Wie man ein Schmetterling wird - Shole Pakravan - E-Book

Wie man ein Schmetterling wird E-Book

Shole Pakravan

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Beschreibung

Der Kampf um das Leben meiner TochterDer Fall der jungen Iranerin ging um die Welt: Als 19-Jährige wird sie fast vergewaltigt. Doch sie setzt sich zur Wehr und sticht den Angreifer nieder. Nach einem Schauprozess wird Reyhaneh Jabbari wegen vorsätzlichen Mordes zum Tod durch den Strick verurteilt. Sieben Jahre sitzt sie im Todestrakt und wird nicht müde, sich für Frauenrechte und für ihre Mithäftlinge einzusetzen. Ihre Mutter, eine prominente Schauspielerin, kämpft um das Leben der Tochter und kann auch internationales Interesse wecken.  Für Frauen, Leben, Freiheit! Die bewegende Lebensgeschichte einer couragierten jungen Frau, die wie ein Vorbote der mutigen Proteste im Iran wirkt: für Frauen, Leben, Freiheit! Der Tod ist nicht das Ende des Lebens Dieses Buch ist eine Hommage an das Leben – und eine Aufforderung an alle, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, unabhängig von Religion, kultureller Zugehörigkeit oder Geschlecht. Eine Hommage an das Leben »Was sollen die Frauen tun? Wenn sie sich vergewaltigen lassen, sind sie schuldig. Wenn sie sich wehren und selbst verteidigen, sind sie schuldig. Wenn sie dagegen demonstrieren, sind sie schuldig. Also sollten die Mädchen sterben? Solange ich am Leben bin, auch wenn mein Handeln so lächerlich aussehen mag wie ein Brunnen, der versucht, den Himmel zu erreichen, werde ich nicht aufhören, gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen.« Reyhaneh Jabbari Das Buch zum Dokumentarfilm »Sieben Winter in Teheran«, der 2023 auf Festivals, im Kino und im Fernsehen läuft

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Wind

Eisdiele

Fruchtsaft

Nächtlicher Besuch

Pfirsichkern

Büro Nr. 10

Kugelschreiber

Die Waage der Justitia

Fakhteh

Spaghetti

Erste Beweise

»Hotel« Evin

Die Weisheit des Richters

Grüne Hoffnung

Kokon

Hölle auf Erden

Die Schuld der Frauen

Der siebte Winter

Zwickmühle

Vor Sonnenaufgang

Schmetterling

Mond auf einem Lilienzweig

Versuch, den Himmel zu erreichen

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Dieses Buch ist meiner Tochter Reyhaneh gewidmet sowie den zahllosen mutigen und tapferen Frauen im Iran, die nie aufgehört haben, ihre Stimme gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu erheben, und ihr Leben riskieren, indem sie rufen: Zan, Zendegi, Azadi! – »Frau, Leben, Freiheit!«

Wind

Nachts gegen Viertel vor zwei klingelte mein Telefon. Es war eine Freundin, die aufgeregt rief: »Tardast hat gerade deutschen Boden betreten!«

Sofort war ich hellwach: Hassan Tardast, der Richter meiner Tochter, der Richter, der über tausend Frauen und Männer zum Tode verurteilt hat! Viele mussten trotz fadenscheiniger Beweise oder aufgrund der »Weisheit des Richters« sterben; ein Paragraf des iranischen Rechts, der zur Willkür der ausschließlich männlichen Richter einlädt.

Mehr und mehr Nachrichten erreichten mich. Mein Herz begann zu rasen. Er war also in Berlin, machte Urlaub; besuchte seine zwei Töchter, die in Deutschland lebten, sowie seinen Bruder mit Familie in den Niederlanden. Schon Jahre zuvor, als ich gerade aus dem Iran über die Türkei nach Deutschland geflohen war, hatte ich die Facebook-Profile seiner Töchter entdeckt. Ich hatte die Fotos ihres freien Lebens in Europa betrachtet, die langen Haare offen und unbedeckt, während ihr Vater im Urteil über meine Tochter Reyhaneh zwar kein Mordmotiv feststellen konnte, aber eine »Verwestlichung«. Und darüber wurde sie für ihn als »Mörderin« identifiziert.

Wenn die exil-iranische Gemeinschaft Richter Tardast auf deutschem Boden zur Rechenschaft ziehen wollte, mussten wir schnell Beweise vorlegen, um eine Verhaftung wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu erwirken.

Soeben hatte ich unsere erste kleine Wohnung in Deutschland bezogen, die ich mit Erinnerungen an den Iran und meine Familie dekoriert hatte. Wenn ich die Fenster öffnete, konnte ich die Stadtautobahn hören wie einen Strom, der Tag und Nacht am Haus vorbeifloss. In meinem Zimmer türmten sich die Dokumente, Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen über Reyhanehs Fall. Zahlte sich jetzt aus, dass ich all das über die Jahre so akribisch gesammelt und aufbewahrt hatte?

Immer hatte ich gehofft, darlegen zu können, dass das, was Reyhaneh und meiner Familie widerfahren war, kein Einzelfall ist. Je lauter meine Stimme wurde, die sich gegen die Ungerechtigkeit wendete, die meine Tochter hatte erleben müssen, desto mehr Anrufe bekam ich von Müttern, deren Töchter und Söhne ebenso unter die Räder des iranischen Regimes gekommen waren. Noch heute erreichen mich regelmäßig Anrufe von Müttern. Ich höre ihnen zu als eine, die weiß, wie sich dieser Schmerz, diese Hilf- und Hoffnungslosigkeit anfühlt. Ich teile mein Wissen mit ihnen, das ich nach siebeneinhalb Jahren Kampf um das Leben meiner Tochter erlangt habe.

Doch nur 24 Stunden nachdem Tardast in Deutschland gesehen worden war, verschwand er spurlos. Wieder war eine Hoffnung, meiner Tochter und all den anderen Frauen und Männern zumindest im Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, enttäuscht worden.

Ich nahm einen der vielen Briefe zur Hand, die mir Reyhaneh hinterlassen hatte. Darin erhob sie ihre Stimme, die Richter Tardast damals nicht hatte hören wollen.

