Willkommen in Schattenfall - Diandra Linnemann - E-Book

Willkommen in Schattenfall E-Book

Diandra Linnemann

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Beschreibung

Das ist also Schattenfall. Was für ein Kaff! Nur schnell das gestohlene Portemonnaie abgeben, dann ist Thomas auch schon wieder weg - ein paar Tage bei seinem Vater unterkommen. In Berlin hat er nämlich Stress mit gefährlichen Leuten bekommen, und das nicht ganz unverschuldet. Helga, die rechtmäßige Besitzerin des Portemonnaies, ist allerdings unauffindbar. Immerhin hat sie ihm zwei Überraschungen zurückgelassen: Den Schlüssel zu ihrem Haus ... und Geronimo, einen besitzergreifenden Ganter mit Hang zum Größenwahn. Auch die anderen Bewohner Schattenfalls haben ihn erwartet. Nicht alle sind jedoch glücklich, als er zu bleiben beschließt. Zwischen Kürbisfest und lokalen Fehden, Magie und Mythen verbirgt dieser pittoreske Ort ein düsteres Geheimnis. Und Wassermagier Thomas ist aus einem bestimmten Grund hergelockt worden: Er soll herausfinden, warum Leute in den Wäldern rund um Schattenfall verschwinden, und den Fluch brechen.

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Für alle, die geduldig

auf die Magie gewartet haben.

Diandra Linnemann, Jahrgang 1982, wohnt und lebt im Rheinland. Dort übersetzt sie tagsüber medizinische Texte ins Englische und lässt ihre Charaktere nachts auf dem Papier wüste Abenteuer erleben. Sie fühlt sich unter Hexen und Geistern genauso zuhause wie in der Welt garstiger Tentakelwesen. Ihr Körper besteht fast ausschließlich aus Kaffee und teilt eine Wohnung mit einem geduldigen Mann, zwei verwöhnten Katzen, einigen afrikanischen Riesenschnecken und einem Dutzend sterbender Zimmerpflanzen.

Weitere Werke der Autorin:

Der Hirschkönig (Eigenverlag, 2013)

Ich trat aus dem Wald und sah … (Eigenverlag, 2015)

Lilienschwester (Eigenverlag, 2015)

Andrea die Lüsterne und die lustigen Tentakel des Todes

(Chaospony Verlag, 2017)

MAGIE HINTER DEN SIEBEN BERGEN:

Allerseelenkinder (Eigenverlag, 2013)

Spiegelsee (Eigenverlag, 2014)

Hexenhaut (Eigenverlag, 2014)

Waldgeflüster (Eigenverlag, 2015)

Feuerschule (Eigenverlag, 2016)

Knochenblues (Eigenverlag, 2017)

Lichterspuk (Eigenverlag, 2018)

Feengestöber (Eigenverlag, 2018)

Grimmwald (Eigenverlag, 2018)

INHALT

Ein verregneter Start

Man lässt sich häuslich nieder

Ein Fall von Waldläufer-Syndrom

Rosalinda

Das Dorf und seine Geheimnisse

Alles für die Gemeinschaft

Man kommt vom Dorf in die Traufe

Der Hauch einer Idee

Stadttreffen – das Revival

Hinab in die Tiefe

Countdown zum Kürbisfest

Trautes Heim, Glück allein

Ein verregneter Start

Auf den ersten Blick wirkte Schattenfall wie ein ganz normales, pittoreskes Städtchen – mit hübschen Häusern, einem geschmückten Marktplatz und Geschäften, in denen man alles kaufen konnte, was das Touristenherz begehrt. Nicht einmal bei genauem Hinsehen bemerkten die meisten all die winzigen Ungewöhnlichkeiten, die diesen eigenartigen Ort auszeichneten. Und Thomas war bei seiner Ankunft, da schlecht gelaunt, alles andere als aufmerksam.

Zuerst einmal war er nicht freiwillig hier. Das Pflaster in Berlin war in den letzten Tagen einfach zu heiß geworden, und Untertauchen aktuell die beste Option. Außerdem war sein Auto verreckt – einige Kilometer vor dem Ort, auf einer schmalen Straße, auf der an diesem vermaledeiten Oktobertag kein einziger anderer Wagen unterwegs war. Es stank ihm sowieso schon, dass er bis hierher, ans Ende der Welt, hatte fliehen müssen. Dass er das Ende der Welt nun auch noch im Regen und zu Fuß erreichte, nur mit einem Rucksack voller Klamotten bepackt, setzte dem Ganzen die Krone auf.

Und zu guter Letzt war nicht einmal sicher, dass seine Probleme sich hier tatsächlich in Luft auflösen würden.

Diese verdammte Da Silva!

Thomas‘ Sneaker waren klatschnass. Sie hinterließen einen schlammigen Abdruck auf der rechteckigen Messingplakette, die in Kniehöhe in einen dekorativen gipsfarbenen Stein eingelassen war. Ein Dreizeiler hieß Besucher in Schattenfall willkommen.

