganz gleich, wie sehr ich dich plage, mit ’nem Messer kannst du mir nichts anhaben. Ich bin schon tot.«

Ein stichhaltiges Argument, doch noch gab ich mich nicht geschlagen. Ich drehte das Messer um, sodass die Spitze auf meine Brust zeigte. »Was würde wohl mit dir geschehen, wenn mir etwas zustieße?«, fragte ich.

Ihre Augen, die mich immer an schwarze Johannisbeeren denken lassen, huschten unruhig hin und her. Endlich hatte ich sie erwischt. Ich bin die Letzte der Delaneys. Wenn ich sterbe, gibt es niemanden mehr, bei dem Jitty spuken könnte.

Sie schniefte. »Kann sein, dass ich dahin gehe, wo auch du hingehst – für alle Ewigkeit.« Sie ließ ihre albernen silbernen Armreife gegeneinander klirren. »Am besten heiratest du diesen Bankier, hast ein paar Kinder mit ihm und vererbst mich an die nächste Generation. So ist es Tradition.« Sie musterte mich finster. »Noch jede Delaney hat ihren Mann gekriegt, wenn sie sich erst einmal auf ihn versteift hat.« Sie schwenkte ihren knochigen Finger in meine Richtung und beschrieb eine langsame Bewegung von oben nach unten. »Sieh dich nur an. Du könntest umwerfend sein – du hast den Knochenbau der Delaneys und die Figur deiner Mama, aber du siehst fürchterlich aus, Mädchen. Läufst im schlabberigen Hauskleid deiner toten Tante herum, trägst kein Mieder und schminkst dich nicht. Und dabei hat LouLane doch so sehr versucht, dir alles darüber beizubringen, wie man sich kleidet und benimmt, nachdem deine Mama tot war. Für die Katz. Alles für die Katz. Kein Mann will ’ne Frau, die so tut, als wär sie ’ne Landstreicherin. Du stellst dich an, als hättest du dich schon aufgegeben, als würdest du dir nicht zutrauen, Harold Erkwell die Schlinge um den Hals zu legen.« Sie beugte sich zu mir vor. »Als hättest du Angst, es zu versuchen.«

Vor Wut verschlug es mir die Sprache. Schon die Vorstellung, dass Jitty meine Freiheit freudig und ohne zu zögern einer rein materiellen Sicherheit geopfert hätte, brachte mein Blut zum Wallen. Ausgerechnet Harold Erkwell! Doch Jittys Worten zufolge zählte die Aufopferung der Frauen ebenso zu den Traditionen der Delaneys wie die typischen Frauenbeschwerden.

»Du gehst mir auf die Nerven. Ich werde –«

Das feierliche Läuten der Türglocke unterbrach mich mitten in der Drohung.

»Eine deiner Freundinnen, eine von den reichen«, erklärte Jitty, die im trüben Licht des frühen Abends langsam verblasste. »Einen Butler bräuchten wir, jawohl.« Geisterhaft hohl hallte ihre Stimme in der Küche wider. »Deine Großmama wusste einen Butler noch zu schätzen. Diese Frau, die hatte Klasse, und damit hat sie ihre Unterleibsbeschwerden zum großen Teil ausgleichen können. Wenn sie außer deinem Vater noch andere Kinder gehabt hätte, dann wären ich und Dahlia House jetzt nicht in diesem Zustand.« Damit verschwand sie endgültig.

Während ich zur Haustür ging, wischte ich mir die Hände an einem Tuch sauber. Zwar hatte ich nicht die Absicht zu öffnen, aber ich war neugierig.

Meine Besucherin hämmerte gegen die alte Eichentür. Dem deutlich vernehmbaren Pochen entnahm ich, dass sie zierliche kleine Fäuste haben musste.

»Sarah Booth Delaney, mach auf der Stelle auf! Ich weiß genau, dass du zu Hause bist.« Die Forderung wurde von einem stakkatohaften Kläffen untermalt.

Ich schloss die Augen. Vor meiner Tür stand Tinkie Bellcase Richmond, eine der prominentesten ›Ladys‹ von Zinnia. Ihr sechs Unzen schwerer, unerträglicher Köter Chablis begleitete sie. »Sie könnte sich schon die Beinchen brechen, wenn sie nur vom Sofa springt« – so zierlich war dieses Hundeweibchen. Nach Tinkies Maßstäben stellte Zerbrechlichkeit eine positive Eigenschaft dar. Der Höhepunkt ihres Lebens hatte darin bestanden, dass der Arzt bei ihr Blutarmut diagnostizierte und ihr ein Vitaminpräparat verschrieb. Für Tinkie war das der Beweis gewesen, zu jener Sorte Frau zu gehören, die viel Aufmerksamkeit nötig hatte und besonderer Pflege bedurfte. Ich lehnte mich an die Tür und hoffte, dass sie es bald aufgab und fortging.

»Sarah Booth, vor mir kannst du dich nicht verstecken.« Ihr Hämmern wurde lauter, und der Staubmopp zu ihren Füßen jaulte ununterbrochen.

Mir blieb keine andere Wahl, als die Tür zu öffnen. Avery Bellcase, Tinkies Vater, saß im Vorstand der Bank von Zinnia. Vielleicht begutachtete er ausgerechnet in diesem Moment meinen letzten verzweifelten Kreditantrag. Da konnte ich es mir wirklich nicht leisten, dass Tinkie heulend nach Hause rannte und klagte, ich sei unhöflich zu ihr gewesen. In meinen Gesellschaftskreisen war es weitaus akzeptabler, bettelarm zu sein denn als unhöflich zu gelten.

Ich öffnete die Tür nur einen Spalt. »Hi, Tinkie.« Die tief stehende Sonne fing sich in den Strähnchen ihrer perfekten Frisur. »Hi, Chablis«, begrüßte ich das Hündchen, dessen Fell ebenfalls frisiert war.

»Wirst du uns irgendwann hineinbitten?«, erkundigte sich Tinkie. Die Missbilligung stand ihr deutlich ins makellos geschminkte Gesicht geschrieben.

»Ich habe gerade die Grippe hinter mir. Du solltest dich lieber nicht bei mir anstecken. Ich bin fürchterlich krank gewesen.« Geschickter konnte ich das Schlabberkleid und mein heruntergekommenes Äußeres kaum erklären und dabei gleichzeitig an Tinkies Ansicht appellieren, zu kränkeln sei ein ausgesprochener Beweis für Weiblichkeit.

Tinkie tat meine Bedenken mit einer Handbewegung ab. »Madame Tomeeka hat mir gerade geweissagt, dass ein dunkler Mann aus der Vergangenheit nach Zinnia zurückkehrt.« Sie schob sich durch die Tür. »Was soll ich jetzt bloß tun?«

Ihr Gesicht glühte vor Erregung. Ganz offensichtlich war dieser dunkle Typ aus der Vergangenheit erheblich aufregender als Oscar, ihr Ehemann. Allerdings hätte das auch jede Mumie von sich behaupten können. Oscar Richmond verfügte jedoch über Macht und Reichtum, zwei Dinge, die in Dahlia House sehr knapp bemessen waren.

»Ich brauche ein Glas Sherry und muss mich einfach hinsetzen.« Tinkie fächelte sich mit der Hand Luft zu, obwohl es in der Tür höchstens fünf Grad waren; im Haus war es noch kälter. Außer in der Küche und im Bad hatte ich die Heizung abgedreht, um die Stromrechnung zu senken.

»Tinkie«, sagte ich freundlich, »es passt mir nicht. Ich bin krank.«

Sie blickte mich an, und vorübergehend spiegelte sich Verwirrung in ihren blauen Augen. »Du musst unbedingt zum Make-up-Stand bei Dillard’s gehen und schauen, ob man dort nicht eine Grundierung findet, die deinen Teint etwas munterer wirken lässt. Vielleicht solltest du dir auch das Haar färben lassen.« Sie hob eine schlaffe Strähne. »Kastanienbraun wäre gut.« Als sie einen Klumpen Kuchenteig auf meiner Schulter entdeckte, kräuselte sie einen Mundwinkel.

»Der Sherry ist mir ausgegangen«, erklärte ich in der Hoffnung, ein Mangel an Erfrischungen könnte sie wenigstens bis auf die Veranda zurückdrängen.