Ich, Reyhaneh Jabbari, bin 26 Jahre alt. Ein Seil hängt vor meinen Augen, das ich nicht fürchte. Ich schreibe, um meine Geschichte zu erzählen. Ich möchte alles erzählen, was ich vor Gericht gesagt habe und der Richter nicht verstanden hat. Und alles, was ich unter Folter geschrien habe und nicht gehört wurde. […] Vielleicht hört jemand auf dieser Welt meine Stimme und fühlt meinen Schmerz.

Ich möchte, dass die Menschen Kenntnis haben und urteilen, wie sie es für richtig halten. Ich möchte, dass sie mir zuhören und, wenn sie wollen, die Schlinge um meinen Hals noch fester ziehen. Ich möchte erzählen, was mir im Alter von 19 Jahren widerfahren ist und was mich den Tod nicht länger fürchten lässt. Ich erzähle, damit die Menschen erfahren, wie meine Stimme zum Schweigen gebracht wurde; wie die unglücklichen Ereignisse, infolge derer ich als Mörderin bekannt wurde, durch Verschwörung und Betrug verdreht wurden, sodass ein Urteil gefällt wurde, das ich für ungerecht halte.[1]

Reyhaneh im Gerichtssaal während ihrer Verhandlung

Einige dieser Texte hatte mir meine Tochter am Telefon vorgelesen, damit ich sie aufnehmen, später abtippen und veröffentlichen konnte. Dies war oft der einzige Weg, die Schriftstücke an der Gefängnisleitung vorbei aus der Haft zu schmuggeln. Vor allem 2014 gingen wir so vor, als Reyhaneh begann, ihre Selbstverteidigungsbriefe zu schreiben. Seit Jahren wurde über sie geschrieben, gespickt mit Halb- oder Unwahrheiten, ohne dass sie Stellung dazu hatte beziehen können. Mit dem Verfassen ihrer Verteidigungsbriefe ermächtigte sie sich selbst, indem sie den Tathergang, den Gerichtsprozess und seine Konsequenzen aus ihrer Sicht sowie ihren Alltag im Gefängnis schilderte. Sie nahm sich dabei das Recht und die Freiheit heraus, als Frau gesellschaftliche Missstände zu benennen – klarer und offener, als es außerhalb der Gefängnismauern möglich gewesen wäre. Und gleichzeitig gehören diese Aufnahmen ihrer Stimme zu dem wenigen, was mir von meiner ältesten Tochter geblieben ist.

Reyhaneh hatte mich gebeten, dass ich sie nach ihrem Tod dem Wind übergeben solle. Mein Herz wurde leichter, als ich verstand, dass ich ihr diesen letzten Wunsch erfüllen werde, indem ich unsere Geschichte niederschreibe, denn der Wind wird dieses Buch sein.

Alles begann an einem warmen Frühlingstag 2007 in Teheran, Iran.

[1]Reyhaneh Jabbari, Selbstverteidigungsbrief 1, 2014, Audioaufnahme

Eisdiele

An einem Frühlingstag saß ich in einer Eisdiele. Ich telefonierte mit einem Kunden. Es ging um den Messestand, den ich für eine internationale Ausstellung entworfen hatte. Als ich aufgelegt hatte, sprach mich ein Mann mittleren Alters an, der mit seinem Freund am Nebentisch saß. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Mann, dem man auf der Straße begegnet, der neben einem im Taxi sitzt, in einer Schlange steht oder den man in einem Park oder Restaurant antreffen kann – einer, bei dem man sich vorstellen kann, Zuflucht zu suchen, wenn man in der Öffentlichkeit belästigt wird.

Er sagte: »Ich habe zufällig Ihr Telefongespräch belauscht und erfahren, dass Sie Innenausstatterin sind.« Ich erwiderte: »Ja.« Er fuhr fort: »Ich habe ein Büro, das ich zu einer Arztpraxis umgestalten möchte. Ich bin plastischer Chirurg.«

Ich platzte innerlich vor Aufregung. Ich war damals 19 Jahre alt, den Kopf voller Träume und im Herzen die Sehnsucht nach Erfolg. […] Ich gab dem Mann meine Visitenkarte, auf der die Kontaktdaten der Firma sowie mein Name und meine Telefonnummer standen.

Das war der Tag, an dem ich Dr. Sarbandi und seinen Freund, Herrn Sheikhi, kennenlernte. Ich ahnte nicht, dass diese Begegnung mein Schicksal verändern und mich dem Tod näher bringen würde.[2]

Ganz aufgeregt berichtete mir unsere Tochter von dem geplanten Treffen: »Mama, Dr. Sarbandi möchte, dass ich sein Büro in eine Schönheitsklinik umgestalte. Wenn ich einen guten Job mache, kann ich vielleicht weiter für ihn arbeiten!« Mit Freude hörte ich Reyhaneh zu, die voller jugendlichem Enthusiasmus ihre Träume verwirklichen wollte.

Sie studierte gerade in ihrem dritten Semester Computer-Software an der Basir-Abyek-Ghazvin-Universität nahe Teheran. Reyhaneh hatte schon immer großen Wert auf ihre Unabhängigkeit gelegt und wollte neben ihrem Studium unbedingt ihr eigenes Geld verdienen. Mein Mann Fereydoon und ich begrüßten das. Keine unserer drei Töchter sollte später finanziell abhängig von ihrem Mann sein. Sie sollten früh lernen, dass man hart arbeiten muss, um sich seine Träume zu erfüllen.

Durch eine deutsche Fernsehsendung hatte Reyhaneh ihr Interesse für Inneneinrichtung entdeckt, und unsere Töchter ließen keine Folge ausfallen, in der Enie van de Meiklokjes, die bei ihnen immer nur pinky hair hieß, Wohnungen umgestaltete. Pinky hair’s Einrichtungsideen machten auch vor unserem Haus nicht halt. Wieder und wieder wurden die Zimmer der Mädchen ausgeräumt, die Möbel umgestellt und umdekoriert. Über einen Freund der Familie bekam Reyhaneh zu ihrer großen Freude einen Nebenjob als Designerin in einer Firma, die Stände und Broschüren für internationale Messen entwarf. Die Tätigkeit machte ihr Spaß, und sie konnte sich vorstellen, weiter in diesem Bereich zu arbeiten.

