Das Mädchen im Fluss - Carolyn Haines - E-Book

Das Mädchen im Fluss E-Book

Carolyn Haines

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Beschreibung

Ein fesselnder Blick in das dunkle Herz einer Kleinstadt am Mississippi!

Bis zu jenem heißen Sommertag war Drexel, Mississippi, ein friedliches Städtchen. Doch dann wird eine junge Weiße im Wald brutal überfallen und vergewaltigt, und ihre kleine Tochter verschwindet spurlos. Die schöne, dunkelhäutige Jade ist die Halbschwester des Opfers. Alle in Drexel wissen das, doch keiner spricht darüber. Als Jade sich mit dem weißen Sheriff Frank Kimble auf die Suche nach ihrer kleinen Nichte macht, stößt sie auf finstere Geheimnisse. Unter der Oberfläche der kleinen Stadt beginnt es zu brodeln ...

Mit diesem Roman zeigt Carolyn Haines die ernsthafte, dunkle Seite ihres Könnens - spannungsgeladene, leidenschaftliche Kriminalliteratur.

"Wie ein heißer Sommertag im tiefen Süden. Unmöglich, sich diesem Roman zu entziehen." New York Times

Weitere Südstaaten-Krimis von Carolyn Haines als eBook bei beTHRILLED: Am Ende dieses Sommers, Im Nebel eines neuen Morgens und Der Fluss des verlorenen Mondes.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 424

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

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Danksagung

Über dieses Buch

Ein fesselnder Blick in das dunkle Herz einer Kleinstadt am Mississippi!

Bis zu jenem heißen Sommertag war Drexel, Mississippi, ein friedliches Städtchen. Doch dann wird eine junge Weiße im Wald brutal überfallen und vergewaltigt, und ihre kleine Tochter verschwindet spurlos. Die schöne, dunkelhäutige Jade ist die Halbschwester des Opfers. Alle in Drexel wissen das, doch keiner spricht darüber. Als Jade sich mit dem weißen Sheriff Frank Kimble auf die Suche nach ihrer kleinen Nichte macht, stößt sie auf finstere Geheimnisse. Unter der Oberfläche der kleinen Stadt beginnt es zu brodeln ...

Über die Autorin

Carolyn Haines (*1953) ist eine amerikanische Bestsellerautorin. Neben den humorvollen Krimis um Privatermittlerin Sarah Booth Delaney hat die ehemalige Journalistin u.a. auch hochgelobte Südstaaten-Romane geschrieben, die auf sehr atmosphärische Weise die Mississippi-Gegend im letzten Jahrhundert porträtieren. Für ihr Werk wurde Haines mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Harper Lee Award. In Mississippi geboren, lebt die engagierte Tierschützerin heute mit ihren Pferden, Hunden und Katzen auf einer Farm im Süden Alabamas.

Homepage der Autorin: http://carolynhaines.com/.

C A R O L Y N    H A I N E S

DAS MÄDCHEN IM FLUSS

Aus dem amerikanischen Englisch von Karl-Heinz Ebnet

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Penumbra«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by Carolyn Haines

Published by arrangement with St.Martin’s Press, New York

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2008/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Claudia Alt

Lektorat: Daniela Thiele

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Dudarev Mikhail | schankz | metha1819 | Valeriy Boyxarskiy | Phant

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-5639-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für

Rebecca Barrett

und Jan Zimlich

1

Staubwolken wirbelten auf, als das schwarze Cadillac-Cabrio den Sandweg entlangraste. Der geschwungene Wagen verschwand hinter einer Ansammlung von dunklen Kiefern, die der Landschaft etwas unerklärlich Ödes verliehen. Neben dem Weg, auf einer von der gleißenden Sonne versengten Wiese, weidete ein altes Maultier; aus dem Schatten einer klapprigen Scheune ertönte das Muhen einer Kuh. Der Wagen, nicht mehr als eine flüchtige Erscheinung, jagte daran vorbei, nur sich setzender Staub und der Geruch von versengter Erde blieben zurück.

Hinter dem Steuer schob Marlena Bramlett die dunkle Sonnenbrille etwas höher. Ein weißer Schal schützte ihre Frisur, lediglich einige mit Haarspray befestigte Locken fielen ihr in die Stirn. Die Abnäher ihrer rot-weiß gestreiften Bluse betonten die schmale Taille. Ihr Profil erinnerte an die Gallionsfigur eines Schiffes.

Neben ihr auf der Mitte des Sitzes stand ein sechsjähriges Mädchen mit dem Gesicht im Fahrtwind, stürmisch flatterten seine braunen Zöpfe mit den weißen Schleifen an den Spitzen.

»Ich seh ihn!« Suzanna zeigte nach vorn. Ihre Kinderstimme überschlug sich vor Aufregung. »Er ist da. Er wartet auf uns.«

»Setz dich«, sagte Marlena. »Du benimmst dich ja wie eine Wilde.«

»Ob er Oliven hat?Die mit den roten Dingern in der Mitte?« Suzanna hüpfte auf dem Sitz auf und ab.

»Ich weiß es nicht.« Marlena strich sich mit dem Handrücken über die Stirn und glättete ihre blonden, erst vor einer halben Stunde so mühevoll hindrapierten Locken.

»Big Johnny wohnt am roten Weg, und er riecht nach Schokolade«, sagte Suzanna.

»Er schenkt dir Schokolade«, korrigierte Marlena sie. »Und er hält dich für ziemlich schlau. Aber das ist unser Geheimnis, vergiss das nicht. Wenn du es irgendjemandem verrätst, darfst du nicht mehr mit.« Schatten fielen über den Wagen, als sie in ein dichtes Kieferngehölz fuhren. Der Weg verengte sich, die Räder wühlten Sand auf.

»Ich werde nichts verraten.« Gekränkt sah Suzanna zu ihrer Mutter. »Ich erzähl nie was über dich.«

Marlena brachte den Wagen zum Stehen. Sie zog ihre Tochter an sich. »Ich weiß, dass du nichts erzählst. Du hast mich doch am meisten lieb.« Sie küsste Suzanna auf die Wange und wischte ihr den feinen Staub von der Haut. »Wenn ich dir nicht trauen könnte, würde ich dich nicht mitnehmen. Aber jetzt wollen wir uns doch mal vergewissern, ob wir auch gut aussehen.« Sie drehte den Rückspiegel zu sich und betrachtete ihren rubinroten Lippenstiftmund.

»Hält Big Johnny mich wirklich für schlau?« Suzanna drehte beide Zöpfe ineinander. »Er sagt, dass ich hübsch bin, genau wie du.«

»Tut er das?« Marlena sah zu dem Mann, der im Schatten seines Wagens kaum zu erkennen war. Langsam fuhr sie an den zweifarbigen Chevy heran und blieb parallel zu ihm stehen. Der Mann hinter dem Steuer war groß, er hatte schwarzes, mit Brylcreme nach hinten gekämmtes Haar, sein weißes Hemd stand am Kragen offen. Schlank und braun gebrannt lag die Hand an der Fensterscheibe; die Nägel waren sauber geschnitten, kein Ring. Rhythmisch trommelte er mit einem Finger gegen die Tür.

»Du kommst zu spät.«

»Ich konnte nicht weg. Lucas hat jemanden zum Essen mitgebracht.«

Suzanna spürte die Spannung zwischen den beiden Erwachsenen. Big Johnny war wütend, er wirkte erhitzt, innerlich wie äußerlich. Seine gebräunte Haut glänzte vor Schweiß, in seinen schwarzen Augen lag ein brennender Blick. Noch Tage danach war ihre Mutter völlig durcheinander, wenn sich Johnny ihr gegenüber wieder einmal scheußlich benommen hatte.

»Ich kann bis hundert zählen«, sagte Suzanna.

»Tut mir leid, dass es so spät geworden ist«, sagte Marlena. »Es ging nicht früher.«

»Wir haben Eistee dabei«, sagte Suzanna. Big Johnny liebte Eistee. Sie hielt den schweren Krug hoch. Zitronen trieben auf der Oberfläche, Eiswürfel schlugen gegen das Glas. »Ich hab auch Gläser. Und Mama hat mir Würmer ausgegraben.« Jetzt endlich hatte sie Big Johnnys Aufmerksamkeit.