Wo immer drückt des Wand'rers Schuh,

Sei uns willkommen!

Find zur Ruh!

Als ob sich jemals ein Mensch klaren Verstandes freiwillig hierher verirren würde!

Und dichten konnten sie offenbar auch nicht.

Am liebsten hätte Thomas noch ein zweites Mal zugetreten.

In genau diesem Moment schwankte ein hoch mit Blumen beladener Pickup um die Kurve.

Er röhrte so dicht an ihm vorbei, dass Thomas beiseite springen musste, um vom aufspritzenden Wasser nicht komplett durchnässt zu werden.

»Arschloch!«, brüllte er dem Fahrer hinterher.

Schattenfall lag zwischen bewaldeten Bergen in ein Tal geschmiegt, das die Ausdehnung des Ortes auf natürliche Weise begrenzte.

Dunstschwaden quollen zwischen den Baumkronen die Hänge hinab. Ein glänzendes Band rahmte das Städtchen ein – ein Fluss, oder wenigstens ein sehr ambitionierter Bach.

Der Ortseingang befand sich etwas erhöht, und man erhielt einen guten ersten Eindruck. Dann musste man eine hölzerne Brücke überqueren, auf der der Pickup matschige Reifenspuren hinterlassen hatte. Jemand hatte die Brückengeländer mit bunten Bändern geschmückt. Bei diesem Wetter hingen sie allerdings nur traurig herunter. Im Vorbeigehen riss Thomas an einem von ihnen, betrachtete angewidert das feuchte Kreppband in seiner Hand und ließ es auf die rutschigen Bretter fallen. Zurück blieb ausgewaschene blaue Farbe, die sich sofort in den feinen Linien seiner Handfläche absetzte.

Auf der anderen Seite des Flusses wand die Straße sich dem Ortskern entgegen, der dem Herbstregen mit bunten Farben trotzte. Die Häuser, die sich um den Marktplatz drängten, bildeten ein fröhliches Durcheinander. Einige wirkten, als seien sie im Laufe von Jahrhunderten mit der Landschaft verschmolzen. Äste schienen durch Wände zu wachsen, Felsen ragten aus Treppen hervor, das Licht spielte dem Betrachter Tricks.

Andere sahen nüchtern und zweckmäßig aus, mit quadratischen Fenstern und weiß verputzten Wänden. Ein oder zwei größere Gebäudeklötze erhoben sich wichtig über die anderen, geschmückt mit Dutzenden Antennen, und bei manchen … Gebäuden war Thomas sich nicht sicher, ob es sich nicht in Wahrheit um überdimensionierte Zelte oder Jurten handelte. Außerdem konnte er einen schüchternen Kirchturm ausmachen und eine Ansammlung von Bäumen in der Mitte des Ortes, die wohl einen Stadtpark andeuten sollte. Dann folgten weitere Häuser, kleiner diesmal. Das Vor-Städtchen? Thomas schnaubte. In der Ferne blinkten bunte Lichter zwischen ausladenden Baumkronen.

Straßenschilder allerdings konnte er nicht entdecken. Wo lebte diese Helga Da Silva bloß? Die hatte ihm den ganzen Schlamassel schließlich eingebrockt! Und dann brauchte er ein Telefon und einen Abschleppdienst. Je schneller er von hier verschwinden konnte, desto besser. Sein Vater würde sich freuen, ihn für ein paar Tage zu sehen. Vielleicht konnte er ihm erzählen, er wolle ein Praktikum in der Firma machen – in die faszinierende Welt der Gartenmöbel eintauchen. Der musste ja nicht wissen, dass er sich eigentlich nur verstecken musste.

Obwohl es gar nicht so spät war – noch nicht einmal sieben – waren sämtliche Schaufenster dunkel. Egal ob Blumenladen, Schreibwarengeschäft oder Kiosk für Nippes – niemand schien um diese Uhrzeit zahlende Kunden zu erwarten. Wovon lebten all diese Menschen bloß? Thomas passierte eine gigantische Marmornymphe, die sich aus einem muschelförmigen Springbrunnen erhob, bog aufs Geratewohl in eine breite Straße ab und musterte die Hausfassaden. Wenn die Deppen hier auf Tourismus machten, musste es ein Hotel geben. Oder wenigstens eine Kneipe!

Zu sehen war von solchen Etablissements allerdings nichts. Vorsichtig arbeitete er sich auf dem rutschigen Kopfsteinpflaster vorwärts.

Einen Supermarkt fand er, ein Schuhgeschäft und die zum Turm gehörende Kirche, gelb verputzt, die sich schüchtern zwischen mächtigen Linden versteckte. Es gab eine Autowerkstatt, doch auch die war geschlossen.

Regen prasselte auf den pockennarbigen Hof und tropfte von einem altmodischen Aushängeschild aus Blech.

Thomas begann zu frieren.

In einer schmalen Seitenstraße fand er schließlich tatsächlich eine Art Gastwirtschaft.