Ihr Elan erfüllte mich mit Stolz. Schon meine Mutter hatte für ihre Zukunft gekämpft. Anfang der 1950er-Jahre, unter der Regentschaft von Schah Mohammad Reza Pahlavi, wuchs sie behütet als Tochter einer traditionsbewussten kurdischen Familie nahe der iran-irakischen Grenze in Kermānschāh auf. Bereits 1961, im Alter von 15 Jahren, wurde sie wie die meisten Frauen ihrer Generation verheiratet und zog nach Teheran, das damals ein kosmopolitischer Ort voller Kontraste war.

Während auf den Straßen einige Frauen mit toupierten Haaren und Miniröcken an eleganten Restaurants vorbeiflanierten, hüllten sich andere in ihre schwarzen Tschadors[3]. Nach europäischem Vorbild wurden rauschende freizügige Feste gefeiert, nur ein paar Straßenzüge weiter herrschte bittere Armut. Nachdem meine Mutter zwei Fehlgeburten erlitten hatte und die Nachbarsfrauen meinem Vater schon eine zweite, fruchtbarere Ehefrau vermitteln wollten, bekam sie mit 18 Jahren mich, das älteste von insgesamt drei Kindern.

Während die anderen verheirateten Frauen, wie damals üblich, ihre Schulausbildung abbrachen, um sich gänzlich der Kindererziehung und Haushaltsführung zu widmen, setzte meine Mutter bei meinem Vater durch, dass sie weiter zur Schule gehen durfte. Nach ihrem Abschluss studierte sie Literatur und arbeitete als Lehrerin. Kurz vor ihrer Pensionierung gründete sie eine Gruppe, die zeitweise bis zu 200 Mitglieder umfasste, in der sie ehrenamtlich Analphabetinnen anhand des Korans Lesen und Schreiben lehrte. Schon früh verglich ich das Leben meiner Mutter mit dem ihrer ältesten Schwester und anderer Frauen ihres Alters und stellte fest, dass sie glücklicher und zufriedener war als diejenigen, die nicht gekämpft, nicht gelernt oder studiert hatten.

Dem Vorbild meiner Mutter folgend, begann ich schon früh, als Lehrerin zu arbeiten. Bald studierte ich auch Regie für Puppenspiel an der Hochschule für bildende Künste an der Universität Teheran. Zu dieser Zeit verliebte ich mich in meinen späteren Ehemann Fereydoon, den ich liebevoll Fery nenne. Wir lernten uns mit 21 im Haus von Verwandten in Kermānschāh kennen. Schnell verstand ich, dass Fereydoon ein sehr gütiger und sanftmütiger Mann war, und als ich 22 Jahre alt war, heirateten wir.

Hochzeit am 20. November 1986[1]

Fereydoon und ich, die ich mit Reyhaneh schwanger bin[2]

Fereydoon war Kurde – genau wie meine Mutter. Allerdings spielten unsere kurdischen Wurzeln in unserem Familienleben eine untergeordnete Rolle. Die iranische Regierung diskriminiert die kurdische Minderheit seit Jahren, verweigert ihr das Recht, die eigene Sprache zu studieren und ihre kurdische Identität in der Öffentlichkeit auszuleben. So sprach Fereydoon nur sehr selten Kurdisch mit unseren Töchtern, und in unserer Familie wurden nur wenige kurdische Wörter regelmäßig benutzt.

Fereydoon hatte noch nie etwas von den Gesetzen zur Einschränkung der Frauenrechte gehalten und versicherte mir am Tag unserer Hochzeit schriftlich, dass mir bestimmte Rechte zustanden, die den Frauen seitens des iranischen Gesetzes nicht gegeben wurden. Ich hatte das Recht, zu arbeiten und zu studieren, was ich wollte. Ich durfte den Aufenthalts- und Lebensort auswählen. In der Regel werden im Iran diese Dinge per Gesetz durch den Mann bestimmt. Wenn ein Mann seiner Frau das Studium nicht erlaubt, dann darf sie nicht studieren. Ebenso wenig kann sie arbeiten oder reisen, wo oder wohin sie möchte. Und nach einer Scheidung hat der Mann das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Auch die Nationalität wird nur über den Mann an seine Kinder vererbt. Wenn eine Iranerin im Iran beispielsweise einen Afghanen heiratet, sind ihre Kinder staatenlos, um nur einige der diskriminierenden Gesetze zu nennen. Aber Fereydoon unterstützte mich seit dem ersten Tag, an dem wir zusammenlebten, und baute gemeinsam mit mir ein Leben auf, das auf Vertrauen und Liebe basierte.

Deshalb schloss ich trotz der Geburt meiner ersten Tochter Reyhaneh mein Studium an der Hochschule für bildende Künste in Teheran ab und begann als Regisseurin und Schauspielerin am staatlichen Theater zu arbeiten. Meine zweite Tochter Sharare folgte, und erst nach der Geburt meiner dritten Tochter Shahrzad beschloss ich, die aufreibende Arbeit als Regisseurin aufzugeben. Häufig bestand sie darin, auf die Genehmigungen des Ministeriums für Kultur und islamische Führung Ershad[4] zu warten. Ich konzentrierte mich auf die Schauspielerei und nahm das Angebot an, die Leitung eines kollektiven Kulturhauses in Teheran zu übernehmen. Ich wollte meinen drei Mädchen ein gutes Vorbild sein und Familie und Beruf in Einklang bringen.