Sie marschierte in den Salon. Dank der schweren Vorhänge war es an diesem verregneten, nasskalten Tag beinahe stockfinster. »Wenn Oscar davon erfährt, bringt er mich um.« Sie wandte sich mir zu, und ich sah, dass ihr die Tränen in den Augen standen. »Von allen Frauen, die ich kenne, bist du die einzige, die sich nicht von dunklem Verlangen und Hormonschüben steuern lässt. Sag mir, was ich wegen Ham unternehmen soll.«

Mit ›Ham‹ bezog sich Tinkie nicht etwa auf Schinken, den Hauptbestandteil der Südstaatenküche, und so schnell würde ich sie nicht wieder loswerden. »Ich mache uns einen Kaffee«, sagte ich und seufzte resigniert.

In der Küche stellte ich eben das Milchkännchen und die Zuckerdose, beides aus Silber, auf das Tablett, als auch schon der Kaffee durchgelaufen war und Jitty sich zu einem weiteren Auftritt entschied.

»Für den Fusselball würde sie ’ne Menge Geld zahlen«, sagte Jitty und nickte bekräftigend. »Cha-blis«, flüsterte sie verächtlich. »Welcher Mensch nennt denn seinen Hund nach einem Kerl in ’nem Buch, der sich anzieht wie ’ne Frau. Cha-blis.«

»Verschwinde«, entgegnete ich, obwohl ich wusste, dass Jitty mich ignorieren würde. Bewundernd betrachtete ich die elegante Gravur auf dem Silber. Seit über hundert Jahren war es im Familienbesitz. Schon bald würde es jemand anderem gehören.

Jitty klimperte mit ihren Armreifen direkt neben meinem Ohr. »Wenn die kleine Cha-blis heute Abend Gassi geht, dann schnappst du dir den Köter und bringst ihn her. Lass ein oder zwei Tage vergehen, dann rettest du Cha-blis, gibst ihn Frauchen zurück und kassierst ’ne dicke Belohnung.«

»Hinweg von mir, Satan.« Jitty zitierte sehr gern die Bibel, sofern es ihren Zwecken diente. Deshalb war ich auf meine Retourkutsche besonders stolz.

»Was glaubst du denn, was sie für den Köter bezahlen würde? Fünfhundert? Vielleicht sogar tausend? Vor allem wenn sie ’nen Erpresserbrief erhält, in dem steht, dass das Hundi sonst leiden würde?«

Ich schenkte den Kaffee in Mutters Tassen aus chinesischem Knochenporzellan und hob das Tablett an. Mit einem Hüftstoß öffnete ich die Küchentür und durchquerte das Esszimmer zum Salon, der früher mein Lieblingszimmer im ganzen Haus gewesen war. Hier hatte Mutter Klavier gespielt und Vater vor dem Kaminfeuer Zeitung gelesen, hier wurde der Christbaum geschmückt, und hier häuften sich die Weihnachtsgeschenke. Aber das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. Nun wirkte der Raum traurig und kalt. Als ich das Tablett auf dem Tisch absetzte, erhob sich Dampf von den Tassen.

»Mit wem hast du gerade gesprochen?«, fragte Tinkie. Chablis hockte auf dem Pferdehaarbezug des Sofas und hatte die Ohren in Richtung Küchentür gespitzt.

»Mit mir selbst. Eine schlechte Angewohnheit.«

»Du weißt ja, dass deine Großtante Elizabeth in Whitfield geendet ist. Und deine Tante LouLane war zwar solch ein Schatz, aber die vielen Katzen! Wie viele waren es doch gleich, fünfunddreißig, glaube ich, stimmt das? Eigentlich war sie die Tante deines Vaters, richtig? Die Leute hielten sie für ein bisschen seltsam, aber jeder hier hat gehofft, sie würde ein wenig guten Einfluss auf dich ausüben. Nicht dass deine Mutter nicht wunderbar gewesen wäre, sie war nur ... anders.« Sie blickte sich in dem Raum um, in dem ich schon lange nicht mehr Staub gewischt hatte. »Wie pflegte deine Mutter noch zu sagen? ›Gib was drum!‹ Das war ihr Schlachtruf.«

»Wer ist Ham?«, fragte ich, um sie vom Thema abzubringen, und warf einen kurzen Seitenblick auf Chablis. Das Hündchen passte in meine Innentasche.

»Ich sollte dir lieber nicht von ihm erzählen«, entgegnete Tinkie und biss sich auf die Lippe.

»Okay«, meinte ich achselzuckend. Rasch trank ich meinen Kaffee zur Hälfte aus. Es war kalt im Salon, und ich hatte Teekuchen zu backen.

»Er ist eine ganze Weile fort gewesen.« Sie schloss fest den Mund, dann saugte sie an der Unterlippe und stülpte sie schließlich wieder hervor. Ich vermochte mir sehr gut vorzustellen, wie dieser Anblick auf den geheimnisvollen Ham gewirkt haben musste. Tinkie war zwar nicht gerade eine Intelligenzbestie, doch über Schmollmündchen und Kulleraugen brauchte ihr niemand mehr etwas beizubringen.

»Aha, ein Mann aus deiner Vergangenheit!«, rief ich unbekümmert. Tinkies Tränen kamen völlig unerwartet. Ebenso unerwartet wie die kleinen Krallen, die über meine bloßen, vor Kälte zitternden Beine kratzten. Ich nahm das Hündchen auf, setzte es mir auf den Schoß und freute mich über das bisschen Wärme, das es erzeugte.

»Seit Jahren habe ich nicht mehr an Ham gedacht«, gestand Tinkie. »Aber Madame Tomeeka hat behauptet, dass er nach Zinnia zurückkehrt. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen und ins Gesicht zu sagen, dass ich Oscar geheiratet habe. Damals hat Ham gemeint, dass ich genau das tun würde, und so ist es auch gekommen. Aber nur weil Hamilton verschwunden ist. Plötzlich war er einfach ...« – sie zuckte mit den schmalen Schultern – »fort.«

Also hatte Tinkie leichtfertig mit der Liebe gespielt und letztendlich die finanzielle Absicherung geheiratet. Nun, so verlangte es die Tradition von den Frauen unserer Gesellschaftsschicht. Tinkie und ich waren zusammen in die Schule gegangen, hatten an Miss Nancys Kursen in Etikette und Kotillon teilgenommen und unter den Tribünen des Footballfelds der Highschool gelernt, Virginia-Slim-Zigaretten zu rauchen; dort übten wir auch das Küssen.

Im Grunde wussten wir voneinander, wie unser jeweiliges Leben verlaufen war. Wer zum Teufel also war dieser Ham?

»Vielleicht wäre es nützlich, wenn du mir mehr von ihm erzählen würdest«, schlug ich vor und zog Chablis dichter an mich. Das winzige Hündchen war wirklich wunderbar warm.

Mit leisem Klirren stellte Tinkie die Knochenporzellantasse auf der Untertasse ab. »Ich weiß, dass ich dich nicht schockieren kann, Sarah Booth«, sagte sie und wiederholte ihren Lippentrick. »Von allen Damen Zinnias bist du die erfahre... – welterfahrenste.«

Damit wollte sie sagen, dass allein ich den gesellschaftlichen Geboten für Delta Daddy’s Girls getrotzt hatte. Zwar war ich wie alle zur Ole Miss gegangen, doch hatte ich dort die Traditionen der Universität missachtet und war der festgefügten Struktur der Studentinnenverbindungen ausgewichen, obwohl diese einen grundlegenden Bestandteil der Eheanbahnungsmechanismen darstellten. Ich hatte mir meine Freunde außerhalb meiner Gesellschaftsklasse gesucht und mich dadurch zur Rebellin erklärt, zu einer Frau mit gefährlichen Neigungen – und vermutlich irgendwelchen schrecklichen Unterleibsbeschwerden, die meine Denkprozesse beeinträchtigten.

»Nun komm schon, raus mit der Sprache«, bedrängte ich Tinkie.

»Hamilton ist einer von den Garretts.« Noch im Sprechen hob sie das Kinn, und endlich wurde ich wieder daran erinnert, weshalb ich mich überhaupt je mit Tinkie angefreundet hatte. Hinter ihrer hysterischen Fassade gut verborgen besaß sie Rückgrat.

»Den Garretts von Knob Hill?« An diese Leute hatte ich schon viele Jahre nicht mehr gedacht.

