Winde und Wahrheit - Brandon Sanderson - E-Book

Winde und Wahrheit E-Book

Brandon Sanderson

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Beschreibung

Auf der Welt Roschar brechen Konflikte auf, die schon seit Tausenden Jahren schwelen. Dalinar Kholin, der Bruder des ermordeten Großkönigs und nun der Anführer der Strahlenden Ritter, hat den bösen Gott Odium zu einem Wettkampf herausgefordert. Jetzt haben die Königreiche Roschars nur zehn Tage Zeit, um sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Das Schicksal der ganzen Welt – und das des gesamten Kosmeer – steht auf Messers Schneide.

Der neue Originalband »Winds and Truth« erscheint im Deutschen in zwei Teilen, »Winde und Wahrheit« und »Der Kampf der Meister«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1620

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Von Brandon Sanderson sind imWilhelm Heyne Verlag erschienen:

DIEKOSMEER-ROMANE

Die Sturmlicht-Chroniken

Der Weg der Könige

Der Pfad der Winde

Die Worte des Lichts

Die Stürme des Zorns

Der Ruf der Klingen

Die Splitter der Macht

Der Rhythmus des Krieges

Der Turm der Lichter

Winde und Wahrheit

Der Kampf der Meister

Die Tänzerin am Abgrund

Der Splitter der Dämmerung

Einzelromane und Erzählungen

Sturmklänge

Die Seele des Königs

Das Herz der Sonne

DIESTEELHEART-REIHE

Steelheart

Firefight

Calamity

Mitosis

MAGIC™: THEGATHERING

Die Kinder des Namenlosen

Die Sturmlicht-Chroniken

NEUNTER ROMAN

Aus dem Amerikanischen vonMichael Siefener

Die Originalausgabe ist unter dem Titel Winds and Truth – Book Five of The Stormlight Archives (Part I) bei Tor/Tom Doherty Associates, LLC, New York, erschienen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 5/2025

Copyright © 2024 by Dragonsteel, LLC

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Alle Rechte vorbehalten.

Redaktion: Joern Rauser

Alle Illustrationen © Dragonsteel, LLC, wenn nicht anders angegeben

Illustrationen vor den Kapiteln 1, 12, 17, 34 und Zwischenspiel 1: Ben McSweeney

Illustrationen vor den Kapiteln 48, 62, 68 und Zwischenspiel 7: Audrey Hotte und Ben McSweeney

Illustrationen vor den Kapiteln 31 und 69: Dan dos Santos

Illustration vor Kapitel 24: Kelley King

Karte von Roschar, Schwertglyphen und Illustrationen vor Zwischenspiel 5 und Kapitel 55: Isaac Stewart

Kapitelanfangsbögen: Isaac Stewart und Hayley Lazo

Kapitelanfangsvignetten: Isaac Stewart, Ben McSweeney und Howard Lyon

Karte auf der Umschlaginnenseite: Howard Lyon und Isaac Stewart

Illustrationen auf dem Vorsatzpapier vorne: Donato Giancola

Illustrationen auf dem Vorsatzpapier hinten: Miranda Meeks

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-25500-8V001

www.heyne.de

Für Adam Horne,ein Meister der Bücher, der seine eigene Splitterklinge verdient hat

VORWORT UND DANKSAGUNG

Willkommen zu »Winde und Wahrheit« und »Der Kampf der Meister«, den Romanen Nummer neun und zehn der Sturmlicht-Chroniken (die beiden Hälften der Übersetzung von Winds and Truth, Anm. d. Ü.). Dies ist der Mittelpunkt der Reihe und das Ende des ersten großen Handlungsbogens. Deshalb habe ich mit diesem Buch auch stärker gekämpft als mit den anderen und ihm einen Großteil meiner Gedanken, meiner Leidenschaft und meiner Bemühungen der letzten vier Jahre mitgegeben. Und dies ist das bisher längste Buch, das ich geschrieben habe – es hat die meiste Zeit verschlungen, die ich je mit einem einzelnen Buch zugebracht habe (vorausgesetzt, man zählt nicht die übrigen Projekte mit, die ich schon früh skizziert habe und zu denen ich später zurückgekehrt bin). Ich hoffe, Sie werden der Meinung sein, dass das Ergebnis die Mühe wert war.