Doch die Erziehung unserer Töchter zu selbstständigen Frauen bedeutete nicht, dass es keine Grenzen für sie gab. Ich achtete auf die Einhaltung der islamischen Regeln, tolerierte aber die kleinen Freiheiten, die sich Reyhaneh und Sharare herausnahmen; etwa indem sie zu Hause auch vor männlichen Freunden der Familie ihr Haar zeigten. Eigentlich ist das harām, also nach islamischem Glauben verboten. Ich akzeptierte aber auch, als Shahrzad mit acht Jahren plötzlich beschloss, sogar zu Hause einen Tschador zu tragen, wie es streng konservative Frauen tun. Noch Jahre später musste sie sich die Neckereien ihrer Schwestern über ihren Ausflug in die Welt der Vollverschleierung anhören.

Bestärkt durch mein eigenes Leben, war ich der festen Überzeugung, dass es Iranerinnen möglich ist, ihre Träume im Einklang mit dem Islam und der persischen Tradition zu verwirklichen. Dabei registrierte ich nicht, dass ich in einer privilegierten Position lebte, die nicht allein durch den Fleiß und Kampf meiner Mutter und von mir entstanden war, sondern durch einen Glücksfall, der durch die Toleranz und Offenheit meines Vaters und meines Mannes eingetreten war. Und wie viele andere iranische Frauen war ich ahnungslos, auf welch ungeheuerliche Art und Weise die Gesetze die Rechte der Frauen systematisch missachteten. In dieser privilegierten, hoffnungsvollen Blase erzog ich meine Töchter zu starken, selbstständigen Frauen.

Kurz nach Reyhanehs Geburt[3]

Mit meinen Töchtern Reyhaneh und Sharare[4]

Die drei Schwestern mit ihrem Vater Fereydoon[5]

Reyhaneh mit Rucksack an ihrem ersten Schultag[6]

Reyhaneh und ich ein Jahr vor ihrer Verhaftung[7]

Reyhaneh mit ihren jüngeren Schwestern[8]

Familienfoto[9]

Reyhaneh bei einem Familienausflug[10]

[2]Reyhaneh Jabbari, Selbstverteidigungsbrief 1, 2014 [3]Der Tschador ist ein großes, meist dunkles Tuch in Form eines umsäumten Halbkreises, das im Iran als Umhang um Kopf und Körper gewunden wird und lediglich das Gesicht oder Teile davon frei lässt. In der Öffentlichkeit wird er vorwiegend von konservativen muslimischen Frauen über der Kleidung getragen. [4]Das Ershad-Ministerium überwacht und zensiert Theatervorstellungen, Musikveranstaltungen, Kunst- und Kulturausstellungen, Publikationen, das Internet sowie kulturelle und zivilgesellschaftliche Organisationen.

Fruchtsaft

Ein paar Wochen nach Reyhanehs Begegnung mit Dr. Sarbandi in der Eisdiele bekam sie einen Anruf von einer Nummer, die lediglich aus Achten bestand. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass kein normaler Bürger seine Telefonnummer auf diese Art unterdrücken oder abändern konnte. Reyhaneh verabredete sich mit ihm zu einem Geschäftstreffen. Mir war nicht wohl dabei, und ich wollte sie begleiten. Sie wehrte sich dagegen. Es sei peinlich, dass eine 19-jährige Frau mit ihrer Mutter zu einem Arbeitstreffen auftauche, aber ich bestand darauf.

Ich begleitete sie zu dem Postamt nahe der Sadr-Brücke, wartete aber auf ihr Drängen hin auf der anderen Straßenseite. Dr. Sarbandi kam nicht. Nach etwa 20 Minuten überzeugte ich Reyhaneh, wieder nach Hause zu gehen. »Was denkt er denn, wer er ist?«, schimpfte ich. »Vergiss ihn! Wir wollen so einen Job nicht.« Damit war die Sache für mich erledigt. Auf die Idee, dass er möglicherweise doch gekommen und weitergefahren war, als er mich gesehen hatte, kam ich damals nicht.

Auf dem Heimweg beschwerte sich meine Mutter wie immer. Sie sagte: »Nimm keine Anrufe mehr von dieser Nummer entgegen. Selbst wenn er sich meldet, arbeite nicht für ihn und überlasse die Aufgabe anderen in deiner Firma.« Ich wusste, dass ich das nicht tun würde. Ich wollte diesen Auftrag ganz allein annehmen, ausführen und stolz auf meine Leistung in so jungem Alter sein. Ich wollte nicht einmal, dass der Vertrag zwischen Dr. Sarbandi und der Firma geschlossen wurde. In meinem Kopf entwarf ich schon einen Vertrag zwischen Dr. Sarbandi und mir. […]

Nur ein paar Tage später erhielt ich einen weiteren Anruf von der gleichen merkwürdigen Nummer. Wieder war es Dr. Sarbandi. Wir vereinbarten ein Treffen am Abend in der Aghdasieh-Straße. Ich ging hin. Herr Sheikhi war bei ihm. […] Ständig klingelte sein Handy. Herr Sheikhi erklärte, dass Sarbandi am Abend zu einer Hochzeit eines Verwandten müsse. Dr. Sarbandi erzählte von seinem Geschäft: dem Import von Medikamenten, medizinischem Bedarfsmaterial und Geräten. Da ich zuvor in einer Firma gearbeitet hatte, die Medikamente importierte, kannte ich mich aus: Wenn wir ins Geschäft kämen, würde ich unbegrenzt Druckaufträge erhalten. Jeden Tag würde eine neue Broschüre gedruckt werden müssen, jeden Tag ein neuer Druckauftrag, täglich ein neuer Katalog.

Ich schlug vor, dass ich auch die Druckaufträge übernehmen könnte. Er schien nicht abgeneigt. Doch zunächst müsse er sehen, wie ich arbeite und seine Praxisräume gestalte. Wenn das Ergebnis zufriedenstellend sei, würde er mir die Druckaufträge geben. Er erwähnte auch jemand anderen, mit dem er verhandle, aber ich bestand darauf, dass er alle Aufträge an mich vergeben solle. Trotz meiner Kühnheit, nach Arbeit zu fragen, war ich zu schüchtern, um seine Telefonnummer zu erbitten. […] Wir verabredeten ein Treffen für Samstag[5], den 7. Juli 2007, um 18 Uhr.