»Ja«, gab sie zu und streckte das Kinn vor.

»Tinkie«, sagte ich leise. Die Garretts waren berüchtigt für alle Arten faulknerscher Laster – sie tranken, mordeten und steckten Scheunen in Brand; sie neigten zu Wahnsinn, Morbidität und verzehrender Eifersucht; sie frönten dem Inzest und anderen gefährlichen Vorlieben. Folglich unterschieden sie sich nicht wesentlich von anderen Familien unserer Kreise, aber die Garretts hatte man dabei ertappt. »Ich dachte, die Garretts wären bis zum letzten Mann nach Europa gezogen.« Die bevorzugte Zuflucht für zur Ausschweifung neigende Südstaatler ist Paris.

»Das stimmt auch.« Mit zitternder Hand setzte Tinkie die empfindliche Tasse auf dem Couchtisch ab. »Ham kommt gelegentlich in die Staaten zurück.« Sie blickte auf ihre Knie. »Knob Hill gehört ihnen noch immer, weißt du.«

Ich wusste gar nichts davon. Soweit es mich betraf, waren die Garretts mehr örtliche Legende als Wirklichkeit. Doch meine liebe Tinkie hatte sich offenbar einmal mit dem Kronprinzen des Südstaatenskandals eingelassen.

»Und nun kommt er wieder nach Hause.« Tinkies Stimme wurde allmählich lauter. Chablis kuschelte sich enger an meine Brust. »Und ich, ich bin hingegangen und habe Oscar geheiratet! Was soll ich ihm denn nur sagen?«

»Halte einfach den Mund, Tinkie.«

»Ich hätte niemals geglaubt, dass Ham je nach Zinnia zurückkehren würde«, flüsterte sie. Weitere kristallklare Tränen rannen ihr die perfekt geschminkten Wangen hinab.

»Bist du dir sicher, dass er nach Hause kommt? Hast du Nachricht von ihm?«

»Madame Tomeeka hat’s gesagt. Also wird es geschehen.«

Tinkie schaute mich gerade nicht an, also durfte ich den Blick flehentlich gen Himmel richten. Madame Tomeeka – das war eine lange Geschichte, eine, die ich nur zu gut kannte. »Ich würde mir nicht ins Hemd machen, bevor Hamilton die Main Street entlangmarschiert kommt«, sagte ich, erleichtert, dass Tinkies Problem lediglich in einem Fimmel für parapsychologische Vorhersagen bestand.

»Du glaubst nicht an Madame Tomeeka, oder?«, fragte sie.

Ich hatte Tomeeka alias Tammy Odom, wie sie amtlich hieß, recht gut gekannt, als wir noch zusammen zur Schule gingen. »Ich bin ein wenig skeptisch, was diese besondere Gabe anbelangt«, räumte ich so diplomatisch wie möglich ein.

»Sie hat immer Recht.« Tinkie besaß nun wenigstens wieder Farbe im Gesicht und atmete ruhiger.

»Nun gut, sie mag Recht haben, aber ich rate dir trotzdem, mach dir wegen Hamilton keine Gedanken, bevor er wirklich auftaucht. Bereite dir doch nicht selber mehr Sorgen als unbedingt erforderlich«, sagte ich. »Sie sprach von einem dunklen Mann. Sie hat niemanden beim Namen genannt.«

Tinkie erhob sich und nahm ihren Hund auf. »Mir geht es schon wieder viel besser, Sarah Booth. Wie wäre es, wenn wir uns im Club zum Lunch träfen? Wir vermissen dich alle.«

Einen Augenblick lang sah ich die alten Tage vor mir und hätte mich beinahe kraftlos ins Sofa zurücksinken lassen. Früher hatte ich mit meinem Kabriolett vergnügte Spritztouren unternommen und mit den anderen Mädchen im Club zu Mittag gegessen. Wir nannten uns Delta Daddy’s Girls – sozusagen Papas Töchter – und hatten alle die Tennisprofis beäugt und uns kichernd über unsere Aussichten unterhalten. Aber das lag nun gut fünfzehn Jahre zurück, und ich hatte schon zwölf Monate lang keinen Mitgliedsbeitrag mehr bezahlt.

»Lunch klingt ganz hervorragend, aber trotzdem, ein andermal.«

Sie musterte mich von Kopf bis Fuß. »Du musst unbedingt eine Typberatung machen. Süße, ich äußere mich gegenüber einer kreativen Person wie dir nur ungern kritisch, aber du siehst beschissen aus.«

»Vielen Dank, Tinkie«, sagte ich und brachte sie zur Tür.

Chablis blickte mich über ihre Schulter an und bellte mir zum Abschied einmal zu. Wenn ich je eine Einladung gehört hatte, dann jetzt.

2

»Lass ihn selbst dann nicht los, wenn er beißt«, ermahnte mich Jitty, die in der Tür schwebte, »’n kleiner Hund wie der kann gar nicht schlimm beißen. Mit den hässlichen kleinen Zähnen kommt er kaum durch das Fett.«

Sie hatte leicht reden; sie blieb zu Hause, wo die Teekuchen im warmen, trockenen Ofen buken. Ich hatte mir meine wärmste Jeans und mein wärmstes Flanellhemd angezogen. Ich schloss die Haustür hinter mir und trat in die Dunkelheit hinaus. Der strömende Nachmittagsregen hatte sich zu einem leichten Nieseln abgeschwächt, die ideale Atmosphäre für eine Frau von delaneyschem Blute. Ich steckte mein dunkles Haar fester unter den Schlapphut. Die Nacht eignete sich mehr zum Schäkern mit Männern als zum Entführen von Hunden. Während ich den Kragen meiner Lederjacke hochschlug, dachte ich an ein knisterndes Kaminfeuer, sprudelnden Champagner, spanische Gitarrenklänge als Hintergrundmusik und Robertos goldene Haut. Bei Delaney-Frauen war die Vergangenheit meist die bessere Zeit für romantische Abenteuer als die Zukunft.

In der Realität war Roberto fort, und Chablis wartete.

Den Mercedes Roadster in dem Wäldchen aus Weidenbäumen hinter dem Haus hatte der Schuldeintreiber übersehen. Ich schlug die Tarnplane beiseite und fuhr nach Hilltop.

Einem Fremden musste Zinnia als typische Kleinstadt im Mississippi-Delta erscheinen. Wo das wuchtige Gebäude der Bank von Zinnia den Ort am flachen Mutterboden verankerte, scharte sich eine Reihe von Geschäften beiderseits um die Main Street. Ich fuhr an Millies Café vorbei, am Clotheshorse, am Eisenwarenladen, am alten Zinnia Drugstore, am Postamt, an einem Ramschladen, ein paar verstreuten Friseur- und Kosmetiksalons, an Versicherungsbüros und Ähnlichem. Ich durchquerte das Zentrum von Zinnia und passierte wie ein Phantom die einzige Ampel im Ort, welche grünes Licht zeigte. Am Sweetheart Café hielt ich an und kaufte einen einfachen Hamburger ohne alles zum Mitnehmen.

So unscheinbar und langweilig Zinnia dem Besucher auch erscheinen mag, diese Kleinstadt repräsentiert meine persönliche Vergangenheit. Mein Leben ist unlösbar mit diesem Ort verbunden. Auf den Bürgersteigen und Straßen bin ich so oft gegangen, Seil gesprungen, Fahrrad und Auto gefahren, dass sie in meinem Gedächtnis die Wege zu den Erinnerungen bilden, welche mich ausmachen. Wohin soll ich gehen, wenn Dahlia House verkauft ist?

Weder für Furcht noch für langes Nachgrübeln war es der passende Zeitpunkt. Nach weniger als drei Minuten war Zinnia nur noch ein Bild im Rückspiegel. Hilltop lag wenige Meilen voraus.

Tinkies Zufahrt wand sich den Hügel hinauf zum Haus, wo aus allen Fenstern im Untergeschoss und dem Schlafzimmer im ersten Stock Licht schien. Die Richmonds sind kinderlos. In ihrem Haus leben nur Tinkie, Oscar und Chablis. Ich parkte auf einem Weg, der zum Fluss führt, und huschte zum Haus. Als ich noch dreißig Meter entfernt war, hockte ich mich in die Azaleenbüsche und wartete.