»Du hast Würmer mitgebracht?« Er klang aufgesetzt fröhlich. »Würmer für Susie-Belle-Ring-o-ling?« Big Johnny stieg aus, auf den Lippen ein angestrengtes Lächeln. In der Hand hielt er einen Lederbeutel. Er ging zur Beifahrertür und stieg ein. Suzanna stand zwischen den beiden Erwachsenen auf dem Sitz, und plötzlich hatte sie das Gefühl, in der Falle zu stecken. Marlena legte den Gang ein und fuhr langsam los.

»Ich hab dich vermisst«, sagte Marlena. Sie hatte die Hände am Steuer, ihr Blick war auf den Weg gerichtet, der sich vor ihnen durch den Kiefernwald schlängelte. »Wo hast du gesteckt?«

»Oben in Mendenhall und Magee, Collins und Hattiesburg. Ich hab Lews Route übernehmen müssen, er hat mit Fieber im Bett gelegen. Ich hätte dich angerufen, aber das geht ja nicht.« Er klang verbittert. »Könnte ja sein, dass dein Mann rangeht.«

Marlena sah ihn an. Suzanna bemerkte ihren flehenden Blick. »Tut mir leid. So ist es nun mal.«

»Ich habe es satt, dass es so ist«, sagte Big Johnny leise. Er starrte vor sich hin.

Suzanna lehnte sich gegen den Sitz, an ihren Beinen spürte sie das aufgeheizte, verstaubte Leder. Sie mochte es nicht, wenn ihre Mutter und Big Johnny wütend aufeinander waren. Sie mochte es, wenn sie lachten und sich neckten, dann funkeltendie blauen Augen ihrer Mutter, und sie war wunderschön und fröhlich. Wenn sie wütend waren, wich alle Freude aus ihrer Mutter, bis nur noch die harte, kalte Schale ihres Körpers übrig blieb.

»Mama sagt, wir können heute angeln gehen«, sagte Suzanna. Meistens gefiel es Big Johnny, wenn sie angeln gingen.

»Ich hab keine Zeit.« Es klang wie eine Bestrafung.

»Bitte, Johnny.« Marlena wandte sich ihm zu. »Ich hab mir was einfallen lassen müssen, damit ich für drei Stunden wegkann. Es ist schwierig, überhaupt so viel Zeit aufzubringen.«

»Es kommt mir vor, als würde ich dich mieten. Pass auf, wo du hinfährst«, blaffte er.

»Sag so was nicht.«

»Ist aber so. Ich komme mir so billig vor.« Johnny zog eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Der Fahrtwind blies den Rauch fort. Er lachte schroff. »Ist das nicht das Beste? Ich komme mir billig vor. Ich will mehr, Marlena.«

Es folgte ein langes Schweigen, das Suzanna wütend machte. Sie hasste Big Johnny, und sie hasste ihren Vater. Einfaltspinsel, das waren sie. Das Wort hatte sie in der Schule aufgeschnappt, und sie war mächtig stolz darauf.

Schließlich brach Marlena das Schweigen. »Mehr kann ich dir nicht geben, Johnny, im Moment jedenfalls nicht. Wenn du willst, bring ich dich zum Wagen zurück.«

Suzanna beobachtete die Mundwinkel ihrer Mutter, die winzigen Kerben in ihren Lippen und ihrer Haut. Ihr Kinn zitterte. Gleich würde ihre Mutter zu weinen anfangen. Wütend ging Suzanna auf den Mann neben sich los. »Ich hasse dich!« Sie holte mit dem Fuß aus und trat ihn in die Rippen. Er gab einen seltsamen Laut von sich und sackte nach vorn.

»Suzanna!« Marlena stieg mit voller Wucht auf die Bremse. Der Cadillac geriet ins Schleudern und stellte sich quer, die Räder blockierten, gaben ein Kreischen von sich und schlitterten durch den Sand.

»Verdammt noch mal!« Johnny beugte sich über den Sitz, packte das Lenkrad und riss es herum. Der Wagen schlingerte, richtete sich aus und kam mitten auf dem Weg zum Stehen.»Du hättest uns alle umbringen können!« Mit einem Arm hielt er Suzanna, die sich oben an der Windschutzscheibe abstützte, an den Beinen umfasst. »Sie wäre fast aus dem Wagen geflogen, hätte ich sie nicht aufgefangen.«

»Es tut mir leid … es tut mir leid.« Marlenas Kopf fiel nach vorn auf das Lenkrad. »Ich weiß nicht, warum ich überhaupt am Leben bin«, sagte sie. »Ich will sterben.«

»Mama!« Suzanna wand sich aus dem Griff des Mannes. »Mama, schon gut. Nicht weinen.« Sie drückte sich an die Schulter ihrer Mutter und spürte erneut den Zorn auf den Mann neben sich. Finster sah sie ihn an. »Mach es wieder gut«, forderte sie.

Johnny stieg aus und ging um den Wagen herum zur Fahrerseite. Marlena rutschte hinüber und lehnte sich mit dem Gesicht gegen Suzanna.

Im Flüsterton sprang der Wagen an, dann fuhr Johnny los. Er sah nicht herüber, er sagte nichts, er legte nur den angewinkelten Arm auf die Tür und fuhr, während ihm der Wind den Schweiß auf der Stirn trocknete.

Noch bevor Johnny abbremste, erkannte Suzanna den im Schatten liegenden Holzweg, auf den sie abbiegen mussten. Ihr Lieblingsplatz zum Angeln. Der Weg, nicht mehr als zwei von zahlreichen Schlammlöchern durchzogene Fahrspuren, wand sich zum Fluss. Das langsam fließende braune Gewässer wies tiefe, von verfaulendem Laub verdunkelte Stellen auf, in deren Strudel sich Baumstämme verfingen, dazu verdammt, für immer dort zu bleiben. Es war warm genug, damit sie in die seichten Abschnitte waten konnte, wenn ihre Mutter sie ließ. Sie konnte nicht schwimmen. Keiner hatte bislang Zeit gefunden, es ihr beizubringen.

Als der Wagen angehalten hatte, schnappte sich Suzanna vom Rücksitz die Angelrute und die Dose mit den Würmern, die auf dem Boden stand. Sie hasste es, die Würmer an den Haken zu spießen, aber Big Johnny hatte ihr gezeigt, wie es ging, und er würde sich über sie lustig machen, wenn sie sich zickig anstellte. Mit der Rohrrute und der Dose schlenderte sie zum Flussufer.

»Wie hieß der Indianerstamm, der an diesem Fluss gelebt hat?«, fragte Johnny, während er seinen Beutel aus dem Wagen hob.

»Die Chickasawhay. Das waren Choctaw«, antwortete Suzanna, unfähig, ihre Aufregung zu verbergen, weil sie die Antwort wusste. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, brachte Big Johnny ihr etwas Neues bei, und das nächste Mal fragte er sie ab.Und immer wusste sie die Antwort. Es gefiel ihr, wie er dabei lächelte. »Mama, kann ich ins Wasser?«

Marlena ging ans Wasser. Etwa eineinhalb Meter vor dem Ufer lag knapp unter der trägen Oberfläche eine Sandbank. »Nicht weiter als bis zu dieser Sandbank«, sagte sie. »Und zieh deine Schwimmweste an.«

Suzanna stellte sich bockig. »Ich hasse die Schwimmweste. Sie stinkt. Und ich kann die Angel nicht richtig halten. Ich will nicht …«

»Dann setz dich ans Ufer.« Scharf unterbrach Johnny ihr Genörgel.

Sie war wie vom Donner gerührt. Big Johnny redete sonst nie so mit ihr. Normalerweise war es ihr Vater, der so zu ihr sprach. »Ich will heim«, sagte sie. Sie warf die Angel auf den Boden. »Ich will heim, sofort.«

»Liebes, du kannst bis zur Sandbank waten«, sagte Marlena. Sie warf Johnny einen Blick zu.

»Ich hab aber keine Schwimmweste an.« Suzanna forderte die beiden heraus.