Dass die nächsten zwei Tage die letzten sein sollten, die ich zu Hause verbringen würde, kam mir nicht in den Sinn. […] Zwei glückliche Tage: Ich war auf den Hochzeiten meiner Freundin und meiner Cousine.[6]

Die Vorbereitungen für die Vermählung von Azadeh, der Tochter meiner Cousine, gaben mir eine Vorahnung, was möglicherweise bald auf mich zukommen würde. Fast zwei Jahre zuvor hatte Reyhaneh auf einem studentischen Tagesausflug zu den Tange-Vashi-Wasserfällen den damals 20-jährigen Ehsan kennengelernt. Sie schwärmte von ihm, und ich freute mich für sie, nahm die Sache aber nicht allzu ernst. Außerhalb des familiären Kontextes ist es im Iran sehr schwer, vor dem Studium jemanden des anderen Geschlechts kennenzulernen. Erst in den Universitäten sitzen Frauen und Männer zusammen in den Klassen. Deshalb war ich mir sicher, dass Reyhaneh den Unterschied zwischen Schwärmerei und Liebe noch nicht kannte.

Ehsan war der einzige Sohn einer konservativen Familie und studierte Elektrowissenschaft. Als ich erfuhr, dass er schon mit seinen Eltern über Reyhaneh gesprochen hatte und sie heiraten wolle, war mir nicht wohl dabei. Fereydoon war gegen die Verbindung. Er war der Meinung, dass Reyhaneh erst einmal ihr Studium abschließen sollte. Sie sei viel zu jung, um sich an einen Mann zu binden. Und obwohl auch ich eine Heirat mit 19 Jahren viel zu früh fand, verstand ich meine Tochter. Sie hatte Gefühle für den jungen Mann, hatte Träume, die ich als junge Frau auch hatte. So redete ich Fereydoon zu. Nachdem Ehsan sich uns offiziell vorgestellt hatte, erlaubten wir schließlich, dass sich die beiden treffen durften, um sich besser kennenzulernen. Sie telefonierten regelmäßig und sahen sich hin und wieder, wenn ihr Studium es zeitlich zuließ – trotz des Risikos, wegen einer unehelichen Beziehung von Sittenwächtern aufgegriffen zu werden.

Im Iran ist eine uneheliche Beziehung zwischen Mann und Frau rechtlich nicht gestattet. Die Mehrheit der Iranerinnen und Iraner hält sich jedoch nicht daran. Eigentlich dürfen sich Unverheiratete noch nicht einmal allein in demselben geschlossenen Raum aufhalten. Sogar im Bus sitzen die Männer im vorderen Teil, während die Frauen hinten sitzen. Es gibt Universitäten, die nach Geschlechtern getrennte Eingänge haben. In Vorlesungen dürfen Männer und Frauen nicht direkt nebeneinandersitzen. Sie dürfen sich nicht berühren und sich nicht die Hand geben. Zusammen zu arbeiten ist möglich, allerdings ohne Nähe und ohne eine private Beziehung zu haben.

Natürlich kommt es immer wieder vor, dass die Sittenpolizei ein unverheiratetes Paar erwischt und inhaftiert. Da die Jugendlichen mit diesen Regeln aber aufgewachsen sind, können sie innerhalb weniger Sekunden von einem nahen, freundschaftlichen Verhältnis zu einem distanzierten wechseln und so die strengen Auflagen umgehen. Wir vertrauten darauf, dass Reyhaneh und Ehsan alles daransetzen würden, kein Aufsehen zu erregen und sich nicht von Sittenwächtern erwischen zu lassen.

Shahrzad, Fereydoon und Reyhaneh auf Azadehs Hochzeit[11]

Am Tag von Azadehs Hochzeit waren wir alle früh auf den Beinen. Reyhaneh und ihre beiden Schwestern ließen sich in einem Schönheitssalon ihre Haare und ihr Make-up machen. Es war das erste Mal in Shahrzads Leben, dass ihre Augenbrauen gezupft wurden. Obwohl es den Mädchen laut Gesetz verboten war, sich vor der Ehe die Augenbrauen zupfen zu lassen, scherten sich zu dieser Zeit die wenigsten Teenager darum. Meine älteren beiden Töchter hatten die Technik, sich eigens zurechtgeschnittene Haare auf die Augenbrauen zu kleben, perfektioniert. Nicht einmal die strengen Lehrerinnen bemerkten die Täuschung bei ihren stichprobenartigen Kontrollen.

Seit Jahren untergruben die jungen Iranerinnen den islamischen Kleiderkodex, der für die Frau ein schwarzes Kopftuch oder hijab[7] und einen schwarzen weiten manto[8] vorschrieb, um Haut und Körperformen zu verdecken. Man sah auf Teherans Straßen immer mehr Frauen mit Make-up, die Kopftücher wurden immer bunter und rutschten immer weiter hinter den Haaransatz, und die konservativen schwarzen mantos wurden von figurbetonteren Trenchcoats abgelöst. Auch war es bei jungen Frauen in Reyhanehs Alter üblich, ihr Kopftuch in geschlossenen Räumen nicht nur vor mahram[9], also männlichen nahen Verwandten, in Gänze abzunehmen. Ich beobachtete diese Veränderungen einerseits mit Nachsicht für die jungen Frauen, befolgte selbst aber weiterhin das Verschleierungsgebot.

Als meine drei Töchter von ihren Besuchen in den Schönheitssalons zurückkehrten, war ich nicht sonderlich begeistert: Sie waren alle stark geschminkt und ihre Augenbrauen nur noch Striche. Während ich noch versuchte, sie davon zu überzeugen, ihr Make-up zu reduzieren, probierten die drei schon herumalbernd ihre Kleider an.

Wir gingen auf die Hochzeit, und Reyhaneh, die nur kurz auf der Vermählung einer Freundin vorbeigeschaut hatte, stieß gut gelaunt zu uns. Ihr stilvolles Kleid betonte ihre hohe, schlanke Figur, gab aber auch nicht zu viel preis. Am Hochzeitsabend hielt ich mich für einen Moment am Rande der Festlichkeiten auf und beobachtete Reyhaneh, wie sie voller Freude mit kleinen Schritten und grazilen Bewegungen mit ihrem Vater tanzte. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte mich.