Unten finden Sie die Namen all der Leute, die hinter den Kulissen in verschiedenen Bereichen an diesem Roman mitgearbeitet haben. Da so viele Personen geholfen haben, wirkt es immer mehr wie der Abspann eines Films. Ich schreibe zwar noch immer jedes Wort selbst und bin somit der alleinige Autor der Bücher, aber – wow! Dragonsteel als Firma ist zu etwas wirklich Spektakulärem herangewachsen. Während wir für die meisten Bücher einen relativ normalen Arbeitszeitplan befolgen, heißt es bei den Bänden der Sturmlicht-Chroniken regelmäßig: »Alle Mann an Deck!« Manche müssen Überstunden einlegen, damit die Termine eingehalten werden können, und andere verwenden einen großen Teil ihrer Arbeitszeit allein darauf, das Buch zu lektorieren, zu bewerben und auszuliefern. Falls Sie je die Gelegenheit haben sollten, jemandem von ihnen zu begegnen, dann schütteln Sie ihm oder ihr die Hand und bedanken sich.

Und nun lehnen Sie sich bitte zurück und genießen Sie die Show. Ein Großsturm braut sich zusammen.

Die Künstler, die an diesem Buch gearbeitet haben, sind: Michael Whelan, Donato Giancola, Miranda Meeks, Dan dos Santos, Audrey Hotte, Kelley King, Petar Penev, Howard Lyon, Isaac Stewart, Ben McSweeney, Anna Earley und Hayley Lazo.

Bei Tor Books waren beteiligt: Devi Pillai, Stephanie Stein, Tessa Villanueva, Sanaa Ali-Virani, Rafal Gibek, Peter Lutjen, Alexis Saarela, Lucille Rettino und Emily Mlynek.

Bei Gollancz waren es: Gillian Redfearn, Brendan Durkin, Emad Akhtar, Cait Davies und Javerya Iqbal.

Lektorat und Korrektur: Terry McGarry, Christina MacDonald, Hayley Jozwiak.

Erzähler und Erzählerin des Audiobooks waren Michael Kramer und Kate Reading; und bei Macmillan Audio: Steve Wagner.

In der JABberwocky Literary Agency haben mitgearbeitet: Joshua Bilmes, Susan Velasquez, Christina Zobel, Valentina Sainato und Brady McReynolds, und bei der Zeno Literary Agency John Berlyne.

Bei Dragonsteel waren es: COO Emily Sanderson und ihre Mitarbeiter Becky Wilson und Ethan Skarstedt. Das Finanzen-Team bestand aus Emma Tan-Stoker und Matt Hampton.

Kreativentwicklung: VP Isaac Stewart, Shawn Boyles, Ben McSweeney, Jennifer Neal, Rachael Lynn Buchanan, Anna Earley, Hayley Lazo und Priscilla Spencer.

Lektorat: VP der einladende Peter Ahlstrom, Kristy S. Gilbert, Karen Ahlstrom, Jennie Stevens, Betsey Ahlstrom und Emily Shaw-Higham.

Operativer Betrieb: VP Matt »Warum schreibst du meinen Namen so, Brandon?« Hatch, Jane Horne, Kathleen Dorsey Sanderson, Jerrod Walker, Braydonn Moore, Makena Saluone und Christian Fairbanks.

Merchandise, Events und schicke Pullis: VP Kara Stewart, Christi Jacobsen, Kellyn Neumann, Lex Willhite, Richard Rubert, Dallin Holden, Ally Reep, Mem Grange, Brett Moore, Katy Ives, Joy Allen, Daniel Phipps, Michael Bateman, Alex Lyon, Jacob Chrisman, Camilla Waite, Quinton Martin, Hollie Rubert, Gwen Hickman, Isabel Chrisman, Amanda Butterfield, Logan Reep und Pablo Mooney.