Um zehn Uhr wurde die Haustür geöffnet, und Chablis überquerte geziert den Rasen. Die Tür schloss sich wieder und schnitt Tinkies trällerndes Lachen ab. Aus ihrer Stimme war die Not, die sie früher am Tage beherrscht hatte, völlig verschwunden, und erneut erstaunten mich die Schliche einer verzweifelten Frau. Unvermittelt trat mir eine Szene aus einer Mathematikstunde in der siebten Klasse vor Augen, und ich erkannte den exakten Moment, in dem sich Tinkie, so wie sie heute war, auskristallisiert hatte – nämlich jenen Moment, als ihren Schlichen zum allerersten Mal bei einem anderen Mann als ihrem Vater Erfolg beschieden war. Der Mathematiklehrer hatte überhaupt keine Chance gehabt. In Tinkies großen blauen Augen hatten die Tränen geglänzt, dann hatte sie ihre kleine Schmolllippe vorgestülpt und alles mit einem Lachen der Selbstmissbilligung gekrönt. Sie hatte bestanden.

Alle Daddy’s Girls waren in den Techniken der Manipulation versiert, denn alle hatten sie auf Daddys Knien erlernt, mit mir als einziger Ausnahme. Meine Mutter glaubte an logische Argumentation und vernunftbasierte Auseinandersetzungen. Erst spät im Leben, nach dem Tod meiner Eltern, erhielt ich von Tante LouLane meine Lektionen in weiblicher Strategie und Taktik.

Uns allen, den privilegierten höheren Töchtern, war beigebracht worden, dass man die Härten des Lebens mithilfe einer einfachen Formel umschiffen konnte, und diese Formel lief im Grunde auf machiavellistische Manipulationen hinaus. Sexappeal stellte das am simpelsten anzuwendende Werkzeug dar, war jedoch bei weitem nicht das einzige.

Andererseits lauerte ich nicht in Tinkies Büschen, um über Tinkies Fertigkeiten zu philosophieren. Chablis war über die Auffahrt getänzelt, hatte ihr Geschäft verrichtet und befand sich bereits auf dem Rückweg zum Haus. Ich pfiff ihr leise hinterher. Zunächst zögerte sie, und ich überlegte schon, ob ich vorstürzen und sie packen sollte. Doch stand sie in einem Lichtfleck, der aus einem Fenster fiel, und sollte Tinkie ausgerechnet in diesem Augenblick die Haustür öffnen, hätte sie mich auf frischer Tat ertappt.

Ich pfiff erneut und warf Chablis ein Stückchen vom Hamburger hin. Keine zwanzig Sekunden später saß sie in der behaglichen Wärme meiner Innentasche und verschlang das Fleisch und das Brötchen.

Die Untat war verrichtet: Ich hatte einen Diebstahl begangen. Chablis kuschelte sich an mein schwarzes Herz, während ich durch die Dunkelheit entfloh.

Ich kehrte auf Nebenstraßen nach Hause zurück. Mit dem schlafenden Hund in der Jackentasche machte ich mir nicht die Mühe, den Wagen abzudecken. In dieser bitterkalten Nacht waren nicht einmal die Schuldeintreiber unterwegs. Ich hastete ums Haus und konnte noch immer nicht recht glauben, dass ich so tief gesunken sein sollte, Tinkie Bellcase Richmond das Schoßhündchen zu stehlen.

»Dich verwöhne ich nach Strich und Faden«, versprach ich Chablis auf der Hintertreppe. Ich war genau rechtzeitig zurückgekommen: Die Teekuchen mussten aus dem Ofen genommen werden. Ich fragte mich, ob jemals eine Delaney-Frau vor mir Diebstahl und Backen miteinander kombiniert hatte. Vermutlich nicht; mehrere Dinge gleichzeitig tun zu müssen gehört zu den Marotten meiner Generation.

Darauf, dass aus dem Spierstrauch neben den Treppen ein Mann hervortreten könnte, war ich nicht vorbereitet. Seine Hand schoss vor und packte mich am Arm. »Ich habe hier fast eine Stunde lang auf dich gewartet«, beschwerte er sich.

Nur die Befürchtung, dass Chablis bellen könnte, hielt mich davon ab aufzuschreien. Ich unterdrückte meinen Schreck und erwiderte gelassen: »Nun, Harold, ich konnte schließlich nicht davon ausgehen, dass du in meinem Garten umherschleichst.« Dann schüttelte ich seine Hand ab. Ich musste unbedingt ins Haus gelangen und die kleine Chablis loswerden, bevor sie ihre Anwesenheit kundtat. Harold arbeitete bei der Bank von Zinnia, Seite an Seite mit Tinkies Vater, und hätte den kleinen Hund auf der Stelle erkannt.

»Wo bist du gewesen?«, fragte er.

»Ich muss ... ins Bad.« Kein Gentleman vermochte diese Behauptung infrage zu stellen. Was im Bad vor sich ging, konnte niemals, keinesfalls zum Gegenstand einer Diskussion werden. Ich sagte Harold, er möge in der Küche auf mich warten, eilte die Treppe hinauf und brachte Chablis in mein Schlafzimmer. Jitty war selbstverständlich nicht da. Erst beredete sie mich, das Hündchen zu stehlen, und nun, da ich ihre Hilfe brauchte, machte sie sich rar.

Doch keine Zeit für gegenseitige Beschuldigungen. Harold Erkwell und die Teekuchen, hinsichtlich ihrer Intelligenz durchaus miteinander vergleichbar, erwarteten mich in der Küche. Vielleicht wäre es doch einfacher, überlegte ich, die Tradition fahren zu lassen und von Dahlia House Abschied zu nehmen.

Ich hastete die Treppe hinunter und betrat die Küche; wenigstens war es dort warm. Allzu große Hoffnungen wollte ich mir nicht machen, aber vielleicht kam Harold mit guten Neuigkeiten – zum Beispiel der, dass mein Kreditantrag bewilligt worden war. Ein Blick in sein Gesicht genügte, und ich wusste, was für eine Närrin ich war.

»Du bist ja ganz rot, Sarah Booth«, sagte er aus den Schatten neben der Spüle. Er besaß die leise, kultivierte Stimme eines Mannes, der noch niemals hatte brüllen müssen, damit man auf ihn hörte. »Darf ich zu hoffen wagen, dass du dich freust, mich zu sehen?«

Die Vornehmheit, die Harold an den Tag legte, kaschierte seine wahre Natur nur spärlich – er war und blieb ein Schmarotzer. Leider ein Schmarotzer mit Dollars. Als Hundediebin eignete ich mich im Übrigen ganz famos dazu, moralische Werturteile über meine Mitmenschen zu fällen. Harold trat einen Schritt vor, und ich musterte seinen tadellosen maßgeschneiderten Anzug und sein makellos gepflegtes Pfeffer-und-Salz-farbenes Haar. Er machte schon eine beeindruckende Figur.

Ich umging das Geplänkel und eröffnete die Treibjagd. »Ich habe Kopfschmerzen, Harold.« Das war nicht einmal gelogen. In meinem Schädel pochte es fürchterlich – der Widerhall meines Herzklopfens. Was Straftaten anging, war ich Novizin, und die Episode hatte in mir sowohl Besorgnis als auch ein sehr eigentümliches, prickelndes Hochgefühl aufwallen lassen.

»Die Bank wird deinen Kreditantrag zurückweisen.«

Die Neuigkeit traf mich zwar nicht unvorbereitet, andererseits war der Kredit meine allerletzte Hoffnung gewesen. Obwohl ich Chablis ›gedognappt‹ hatte, konnte jedes Lösegeld, das ich von Tinkie erpresste, bestenfalls einen Finger im undichten Damm bedeuten. Ich öffnete den Backofen und nahm die Teekuchen heraus.

»Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen«, fuhr Harold fort und kam an den Tisch. »Vielleicht.«

Sehr bedächtig schloss ich die Backofenklappe. »Das wäre sehr freundlich von dir, Harold.« Ich drehte mich zu ihm um. Auf gewissen Ebenen und zu gewissen Zeiten ist die Konversation noch immer eine Kunstform. Jahrzehntelang stellte sie die einzige Waffe dar, die einer Frau zu führen erlaubt war. Obwohl ich viele der Fertigkeiten, die Tante LouLane mir beizubringen versuchte, mit Geringschätzung betrachtete, habe ich mich im Falle der Verbalstrategien als Meisterschülerin entpuppt. Zwischen einem Mann und einer Frau herrscht ein bestimmtes Gleichgewicht, das unbedingt aufrechterhalten werden muss, nämlich der Anschein gegenseitiger Achtung.