»Gut, aber nicht weiter als bis zur Sandbank.« Marlena holte den Krug mit dem Tee und eine Decke. Johnny nahm den mit einem Tuch zugedeckten Picknickkorb, der im Fond des Wagens auf dem Boden stand. »Wir richten das Picknick her. Zu essen gibt es aber erst, wenn du drei Fische gefangen hast. Und vergiss nicht, erst rufen, bevor du kommst, okay?«

Suzanna nickte. Sie mochte es, wenn sie in Ruhe gelassen wurde und allein sein konnte. Sie setzte sich ans Ufer und zog ihre Keds aus, nagelneue Schuhe, bei denen der weiße Gummi entlang der Sohlen so gut wie makellos war. Sie hatten sie bei Marcel’s gekauft, dem einzigen Bekleidungsgeschäft in Drexel; ein besonderes Geschenk von ihrer Mutter, Schuhe, die sie noch den ganzen Sommer tragen konnte.

Sie hörte Johnnys tiefes Lachen und das Kreischen ihrer Mutter. Sie waren nicht mehr böse aufeinander. Sie wandte sich wieder dem Fluss zu. Sie würde eine Menge Brassen fangen, wenn sie erst einmal den Köder am Haken hatte.

Mit festem Griff zog sie einen sich ringelnden Wurm aus der Dose. Johnny hatte ihr gesagt, sie solle den Wurm mit einer Glasscherbein der Mitte durchschneiden, aber das wollte sie nicht. Dreimal spießte sie den Regenwurm auf den Haken und warf die Leine in die dunkle Stelle am Ufer. Der rot-weiße Korken trieb unter einen überhängenden Zweig, wo im dunklen Wasser die großen Fische hungrig ihre Kreise zogen. Blinzelnd, den Blick in die grellen Lichtspiegelungen auf dem Wasser gerichtet, wartete sie.

Dichte Dornbüsche, Hartriegel, Liguster und Heidelbeersträucher verbargen ihre Mutter, aber sie hörte deren leises Lachen und ihr wohliges Seufzen. Suzanna wusste, sie sollte sich fernhalten. Wenn sie störte, würde Big Johnny ihr die Geschenke nicht geben, die er in seinem Beutel mitgebracht hatte. Einmal hatte sie ihre Mutter gefragt, was sie da machten. »Ich habe schreckliche Schmerzen, genau hier«, hatte ihre Mutter geantwortet, ihre Hand genommen und sie sich zwischen die Brüste gelegt. »Manchmal, wenn Johnny die Stelle berührt, wird es besser.«

Seit dieser Zeit sorgte sich Suzanna, dass ihre Mutter sterben könnte. Manchmal hatte ihre Mutter im Wald wirklich Schwierigkeiten, Luft zu bekommen. Suzanna hatte sie gehört, mehr als einmal, wie sie schwer nach Luft rang und tiefe, kehlige Laute ausstieß, als hätte sie eine Gräte verschluckt.

Suzannas Korken hüpfte im Wasser, sie riss an der Leine und zog eine über zehn Zentimeter lange Brasse heraus. Der silbrige Fisch wand und krümmte sich am Haken, ein winziger Blutstropfen rann über die Schuppen am Kopf und versickerte zwischen den sich blähenden Kiemen.

Johnny hatte ihr beigebracht, den Fisch fest mit dem Schuh gegen den Boden zu drücken, damit die scharfen Rückenflossen sich nicht in ihre Hand bohren konnten. Jetzt aber packte sie den Fisch zwischen Daumen und Zeigefinger und löste den Haken aus der Knochenplatte unter den an einer Stelle aufgerissenen Lippen. Der Fisch öffnete und schloss das Maul und war kurz davor, den Überlebenskampf in der sauerstoffreichen Luft zu verlieren. Mit großem Schwung warf sie ihn in die Mitte des Flusses. Ihr war die Lust vergangen, sich das Essen zu angeln.

Sie steckte die Rute in den Boden, schlich über das verwitterte Laub der Eichen und Platanen, ging schließlich auf die Knie undkroch an die Heidelbeersträucher heran. Sie hatte versprochen, das nie, nie zu tun und es vor allen geheim zu halten, besonders vor ihrem Vater. Ihre Mutter und Big Johnny waren mittlerweile verstummt, nur ein langes Seufzen war noch zu hören, ein zufriedenes Ausatmen. Sie setzte sich auf den Knien auf und streckte die Hand in das dichte Blattwerk. Als sie die unteren Zweige zur Seite strich, sah sie ihre Mutter gegen einen Baumstamm gelehnt. Vor ihrem blassweißen Bauch und ihren hellen Oberschenkeln zeichnete sich dunkel Big Johnnys Kopf ab. Die großen Brüste ihrer Mutter standen direkt vor seinem Gesicht, und dann umschloss er eine Brustwarze mit dem Mund. Ihre Mutter warf den Kopf zurück, und ihr langer, weißer Hals kam zum Vorschein, auf den sie jeden Abend ihre Milchlotion auftrug.

»Mein Gott, tut das gut«, sagte Marlena.

»Ich zeig dir was noch Besseres«, sagte Johnny mit seltsam rauer Stimme. Er setzte sich auf und zog sie weiter zu sich auf die blaue Picknickdecke herab.

Suzanna entfuhr ein überraschter Laut.

Big Johnny hob den Kopf, mit zusammengekniffenen Kojotenaugen suchte er das Unterholz ab. »Wo ist das Mädchen?«, fragte er und richtete sich auf. Er trug noch seine Hose, nur das Hemd hatte er ausgezogen. »Wenn sie nicht am Ufer angelt, werde ich ihr den Hintern versohlen, was sie schon die letzten fünf Jahre verdient hätte.«

Suzanna kroch rückwärts aus den Sträuchern, rannte zum Fluss, packte ihre Angelrute und warf ihren köderlosen Haken aus. Der Korken platschte in dem Moment auf die Oberfläche, als es hinter ihr knackte.

Big Johnny sagte nichts. Suzanna spürte ihn hinter sich am Ufer, spürte, wie er hinter ihr aufragte. Reglos starrte sie auf das Wasser und musste daran denken, dass die Form der überschwemmten Sandbank der rundlichen Hüfte ihrer Mutter ähnelte.

Hinter ihr knackte ein weiterer Zweig. Ein unterdrückter Laut war zu hören, dann jemand, der das Ufer hinunterlief. Sie wollte sich umdrehen, wollte sich Big Johnny in den Weg stellen und ihm sagen, dass sie seineSüßigkeiten und Geschenke aus dem schwarzen Beutel nicht wollte. Dass sie ihrem Vater von den Angelausflügen erzählen und er es dann nie mehr wagen würde, ihr mit Prügel zu drohen. Trotzig fuhr sie herum, einer ihrer Zöpfe strich ihr über den Brustkorb. Sie wollte den Mund öffnen.

Eine Hand legte sich darauf, ein Griff, so fest, dass sie glaubte, ihr würde der Kiefer ausgerenkt. Eine weitere Hand packte sie an den Haaren und hob sie hoch. Ihr Schrei, halb aus Wut, halb aus Angst, wurde erstickt. Sie strampelte, wehrte sich gegen den Sack, der ihr über den Kopf gestülpt wurde, und als sie wegen des Mehlstaubs, der ihr in Augen, Mund und Nase drang, niesen und husten musste, hörte sie Gelächter.

»So eine wilde kleine Hexe«, sagte ein Mann. Sie kannte die Stimme nicht.

»Halt den Mund und bring sie her«, kam es von einem anderen Mann, den sie ebenfalls nicht kannte. Wo war Big Johnny? Wo war ihre Mutter?

Und dann wurde sie hochgehoben, ihr Rücken wurde gegen den Brustkorb des Mannes gedrückt, der sie festhielt. Sie kreischte auf, rief nach ihrer Mutter, aber ihre Schreie wurden von den brutalen Fingern des Mannes erstickt. Sie schlug wild um sich und rammte schließlich dem Mann so hart wie möglich die Ferse zwischen die Beine. Er krümmte sich vor Schmerzen, sein Griff lockerte sich nicht.