Das Ding hieß Zur kichernden Nymphe, hatte sonst aber wenig Ähnlichkeit mit einem Bordell. Die Fenster waren aus rautenförmig angeordnetem honigfarbenem Buntglas. Die Tür stand offen. Drinnen konnte er im Dämmerlicht einige Tische und einen abgelebten Tresen sehen. Es gab nur wenige Kunden. Niemand redete, und der Billardtisch stand verlassen in der Ecke. Die Leute hier hatten das Temperament von feuchten Wattestäbchen. Dorfbevölkerung eben, mit einförmigen Gesichtern und eintönigen Leben.

Die Stimmung schien gedrückt. Alle starrten in ihre Getränke. Es war bestimmt kein einladendes Bild. Dennoch betrat Thomas den Laden. Was blieb ihm auch anderes übrig?

Seine Schuhe hinterließen schmutzige Abdrücke auf dem gefliesten Boden, als er auf den Typen hinter dem Tresen zuging.

»Keine Kartenzahlung«, knurrte dieser anstelle einer Begrüßung und musterte Thomas über die Gläser seiner randlosen Brille hinweg. So mussten Hipster aussehen, wenn sie in die Jahre kamen. Sogar der Manbun war da, mit grauen Strähnen durchzogen.

Natürlich hatte Thomas kein Bargeld dabei.

»Wo ist der nächste Geldautomat?«, fragte er und bemühte sich um Freundlichkeit in der Stimme.

»In der Kreisstadt.«

Fuck. Verfickter Dreck.

Thomas zwang sich zu lächeln. »Kann man eben nichts machen, hab ich Recht? Aber vielleicht kannst du mir helfen – ich suche das Haus von Helga Da Silva.«

Die Augenbrauen des Barkeepers wanderten in die Höhe.

Thomas spürte ein Flirren, als flattere ein Schwarm Schmetterlinge über seine Oberarme.

Der Barkeeper murmelte etwas, das verdächtig nach nicht schon wieder klang, zog das Handtuch von der Schulter und wischte über den glänzenden Tresen. Thomas dachte schon, er würde keine Antwort mehr bekommen.

Aber der Typ raffte sich doch noch auf. »Aus der Tür rechts, die Straße bis zum Ende entlang, dann zweimal links und immer weiter, bis du die Gans siehst. Bei den Wohnwagen bist du zu weit gegangen. Aber in der Straße kannst du an jede Haustür klopfen, die helfen dir bestimmt.« Abrupt drehte er sich um, zapfte ein Bier und knallte das volle Glas auf ein rundes Tablett.

Thomas wartete noch einen Moment. Als nichts mehr kam, beschloss er, dass er wohl entlassen war. »Vielen Dank auch!«, rief er im Hinausgehen.

Der Regen war stärker geworden, und der Himmel dunkler. Thomas beeilte sich, der Wegbeschreibung zu folgen, und erreichte nach wenigen Minuten ein malerisches Wohnviertel mit eindeutig älteren Häuschen, die zwischen dichten Büschen kauerten. Seine durchweichten Schuhe drückten und scheuerten. Wo war diese verdammte Gans?

Und wie sollte er sich das überhaupt vorstellen?

Oh.

Der Typ hatte eine echte Gans gemeint.

Sie stand mit hochgerecktem Hals auf einer überdachten Veranda und behielt die Straße im Auge.

Was für ein Kaventsmann.

Thomas blieb an dem knapp hüfthohen Gartentor stehen. Er erinnerte sich dunkel an Warnungen vor Gänsen. War da nicht irgendwas im Lateinunterricht gewesen?

Unschlüssig betrachtete er die benachbarten Häuser. Sein Blick wanderte die Straße entlang. Am Ende der Straße sah er buntes Blinken zwischen schwarzen Ästen. Vielleicht waren dort die Wohnwagen, die der Kerl gemeint hatte.

Okay, auch wenn das ein stattlicher Braten war, konnte Thomas ihm doch auf den Kopf spucken. Von dem ging wohl keine größere Gefahr aus. Außerdem musste er dringend dieser Da Silva ihr Portemonnaie zurückgeben.

Wenn sie überhaupt zu Hause war.

Alle Fenster waren dunkel.

Hoffentlich ging sie einfach früh schlafen.

Es gab keine Klingel am Gartentor, nur abblätternde Farbe. Thomas drückte die knarzende Klinke hinunter, den wachsamen Blick auf die Gans gerichtet.

Die watschelte die Verandastufen hinunter auf den kurz gehaltenen Rasen, die dunklen Knopfaugen auf den Eindringling gerichtet.

Ganz langsam, nur ja keine hastige Bewegung … In einem weitem Bogen näherte Thomas sich der Veranda.

Plötzlich schrie die Gans. Es klang, als müsse sich eine Hupe übergeben. Sie schlug mit den Flügeln und ging zum Angriff über.

Entschlossen hackte sie nach Thomas‘ Hosenbein.

Der sprang geistesgegenwärtig auf die Holzbank, die an der Wand stand.