Als ich am Samstag mit der Arbeit begann, freute ich mich von der ersten Stunde an auf den Abend. Gegen Mittag klingelte mein Telefon. […] Dr. Sarbandi sagte, er würde mich von meinem Büro abholen, da er in der Gegend sei. Ich nahm meinen Mut zusammen und erwiderte: »Ich habe Ihre Telefonnummer nicht. Wenn etwas dazwischenkommt und mich aufhält, kann ich Sie nicht informieren.« Er nannte mir eine Telefonnummer. Das gab mir Vertrauen in ihn. Ich rief meine Mutter an und sagte ihr, dass ich einen Termin mit Dr. Sarbandi und Herrn Sheikhi habe und später nach Hause kommen würde. Sie sagte: »Sei nicht so spät. Wir sind um 19 Uhr verabredet.« Ich versicherte ihr: »Ich werde es versuchen.« Unmittelbar danach erhielt ich eine Textnachricht von Dr. Sarbandi bezüglich des Termins: »07.07.2007«. […]

Ich schickte ihm nur ein Fragezeichen zurück. Später schickte ich ihm eine weitere Textnachricht: »Soll ich auf Sie warten, Herr Doktor?« Ich log meine Kollegen an und sagte, dass ein Freund meines Vaters mich abholen würde, da mein Vater mir ein neues Auto kaufen wolle. Ich erhielt eine weitere SMS von Dr. Sarbandi: »Ich bin draußen, wie ist die Hausnummer?« […]

Es war 18 Uhr, und ich wartete vor meinem Büro. Meine Kollegen beobachteten vom Fenster aus, wie Dr. Sarbandi allein mit dem Auto vorfuhr. Wo ist Herr Sheikhi?, fragte ich mich. In meiner Vorstellung waren die beiden Männer immer zusammen. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, und wir fuhren los. […] Wir hörten einen modernen Song. […]

Wir unterhielten uns über die Melodie und unseren Musikgeschmack. Einige Straßen weiter hielt er an. Herr Sheikhi stieg in den Wagen. Er setzte sich auf den Rücksitz, aber ich bestand darauf, dass wir die Sitzplätze tauschten. Er weigerte sich mit der Begründung, dass er sowieso bald aussteigen müsse, was er kurz darauf auch tat. Außerhalb des Wagens unterhielten sich die beiden Männer einige Minuten lang. Ich konnte nicht hören, was sie sagten. Herr Sheikhi entfernte sich, und Dr. Sarbandi stieg wieder ins Auto.

Nun waren wir auf der Shahid-Beheshti-Straße, und er hielt wieder an. Dr. Sarbandi erklärte, er habe eine ältere Tante und müsse ihr ein paar Dinge aus der Apotheke besorgen. Einen Augenblick später kam er zurück. Er trug eine orangefarbene Plastiktüte bei sich, aus der eine Packung Windeln schaute. Jetzt waren wir in der Mir-Emad-Straße. Er parkte vor der Landesregierung und bat den Wachmann, auf sein Auto aufzupassen. Ein plötzlicher Anflug von Furcht überkam mich: Wer war dieser Mann, dass er vor dem Gebäude der Landesregierung parken konnte? Welchen Status hatte er, dass der Sicherheitsbeamte Befehle von ihm annahm?

Ich beruhigte mich damit, dass, selbst wenn er eine einflussreiche Position in der Regierung hatte, mein Eindruck von ihm nicht bedrohlich war. […]

Wir betraten ein Gebäude und fuhren mit dem Aufzug nach oben. […] Fünfter Stock. Neben dem Fahrstuhl befand sich eine Tür. Dr. Sarbandi öffnete sie mit seinem Schlüssel. Ich war schockiert. Es war kein Büro. Es war eine heruntergekommene Wohnung voller Schmutz und Staub, gefüllt mit Chaos. Es gab keine Spur von Leben. Kein Geruch von heimischem Herd oder der Wärme eines Zuhauses. Es war ein verwaister Ort. Ich ließ die Tür angelehnt.

In der Nähe der Tür gab es einen Tisch mit ein paar Stühlen. Ich setzte mich auf den, der sich am nächsten zur Tür befand. Er forderte mich auf, es mir bequem zu machen. Aber mir war nicht wohl dabei. Er forderte mich auf, mein Kopftuch abzunehmen, doch ich hatte Angst. Der Tisch war mit verschiedenen Gegenständen zugemüllt: Papiere, Schlüssel, Handy, Gläser, Messerständer, ein Blumentopf sowie allerhand Krimskrams. Er ging um den Tisch herum in die Küche. Meine Augen erkundeten den Raum und nahmen alles in sich auf; nah und fern, alles, von der Eingangstür bis zum Fernseher, dem Sofa, dem Ventilator, der Konsole, dem Spiegel, dem Gebetsteppich, und sogar die kleinen Tischchen. Er kam mit zwei Gläsern Fruchtsaft zurück und trank eines davon sofort aus. Er beklagte sich über die Hitze und lud mich ein, zu trinken. Ich starrte auf die Eiswürfel im Glas. Sie tanzten. […]

Aber meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, und ich konnte nicht trinken. Ich sagte: »Erst die Arbeit, dann der Fruchtsaft«, stand rasch auf und inspizierte die Räume. […] Ich zeichnete den Grundriss der Wohnung auf ein Blatt Papier und machte mir Notizen.