»Du kleine Schlampe«, fauchte er ihr ins Ohr.

Der andere lachte. »Bring sie zum Schweigen«, sagte er. »Wir wollen uns von dem Balg doch nicht die Überraschung verderben lassen.«

2

Jade Dupree stand allein in dem gefliesten Raum. Der menschliche Körper auf dem Tisch vor ihr war starr, leblos. Sie zögerte; ihr schwindelte vom Geruch der Verwesung sowie dem seltsamen, süßlichen Duft, den sie nie zuvor mit dem Tod in Verbindung gebracht hatte. Horace Bradshaw war tot, seine sterblichen Überreste warteten unter dem Tuch auf sie. Noch immer rührte sie sich nicht. Sie verschränkte die nackten Arme vor der Brust, am Rücken spannte sich ihr rosafarbenes, weiß gepunktetes Kleid; ein Hauch von Sommer in der Kühle des Balsamierraums.

Jade schloss die Augen und senkte den Kopf. Das Licht an der Decke brach sich in ihren dunklen, skandalös kurz geschnittenen Locken. Nach einer Weile trat sie vor. Hinter ihr schwankten leicht die mit farblosen Balsamierflüssigkeiten gefüllten Infusionsflaschen an den Ständern.

Ihre hochhackigen, makellos weißen Schuhe klackten auf den Fliesen, während sie zum Porzellantisch ging. Es würde schlimm werden. Sie hatte das Gerede gehört. Kobe war in den Schönheitssalon gestürmt und hatte ihr gesagt, sie solle kommen, »sofort, Mr. Lavallette braucht dich. Auf der Stelle. Ein Notfall«. Sie hatte Mrs. Moss, die Lockenwickler noch im grauen Haar, unter der großen Trockenhaube sitzen lassen.

Mit dem Versprechen, in zwanzig Minuten zurück zu sein, war sie die vier Straßenzügezum Rideout-Bestattungsinstitut gelaufen. Den ganzen Nachmittag über hatte die Tragödie in der Luft gelegen. Sie hatte es in der Dauerwellenlösung für Betty Johnson gerochen und in der Färbung, die sie Letty Wells ins kastanienbraune Haar massiert hatte. Sie hatte es gespürt, als sie hinter ihrem Salon die gewaschenen Handtücher auf die Leine hängte. Und jetzt lag er vor ihr. Der Tod. Es war niemals einfach, selbst wenn er herbeigesehnt worden war, immer blieben Schäden zurück. Sie wollte sich den Leichnam nicht ansehen. Der Geruch allein reichte, um zu wissen, dass ein Wunder vonnöten wäre, sollte der Tote wieder vorzeigbar werden.

Mit beiden Händen zog sie das Tuch zurück und enthüllte die Überreste von Horace Bradshaw. Sie ließ den Blick über ihn wandern. Mehrere Ameisen krochen aus dem linken Nasenloch. Oder dem, was davon noch übrig war. Jetzt erkannte sie auch den Geruch. Sie hatte ihn im Sommer auf Billy Dees Kuhweide aufgeschnappt. Es war der Geruch der Lumpen, die Billy Dee an Bäumen befestigt hatte, damit die Kühe darunter durchlaufen und die Fliegen abtöten konnten, die sie quälten. Ein Insektizid. Junior Clements, der County-Coroner, musste die Leiche mit so etwas besprüht haben, um die Ameisen zu verscheuchen.

Sie wischte die Insekten weg und begutachtete das Ausmaß der Schäden. Die Augen fehlten, die geschwollenen Lider waren in den Schädel gesunken. Auch die weichen Lippen waren weggefressen, unter der zum Teil ebenfalls zerstörten Nase zeigten sich gelbe Zähne. Was von Haut und Fleisch noch übrig war, war fleckig und aufgedunsen. Selbst die Schädeldecke, erkennbar unter dem dünnen grauen Haar, war angefressen. Sie hatte die Gerüchte gehört. Mr. Bradshaw habe den Verstand verloren, er sei, nur mit Boxershorts bekleidet, zu den Nachbarn seiner Tochter gelaufen, habe sich unschicklich berührt und obszöne Sachen geschrien. Manchmal werden die Alten verschroben. Das gehört zum Kreislauf des Lebens. Das Alter ändert jeden, auch Bankiers.

Jade hörte, wie die Tür aufging. Sie sah auf. Statt des erwarteten Elwood Lavallette, ihres Auftraggebers, stand Junior Clements vor ihr. Ihr Blick fiel auf seine Hände. Sie waren wie immer mit Pusteln bedeckt,grindig und verschorft, ein Spiegelbild seiner Seele. Sie hatte damit zu kämpfen, ihren Abscheu zu verbergen. Sie bemühte sich, Junior aus dem Weg zu gehen, vor allem, wenn sie allein war.

»Mr. Elwood sagt, die Familie will einen offenen Sarg.«

Jade hörte ihren eigenen, langsamen Atem, als sie das Tuch wieder über den Toten breitete und ihn vor Juniors neugierigem Blick verbarg. »Verstehe.«

Junior schloss die Tür hinter sich und kam näher. Der Insektizidgeruch war plötzlich kaum mehr auszuhalten. Jade rückte vom Tisch weg.

»Die Leute erzählen, du sprichst mit den Toten«, kam es von Junior. Wenn er redete, bildete sich ein dünner Speichelfaden zwischen seinen Lippen. »Die Leute erzählen, die Toten kommen nachts hierher, um dir zu helfen. Stimmt das?«

Jade richtete den Blick zu Boden. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, vor Männern wie Junior keine Gefühle zu zeigen. Ihr Abscheu ihnen gegenüber löste bei solchen Männern nur Angst und Grausamkeit aus. »Die Toten verlassen diese Welt nicht immer sofort«, sagte sie. »Manchmal treiben sie sich noch ein bisschen herum. Wenn ihnen was auf dem Herzen liegt.«

»Willst du mir einen Schrecken einjagen?«, fragte Junior wütend.

»Ich nicht«, sagte Jade. »Nein, Sir.«

»Scheiße«, sagte Junior. »Ich hab keine Angst vor Toten.« Mit drei langen Schritten war er am Tisch und zog mit seinen räudigen Händen das Tuch zurück. »Schau dir bloß diese Sauerei an. Der arme Kerl, hat mindestens drei Tage im Ameisenhügel gelegen. Hat sich die Hüfte gebrochen, hat also nicht aufstehen können. Und jetzt plärrt die Familie, ›der arme Daddy, der arme Daddy‹. Scheiß auf den armen Daddy. Wahrscheinlich haben sie Angst, wegen grober Fahrlässigkeit angezeigt zu werden.« Sein Blick wanderte zu ihren Brüsten. »Wie willst du es anstellen, damit er im Sarg wieder wie ein Mensch aussieht?«

Jade antwortete nicht. Sie wandte sich ab. »Ich brauche Murmeln. Wachs. Kalkteig.« Sie würde sich mit dem Leichnam beschäftigen, wenn sie ihre Arbeit im Schönheitssalon beendet hatte und ihre Kunden gegangen waren. »Am besten wäre es, wenn wir einen Hut bekommen könnten.« Die roten offenen Stellen am Kopf waren unter dem dünnen grauen Haar deutlich zu sehen. »Und Handschuhe. Was er nach Meinung der Familie getragen haben könnte. Oder wir verdecken die Hände miteinem Blumengesteck.« Sie hielt den Blick gesenkt. »Können Sie Mr. Lavallette sagen, dass ich diese Dinge brauche?« Wenn Junior einen Auftrag hatte, der ihm eine gewisse Wichtigkeit verlieh, würde er gehen.

»Klar. Werd ich ihm ausrichten.« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Du wartest hier.«

Sie sah nicht auf. »Mr. Clements, vergessen Sie nicht: Die Toten können sehen. Sie sehen und sie wissen alles. Sie erinnern sich.« Sie hob den Kopf, ihre grünen Augen leuchteten. »Und manchmal kommen sie zurück und statten jemandem einen Besuch ab, wenn sie meinen, es gibt noch eine Rechnung zu begleichen.«

Junior verschwand durch die Tür. Jade lächelte, als sie daraufhin selbst in den Gang trat. Junior würde sie an diesem Tag nicht mehr belästigen. In ein, zwei Tagen würde sich seine Angst wieder legen, aber im Moment hatte sie Ruhe vor ihm. Sie musste zum Schönheitssalon, sie musste sich um ihre Kunden kümmern und davor noch mit Mr.Lavallette reden und ihm versichern, dass sie am Abend wiederkommen und für den Toten alles in ihrer Macht Stehende tun würde.