Die Fenster des Hauses blieben dunkel.

Dafür ging nebenan das Licht an, und eine schmale Silhouette öffnete die Tür.

»Geronimo, alles in Ordnung?«

Die Gans fauchte empört und schnappte nach Thomas‘ Schuh.

Er holte zum Tritt aus.

»Hey!«, rief die fremde Person, lief los und setzte mühelos über den Zaun. »An deiner Stelle würde ich das nicht tun.«

»Dann soll das Vieh mich nicht angreifen!«

Misstrauisch behielt Thomas den Vogel im Auge. Die Ankunft der Fremden hatte ihn für den Moment abgelenkt. Sein weißer Bürzel wackelte aufgeregt hin und her.

Beim Näherkommen entpuppte die fremde Person sich als schwarzgekleidete Frau unbestimmten Alters mit langen straßenköterblonden Haaren, die in einem unordentlichen Pferdeschwanz einigermaßen gebändigt waren. »Der bewacht nur das Haus, solange Helga nicht da ist.« Sie ging in die Hocke und strich mit einer langfingrigen Hand über den Hals des empörten Vogels. Das schien ihn tatsächlich zu beruhigen.

Thomas blieb dennoch auf der Hut. »Wann kommt sie wieder?«, fragte er aus luftiger Höhe.

Die Frau sah nicht auf. »Keine Ahnung.«

»Mist.«

Ihre Knie knackten, als sie sich in die Höhe stemmte. »Was willst du von Helga? Ach, lass mal. Ich denke, ich weiß schon. Unter diesen Umständen nimmst du am besten das hier.«

Sie griff in den Kragen ihres Sweatshirts und zog einen Schlüsselbund hervor, der an einer türkisfarbenen Kordel hing. »Du kannst es dir drinnen gemütlich machen. Bestimmt hat sie alles vorbereitet. Und wenn du Fragen hast, weißt du ja, wo du mich findest.«

Verdutzt nahm Thomas den Schlüssel entgegen. Wieso vertraute eine wildfremde Frau ihm dieses Haus an? Die waren hier doch alle nicht ganz dicht. Aber wenn es bedeutete, dass er nicht länger bibbernd in der Kälte stehen musste … »Danke.«

»Keine Ursache. Ich hoffe nur, Helga hat sich nicht geirrt. Man sieht sich!«

Thomas sah ihr nach, bis ihre Haustür sich schloss. Er hatte ganz vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen.

Ein Schnabelklappern ließ ihn zusammenzucken. Geronimo – was für ein blöder Name für eine Gans – beobachtete ihn immer noch. Aber er schien sich beruhigt zu haben. Wenigstens ein bisschen. Sein weißes Gefieder leuchtete in der Dunkelheit, und er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Schon gut, Alter, ich brauch nur einen Platz zum Pennen.« Vorsichtig stieg Thomas von der Bank, drehte sich um und steckte den Schlüssel ins Schloss. Der Mechanismus hakte im ersten Moment und knirschte, aber dann ließ die Tür sich mit leichtem Druck öffnen.

Mit der linken Hand tastete er nach einem Lichtschalter.

Das Innere des Erdgeschosses bestand aus einem einzigen Raum. Ein halbes Dutzend Lampen an den Wänden tauchten ihn in ein warmes Licht. Die Möbel sahen aus, als seien sie aus einem Landhaus-Katalog der Neunziger gestohlen: Ein grün und senffarben kariertes Sofa, auf dem mehrere dunkelblaue und bordeauxfarbene Decken lagen. Ein niedriger Tisch aus dunklem Holz, die Oberfläche leicht zerkratzt. Hinten rechts gab es eine meergrüne Küchenzeile mit einer Arbeitsplatte aus Kiefernholz. An den Wänden hingen detaillierte Zeichnungen von Pflanzen, die Thomas nicht identifizieren konnte. Es roch abgestanden und nach kaltem Räucherwerk.

Automatisch streifte er die schlammverschmierten Schuhe von den Füßen und ließ sie auf der Schmutzfangmatte stehen.

Die Bewohnerin liebte dieses Haus wohl sehr.

Er drehte eine Runde durch den Raum, ließ seine Finger über die abgenutzten Bücher in den Regalen gleiten: Liebesromane und Sagensammlungen. Wer war die Frau, deren Geldbörse er gestohlen hatte?

Auf einer Kommode neben der Treppe, die in den ersten Stock führte, stand ein schwarzes Telefon. Daneben lag ein Umschlag. Thomas wusste nicht wieso, aber er war sich sicher, der war für ihn. Dennoch musste er sich überwinden, ihn zu öffnen.

Da bist du also.

Ich hoffe, ich habe mich diesmal nicht getäuscht.

Auch wenn nicht alle Bewohner hier meiner Meinung sind – wir brauchen deine Hilfe.

Oder die Hilfe von jemandem wie dir. Ich weiß noch nicht, wie ich dich finden werde.

Das Bett im Gästezimmer ist frisch bezogen, und im Kühlschrank stehen Lebensmittel. Die Bank hat von neun bis zwölf offen, wenn du Geld brauchst.