Publicity und Marketing: VP Adam Horne, auch bekannt als »Er, dem das Buch gewidmet ist (hurra!)«, Jeremy Palmer, Octavia Escamilla-Spiker, Taylor Hatch, Tayan Hatch und Donald George Mustard III.

Für den Erzählfluss: VP Dan Wells – unser einsames Mitglied der Erzählabteilung, abgesehen von seinem imaginären Freund Bob, dem Banjo-Spieler.

Meine Schreibgruppe »Here There Be Dragons«: Kaylynn ZoBell, Kathleen Dorsey Sanderson, Eric James Stone, Darci Stone, Alan Layton, Ben Olsen, Ethan Skarstedt, Karen Ahlstrom, Peter Ahlstrom und Emily Sanderson.

Expertin für dissoziative Identitätsstörungen: Britt Martin. Militärexperten: Carl Fisk, John Fahey. Experte für Amputationen und Prothesen: Matthew Fox.

Arkanisten: Eric Lake, Evgeni Kirilov, Joshua Harkey, David Behrens, Ian McNatt und Ben Marrow.

Beta-Leser: Aaron Ford, Alexis Horizon, Alice Arneson, Alyx Hoge, Amit Shteinheart, Aubree Pham, Austin Hussey, Bao Pham, Becca Reppert, Ben Marrow, Billy Todd, Bob Kluttz, Brandon Cole, Brian T. Hill, Britton Roney, Chana Oshira Block, Chris Kluwe, Chris McGrath, Christina Goodman, Christopher Cottingham, Craig Hanks, Darci Cole, David Behrens, Deane Covel Whitney, Donita Orders, Drew McCaffrey, Eliyahu Berelowitz Levin, Eric Lake, Erika Kuta Marler, Evgeni »Argent« Kirilov, Gary Singer, Giulia Costantini, Glen Vogelaar, Ian McNatt, Jayden King, Jennifer Pugh, Jessica Ashcraft, Jessie Lake, João Menezes Morais, Joe Deardeuff, Joelle Ruth Phillips, Jory Phillips, Joshua Harkey, Kadie »Ene« Nytch, Kalyani Poluri, Kathleen Barlow, Dr. Kathleen Holland, Kendra Wilson, Krystl Allred, Kyle Wilson, Laura Heinis, Lauren McCaffrey, Lauren Strach, Liliana Klein, Linnea Lindstrom, Lyndsey Luther, Marnie Peterson, Matt Weins, Megan Kanne, Mi’chelle Walker, Paige Phillips, Paige Vest, Poonam Desai, Rachel Rada, Rahkeem Ball, Rahul Pantula, Richard Fife, Rob West, Rosemary Williams, Ross Newberry, Ryan Scott, Sam Baskin, Sarah Herr, Sarah Kane, Scott Webb, Sean VanBlack, Shannon Nelson, Shivam Bhatt, Siena »Lotus« Buchanan, Suzane Musin, Taylor Cole, Ted Herman, Tim Challener, TJ McGrath, Trae Cooper und Zenef Mark Lindberg.

Gamma-Leser: Viele der Beta-Leser und zusätzlich Ari Kufer, Bob Kluttz, Botanica Xu, Brian Magnant, Collin Abeln, Dale Wiens, Ellie Frato-Sweeney, Ene Nytch, Mark Lindberg, Nisarg Shah, Philip Vorwaller, Ram Shoham, Spencer White, Valencia Kumley und William Juan.

INHALT

Prolog: Leben

TAG EINS

Zwischenspiele

TAG ZWEI

Zwischenspiele

TAG DREI

Zischenspiele

TAG VIER

Zwischenspiele

TAG FÜNF

Zwischenspiele

TAG SECHS

ILLUSTRATIONEN

Anmerkung: Viele Illustrationen einschließlich der Beschriftungen enthalten Hinweise auf Ereignisse, die zuvor im Text beschrieben wurden. Betrachtung auf eigenes Risiko.