Der Gang vor dem Balsamierraum führte zu einer großen Holztür. Sie öffnete sie einen Spaltbreit und lauschte. Die meisten im Jebediah County wussten, dass sie es war, die die Toten herrichtete. Manche verlangten ausdrücklich nach ihr und erhofften sich, sie würde mit ihren Fertigkeiten die Jahre zurückdrehen, sie würde an den geliebten Verstorbenen die Spuren der Krankheit oder des Todes abmildern. Es gab aber auch andere, solche, denen es nicht recht war, dass eine Negerin ihre Toten berührte. Mr.Elwood war gut zu ihr, sie wollte ihm keine Probleme bereiten. Menschen waren manchmal ziemlich abergläubisch, wenn es um die Toten ging.

Im vorderen Empfangszimmer hörte sie Stimmen. Den leisen, sanften Tonfall von Elwood Lavallette. Sie verstand seine Worte nicht, aber sie wusste, was er sagte, sie hatte es so oft gehört. Die Sprache der Erlösung. Es war Elwood Lavallettes Aufgabe, jenen zu helfen, die am diesseitigen Ufer des Flusses Jordan zurückblieben, damit sie von denen lassen konnten, die auf die andere Seite übergesetzt hatten.

Auf Zehenspitzen lief sie über den Holzboden zum teuren burgunderrot- und goldfarbenen Wollläufer,der ihre Schritte dämpfte. Sie würde Elwood später anrufen. Sie musste zum Schönheitssalon. Doch dann hörte sie das Geräusch einer verrosteten, mit Gewalt aufgerissenen Gittertür. Und eine Stimme, die durch die gesamte Tonleiter fiel, bevor sie sich in einer menschlichen Stimmlage wiederfand und schließlich zu einem Schluchzen wurde.

»Daddy!«, kreischte die Frau. »Daddy! Wo ist mein Daddy!« Ein Stuhl wurde umgeworfen.

»Miss Cora, Sie können ihn nicht sehen, nicht so.« Elwoods Stimme klang tröstend, freundlich.

»Ich muss ihn sehen. Junior hat mir erzählt, er ist von Ameisen zerfressen worden!« Die Stimme überschlug sich, zitterte, zersprang. »Von Ameisen! Mein Daddy hat in einem Ameisenhügel gelegen, Mr. Lavallette. Er ist inmitten von Feuerameisen gestorben.«

»Miss Cora, so dürfen Sie sich nicht an Ihren Daddy erinnern. Denken Sie an die Zeit, als Sie den nagelneuen Ford bekommen haben. Erinnern Sie sich noch? Ich habe Sie durch die Stadt fahren sehen wie eine Königin auf einer Parade. Ihr Lächeln war so strahlend, dass ich davon fast geblendet wurde. Ihr Daddy war so stolz, als er Ihnen den Wagen geschenkt hat.«

Die Totenklage der Frau verebbte. Jade trat in eines der Besucherzimmer. Mr. Lavallette und die Frau befanden sich zwischen ihr und der Tür. Sie zögerte. Sie wollte nicht in die Trauer der Frau einbrechen.

»Sie waren doch mit Duke Farley zusammen, oder? Ja, richtig.« Elwoods Stimme, ihr auf- und absteigender Singsang, beschwichtigte die Frau. »Duke war so ein aufgeweckter Junge. Ich hab gehört, er macht sich wirklich gut oben in Canton.«

»Wer wird Daddy für den Sarg herrichten?« Schluchzend, stockend kam die Frage. »Ich will, dass er aussieht wie früher. Wie damals, als er noch nicht den Verstand verloren hatte.«

»Miss Dupree ist schon bei ihm«, sagte Elwood. »Sie ist die Beste im ganzen Südosten. Beruhigen Sie sich, Miss Cora, wir kümmern uns darum.«

Jade hörte Stühlerücken. Mr. Elwood hieß Cora im vorderen Empfangszimmer Platz nehmen. Jade wollte sich bereits zurückziehen, als erneut Cora zu hören war. »Jade kann ihn wieder herrichten. Dieses Nigger-Mädel vollbringt Wunder. Wenn sie in New Orleans oder einer anderen großen Stadt leben würde, wäre sie reich.«

Die Worte ließen Jade an Ort und Stelle verharren. Sie lebte nicht in einer Großstadt. Sie lebte in Drexel, Mississippi, einer Kleinstadt an einer Kreuzung im Herzen einer kiefernbestandenen Ödnis. Ihr Leben war eine armselige Behausung, lediglich von dem zusammengehalten, was alles möglich sein könnte. Wenn sie in einer Großstadt geboren wäre, könnte sie als eine Weiße durchgehen. Wenn sie in eine Großstadt ziehen würde, könnte sie als weiße Frau mit dunklem Haar und Augen in der Farbe von kostbarster Jade ganz von vorn anfangen. Wenn der Mann ihrer Mutter der Gemeinde nicht einen Schweigepakt aufgenötigt hätte, wäre sie jetzt die rechtlich anerkannte Erbin eines forstwirtschaftlichen Vermögens, eines Vermögens, das am Spieltisch verwettet worden war. Wenn Frösche Flügel hätten, würden sie mit dem Arsch nicht über den Boden rutschen. »Wenn« war ein kleines Wort, dem die Macht der Zerstörung innewohnte. »Wenn nur« waren zwei Wörter, die einen zugrunde richten konnten.

Jade wollte raus, sie musste sich bewegen und Cora Bradshaw und was sie über ihr Leben gesagt hatte hinter sich lassen. Junior hielt sich höchstwahrscheinlich bei der Rampe an der Rückseite des Bestattungsinstituts auf, wo die Toten hereingerollt wurden. Mr. Elwood befand sich am Vordereingang. Blieb also nur der Seiteneingang. Dort gelang es ihr, durch die Tür unter dem Säulenvorbau zu schlüpfen, wo der Leichenwagen während des Trauergottesdienstes parkte. Üppig mit Blüten und Blättern bestandene Trompetenwinden sorgten dafür, dass der Vorbau in dichtem Schatten lag. Ein Dutzend der orangefarbenen Blüten waren auf die Muschelkalk-Anfahrt gefallen. Jade wich ihnen aus. Wie sehr sie doch Blutflecken glichen.

Sie trat aus dem Schatten in die Augusthitze. Der Salon lag lediglich vier Straßenzüge entfernt. Da ihr Wagen in der Gasse von einigen Kunden eingeparkt war, hatte sie zu Fuß gehen müssen. Jetzt, in der nachmittäglichen Schwüle, würden es vier lange Straßenzüge werden. Die Stunde zwischen drei und vier Uhr war die heißeste des Tages.

Zu spät bemerkte sie beim Überqueren des Parkplatzes, dass sie mit den Absätzen im aufgeweichten Teer einsank. Die Schuhe waren teuer, ihr bestes Paar. Kurz überlegte sie, ob sie barfuß gehen sollte, aber wenn sie dabei gesehen wurde, würden sich alle nur wieder den Mund zerreißen. Die Leute würden sich nur in ihrer Ansicht bestätigt fühlen, dass sie trotz ihres weißen Aussehens nur eine verkleidete Feldarbeiterin war. Ein Tropfen Negerblut reichte aus, damit man zum Nigger wurde. Wie ein Storch stand sie auf dem Parkplatz, als der Wagen des Sheriffs einbog.

Sheriff Huey Jones fuhr an ihr vorüber, als wäre sie gar nicht vorhanden. Nur Deputy Frank Kimble auf dem Beifahrersitz drehte sich um und sah ihr nach. Sie zog einen ihrer Absätze heraus und setzte sich in Bewegung. Hinter ihr wurden zwei Autotüren zugeknallt.