Mein Arbeitszimmer (blaue Tür) ist privat.

Ich kehre zurück, sobald ich kann.

Hoffentlich habe ich mich nicht geirrt.

Helga

PS: Willkommen in Schattenfall

Thomas ließ den Brief sinken und sah aus dem Fenster. Draußen war alles schwarz.

Was zum Teufel war hier los?

Egal. Jetzt musste er erst einmal aus den nassen Sachen raus, und hungrig war er auch.

Offenbar war er ja ein erwarteter Gast, also brauchte er auch kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er es sich gemütlich machte.

Das Gästezimmer musste im ersten Stock sein.

Er tapste auf feuchten Socken die knarrende Treppe hinauf und fand sich in einem kurzen hellen Flur wieder, von dem vier Türen abgingen. Alle waren in unterschiedlichen Farben gestrichen. Die ersten beiden – eine gelb, eine grau – standen offen. Die graue führte in ein komplett weiß eingerichtetes Badezimmer, in dem ein Stapel bunter Handtücher den einzigen Farbakzent bildete.

Hinter der gelben lag das Gästezimmer. Bett, Schreibtisch, Stuhl, leerer Schrank. Auf einer niedrigen Kommode, die kunstvoll abgenutzt aussah, stand eine Auswahl an Hygieneartikeln – Tampons, Binden, Rasierer, ein Schälchen mit wohlduftenden Seifen in Blütenform.

Daneben ein Becher mit einzeln verpackten Zahnbürsten und ein Glas mit einem von Hand beschrifteten Etikett: ZAHNPUTZPULVER.

Die nassen Klamotten breitete Thomas auf der Lehne des Stuhls und der Schreibtischkante aus, damit sie trocknen konnten. Die ungetragenen Sachen in seinem Rucksack hatten ebenfalls unter dem Wetter gelitten. Nur in Shorts ging er über den Flur und schloss die graue Tür hinter sich ab. Zur Sicherheit, falls Geronimo ihn hier oben heimsuchen wollte.

Das Bad war winzig und heizte sich schnell auf. Als der heiße Strahl seine Schultern traf, fühlte Thomas sich sofort wie zu Hause. Das Wasser schien zu ihm zu sprechen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf dieses Gefühl, bis sämtliche Verspannungen aus seinem Körper gewaschen waren. Das war kein Vergleich zu dem Altbau-Rinnsal in seiner WG. Dann griff er zur Blumenseife.

Am längsten dauerte es, die Reste der blauen Farbe aus seiner Handfläche zu waschen. Jetzt kam er sich albern vor, dass er sich von einem Kreppband hatte nerven lassen. Er trocknete sich mit einem unglaublich weichen Handtuch ab und strubbelte sich mit den Fingern durchs Haar. Schließlich schlüpfte er in eine schwarze Jogginghose und ein ausgeleiertes graues T-Shirt. Dann begann er mit einer gründlichen Inventur.

Natürlich öffnete er zuerst die blaue Tür. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber er wurde definitiv nicht enttäuscht. Regale mit abgegriffenen Büchern füllten die Wände. Es gab etliche Fachwerke über Insekten und Pflanzen. Andere behandelten die Frage der richtigen Mondphase, erzählten von Gottheiten oder der Wahl der korrekten Kerzenfarbe. Dass sie eine Hexe war, hatte er sich schon gedacht.

Manche der Bücher waren für Novizen der Kunst gedacht, andere so obskur, dass er sich unter den Titeln nichts vorstellen konnte. Er nahm eines aus dem Regal, blätterte darin und betrachtete verständnislos die geometrischen Muster, die der Autor in winziger Schrift erklärt hatte. Irgendwas mit Astralebenen. Das überstieg sein begrenztes Wissen bei weitem.

Und besonders interessant war es auch nicht.

Er stellte das Buch vorsichtig an seinen Platz zurück und setzte die Erkundungstour fort.

Ein Schreibtisch am Ende des Raums nutzte das Licht, das tagsüber durch das Fenster fallen mochte. Davor stand ein niedriger Altar voller getrockneter Pflanzenteile, wachsverkrusteter Muscheln, Knochen und Äste. Am Rand lag ein Touristenführer mit einem aufgerichteten Bären auf dem Cover.

Daneben sah er ein winziges Bündel aus Zweigen, in ein ungefärbtes Stück Stoff gewickelt. Es ähnelte entfernt den Puppen, die seine kleine Schwester früher im Garten gebastelt hatte.

Auf dem Schreibtisch fanden sich keine weiteren Hinweise. Er hatte zwei verschlossene Schubladen, die Thomas gewiss hätte knacken können, doch etwas hielt ihn davon ab. Vielleicht war es Tante Karins Stimme, die ihn ermahnte, die Privatsphäre anderer Praktizierender stets zu respektieren.

Oder die Angst vor Fallen, die ihn die Finger kosten konnten. Er verließ den Raum und zog die Tür vorsichtig hinter sich ins Schloss.