Skizze des Grundrisses der Wohnung aus Reyhanehs Tagebuch[12]

Ich kehrte zurück. Er wandte sich vom Gebetsteppich ab und trat auf mich zu. Das Sofa war nun mit einem Bettlaken bedeckt. Mein Kopf fühlte sich ganz leer an. […] Mein Blick blieb an der Tür hängen. Sie war geschlossen. Ich setzte mich auf den Stuhl und wühlte in meinen Papieren. Er war näher gekommen, zog ein Päckchen[10] aus der Tüte und zeigte es mir. »Weißt du, was das ist?«, fragte er. Ich wusste, was es ist, und bekam Angst. […]

Er kam mir viel zu nah. Ruckartig stand ich auf, rannte zur Tür, drehte am Türknopf, aber sie war verschlossen. Ich hämmerte gegen die Tür, versuchte zu schreien, aber meine Stimme versagte. Er verhöhnte mich mit seinem Blick und sagte: »Wo willst du denn hin? Du kannst hier nur weg, wenn ich will, dass du gehst.« […] Er hob mich hoch und warf mich mit einer halben Drehung auf den Boden. Ich brachte nur ein Wimmern zustande; nichts anderes kam aus meiner Kehle. Er legte seine Arme um meinen Leib. Die Bewegung seiner Hände auf meinem Körper ekelte mich. »Du steckst jetzt fest, nicht wahr?«, sagte er. »Ich kümmere mich um dich.« Seine Stimme war so dicht an meinem Ohr. Schweiß tropfte mir vom Kopf auf den Nacken. Mit einer Hand packte er meine Hüfte, dann legte er seine Wange an meine und betonte: »Niemand ist hier … Niemand kann dich hören.« […]

Er drückte mich auf den Boden. Ich konnte mich nicht bewegen, hatte mich ergeben wie ein kleines Lamm. Ich war wütend auf mich selbst, dass ich es nicht fertigbrachte zu schreien. […] Plötzlich musste ich daran denken, wie verliebt ich in Ehsan war. Ich erinnerte mich, wie glücklich ich gewesen war, als meine Mutter mir gesagt hatte, dass wir bald eine Hochzeit in unserem Haus feiern würden. Wir luden viele Freunde und Verwandte ein, als mein Onkel und seine Frau uns aus Amerika besuchen kamen. An diesem Abend hatten wir eine Party, auf der Ehsan meinem Onkel offiziell vorgestellt wurde. Ich war so begeistert, als mein Onkel Ehsan als den Bräutigam der Familie bezeichnete.[11] […]

Da sah ich ein Messer auf dem Tisch. Ich sagte ihm, er solle mich loslassen, und ich würde niemandem ein einziges Wort darüber sagen. Er ließ los, entfernte sich ein Stück und fragte mich: »Okay, jetzt halte ich dich nicht fest. Zeig mir, wie du abhaust!« Ich griff nach dem Messer und warnte ihn: »Ich werde Sie niederstechen, wenn Sie mich nicht gehen lassen.«[12] »Du willst mich niederstechen? Ernsthaft? Nur zu. Tu es!« Er drehte mir den Rücken zu und verspottete mich: »Los, stich zu! Ich will sehen, wie du es machst.« […] Ich fühlte mich hilflos. Ich schaute auf das Messer. Es war zu klein, um ihn auch nur zu erschrecken. Er lachte. Ich begann durch die Küche zu rennen, die einen kleinen Balkon hatte. Er schrie: »Wir haben noch genug Zeit.« Ich öffnete die Balkontür, um zu springen. Ich schaute nach unten, stellte mir vor, wie es sein würde, aber konnte mich nicht dazu überwinden und ging wieder hinein. Er stand neben dem Fernseher, wo ein Gebetsteppich lag. Er sagte: »Was machst du?«

Ich flehte ihn an, mich gehen zu lassen. Ich sagte ihm, er sei ein religiöser Mann, und er solle mir das nicht antun. Er sagte, ich solle aufhören, Spielchen zu spielen, und dass es nicht schlimm sei … Ich fing an zu weinen. Dann sagte er, ich würde ihn deprimieren. Ich schwor und versprach ihm, es niemandem zu erzählen, wenn er mich einfach gehen ließe. Er näherte sich mir, ich wich zurück, er kam näher, ich wich noch weiter zurück. […] Ich hatte schließlich meine Stimme wiedergefunden, ich schrie ihn an, er solle zurückgehen, er tat es nicht. Ich schrie, dass ich ihn stechen würde. Er drehte mir den Rücken zu.

»Na los, stich schon!« Ich atmete sehr flach, es war nicht genug Luft vorhanden. Ich hob meine Hand, und mit all meinen Hoffnungen und Träumen stach ich zu.

Er drehte sich schockiert um und fragte: »Du hast mich gestochen?« Ich konnte sehen, wie Blut auf seine Kleidung tropfte. Ich sagte ihm, er solle mich das Messer herausziehen lassen. Er drehte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. In panischer Angst suchte ich nach dem Schlüssel, um die Wohnung zu verlassen. Er saß auf dem Boden und zog das Messer aus seinem Rücken. Das Blut spritzte auf den Spiegel und auf den Ventilator. Er lehnte an der Wand, warf das Messer nach mir, aber ich duckte mich, sodass er mich verfehlte. Ich hob das Messer auf. Dann zog er sich an einem Stuhl vom Boden hoch. Seine Hände waren blutverschmiert. Er warf den Stuhl nach mir. Er prallte auf, machte ein schrecklich lautes Geräusch und zerbrach in Stücke. […]

Er war extrem wütend. Mit blutigen Fäusten kam er auf mich zu. Ich rannte zur Tür und stach mit dem Messer auf das Schloss ein in der Hoffnung, es zu öffnen. Es blieb verschlossen. Dann hörte ich das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels. Ich trat gegen die Tür, die sich öffnete. Es war Sheikhi, […] der Mann, der stets Sarbandis Schatten war. Er fragte, was los sei, aber ich rannte aus der Tür, denn jetzt waren sie zu zweit und würden mich sicher umbringen. […] Ich konnte hören, wie Sarbandi hinter mir herlief und schrie: »Dieb! Dieb!« Dann hörte ich, wie sich die Aufzugtür öffnete, und ich sprang hinein. Während sich die Fahrstuhltür schloss, sah ich, wie Sheikhi die Wohnung mit einigen Dokumenten in den Händen verließ. […]

Als ich auf die Straße trat, rieb ich mir die Hände an meinem schwarzen Mantel ab. Ich rief den Notarzt an und sagte, dass es einen Unfall gegeben habe. […] Ich war mir sicher, dass Dr. Sarbandi wieder gesund würde, denn das Mehrad-Krankenhaus war ganz in der Nähe; so nah, dass man, wenn man sich eine Arterie aufschnitt, dort ankommen würde, bevor man verblutet. [13] […]