»Miss Dupree, warten Sie!«, rief Frank.

Sie drehte sich um und sah den Sheriff die Backsteinstufen hocheilen und gleich darauf im kühlen Schatten des Bestattungsinstituts verschwinden. Frank kam auf sie zu und bot ihr den Arm an. Er hatte dichtes, schwarzes Haar, sein Blick war voller Unruhe.

Jade zögerte, hakte sich bei ihm unter und ließ sich von ihm über den Teer führen. Seine Füße waren so groß, dass kaum die Gefahr des Einsinkens bestand. Am Rand des Anwesens drehte sie sich ihm lächelnd zu. »Danke, Mr. Frank.« Kurz ging ihr die Frage durch den Kopf, warum er nach Drexel zurückgekehrt war. Während des Krieges war er als Fallschirmjäger bei einem geheimen Einsatz in Deutschland in Gefangenschaft geraten. Die Frauen im Schönheitssalon hatten über ihn geredet, vor allem die jüngeren. Sie sagten, er würde von Träumen verfolgt, die Toten würden ihm erscheinen, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Jade, Sorgenfalten in seinen Mundwinkeln zu erkennen.

»Keine Ursache, Miss Dupree. Bitte nennen Sie mich Frank.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn Sie noch etwas warten können, fahr ich Sie zurück. Der Sheriff wird mir den Streifenwagen überlassen.«

Sie war überrascht, dass er sie wie eine Weiße behandelte. »Nennen Sie mich Jade«, sagte sie. »Was ist los?« Der Sheriff, der es so eilig gehabt hatte, ins Haus zu kommen, hatte ihre Neugier geweckt.

Frank sah an ihr vorbei. »Ich will Sienicht beunruhigen, aber Mr. Bramlett hat den Sheriff gerufen, weil seine Frau vermisst wird. Und das kleine Mädchen.«

Jade glaubte, man habe ihr ein Stück Draht ins Rückgrat gestoßen. »Marlena wird vermisst?«

Frank nickte. »Tut mir leid. Ich weiß, dass Sie… dass Sie sich nahestehen. Lucas sagt, Marlena sei mit dem Kind nach dem Mittagessen weggefahren. Sie wollte zur Kirche, um Kleidung für die Armen auszusortieren. Aber da ist sie nie aufgetaucht. Sie ist nirgends zu finden.« Er fasste sie am Ellbogen. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte Jade. In ihrem Kopf schwirrte es wie in einem Wespennest. Marlena hatte sie zwar nie ins Vertrauen gezogen, aber es sah ihr ganz und gar nicht ähnlich, dass sie ihrem Mann nicht sagte, wohin sie wollte.

»Haben Sie irgendeine Ahnung, wohin Marlena gefahren sein könnte?« Frank starrte ihr in die Augen, als könnte er dort die Antwort ablesen.

Jade zögerte. Etwas lag in seiner Frage. »Ich weiß es nicht.«

»Sie passen manchmal auf das Mädchen auf. Man sagt, sie sei ein schwieriges Kind.«

Viel zu deutlich spürte sie seine Hand auf ihrer Haut. Sie dachte an die Sechsjährige und ihre Zöpfe, die so lang waren, dass sie sich daraufsetzen konnte. Die Leute im Ort hielten sie für ein verzogenes Gör. Das war sie auch, aber Jade hatte eine besondere Beziehung zu ihr. »Die Leute in Drexel reden viel. Suzanna ist nicht so schlimm, man muss sie nur vernünftig behandeln.«

»Sie mögen sie«, sagte Frank.

Jade sagte nichts. Wenn es um Marlena und Suzanna Bramlett ging, legte sie jedes Wort auf die Goldwaage. Ihre Zuneigung ging nur sie selbst etwas an.

»Marlenas Wagen wird ebenfalls vermisst.« Erneut wischte sich Frank über die Stirn. »Vielleicht hat sie eine Freundin besucht oder eine lange Spazierfahrt unternommen.«

»Bestimmt«, erwiderte Jade, obwohl sie es keinen Augenblick lang glaubte. Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Sie hatte Brandgeruch in der Nase. Ein schlechtes Omen.

»Mit Ihnen ist wirklich alles in Ordnung?« Frank legte ihr die andere Hand auf den Rücken, um sie zu stützen.

Sie hatte es gewusst. Eine Tragödie hatte über der Stadt gelegen. Unheil. Nicht das von Horace Bradshaw, sondern etwas anderes, viel Schlimmeres. »Ich muss zum Laden«, sagte sie. Die Trockenhaube fiel ihr wieder ein und Mrs.Moss’ Locken, die mittlerweile kraus und knusprig und verbrannt sein mussten. Sie löste sich aus seinem Griff und eilte davon, besorgt um ihre Halbschwester und ihre Nichte und beunruhigt wegen Frank Kimble und den Fragen, die er nicht gestellt hatte.

3

Die untergehende Sonne fiel auf den zweifarbigen Chevy, dessen metallisch rotes Glitzern sich wie eine Blutlache über den Sandweg ergoss. Der Wagen stand am Wegrand. Die beiden Männer daneben zeichneten sich als schwarze Silhouetten vor dem westlichen Horizont ab. Frank Kimble hörte den Sheriff brummen, als er mit dem Streifenwagen am Wegrand anhielt, fast so, als wollte er den Chevy blockieren, falls dieser von allein beschließen sollte, die Flucht zu ergreifen.

»Sieht aus wie ein Bild aus der Hölle«, sagte Huey. Seine Nackenwülste wölbten sich über den Hemdkragen. Er spie Kautabak aus dem Seitenfenster. »Dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben.«

Frank sah zu, wie sich der Sheriff aus dem Wagen wuchtete, erneut ausspuckte und den nach unten gerutschten Revolvergürtel samt Hose halb über den Hintern nach oben zog. Durch die Windschutzscheibe erkannte er die beiden Männer, die neben dem verlassenen Wagen standen. Junior Clements und Pet Wilkinson. Juniors staubbedeckter Pick-up lief noch klopfend im Leerlauf. Er musste mit Höchstgeschwindigkeit hierher gerast sein, damit er später behaupten konnte, als Erster am Tatort gewesen zu sein. Tatort? Ein verlassener Wagen? Frank ließ den Blick über die beiden Männer schweifen, stieg aus und folgte dem Sheriff.

Neben Junior stand Pet, die Hand auf der Pistole im Halfter. Auch einer, der sich gern aufspielte.Er besaß keinerlei Amtsgewalt und damit keine offizielle Befugnis, eine Waffe zu tragen, er hatte aber auch kein Vorstrafenregister, das es ihm untersagt hätte. Als Frank die Waffe betrachtete und Pets dreckige Finger, die auf den quer gefaserten Griff klopften, spürte er ein Ziehen zwischen den Schultern.

»Irgendwas im Wagen?«, fragte der Sheriff Junior und fasste zum Türgriff.

Frank schob sich vor den Sheriff. »Vielleicht sollten wir erst sehen, ob es Fingerabdrücke gibt«, schlug er vor. Huey war ein von der Gemeinde gewählter Polizist ohne jede Ausbildung. Die Fingerabdrücke dürften vermutlich wertlos sein. Junior und Pet hatten höchstwahrscheinlich jeden Zentimeter des Wagens begrapscht und alles an sich genommen, was irgendwie von Wert sein konnte. An jedem Tatort, an dem sie auftauchten, fehlten später ein paar Sachen. Frank verstand nicht, warum Junior immer wieder zum Coroner gewählt wurde, obwohl alle wussten, dass er ein kleiner mieser Dieb war. In der Stadt lästerte man, er würde den Leichen, die er zum Bestattungsinstitut brachte, die Goldfüllungen klauen.