Das Schlafzimmer war im gleichen Farbton gestrichen wie die Küchenzeile, und Pflanzen mit dunklen, herzförmigen Blättern rankten sich über sämtliche Wände. Das Bett aus beinahe schwarzem Holz war riesig. Darüber bauschte sich ein weißer Betthimmel, als er die Tür öffnete. Der nachtblaue Überwurf ließ den Raum noch kleiner und dunkler wirken. Ein Wandschrank mit weiß gestrichenen Holztüren nahm die komplette rechte Seite des Raumes ein. Er enthielt Blusen, Röcke und Kleider in bunten Farben. Thomas fand nur zwei ausgeblichene Jeanshosen, dafür mindestens ein Dutzend Handtaschen in verschiedenen Größen. Haken, die an der Innenseite ins Holz der Schranktüren geschraubt waren, hielten große bunte Halsketten. Sie waren aus Holz, Leder und Filz mit gelegentlichen Glasperlen.

Am Boden standen Sandalen. Viele Sandalen.

Thomas drehte sich um und blieb beim Verlassen des Zimmers mit dem Blick an Schwarzweißfotos hängen, die die Wand neben der Tür zierten. Es waren altmodische Bilder, teilweise vergilbt, und sie zeigten Schwarze in merkwürdigen, wahrscheinlich nicht authentischen Kostümen, wie man sich früher wohl vorgestellt hatte, dass Eingeborene sie trugen. Eines der Bilder war definitiv aus einer Zeitung ausgeschnitten. Am unteren Rand konnte man die Reste einer Überschrift erkennen, die sich allerdings nicht mehr entziffern ließ.

Thomas‘ Magen knurrte so laut, dass er selbst erschrak. Schnell verließ er das fremde Schlafzimmer und kehrte ins Erdgeschoss zurück.

Der Kühlschrank sah von außen aus, als stamme er noch aus den Fünfzigern. Von innen war er sauber, gut beleuchtet und mit lauter haltbaren Dingen gefüllt, die ein begabterer Koch in eine vollwertige Mahlzeit hätte verwandeln können. Thomas vertilgte stattdessen mehrere Scheiben dunkles Brot mit in Öl eingelegtem Feta und Tomatenmark. Er suchte nach Bier, fand keins und nahm sich stattdessen eine Kräuterlimo von einer Firma, von der er noch nie etwas gehört hatte. Der Küchentisch stand direkt unter dem Fenster, halb eingerahmt von der obligatorischen gepolsterten Eckbank, die wohl jeder Mensch über fünfzig in seinem Zuhause hatte. Sie war erstaunlich bequem – wenn man nicht auf Beinfreiheit stand.

Kauend warf Thomas einen Blick auf den Zeitungsstapel, der sich neben ihm auftürmte.

Die oberste Schlagzeile versprach ein phänomenales, nie dagewesenes Kürbisfest. Es musste ja so aufregend sein, hier zu leben.

Nachdem der Hunger gestillt war, wurde er durch Müdigkeit ersetzt. Thomas räumte die Küche nur notdürftig auf, ehe er das Licht im Erdgeschoss löschte und mit schweren Beinen in den ersten Stock hinaufging. Morgen würde er sich darum bemühen, dass jemand seine Karre flottmachte, und dann wäre er auch schon wieder auf dem Weg.

Als er aufwachte, hatte Thomas keine Erinnerung daran, sich ausgezogen zu haben.

Dennoch lag er, nur in Boxershorts, im Gästebett dieser seltsamen Unbekannten, und eine wütende Gans stand auf seinem Brustkorb.

Ein Ganter, korrigierte er sich im Halbschlaf.

Ein fauchender Ganter.

»Du magst mich wohl nicht, oder?«, murmelte Thomas. »Bist du überhaupt stubenrein?« Er setzte sich ruckartig auf und schob die Bettdecke mitsamt Vogel beiseite. Der landete mit einem dumpfen Plumps auf dem Boden, ruderte mit den Flügeln, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und quakte empört.

Quakten Gänse?

Thomas sprang aus dem Bett.

Er musterte den Vogel. »Wie bist du überhaupt hier reingekommen? Reg dich ab. Ich will dein blödes Zuhause gar nicht.« Thomas kam sich nur ein bisschen albern vor dabei, mit einem Tier zu reden. »Keine Sorge! Sobald der Schrotthaufen wieder fährt, bin ich hier weg.«

Der Ganter legte den Kopf schief. Dann reckte er schlagartig den Hals, schnappte einmal nach Thomas und watschelte indigniert aus dem Zimmer Richtung Treppe.

Kopfschüttelnd schlüpfte Thomas in seine immer noch feuchten Sachen und schlurfte ins Bad. Er wollte kein zweites Mal in Unterwäsche von diesem Ungetüm erwischt werden.