Karte von Roschar

Schallans Skizzenbuch: Sternensprengsel

Schallans Skizzenbuch: Musiksprengsel

Blatt: Takamas

Schallans Skizzenbuch: Splitterpanzer

Navanis Notizbuch: Belohnende Sprengsel

Schallans Skizzenbuch: Urithiru in Schadesmar

Die Eidtor-Kuppel von Azimir

Karte der Schin-Pilgerreise

Schasch: Himmlische und Fließende

Schasch: Majestätische

Karte der Schlacht auf der Zerbrochenen Ebene

Schasch: Fokussierte

Schasch: Veränderte und Tiefe

Blatt: Frauen im Krieg

Karte von Roschar

Prolog: Leben

SIEBENEINHALB JAHRE ZUVOR

Gavilar Kholin stand am Rande der Unsterblichkeit.

Nun musste er nur noch die richtigen Worte finden.

Er ging im Kreis um die neun Ehrenklingen herum, die mit der Spitze in den Steinboden gerammt worden waren. Die Luft stank nach verbranntem Fleisch. Er hatte schon vor vielen Scheiterhaufen gestanden und kannte den Geruch nur allzu gut, auch wenn die Leichen damals nicht nach dem Kampf, sondern im Gefecht verbrannt waren.

»Sie nennen es Aharietiam«, sagte er, während er die Klingen umrundete und kurz die Hand auf jede einzelne legte. Würde wohl sein eigenes Schwert so wie eines von diesen werden, wenn er zum Herold wurde – angefüllt mit Macht und den Kräften der Überlieferung? »Das Ende der Welt. War es eine Lüge?«

Viele, die es so genannt haben, glaubten an das, was sie sagten, erwiderte der Sturmvater.

»Und die Eigentümer dieser Klingen?«, fragte er und zeigte auf die Waffen. »Woran haben die Herolde geglaubt?«

Wären sie vollkommen aufrichtig gewesen, sagte der Sturmvater, dann würde ich jetzt nicht nach einem neuen Kampfmeister suchen.

Gavilar nickte. »Ich schwöre, Ehr und Roschar als Herold zu dienen. Besser, als sie es getan haben.«

Diese Worte werden nicht akzeptiert, sagte der Sturmvater. Du wirst sie niemals zufällig finden, Gavilar.

Er wollte es trotzdem versuchen. Gavilar war zum mächtigsten Menschen der Welt geworden, weil er oft das angestrebt und erreicht hatte, was die anderen als unmöglich eingeschätzt hatten. Er umrundete den Kreis der Klingen erneut, war in den Schatten der monolithischen Steine ganz allein mit ihnen. Da er schon Dutzende Male in diese Vision eingetreten war, konnte er jede einzelne Klinge anhand des Herolds bestimmen, der mit ihr verbunden war. Doch der Sturmvater teilte seine Informationen nach wie vor nur widerwillig mit.

Wie auch immer. Er würde seine Belohnung gewiss bekommen. Er riss Jezriens lange, gebogene Klinge aus dem Stein, schwang sie und zerschnitt die Luft. »Nohadon ist den Herolden begegnet und hat sie nach und nach kennengelernt.«

Ja, gab der Sturmvater zu.

»Sie stehen in dem Buch, nicht wahr?«, fragte er. »Die korrekten Worte befinden sich irgendwo in Der Weg der Könige?«

Ja.

Gavilar hatte das gesamte Buch auswendig gelernt. Schon vor vielen Jahren hatte er sich das Lesen selbst beigebracht, um nach Geheimnissen suchen zu können, ohne sie den Frauen in seinem Leben enthüllen zu müssen. Er warf die Klinge des Herolds beiseite. Klappernd fiel sie auf den Stein, und der Sturmvater gab ein Zischen von sich.

Stumm tadelte sich Gavilar. Dies hier war nur eine Vision, und diese unechten Klingen bedeuteten ihm nichts. Aber der Sturmvater musste glauben, dass er zumindest fürs Erste fromm und ehrerbietig war. Er hob Chanas Klinge an. Diese mochte er besonders gern, denn die Verzierungen teilten die Klinge in der Mitte. Diese lange Spalte wäre bei einem gewöhnlichen Schwert äußerst unpraktisch. Sie gab ein Hinweis darauf, dass es sich bei der Waffe um etwas Unglaubliches handelte.