»Morgen früh wird der Vorstand deinen Kreditantrag besprechen.«

Er hatte eisblaue Augen. Ihre Klarheit war ein wenig getrübt von wilden Spekulationen, die ihm im Kopf umhergingen, aber ihre Schärfe hatte nicht gelitten. Er musterte mich eingehend.

»Für alles, was du zu meinen Gunsten sagst, wäre ich dir sehr verbunden«, antwortete ich. Ach, der Tanz! Keine Haremsdame beherrschte ihn mit mehr Nuancen.

»Leicht wird es nicht sein«, entgegnete Harold langsam. Seine Pupillen verengten sich, während er die Wirkung seiner Worte auf mich abschätzte.

»Ich habe oft gehört, du seist ein Meister, was schwere Fälle betrifft«, erwiderte ich. Noch ein Volltreffer für mich.

Harolds Augen schrumpften auf die Größe von Nadelspitzen. »Ich weiß nicht, weshalb ich dich begehre, Sarah Booth, aber so ist es nun einmal.«

Er hatte die Grenze überschritten. Offenheit gehörte nicht in einen solchen Austausch. Ich hätte ihm sagen können, dass sein Verlangen allein dem Bedürfnis nach einer Herausforderung entsprang, denn Herausforderungen stellten sich Harold so selten, dass sie ihn grundsätzlich faszinierten. An Abweisungen war er nicht gewöhnt.

Zeit für einen Kurswechsel. »Sobald Dahlia House verkauft ist, verlasse ich Zinnia«, sagte ich.

»Wenn ich dem Vorstand gegenüber behaupten könnte, wir wären – verlobt, würde man deinen Kreditantrag vielleicht etwas wohlwollender betrachten. Dann hätte es den Anschein, dass dir jemand – den Rücken deckt.«

Kein Zweifel. Harold war gekommen, um seine Belohnung zu kassieren, und ob ich ihm dabei den Rücken zukehrte oder nicht, war Nebensache. Er wollte seine Belohnung im Voraus. Schließlich war er kein Dummkopf.

»Du kannst ihnen sagen, was immer du für richtig hältst«, erklärte ich.

»Ich könnte unmöglich den Vorstand belügen. Das wäre unethisch.«

Was er von mir verlangte, genügte auch nicht gerade den Zehn Geboten, aber davon ließ Harold sich nicht abschrecken. Mir blieb nur eins: auf Zeit zu spielen.

»Wenn sich die Entscheidung des Vorstands doch verschieben ließe«, sagte ich. »Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«

»Du denkst bereits seit Monaten nach.«

»Was spielt dann eine Woche noch für eine Rolle?«, fragte ich, und dabei stockte mir, ohne dass ich es zu künsteln brauchte, der Atem. »Solche Dinge sollte man nicht überstürzen. Es handelt sich schließlich um die Erfüllung der weiblichen Rolle in unserer Gesellschaft, Harold. Ich will mir sicher sein, mein ganzes ... Selbst hineinlegen zu können.«

»Du gibst mir zu Thanksgiving eine Antwort?«, fragte er.

»Eine Antwort für uns beide«, entgegnete ich und borgte mir Tinkies Unterlippentrick aus. Ihren Hund hatte ich schon gestohlen, welche Rolle spielte da noch ein Manierismus?

»Sarah Booth«, sagte Harold drängend und trat einen Schritt vor. Seine Augen klebten an meiner feuchten Lippe. Ich wiederholte den Trick mit solcher Kraft, dass sie mit deutlich vernehmbarem Geräusch aus meinem Mund schnalzte. Harold kam keuchend noch einen Schritt näher.

Ich reichte hinter mich, ergriff eins der heißen Teeküchlein und drückte es ihm in beide Hände. »Nimm das und denk an mich«, sagte ich.

Er jonglierte das heiße Backwerk.

Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen. »Ich kann diese Folter nicht mehr ertragen«, stöhnte ich. »Ich muss mich hinlegen.« Plötzlich war mir eingefallen, dass meine hochhackigen italienischen Schuhe noch neben dem Bett standen, und wenn Chablis ein normaler Hund war, drohte meinem letzten guten Paar Schuhe die völlige Vernichtung.

»Wir sehen uns an Thanksgiving«, sagte Harold, der noch immer den Kuchen von einer Hand in die andere schob.

Fluchtartig verließ ich die Küche. Sollte Harold allein hinausfinden. Während ich die Treppe erstieg, vernahm ich einen deutlichen Laut der Missbilligung.

»Halt den Mund«, warnte ich Jitty. Ich war nicht in Stimmung, mir ihr Urteil über die Küchenszene anzuhören.

»So schlimm ist er doch gar nicht«, sagte sie, während sie mir die Treppe hinauffolgte. »Schließlich bittet er dich doch nicht um deine Hand. Er möchte nur ein bisschen weibliche Gesellschaft. Einmal die Woche vielleicht. Oder höchstens zweimal. Wenn er den ganzen Tag hinterm Schreibtisch sitzt und sein Geld zählt, bringt er’s öfter nicht zustande.«

»Jitty!«, stieß ich hervor. »Es reicht!«

Ich öffnete die Schlafzimmertür und fand Chablis auf meinem Kissen hockend vor. Besser gesagt auf den spärlichen Überresten des Kissens. Eine letzte Feder segelte gerade zu Boden.

Jitty schielte um die Türecke. »Ich sag dir, schneid dem Köter ein Ohr ab und schick es Tinkie mit der ersten Lösegeldforderung. Dann weiß sie wenigstens, dass du’s ernst meinst.«

Ein letztes Mal überflog ich den Brief. Die Buchstaben hatte ich aus der Lokalzeitung ausgeschnitten, wobei ich Latexhandschuhe trug, und sie mit einer Heißklebepistole zusammengepappt. Es war schon erstaunlich; alles, was man zum Terrorisieren anderer benötigte, fand sich im örtlichen Eisenwarengeschäft.

»Wenn Sie Ihren Hund jemals lebend wiedersehen wollen, brauchen Sie $ 5000.« Ich legte ein paar Schnipsel von Chablis’ getöntem Haar hinzu, um jeden Zweifel auszuräumen, ob ich die Geisel wirklich hatte.

Fünftausend Dollar bedeuteten für mich eine Menge Geld, doch Tinkie hatte genug davon, um im Winter damit zu heizen. Fünftausend Dollar waren der Mindestbetrag, den ich aufbringen musste, um die Zwangsvollstreckung meiner Schulden aufzuschieben. Fünftausend Dollar konnten mir die Zeit erkaufen, die ich brauchte, um Dahlia House auf legalem Wege zu retten – eine Möglichkeit zu finden, meine im Augenblick noch intakten weiblichen Organe nicht zu gefährden.

Den Briefumschlag zu adressieren erwies sich als schwieriger, doch im Anzeigenteil fand ich genügend Buchstaben, die ich ausschnitt und zusammenklebte. Während Chablis gewürfeltes weißes Hähnchenfleisch von Swanson verdrückte, warf ich das Kuvert in den Briefkasten mitten in der Stadt. Tinkie würde ihn gegen elf Uhr erhalten. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, so wisse sie wenigstens, dass Chablis noch lebte.

Mir blieb keine Zeit, mich auf meinen Lorbeeren auszuruhen. Die nächste Nachricht musste vorbereitet werden. Sollte Tinkie sich gegen das Zahlen sträuben, so würde der zweite Brief sie davon kurieren.

3

»Wenn du so weitermachst und nicht mit dem Gehopse auf dem Plastikding aufhörst, ohne dass du ’n richtiges Mieder trägst, dann hängen dir die Brüste bald bis zum Bauchnabel runter.«

Ich würdigte Jitty keiner Antwort und machte der Videolehrerin die Tangoschritte nach, die sie auf der Aerobicbank vollführte. Aufmerksam betrachtete ich ihre Brüste. Sie waren groß, doch weder hüpften noch sprangen sie. Ihr Sport-BH war viel knapper als meiner. Selbstverständlich schwitzte sie auch nicht, und keine einzige Haarsträhne war woanders als dort, wo sie hingehörte. Vielleicht ist die Gentechnik viel älter, als wir alle glauben.