Das Erdgeschoss war pervers sonnig. Thomas kniff die Augen zusammen und schlurfte Richtung Küche. Dort stöberte er herum, bis er in einem Schrank zwischen dunklen Tellern und bunten Schüsseln eine noch nicht angebrochene Packung Cornflakes. Er öffnete den Kühlschrank und nahm einen kleinen Schluck Milch direkt aus der Flasche – war noch gut. Mit dem Frühstück in der Hand setzte er sich an den Küchentisch und verknotete die Beine unter der Bank. Mildes Herbstsonnenlicht wärmte ihm den Nacken. Er drehte sich um und sah in den Garten hinaus.

Überall wucherte es grün, gelb und orange, eine Ordnung war nicht zu erkennen. Darüber wölbte sich ein milchig-blauer Himmel. Von Regen vorerst keine Spur. Und er wusste auch schon, wie er diesen schönen Tag verbringen würde – er würde seinen Wagen reparieren lassen, Helgas Portemonnaie auf den Wohnzimmertisch legen und machen, dass er von hier fortkam. Und wenn er Schattenfall nie wieder sah, war das noch früh genug. Es reichte, dass sein Vater in so einem Kaff lebte, aber da hatte er wenigstens noch seine alte Xbox, um sich die Zeit zu vertreiben. Und sobald die Dinge in der Stadt sich ein bisschen beruhigt hatten, wäre er wieder am Start.

Vielleicht würde er es sogar noch einmal mit dem Studium versuchen, diesmal ernsthaft.

In der Schublade unterm Telefon fand er ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten – die Gelben Seiten. Das Verzeichnis war ziemlich dünn, und er musste auch nicht lange suchen.

Es gab genau eine Werkstatt im Ort, und die hatte er gestern schon gesehen. Schnell wählte er die Nummer, aber außer einem gleichgültigen Tuten bekam er nichts zu hören.

War es noch zu früh? Er sah auf die Uhr. Halb neun, da sollten Mechaniker schon längst am Werk sein. Na gut, dann eben auf die altmodische Tour.

Geronimo kam um das Sofa herumgewatschelt und beobachtete ihn feindselig. Oder war das der ganz normale Gänse-Gesichtsausdruck? Er konnte diese schwarzen Knopfaugen einfach nicht deuten.

Der Schlamm auf seinen Schuhen war getrocknet und begann abzubröckeln, als er sie in die Höhe hob. Er gab sich Mühe, sie über der Schmutzfangmatte anzuziehen. Schließlich war er kein unhöflicher Gast. Er würde die Unordnung, die er hinterließ, auf ein Minimum beschränken. Hoffentlich erledigte sich diese ganze unglückselige Sache, wenn er erst einmal alles in seine alte Ordnung zurück überführt hatte.

Das Smartphone hatte er zu seinem kleinen Kurzurlaub nicht mitgenommen – er wollte unbedingt vermeiden, dass irgendeine App sich lokal einloggte und Dmitri verriet, wo er sich befand. Also auch keine digitale Karte, um sich zurechtzufinden. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich aufs Geratewohl Richtung Dorfplatz zu bewegen. Der Rest des Weges würde ihm dann bestimmt schon wieder einfallen.

Er sah hinüber zum Haus der Frau, mit der er gestern Abend geredet hatte. Alle Fenster waren dunkel. Eine schwarze Katze saß außen auf einem Fensterbrett, von dem die dunkelgrüne Farbe abblätterte, und beobachtete ihn aus gelben Augen.

»Du weißt nicht zufällig, wie ich zur Werkstatt komme?«, rief Thomas.

Die Katze blinzelte einmal und ließ ihre Schwanzspitze zucken.

»Grüße an die Dame des Hauses! Und nimm dich vor der Gans in Acht – ach, die kennst du bestimmt.« Offenbar hatte die eine Nacht Schlaf schon eine Menge getan, seine Laune zu verbessern. Gut, sein Leben war immer noch ein dampfender Misthaufen, aber die Sonne schien und niemand wusste, wo er war.

Das musste doch für irgendwas gut sein.

Schon nach wenigen Schritten beschloss er, seine schwarze Lederjacke auszuziehen, denn auch unter den ausladenden Bäumen, die die schmale Straße säumten, war es für die Jahreszeit noch ungewöhnlich warm. Die Luftfeuchtigkeit ließ sich wie eine Geisterhand in seinen blondierten Haaren nieder und machte alle Bemühungen, die er in seine Frisur gesteckt hatte, wieder zunichte. Er sah sich um. Am Ende der Straße flatterten kleine Fähnchen, die er letzte Nacht nicht bemerkt hatte, über den Baumwipfeln. Zwischen den sich bunt färbenden Blättern erkannte er im Tageslicht tatsächlich die Umrisse mehrerer riesiger Wohnwagen. Das war also nicht die richtige Richtung. Er drehte sich um und marschierte los.