»Chanaranach ist ein Soldat gewesen«, sagte er, »und dies hier ist die Waffe eines Soldaten. Solide und gerade, aber mit jener kleinen … Unfassbarkeit, die in der Mitte fehlt.« Er streckte die Klinge vor sich aus und betrachtete die Schneide. »Ich habe das Gefühl, dass ich beide besonders gut kenne. Sie sind meine Gefährten, und doch könnte ich sie in einer Menschenmenge nicht erkennen.«

Deine Gefährten? Sei nicht vorschnell, Gavilar. Finde die Worte.

Diese sturmverdammten Worte. Es waren die wichtigsten, die Gavilar je aussprechen würde. Mit ihnen würde er zum Kampfmeister des Sturmvaters werden – und zu noch mehr, wie er inzwischen vermutete. Gavilar nahm an, dass er dann in den Eidpakt aufgenommen werden und sich über die Sterblichkeit erheben würde. Er hatte nicht gefragt, welchen Herold er ersetzen sollte; eine solche Frage wäre grob und unhöflich gewesen, und so wollte er nicht vor dem Sturmvater erscheinen. Allerdings vermutete er, dass er Talenelats Stelle einnehmen würde, der seine Klinge nicht hier hinterlassen hatte.

Gavilar rammte das Schwert wieder in den Stein. »Wir sollten zurückkehren.«

Die Vision endete sofort, und er befand sich in seinem Arbeitszimmer im zweiten Stock des Palastes. Bücherregale, ein stiller Lesetisch, Wandbehänge und Teppiche, die jede Stimme dämpften. Gavilar hatte sich für das bevorstehende Fest herausgeputzt. Er trug eine prächtige Robe, die gar nicht mehr in Mode war. Wie sein Bart, so hob ihn auch seine Kleidung von der Masse der Alethi-Hellaugen ab. Ihm war wichtig, dass sie ihn als etwas Altehrwürdiges betrachteten, das sich weit jenseits ihrer lächerlichen Spielchen befand.

Eigentlich gehörte dieser Raum Navani, aber es war sein Palast. Hier suchte man nur selten nach ihm, und er brauchte eine Atempause von den kleinen Leuten mit ihren kleinen Problemen. Da ihm bis zu seinen Verabredungen noch ein wenig Zeit blieb, holte sich Gavilar ein winziges Buch, in dem die letzten Forschungsergebnisse aus der Region um die Zerbrochene Ebene aufgezeichnet standen. Er war sich zunehmend sicher, dass sich an diesem Ort ein altes, unversperrtes Eidtor befand. Wenn Gavilar dies durchschritt, konnte er vielleicht das mythische Urithiru und dort die alten Aufzeichnungen entdecken.

Er würde schon die richtigen Worte finden. Er stand so knapp vor dem Ziel. War so quälend nah – nicht weit von dem entfernt, was alle Männer insgeheim begehrten, doch nur zehn von ihnen erreicht hatten. Ewiges Leben und ein Vermächtnis, das ganze Jahrtausende umfasste – weil man lange genug lebte, um es zu gestalten.

Sie ist nicht so großartig, wie du glaubst, sagte das Sprengsel. Gavilar hielt inne. Der Sturmvater konnte seine Gedanken nicht lesen – oder etwa doch? Nein. Nein, das hatte er überprüft. Er kannte Gavilars tiefste Überlegungen und seine geheimsten Pläne nicht. Denn würde dieses Sprengsel sein Herz kennen, dann würde es gewiss nicht mit ihm zusammenarbeiten.

»Was meinst du damit?«, fragte Gavilar und schob das Buch wieder ins Regal zurück.

Unsterblichkeit, sagte der Sturmvater. Sie erschöpft Männer und Frauen, sie laugt Seele und Geist aus. Die Herolde sind wahnsinnig – geschlagen mit unnatürlichen Leiden, die ihrer einzigartigen, künstlichen Art entsprechen.

»Wie lange hat es gedauert, bis sie die Symptome zeigten?«, fragte Gavilar.