»Wozu willst du dir Muskeln antrainieren? Frauen müssen zierlich sein. Sie brauchen diese hässlichen Beulen nicht. Das ist was für Männer.« Jitty lachte unartig.

Ich ließ mich zu Boden fallen, um mir ein Zwei-Pfund-Gewicht ans Bein zu schnallen, und blickte sie an. Jitty flegelte sich auf dem Pferdehaarsofa, Chablis neben sich. Die kleine Hündin betrachtete mich mit einer Eindringlichkeit, die an Liebe grenzte. Wir hatten eine Bindung zueinander aufgebaut. Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Jitty, die heute Hotpants aus türkisem Manchester und eine weiße Satinbluse trug. Ich musste zugeben, dass sie für eine Zweihundertjährige gar nicht schlecht aussah.

Ein wenig hinter der Vorturnerin zurück beeilte ich mich, auf Hände und Knie zu kommen und mit jener Beinbewegung zu beginnen, die sehr an einen Hund erinnert, der sich eines Hydranten bedient. Chablis erkannte die Körpersprache und begann zu bellen.

»Wenn du Harold ein wenig Spaß haben lässt, erreichst du das Gleiche«, erklärte Jitty mir grummelnd. »Und gleichzeitig würdest du Dahlia House retten. Warum stöhnst, keuchst und schwitzt du den ganzen Boden voll, wenn es dir nichts einbringt? Mein Wort drauf, im Vergleich mit dir ist deine Großtante Elizabeth richtig vernünftig gewesen.«

»Ich stärke mich, damit ich hier ausziehen kann«, entgegnete ich müde und einzig von dem Wunsch beseelt, ihr einige Sticheleien heimzuzahlen. Plötzlich kläffte Chablis aufgeregt.

»Oje.« Jitty zeigte auf die Tür. »Du bekommst Gesellschaft. Versteck lieber den Hund.«

Ich nahm Chablis auf, und als es klingelte, hetzte ich bereits die Treppe nach oben. Kaum stand ich am Absatz, begann das Hämmern. Kleine zierliche Fäuste. Tinkie Bellcase Richmond stand wieder auf meiner Veranda. Ob sie am Ende herausbekommen hatte, dass Chablis bei mir war?

Auf dem Weg die Treppe hinunter stählte ich meine Nerven und blickte auf die Uhr. Es war halb zwölf. Tinkie hatte den Brief erhalten.

Tinkie war so sehr in Panik, dass sie weder meinen Aufzug noch den Schweiß bemerkte, der mir am ganzen Körper klebte. Heulend segelte sie durch die Tür herein. »Jemand hat Chablis gekidnappt!«

Meine spontane Reaktion bestand aus einem tiefen Schuldgefühl, das ich überwand und durch geheuchelte Besorgnis ersetzte.

»Ach du meine Güte, setz dich doch erst mal«, sagte ich und geleitete sie zu dem üppig gepolsterten Ohrensessel, dem Lieblingsplatz meiner Großmutter. Ich legte ihre Füße auf den Polsterschemel und reichte ihr einen Pappfächer aus O’Keefes Beerdigungsinstitut. Zwar war es in meinem Haus noch immer so kalt wie in einer Gruft, doch Tinkies Gesicht hatte einen hellrosa Farbton angenommen. Tränen nässten ihr Seidenjackett, und ganz kurz tat mir aufrichtig leid, was ich ihr angetan hatte.

»Oscar besteht darauf, dass wir kein Lösegeld zahlen. Er sagt, er ruft die Polizei.«

Meine Nerven erhielten nun ein wesentlich härteres Konditionstraining als mein Körper je durch das Video bekommen hatte. Meine Reue wurde von Furcht plattgewalzt wie mit einem Bulldozer. Zwar hatte ich mir mit dem Brief Mühe gegeben und war vorsichtig gewesen, aber selbst in Zinnia ist die Polizei erheblich raffinierter geworden, als sie es früher war.

»Von was für einem Brief sprichst du? Erzähl mir alles von Anfang an«, forderte ich sie auf. Ich erhaschte einen Blick auf Jitty, die am oberen Treppenabsatz saß und lauschte. Sie hob den Finger an die Lippen, um mich zu warnen. Für wie dämlich hielt sie mich? Als ob ich vorhätte, Tinkie zu verraten, dass uns das Gespenst beobachtete – ebenjenes Gespenst, das die Schandtat ausgeheckt und mich zu der Hundeentführung angestiftet hatte!

»Chablis ging gestern Abend nach draußen, um ... auszuscheiden, und verschwand. Die ganze Nacht habe ich mir schreckliche Sorgen gemacht, aber Oscar versicherte mir, sie hätte nur einen kleinen Hundefreund gefunden und käme heute wieder nach Hause.« Tinkie entglitten regelrecht die Gesichtszüge: Ihr Mund wurde schlaff, und die Stirn sank ihr auf die Wangenknochen. Ein Schluchzen entrang sich ihr. »Jemand ganz Gemeines und Böses und Grausames hat mir mein Baby gestohlen. Und sie wollen Geld.«

Ich räusperte mich. »Wie viel?«

»Fünftausend«, stieß Tinkie hervor.

Ich schluckte und musste mir größte Mühe geben, die Nerven nicht zu verlieren. »So viel Geld ist das nicht.«

Damit hatte ich genau das Falsche gesagt. Tinkie heulte wieder auf. »Oscar sagt, so viel würde er niemals für einen Hund bezahlen!«

Einmal, als ich am Flussufer im Wald spielte, trat ich in Treibsand. Das Gefühl zu versinken, langsam immer tiefer in den Schlamm zu sacken, gehört zu dem Schrecklichsten, dass ich je durchlitten habe. Nun hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis! Nur versank ich diesmal in meinem höchst privaten Sumpf aus schwärzester Verzweiflung. Oscar, der in seinem ganzen Leben noch keinen selbstständigen Gedanken gefasst hatte, kehrte wegen fünf Riesen den Geizhals heraus! So viel Geld warf der Kerl sonst für eine einzige Partie Golf mit seinen Kumpels aus dem Fenster!

»Oscar will nicht zahlen?«, krächzte ich.

»›Keinen roten Heller‹, sagt er.« Tinkie wandte mir ihr vom Weinen geschwollenes Gesicht zu. »Er sagt, er lasse sich nicht erpressen, und außerdem hasse er Chablis. Er sei hocherfreut, dass sie fort ist. Du musst mir einfach helfen.«

Das konnte nichts anderes sein als Karma; ich hatte es nicht besser verdient. Jede einzelne Sekunde meiner Qual musste ich mir selbst zuschreiben. Ich hatte meine Geldschwierigkeiten vor den Daddy’s Girls und so gut wie vor jedem anderen in Zinnia verborgen gehalten. Nun war Tinkie gekommen, um mich anzupumpen. Hochmut kommt vor dem Fall – und ich war pleite. »Tinkie, ich besitze keinen Penny mehr.«

Sie riss die Augen auf. »Ich will auch kein Geld«, entgegnete sie.

»Was dann?«

»Ich habe eigenes Geld. Ich bin kein kompletter Hohlkopf; ich weiß es besser, als mich der Willkür eines Mannes auszuliefern, deshalb habe ich ständig Geld auf mein Privatkonto geschoben. Geld ist überhaupt kein Problem.« Sie streckte die Hand aus und berührte mich am Knie. »Ich möchte dich bitten, die Geldübergabe zu übernehmen. Wenn sie mir die Anweisungen schicken, dann nimmst du bitte das Geld und rettest meine arme kleine Chablis. Du bist so mutig, Sarah Booth, du hast die vielen Jahre unverheiratet durchgehalten und lebst ganz allein hier in diesem großen alten Haus, du bewahrst dir deine Unabhängigkeit und alles. Du kannst so etwas. Ich würde einen Herzanfall bekommen und auf der Stelle sterben.«

Das Karma ist ein tückisches Biest. Aber irgendwo auf dem Weg musste ich mir eine Verschnaufpause verdient haben. »Natürlich tue ich das für dich, Tinkie«, sagte ich, langte hinüber und tätschelte ihr das Knie.