»Überprüf das Kennzeichen«, sagte der Sheriff. »Es stammt aus dem Forrest County. Der alte Eubanks sagt, der Wagen steht schon seit Mittag hier rum. Er hat nicht gesehen, wer drin war. Er meint nur, als er hier vorbeikam, um einen Blick auf seine Bohnen zu werfen, war der Wagen noch nicht da gewesen. Aber auf dem Rückweg, da war er da und keiner zu sehen.«

Frank ging zum Streifenwagen zurück und griff sich das Funkgerät. Er gab Kennzeichen und Autotyp der Dienststelle durch, damit sie von dort aus im Forrest County nachfragen konnten. Das würde etwas dauern, aber wenn das Kennzeichen dort wirklich registriert war, würden sie wissen, wem der Wagen gehörte. Es war nur so ein Gefühl, aber Frank glaubte, der Wagen stünde irgendwie mit dem Verschwinden von Marlena Bramlett und ihrer Tochter in Zusammenhang. Er konnte nicht sagen, warum, aber er hatte gelernt, seiner Intuition zu vertrauen. Nur deshalb war er noch am Leben.

»Sieht so aus, als würden hinten ein paar Sachen hängen.« Huey deutete auf einen Anzug und fünf saubere weiße Hemden, die an Bügeln an einer Metallstange aufgehängt waren.

»Ja, Sir.« Frank nickte. Huey war ein Meister des Offensichtlichen. Für Frank erzählten die Kleidungsstücke etwas über den Fahrer des Wagens. Er war männlich und verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch Reisen. Er hatte einen Beruf, in dem er sauber und adrett aussehen musste. Wahrscheinlich eine Art Handelsvertreter.

Ein weiterer Wagen war zu hören, der über den quer gerillten Weg holperte. Frank erkannte den großen Lincoln. Lucas Bramletts Ankunft überraschte ihn nicht. Huey informierte Lucas über jeden Schritt, den er unternahm. Die Haltung der Männer um ihn herum veränderte sich. Huey trat vor und wartete, dass der Wagen anhielt und der große Fahrer hinter dem Lenkrad ausstieg. Roter Staub wirbelte an den Beinen seines schwarzen Anzugs und seiner polierten schwarzen Budapester Schuhe auf.

»Wir überprüfen ihn, Mr. Bramlett«, sagte Huey.

»Ist meine Frau hier?« Bramlett sah sich um. Mit seinem scharfen Blick nahm er sofort alles in Besitz.

»Nein, Sir, so weit wir sehen können, nicht.« Huey lockerte den Kragen. »Wir werden sie finden, Lucas. Sie haben mein Wort darauf.«

»Sie meinen, sie ist hier irgendwo?«, fragte Mr. Bramlett. Für Frank klang es beinahe so, als wüsste Bramlett besser als die anderen Anwesenden, wo sie sich aufhalten könnte.

»Wir überprüfen nur diesen verlassenen Wagen. Ich bin mir sicher, Marlena geht es gut«, erwiderte Huey, während ein aufmunterndes Grinsen seine Hängebacken zum Schwabbeln brachte. »Wahrscheinlich hat sie einfach nur eine große Runde gedreht, vielleicht hat’s ein Problem mit dem Wagen gegeben oder so. Wir werden von ihr hören.«

»Der Wagen ist neu«, erwiderte Bramlett.

Huey verstummte. Er sah zu Frank. »Such nach Hinweisen«, befahl er ihm.

Seit zwei Jahren war Frank jetzt wieder in Drexel. Als er sich zur Armee gemeldet hatte und zur Fallschirmjägerausbildung nach Fort Benning, Georgia, gegangen war, hatte er gedacht, er würde nie wieder zurückkehren. Er war mit seinem von einem alten Gürtel zusammengehaltenen Koffer in den Bus gestiegenund nach Norden gefahren und hatte sich während der gesamten langen Busfahrt durch Mississippi und Alabama kein einziges Mal umgedreht. Er hatte nur nach vorn geblickt. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er die sanft geschwungenen Bergzüge der Smokey Mountains gesehen, die bläulichen Nebel, die über ihnen lagen und von denen sie ihren Namen hatten. Er hatte andere verrückte Kerle getroffen, Farmerjungen aus anderen Kleinstädten genau wie Drexel. Er war hart und zäh geworden und hatte gelernt zu töten. Er hatte nach der Detonation einer Mörsergranate die Überreste seiner Freunde aus Schützenlöchern und Gräben geklaubt. In Paris hatte er Mädchen geküsst, die froh gewesen waren, noch am Leben zu sein. Das alles hatte er getan, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, zu den schwülen Sommern in Mississippi zurückzukehren. Dennoch war er jetzt wieder hier, entlassen aus einem Krankenhaus, wo man ihm gesagt hatte, er sei von Verletzungen geheilt, die außer ihm niemand sehen würde.

»Frank!«

Er drehte sich zum Sheriff um.

»Mr. Bramlett sagt, seine Frau hat eine rot-weiße Bluse getragen und eine weiße Freizeithose.«

Er fragte sich, was er mit diesen Informationen anstellen sollte. »Gut.«

»Dazu Riemchensandalen.«

»Gut«, sagte Frank, weil es keine andere Erwiderung gab. »Ich werde mal den Weg runtergehen«, sagte er. Er verfolgte kein richtiges Ziel, er wollte nur fort von diesen Männern, die sich so geschäftig um Bramlett scharten, dass sie ganz vergessen hatten, warum sie sich bei Sonnenuntergang auf diesem selten befahrenen Weg eingefunden hatten.

Der Sand wies Vertiefungen auf, ausgetretene Spuren, in denen sich das schräg einfallende Licht fing, aber der Untergrund war zu weich, um brauchbare Abdrücke zu bewahren. Er folgte über eine halbe Meile weit den Spuren, immer am Straßengraben entlang, sah schließlich, wo sie vom Weg abbogen und zwischen den dicht stehenden Kiefern verschwanden.

Sein Nacken kribbelte, als würde ihn jemand anhauchen.Er schluckte und trat in den Wald. Dunkelheit umfing ihn, ein kühles Versprechen. Tiefer hinein, zwischen den schwarzen Stämmen hindurch, die sich deutlich im einfallenden goldenen Licht abzeichneten. Seine Schritte wurden von der dichten Schicht der Kiefernnadeln verschluckt. Früher, vor langer Zeit, war das Land mit Laubbäumen bewachsen gewesen. Die Bäume waren gefällt und die Flüsse hinabgeflößt worden. Kiefern, die nicht wie Eichen hundert, sondern nur dreißig Jahre brauchten, um ihre volle Größe zu erreichen, waren stattdessen gepflanzt worden. Er musste an die Säge denken, die an seiner hinteren Veranda gehangen hatte. Die Schrotsäge seines Großvaters Gustav, die er in jungen Jahren mit seinem Bruder Alfred benutzt hatte.

In Gedanken noch immer bei der Säge, entdeckte er etwas, was wie eine weiße Taube aussah. Im trüben Licht näherte er sich dem Vogel, der über dem Boden schwebte, sich leicht hin und her bewegte und ein tiefes Gurren von sich gab.

Eindringlich starrte er darauf, bis er erkannte, dass es kein Vogel war. Sondern ein Fuß. Er rannte durch das Unterholz. Dann hörte er das Stöhnen. Er richtete sich auf und erkannte ihren Körper, die weiße Hüfte, die sich auf dem Kiefernnadelbett erhob, die langen Beine, Brüste, die sacht in dem Hals und Oberkörper bedeckenden Blut hin und her schwangen.

Sie lebte.

Marlena Bramletts Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die geschwollenen Augen waren geschlossen, die Haut, um ihren Mund herum aufgeplatzt, färbte sich purpurn.

»Marlena«, sagte er und kniete sich neben sie. Mit den Händen strich er über ihre kühle Haut. Sie hatte an beiden Brüsten Schnitte und war vom Brustbein bis zum Becken aufgeschlitzt. Die Wunde schien nicht lebensbedrohlich, aber ihr gesamter Körper war blutüberströmt. Blut bedeckte auch Beine und Oberschenkel, aber es war nicht zu erkennen, woher es stammte.

»Marlena«, wiederholte er.

»Nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. Ihre blonden Locken waren mit Erde und Blut verschmiert.

Er hob sie auf. Sie wehrte sich kurz, ließ es dann bleiben,ihr Kopf hing nach unten, während er sie aus dem Wald trug.