Seltsamerweise kommt einem ein Weg beim zweiten Gehen kürzer vor. Das war an diesem Morgen für Thomas nicht anders. Aber er hätte sich auch gewundert, wenn Schattenfall so weitläufig wäre, wie sein erster Eindruck es ihm hatte vorgaukeln wollen. An jedem zweiten Haus sah er Kürbislaternen oder dekorative Vogelscheuchen. Bunte Aushänge, die bestimmt von jemandem ohne Designerfahrung, aber mit viel Herzblut gestaltet worden waren, luden zu Stadtversammlungen und gemeinsamem Apfelpflücken ein. Thomas widerstand der Versuchung, die Plakate abzureißen und zu zerknüllen. Aber er versetzte einem Fliegenpilz aus Kunststoff, der an einem Gartentor auf den Gehweg hinausragte, einen halbherzigen Tritt. Davon fühlte er sich direkt ein bisschen besser.

Nach nur wenigen Minuten semidestruktiven Fußwegs sah er auch schon das Schild der Kichernden Nymphe über der geöffneten Tür baumeln. Kräftige Hände in rosafarbenen Haushaltshandschuhen tauchten aus der Öffnung auf und gossen einen Eimer trübes Putzwasser schwungvoll Richtung Gullideckel.

Thomas musste abrupt abbremsen, um nicht von den schaumigen Spritzern getroffen zu werden. Auf dem feuchten Kopfsteinpflaster hätte er dabei beinahe das Gleichgewicht verloren.

»Upps!«, rief eine erstaunlich tiefe Stimme.

Handschuhe, Arme und Eimer verschwanden aus dem Eingang. Gleich darauf tauchte ein schlaksiger junger Mann aus der Tür auf, wischte sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem bleichen Gesicht und grinste verlegen.

»Hab dich nicht kommen sehen. Du bist neu hier, oder?«

Tratsch sprach sich wirklich schnell herum.

»Bin nur auf der Durchreise«, murmelte Thomas. »Ich hab gestern im Vorbeigehen etwas gesehen … irgendwo hier war eine Werkstatt, oder? Mein Auto ist vorm Ortseingang liegengeblieben.«

Der junge Mann beschrieb ihm den Weg. Es war nicht schwer, wahrscheinlich hätte Thomas ihn auch allein gefunden. Dennoch bedankte er sich und stiefelte weiter.

Die Werkstatt war tatsächlich schon offen.

Eine winzige Frau mit kurzen blonden Zöpfen schlug mit beeindruckenden Oberarmen und einem gigantischen Hammer auf ein verbeultes Stück Blech ein, das auf einem niedrigen Podest aus Ziegelsteinen lag. Was sie damit erreichen wollte, war ihm vom Zusehen nicht direkt klar.

Thomas wartete einen Moment neben dem mannshohen Gittertor darauf, dass sie ihn bemerkte. Aber die Fremde war zu sehr in ihre mysteriöse Tätigkeit vertieft.

Er räusperte sich.

Keine Reaktion.

Er hustete etwas lauter.

Das Hämmern änderte weder Rhythmus noch Intensität.

Vorsichtig näherte er sich ihr. »Entschuldigen Sie bitte …«

Die Frau fuhr herum und ließ den Hammer fallen – genau auf seinen Fuß. »Schleich dich doch nicht so an!«

Thomas fluchte und unterdrückte den Drang, wie eine Comicfigur auf einem Fuß über den vollgerümpelten Hof zu hopsen. »Autsch, verdammt!«

»Was stehst du auch so dicht hinter mir? Zeig mal her.« Die Frau beugte sich vor und machte Anstalten, nach seinem Schuh zu greifen.

»Nicht! Ich – ich meine, das geht schon.

Nichts passiert.« Vorsichtshalber humpelte Thomas einige Schritte zurück und aus ihrer Reichweite. »Aber mein Wagen hatte gestern vorm Ort eine Panne, könnten Sie …?«

»Oh, du musst Helgas Neuer sein!«

Was? »Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Haben Sie eine Möglichkeit, den Wagen abzuschleppen und ihn sich einmal anzuschauen?«

Der Blick der blonden Frau flitzte umher, als suche sie nach etwas. »Da muss ich erst in meinen Kalender schauen.«

In dem Moment erklang hinter Thomas eine Stimme, die ihm vage bekannt vorkam. »Tina, dein Abschleppwagen steht doch immer nur herum. Warum holst du das Auto nicht sofort?« Der Hipster, der gestern Abend in der Kneipe gearbeitet hatte, stellte sich neben Thomas und lächelte ihn an. »Für junge Leute gibt es hier nicht viel zu sehen. Bist wahrscheinlich froh, wenn du dich direkt wieder auf den Weg machen kannst, hm?«

Die Mechanikerin warf dem Neuankömmling einen finsteren Blick zu. »Ich werd ja wohl besser wissen, was ich zu tun habe!«

»Jetzt tu dem jungen Mann schon den Gefallen!« Der alternde Typ drehte sich zu Thomas um. »Ich bin übrigens Holger.«

Und offenbar genauso bekloppt wie alle anderen hier im Ort, dachte Thomas. Er schwieg und schüttelte mit einem nichtssagenden Lächeln die angebotene Hand.