»Für Heuchler gibt es eine eigene Hölle.« Diesmal war es die Stimme meiner Mutter, die mich abkanzelte, dabei war sie kein Gespenst und sprach auch nicht aus dem Grabe. Diesen Satz hörte ich nur in meinem Kopf. Gewiss hatte ich mir die ewige Verdammnis an der heißesten Stelle des Hades verdient, indem ich meiner Freundin den Hund stahl und dann die beherzte, wagemutige Retterin in der Not spielte. Aber was zum Teufel sollte ich sonst tun? Fünf Riesen waren fünf Riesen, und weder Chablis noch Tinkie würden von meiner kleinen Intrige einen Dauerschaden davontragen.

Ich schlüpfte in meine ausgebleichte Jeans und die schwarze Lederjacke und steckte die Autoschlüssel ein. Den zweiten Brief hatte ich bereits geschickt und darin den Ort und die Bedingungen der Übergabe genannt; nachdem ich nun beide Hauptrollen in unserem kleinen Drama übernommen hatte, war beides wirklich nicht mehr sonderlich wichtig.

»Sei brav«, murmelte ich in die niedlichen kleinen Haarbüschel auf Chablis’ Köpfchen. Ich würde den verdammten Köter vermissen. Wie einsam ich in dem großen alten Haus war, hatte ich nie bemerkt, bevor die kleine Chablis mir Gesellschaft leistete. Ich würde darunter leiden, dass sie wieder fort war – vermutlich eine Art ausgleichende Gerechtigkeit.

Ich eilte aus dem Haus und fuhr zu Tinkie, um meine Beute in Empfang zu nehmen. Sie kam mir schon am Straßenende der Zufahrt entgegen. Wie in den Anweisungen gefordert, die ich geschrieben hatte, steckte das Geld in einer Papiertüte.

»Sorge dafür, dass sie ihr nichts zuleide tun.« Tinkie blinzelte Tränen fort.

Innerlich krümmte ich mich vor Schuldgefühl zusammen, trotzdem nahm ich das Geld an. »Ich lasse nicht zu, dass Chablis irgendetwas zustößt«, versprach ich.

Kurze Zeit später kutschierte ich unbehindert durch die Nacht davon. Ich fuhr nach Dahlia House, versteckte das Geld und holte das Hündchen.

Den ganzen Rückweg nach Hilltop drückte ich Chablis in meiner Jackentasche an mich und spürte den bevorstehenden Trennungsschmerz. Nie hätte ich damit gerechnet, dass der Flaumball nach nur zwei Nächten mein Herz erobern könnte. Vielleicht hatten meine katzentolle Tante LouLane und ich mehr gemeinsam, als ich zugeben wollte.

Meine Scheinwerfer beleuchteten Tinkies Auto – sie erwartete mich wie abgesprochen am Sweetheart Café. Genauer gesagt schritt sie neben ihrem Wagen unruhig auf und ab. Als sie meinen Roadster erblickte, leuchtete ihr Gesicht mit genügend Kilowatt auf, um einen Spannungsstoß durch ganz Zinnia zu jagen. Sie eilte mir entgegen, und als sie den Hund nicht sah, sank sie in sich zusammen – bis ich Chablis aus der Jacke zog.

»Mein Schätzchen!«

Ich bekam nicht einmal Gelegenheit, mich von Chablis zu verabschieden. Das Hündchen versank in Tinkies Armen, und ich blieb mit kaltem Bargeld und einer leeren Stelle in meinem Herzen zurück.

»Ich danke dir, Sarah Booth, ich danke dir so sehr«, sagte Tinkie und beugte sich zum Autofenster hinab. »Ich habe niemals jemanden gekannt, der so tapfer ist wie du. Du hast mir mein geliebtes kleines Baby zurück nach Hause gebracht.«

Beschämung ist ein ganz auserlesenes Gefühl. Ich blinzelte, damit mir nicht die Tränen aus den Augen liefen, was Tinkie als Mitgefühl auffasste. Sollte sie doch Geld und Sicherheit geheiratet haben und ihre Tage untätig mit Prassen und eitlem Klatsch verbringen, sie dachte noch immer das Beste von mir, wo ich es am wenigsten verdiente. Hätte ich das Geld dabeigehabt, so wäre ich versucht gewesen, es ihr zurückzugeben.

»Ich muss gehen«, sagte ich und brachte den Motor auf Touren.

»Warte noch einen Moment«, rief Tinkie und küsste Chablis auf den Kopf. Das Hündchen blickte mich an – verlangend, das kann ich beschwören –, und ich empfand einen weiteren, tiefergehenden Stich in meiner bereits wunden Brust.

»Tinkie, ich...«

»Während ich darauf wartete, dass du mir mein Baby nach Hause bringst, habe ich überlegt, ob du mir vielleicht in einer anderen Angelegenheit ebenfalls helfen könntest.«

Ich hatte genug von der Rolle der treu helfenden Freundin. Wenn ich ehrlich war, besaß ich noch längst nicht genügend Geld, um Dahlia House zu retten, aber es reichte aus, um fortzuziehen und woanders ein neues Leben zu beginnen. »Ich bezweifle, dass ich noch lange in Zinnia bleiben werde.«

»Hör mir nur zu«, sagte Tinkie und trommelte mit ihren rot lackierten Nägeln auf meine Autotür, während sie sich Chablis an den Busen drückte. »Du bist dafür genau die Richtige. Mit keiner anderen könnte ich offen darüber sprechen, du aber bist klug und vertrauenswürdig.«

Während sich meine Seele in Qualen wand, fuhr Tinkie fort:

»Ich habe nie genau erfahren, was genau hinter Hamiltons Familienproblemen gesteckt hat. Es gab so viele Gerüchte, so viel Tratsch.« Tinkie runzelte die Stirn. »Ich möchte die Wahrheit wissen.«

Die Tragödie der Garretts hatte sich kurz nach dem Tod meiner Eltern ereignet. Damals war ich wahrlich mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. »Ich erinnere mich nur sehr vage«, sagte ich. Man hatte die Garretts der für Südstaatler üblichen Verbrechen bezichtigt, was alles einschloss, das man einem Verwandten antun konnte, insbesondere aber Muttermord.

»Ich möchte dich engagieren, um die Wahrheit herauszufinden.«

Tinkies Eröffnung überraschte mich völlig. »Mich?«

»Du bist ideal dafür. Du kennst die Regeln unserer Klasse. Was immer du herausfindest, behältst du für dich. Und du scheinst ein Talent zu haben, schwierige Fälle zu lösen.« Wieder küsste sie das Hündchen. »Immerhin hast du Chablis heil und sicher zurückgebracht.«

»Was nutzt es dir, über Hamiltons Vergangenheit Bescheid zu wissen?«, fragte ich. »Du bist schließlich verheiratet.« Besonders schlüssig erschien dieses Argument nicht einmal mir selbst.

»Ich will einfach Gewissheit haben.« Tinkie holte tief Luft. »Alle haben wir den Gerüchten Glauben geschenkt und niemals erwogen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Nun, ich möchte die Wahrheit erfahren. Wenn Hamilton nach Hause kommt, möchte ich ihm in dem Wissen ins Gesicht blicken können, ob ich die richtige oder die falsche Entscheidung getroffen habe. Ich bin es so leid, dass mein Leben auf Vermutungen und Gerüchten basiert.«

»Tinkie?« Ich hob die Hand und wollte ihre Stirn befühlen. Vermutungen und Gerüchte waren die Leitlinien ihres Lebens – so war es bei allen Daddy’s Girls außer mir. Meine Leitlinien sahen erheblich hässlicher aus – sie hießen Diebstahl und Trickbetrug.

»Es ist mir ernst damit, Sarah Booth. Das kommt davon, dass Oscar nicht Chablis’ Lösegeld bezahlen wollte. Das war für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich habe diesen Hund nun einmal lieb. Und wenn Oscar mich lieben würde, dann hätte er mir das Geld gegeben. Ich bin erst dreiunddreißig. Wenn ich einen Fehler begangen habe, als ich mich von Hamilton abwandte, so ist es vielleicht noch nicht zu spät, um ihn zu korrigieren. Aber wenn er das alles wirklich auf dem Gewissen hat...« Sie verdrehte die Augen.

Mit dem, was sie über Hamilton und Oscar gesagt hatte, lag sie alles andere als falsch. Die Männer unserer Gesellschaftsschicht waren gewöhnt, alles selbst zu bestimmen und ihre Frauen mit den Konsequenzen im Stich zu lassen. Diese Konsequenz klang recht interessant.