Er ging zum Weg zurück, vorsichtig setzte er unter der Last der Frau seine Schritte. Die Männer auf dem Weg drehten sich zu ihm um, einer nach dem anderen. Frank ignorierte Huey und Junior und Pet. Sein Blick war auf Lucas Bramlett gerichtet. Selbst als er so nah war, dass Bramlett seine Frau erkannte, rührte dieser sich nicht.

»Großer Gott«, stieß Huey hervor. Er eilte zum Streifenwagen und orderte über die Dienststelle einen Krankenwagen.

Noch immer hatte Frank Marlena auf den Armen. Junior und Pet starrten sie an, verschlangen ihren nackten Körper mit den Augen.

»Hinten im Streifenwagen liegt eine alte Decke«, sagte Frank. »Holen Sie sie.« Er sagte es Lucas, aber es war Pet, der zur Decke davonsprang, Pet, der sie über die bewusstlose Frau in Franks Armen breitete, deren Beine und Arme schlaff nach unten hingen, während langsam das Blut in den trockenen Sand auf dem Weg tropfte.

4

Das alte Kimble-Haus war einst die Sehenswürdigkeit von Drexel gewesen. Alfred und Gustav Kimble, zwei Brüder, die vor der wirtschaftlichen Not des unter russischer Herrschaft stehenden Finnlands emigriert waren, hatten mit ihren eigenen Händen ein Haus gebaut, wie es wunderlicher nicht sein konnte und das im völligen Gegensatz zu ihrer tiefen Ernsthaftigkeit und ihrem Zwang stand, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu arbeiten. Wie alles, was die Brüder angingen, hatten sie auch das Haus gemeinsam errichtet. Ihrem Plan zufolge wollten sie heiraten und die beiden Bräute in das Haus führen, das mit Türmchen und allerlei Schnickschnack verziert war sowie mit goldfarben bemalten Schindeln, die in der Morgensonne glitzerten. Zur Unterhaltung ihrer Frauen zimmerten sie versteckte Treppen und eine Bibliothek, die sie mit Biografien und Werken der Klassiker und der Dichtkunst ausstatteten. Die große Küche beherbergte zwei Herde, zwei Spülen und Schränke, geräumig genug für das Geschirr zweier Köchinnen. Die Brüder planten und werkten, nahmen dazu die eigenhändig geschlagenen Stämme und verwendeten ausschließlich das Kernholz. Bis das Haus fertig war, waren die Brüder weit in den Vierzigern. Sie waren ansehnliche Männer, groß und aufrecht von Gestalt und Gesinnung. Als sie zu heiraten beschlossen, wollten sie es ebenfalls gemeinsam tun. Alfred fand als Erster eine Braut, ein schwermütiges Mädchen mit Augen in der Farbe eines Winterhimmels. Sie hieß Anna. Die Braut, die Gustav fand, hätte nicht gegensätzlicher sein können. Greta war groß und blond und voller Fröhlichkeit. Sie hielten eine Doppelhochzeit ab, und die Brüder vermählten sich inmitten von roten Rosen und weißen Lilien, Blumen, die die beiden Bräute symbolisierten.

In den ersten fünf Jahren war das Kimble-Haus ein Hort der Lebensart in der Stadt. Dann wurde Greta schwanger. Gerüchte kamen auf, wonach Anna vor Eifersucht den Verstand verloren habe. Bald darauf wirkte Alfreds Gattin ungepflegt, ihre dunklen, glänzenden Haare, sonst immer kunstvoll aufgesteckt, hingen ihr ungewaschen über die Schultern.

Greta gewöhnte sich an, bereits frühmorgens das Haus zu verlassen, in die Stadt zu gehen und einzukaufen und Freundinnen zu besuchen. Sie sagte, sie fürchte sich vor ihrer Schwägerin, fürchte sich, im Haus zu bleiben, wenn Gustav zur Arbeit fort war. Es kam zu Auseinandersetzungen, die darin endeten, dass die Frauen weinten und die Männer sich prügelten. Als die Zwillinge Thomas und George Kimble zur Welt kamen, sprachen die Brüder nicht mehr miteinander. Im Haus herrschte Zwietracht. Ein brüchiger Frieden wurde aufrechterhalten, bis zu dem Morgen, an dem Greta und Gustav aufwachten und feststellten, dass eines ihrer Kinder fehlte. Greta und Gustav suchten ihre Seite des Hauses ab. Vom Baby keine Spur. Der Sheriff wurde gerufen. Den kleinen George fand man tot in den Armen seiner Tante. Ihm war das Genick gebrochen worden.

Gustav verlor den Verstand. Er nahm seine Pistole und schoss seiner Schwägerin mitten ins Herz. Dann richtete er die Waffe auf seinen Bruder und schoss ihm in die Stirn. Schließlich richtete er die Waffe gegen sich selbst, sodass seine Witwe den einzigen Erben des Namens Kimble allein großziehen musste. Greta packte das Kind und ihre Sachen und zog nach Sumrall, wo eine Schwester lebte.

Danach stand das Haus jahrelang leer, bis Thomas alt genug war, um zu heiraten und nach Drexel zurückzukehren. Er brachte seine Braut mit in das Haus, in dem sie zwei Stockwerke dichtmachten und nur noch die Räume im Erdgeschoss bewohnten. Frank Kimble war in diesem Haus geboren. Er war hier aufgewachsen und hatte scheinbar die ganze Jugend damit verbracht, nach den wahren Eigentümern Ausschau zu halten und auf ihre Rückkehr zu warten. Sein Großvater und sein Großonkel sowie seine Großtante verbargen sich in den dunklen Ecken der unbenutzten Zimmer im ersten und zweiten Stock.Den Großteil seiner Kindheit hatte ihm das Haus Angst eingejagt. Nach dem Krieg kehrte er hierher zurück. Es gab nicht mehr viel, was ihn mit Schrecken erfüllen konnte, außerdem war Drexel das Einzige, was ihm geblieben war.

Das alte Haus lag in Dunkelheit, als Frank in den Hof einbog. Er ging die Treppe hinauf, bemerkte wie bei jeder Heimkehr, dass die Veranda gestrichen werden müsste. Im ersten Sommer nach seiner Rückkehr hatte er sämtliche Außenfassaden mit Sandpapier abgeschliffen, hatte sie in verschiedenen Grüntönen lackiert und die losen Schindeln an allen Türmchen ausgebessert. Die überladenen Zierleisten hatte er blendend weiß bemalt. Doch irgendwie war er nie zu den grauen Dielen der Veranda gekommen.

Innen standen die Möbel, die er seit seiner Kindheit kannte. Er trat durch den Vordereingang und ließ die Gittertür hinter sich zuknallen. Dadurch wachten die Geister auf. Er erhaschte sie aus den Augenwinkeln, die schlanke Gestalt seiner Großtante Anna, in den Armen den toten Säugling, der das Blut verbarg, das sich über ihren Brustkorb zog. Er ging zur Küche und zum Ausguss, wo er sich die Hände wusch. Rosarot wurde das Blut über das weiße Porzellan gespült. Ein Ambulanzwagen hatte Marlena ins Krankenhaus gebracht. Sie hatte deliriert und ihm nicht sagen können, was ihr zugestoßen war.

Von dem Kind, Suzanna, oder dem Besitzer des am Wegrand abgestellten Chevy fehlte jede Spur. Frank allerdings hatte sich bereits ein Bild zusammengesetzt. Jemand hatte Marlena fast umgebracht und sich Suzanna gegriffen. Wenn ihn sein Gefühl nicht trog, würde in wenigen Stunden eine Lösegeldforderung eingehen.

Marlena wurde gerade operiert. Der Arzt hatte gesagt, sie habe schwere innere Verletzungen. Es würde Stunden dauern, bis sie wieder sprechen könne, und dann bestand die Gefahr, dass sie nicht mehr klar bei Verstand war. Der Arzt hatte gesagt, die Schläge gegen den Kopf und ins Gesicht seien so gravierend, dass sie zu Schädigungen des Gehirns führen könnten, falls sich eine innere Schwellung gebildet habe.

Marlenas zerschlagenes Antlitz stand ihm vor Augen, als er ins Wohnzimmer ging