Ich saß in einem Taxi nach Hause mit dem Messer in meiner Handtasche.[14]

[5]Samstag ist im Iran der erste Arbeitstag der Woche. [6]Reyhaneh Jabbari, Selbstverteidigungsbrief 1, 2014 [7]Hijab, hidschāb oder hidschab ist ein arabischer Begriff und gleichzusetzen mit einem Kopftuch. [8]Manto leitet sich von dem französischen Wort für Mantel, manteau, ab. Er ist normalerweise weit geschnitten, um Haut und die Körperformen der Frau zu verdecken. [9]Der Begriff mahram oder mehram bezeichnet im Islam ein Verwandtschaftsverhältnis, in dem Heirat sowie Geschlechtsverkehr verboten sind. [10]Laut Polizeibericht wurde eine Packung Kondome in der Wohnung gefunden. [11]Reyhaneh Jabbari, Selbstverteidigungsbrief 1, 2014 [12]Audioaufnahme Reyhaneh Jabbari über die Vorkommnisse am 07.07.2007 [13]Die Wohnung und das Krankenhaus liegen 200 Meter voneinander entfernt. [14]Reyhaneh Jabbari, Selbstverteidigungsbrief 2, 2014

Nächtlicher Besuch

Der 7. Juli 2007 war ein heißer Tag, ein sehr heißer Tag. Das Sommersemester hatte begonnen, und meine Arbeit als Leiterin des kollektiven Kulturhauses war diesmal besonders anstrengend und aufreibend gewesen. Erschöpft kam ich nach Hause und verrichtete die noch zu erledigende Hausarbeit. Meine Töchter und ich waren verabredet, wir wollten am Abend gemeinsam durch die Straßen bummeln. Reyhaneh hatte mich kurzfristig telefonisch darüber informiert, dass sie sich mit Sarbandi und Sheikhi zur Besichtigung der umzugestaltenden Praxisräume treffen wollte. Ich war leicht verärgert, weil sie sich über meine Bedenken bezüglich Sarbandi hinweggesetzt hatte, und hatte ihr das Versprechen abgerungen, pünktlich zu Hause zu sein.

Aber Reyhaneh kam nicht zur vereinbarten Zeit. Ich schickte ihr eine SMS nach der anderen, versuchte sie telefonisch zu erreichen, aber sie antwortete nicht.

Gegen acht Uhr öffnete sich endlich die Haustür, und Reyhaneh trat ein. Hastig zog sie ihren dunklen Schal aus. Sie war blass. »Was ist geschehen?«, fragte ich besorgt.

»Ich hatte einen schlimmen Unfall mit dem Auto einer Freundin.«

»Bist du verletzt?«

»Nein. Es war nur ein Blechschaden.«

Ich musterte Reyhaneh prüfend. Sie entzog sich meinem Blick und ging schnell in ihr Zimmer. Ich brachte ihr einen Apfel und ein Glas Wasser.

Sie hielt meine Hand, schaute mir in die Augen und sagte: »Sag mir, was passiert ist. Warum bist du so unruhig?« Ich versteckte meine Augen vor ihr. Sie hat ein erstaunliches Talent, in meinem Blick zu lesen. Ich wollte nicht, dass sie erfuhr, was passiert war. […] »Mama! Ich glaube, es gab einen großen Schaden.« Sie antwortete: »Es spielt keine Rolle, wie groß der Schaden ist. Sei dankbar, dass du niemanden angefahren hast und nicht verletzt wurdest. Es wäre besser gewesen, wenn du keinen Unfall gehabt hättest, aber es ist passiert und liegt jetzt in der Vergangenheit.«

Ich beruhigte mich für ein paar Augenblicke. Sie legte sich neben mich, hielt mit ihrer Hand meinen Nacken und streichelte mein Haar. Mein Kopf lag auf ihrer Brust, und mein ganzes Wesen war erfüllt von Geborgenheit und Frieden. Ich fühlte mich frei in ihrer warmen Zärtlichkeit. Sie flüsterte in mein Ohr: »Wenn ich dich in Unruhe sehe, ist es, als ob mir jemand ins Herz sticht. Ich möchte nicht, dass du traurig bist.« Aber ich war traurig. Sie fragte: »Was ist aus deinem Geschäft mit Sarbandi und Sheikhi geworden? Hast du sie getroffen?« Ich seufzte und sagte: »Ja, habe ich.« Sie wollte wissen: »Hast du ein Geschäft mit ihm abgeschlossen?« Ich antwortete: »Nein, ich will den Job nicht.« Sie sagte: »Oh! Das ist gut. Ich hatte nie ein gutes Gefühl dabei. Wurdest du von ihnen nach Hause gefahren?« Ich erwiderte: »Ja.« Aus tiefstem Herzen wollte ich laut weinen und ihr erzählen, was geschehen war, aber ich tat es nicht.[15]

Als das Abendessen fertig war – es gab koko sibzamini, das iranische Pendant zu Kartoffelpuffer –, rief ich nach Reyhaneh. Sie kam nicht. Als sie nach weiteren Rufen immer noch nicht erschien, sah ich in ihr Zimmer. Sie schlief. Ich weckte sie nicht und schloss leise ihre Tür.

In der Nacht wachte ich mit Nackenschmerzen auf. Ich hatte Char Khooneh, eine beliebte iranische Comedy-Serie, angesehen und war auf dem kühlen Steinboden vor dem Fernseher eingeschlafen. Fereydoon hatte das Programm lautlos gedreht und schlief auf dem Sofa. Es brannte kein Licht, nur das Flimmern des Fernsehapparates warf unruhige Muster an die Wände. Als ich in unser Schlafzimmer gehen wollte, stand plötzlich im dunklen Flur ein Mann vor mir. Ich erschrak. Hektisch griff ich nach einem Schal und bedeckte mich. »Was wollen Sie in meinem Haus?«

Ende der Leseprobe