»Du möchtest also, dass ich seine Familiengeheimnisse aufdecke?« Das klang nicht allzu schwierig. In jeder Familie gab es genug Leichen im Keller.

»Ganz genau.« Tinkie griff in die Tasche ihrer Wildlederjacke und zog einen Papierstreifen hervor, den sie mir in die Hand drückte.

Ich blickte auf einen Scheck über zehntausend Dollar.

»Ich erstatte dir alle Spesen, und wenn du die Wahrheit ans Licht bringst, zahle ich dir noch einmal zehntausend.«

Für Chablis hatte Tinkie in bar bezahlt, und nun blechte sie weitere zehn Riesen für Informationen, die ich mir dadurch verdienen konnte, dass ich ein paar Leute aufsuchte, die sich in der Stadtgeschichte auskannten. »Ich bekomme schon ein paar Antworten für dich heraus«, versprach ich.

»Die Wahrheit will ich wissen, Sarah Booth. Und beeil dich. Ich muss alles erfahren, bevor wir Weihnachten haben und Hamilton zurückkehrt. Madame Tomeeka konnte zwar nicht genau sagen, wann er anreist, aber ich bin mir sicher, dass er über die Feiertage kommt.«

4

In einer Kleinstadt hat man es nicht leicht, wenn man sich von den anderen Menschen unterscheidet. In gewisser Hinsicht aber eignet sich kein Ort so sehr zum Anderssein wie eine Kleinstadt, denn man weiß genau, wer ebenfalls anders ist. Aus diesem Grund kannte ich Cecily Dee Falcon, die Gesellschaftskolumnistin des Zinnia Dispatch, sehr gut.

Obwohl ich wegen meiner Schuldgefühle, die mich schlimmer plagten als tausend Nadeln in einem weichen Bett, schlecht geschlafen hatte, stand ich früh auf und zog mir ansprechende Wollslacks und eine Seidenbluse an. Die Zeitungsredaktion war mein dritter Halt an diesem Morgen; zuerst war ich zur Bank gefahren, um Tinkies Scheck einzulösen, welchen sie klugerweise auf das Konto ihrer Mutter ausgestellt hatte. Kaum war die Kohle eingezahlt, schlenderte ich die zwei Blocks weiter zu Cece. Auf dem Weg kaufte ich in der Bäckerei Kaffee und zwei Plunderteilchen. Cece stand auf Süßigkeiten.

Die Zeitungsredaktion war klein, überfüllt, unordentlich und so betriebsam wie ein Bienenstock. Niemand schenkte mir besondere Beachtung, als ich mich zwischen den Schreibtischen hindurchzwängte. Ceces Büro befand sich hinten, ihr gehörte das einzige abgeschlossene Büro. Die pikanten Details der örtlichen Gesellschaft erforderten mehr Abschirmung als die politischen Affären in Washington, D. C.

Ich klopfte an und trat ein; den Kaffee und die Teilchen hielt ich als Friedensangebot ausgestreckt vor mich.

»Sarah Booth«, quiekte Cece, stand auf und kam mir entgegen. Nach Küsschen auf die Wangen packte sie die Teilchentüte mit einer zierlichen Hand, der von bronzierten, zwei Zoll langen Fingernägeln besonderer Glanz verliehen wurde. Sie blickte hinein. »Käse-Sahne, meine Lieblingsfüllung.«

Der gezielte Einsatz des Gedächtnisses, um sich an Kleinigkeiten zu erinnern, stellt einen Zug feiner Lebensart dar, mit dem man es weit bringen kann.

Cece schloss mit einem Schwung ihrer schmalen Hüften die Tür, biss in das erste Teilchen und ging an den Schreibtisch zurück. »Was führt dich zur Presse?«

Ihre Frage klang beiläufig, aber ihre Augen verrieten das Gegenteil. Sie musste gehört haben, dass Dahlia House in Schwierigkeiten steckte, und obwohl sie meine Freundin war, war sie doch gleichzeitig auch Journalistin.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte ich.

»Willst du versuchen, Spenden zu sammeln?«

Keine schlechte Idee. Ich merkte sie mir für die Zukunft, falls sich Tinkies Auftrag nicht zu meiner Zufriedenheit entwickeln sollte. »Nein, eigentlich bin ich mehr an der Vergangenheit interessiert. Auf diskrete Weise natürlich.«

»Erzähl mir mehr davon, Liebes.« Widerstrebend legte sie das Teilchen auf eine Papierserviette, leckte sich die Finger ab und suchte nach einem Kugelschreiber.

»Wie du sicherlich weißt, ist Dahlia House in finanzieller Hinsicht ... etwas baufällig.« Das konnte ihr nicht neu sein, aber nun besaß ich ihre Aufmerksamkeit. Der Fall des Hauses Delaney würde im ganzen Delta für Schlagzeilen sorgen. »Ich habe beschlossen, ein Buch zu schreiben, um etwas Geld zu beschaffen.« Autorinnen waren ihre Schwäche.

»Was für ein Buch?«

»Nun, einen Roman.« Ich zog eine Schulter hoch. »Aber als Grundlage brauche ich einen guten, saftigen Skandal. Ich dachte an den Doppelmord des Ziegenmanns drüben in Natchez.«

»Nein, Liebes, das ist schon verwendet worden!« Cece brach sich ein Stückchen Plunderteilchen ab und warf es sich in den Mund. Sie hatte ein kräftiges weißes Gebiss.

»Was wäre mit der Crawford-Dreiecksgeschichte?«, schlug ich vor. »Sie hat mit beiden Brüdern geschlafen.«

Cece winkte ab. »Passé.«

»Ich brauche aber etwas Gehaltvolles. Etwas, das dem Leser einen Kitzel vermittelt.« Ich verstummte und runzelte angestrengt die Stirn.

»Wie wär’s mit den Nelsons?«, schlug sie vor. »Dein Daddy hat bei dem Fall den Vorsitz geführt, bevor ...«

»Keine Gerichtsthriller«, wehrte ich rasch ab. »Zu viel Konkurrenz in diesem Bundesstaat.«

»Hm-hm«, machte Cece, und ihr Gesicht leuchtete auf. »Denk mal an etwas Griechisches.«

Meine erste Reaktion bestand aus Enttäuschung. Griechisch implizierte, dass ihr Vorschlag irgendwie mit einer Studentenverbindung zusammenhing, die sich allesamt durch drei griechische Buchstaben benannten, und ich wollte mich keinesfalls mit irgendeiner einfältigen Verbindungssache abgeben. Cece sah es mir am Gesicht an.

»Etwas E-lek-tri-sierendes«, stocherte sie.

Mir traten eine Brennschere und versengtes Haar vor Augen, nicht gerade das, worauf ich abzielte. »Und ich dachte, du wolltest mir helfen«, murrte ich.

»Tragödie«, sagte sie.

»Was Tragisches ist immer gut«, stimmte ich ihr zu.

»Die Griechen sind die Meister der Tragödie gewesen, und jeder Autor, angefangen mit Shakespeare, hat bei ihnen die großen Themen abgekupfert.«

Cece hatte magna cum laude an der Ole Miss graduiert, mit Literatur und Journalistik im Hauptfach.

»Also jedenfalls etwas Griechisches«, nickte ich. Am liebsten hätte ich vor Ungeduld mit dem Fuß aufgestampft.

»Obwohl die großen Tragödien auf Tatsachen basieren, gründet sich ein Reißer, wie er dir vorschwebt, auf Mutmaßungen«, sagte sie ebenfalls nickend. »Auf Vermutungen.«

Genau dahin wollte ich. »Zum Beispiel?«

»Erinnerst du dich noch an die Garretts?«

Aha – Köder geschluckt, Falle zu! »Sitzen die nicht alle im Gefängnis?«, fragte ich höchst verwirrt. Ich hatte an der Ole Miss übrigens im Nebenfach Dramatik studiert.

»Ein sehr, sehr großes Haus namens Knob Hill. Landbesitz, Reichtum, heißes Blut. Mr. Garrett wurde beim Taubenschießen getötet. Ein Jagdunfall.« In ihrer Stimme lag ein spekulativer Unterton.

»Gab es da nicht einen Sohn in unserem Alter?«, stieß ich weiter vor.