Das ist schwer zu sagen. Tausend Jahre, vielleicht auch zweitausend.

»Dann wird mir gerade so viel Zeit bleiben, eine Lösung zu finden«, gab Gavilar zurück. »Es ist eine viel vernünftigere Zeitspanne als das bloße Jahrhundert – höchstens –, das einem Sterblichen gewährt wird, nicht wahr?«

Ich habe dir diese Gabe nicht versprochen. Du vermutest, dass sie das ist, was ich dir anbieten werde, aber ich suche nur nach einem Kampfmeister. Sage mir dennoch, ob du den Preis bezahlen würdest, um zu einem Herold zu werden. Jeder, den du kennst, wird Staub sein, wenn du zurückgekehrt bist.

Hier erkannte er die Lüge. »Die Pflicht eines Königs besteht seinem Volk gegenüber«, erklärte er. »Indem ich zum Herold werde, kann ich Alethkar auf eine Weise schützen, die keinem früheren Monarchen je gegeben war. Zur Erreichung dessen macht es mir auch nichts aus, persönlichen Schmerz zu erleiden. Sollte ich sterben«, fügte Gavilar hinzu und zitierte aus dem Weg der Könige, »dann habe ich mein Leben auf die rechte Weise gelebt. Es ist nicht das Ziel, was zählt, sondern der Weg dorthin.«

Diese Worte werden nicht akzeptiert, sagte das Sprengsel. Bloßes Raten wird dich nicht zu den Worten führen, Gavilar.

Nun, irgendwo in diesem Buch befanden sich die Worte. Gut geschützt zwischen all dem selbstgerechten Moralisieren … wie ein Weißdorn in einer Hecke. Gavilar Kholin war nicht der Mann, der es gewohnt war zu verlieren. Man erhielt das, was man erwartete. Und er erwartete nicht bloß den Sieg, sondern Göttlichkeit.

Der Wächter klopfte sanft. War es denn schon Zeit? Gavilar rief Tearim zu, er möge hereinkommen, und so geschah es. Heute Abend trug der Wächter Gavilars eigenen Panzer.

»Herr«, sagte Tearim, »Euer Bruder ist hier.«

»Was? Nicht Restares? Wie hat Dalinar mich finden können?«

»Ich vermute, er hat uns Wache stehen sehen, Eure Majestät.«

Mist. »Lass ihn eintreten.«

Der Wächter zog sich zurück. Eine Sekunde später kam Dalinar hereingestürmt – anmutig wie ein dreibeiniges Chull. Er warf die Tür hinter sich zu und brüllte: »Gavilar! Ich will mit den Parschendi reden!«

Gavilar holte tief Luft. »Bruder, wir befinden uns in einer ausgesprochen heiklen Lage, und wir wollen sie nicht beleidigen.«

»Ich werde sie auch nicht beleidigen«, brummte Dalinar. Er trug sein Takama, die altmodische Gewandung eines Kriegers, die den Brustkorb unbedeckt ließ – und einige graue Haare zeigte. Er drückte sich an Gavilar vorbei und warf sich in den Sessel vor dem Tisch.

Der arme Sessel.

»Warum bedeuten sie dir so viel, Dalinar?«, fragte Gavilar und legte die rechte Hand an seine Stirn.

»Und wie ist es mit dir?«, wollte Dalinar wissen. »Dieses Abkommen, dieses plötzliche Interesse an ihrem Land. Was planst du? Sag es mir.«

Der liebe, stets unverblümte Dalinar. So dezent wie ein Krug mit Hornesser-Weißem. Und genauso schlau.

»Sag es mir geradeheraus«, fuhr Dalinar fort. »Hast du vor, sie zu erobern?«

»Warum sollte ich ein Abkommen mit ihnen schließen, wenn ich das wollte?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Dalinar. »Ich … ich möchte bloß nicht, dass ihnen etwas zustößt. Ich mag sie nämlich.«

»Sie sind Parscher.«

»Ich mag Parscher.«

»Du bemerkst einen Parscher doch erst, wenn er dir deinen Trunk nicht schnell genug bringt.«

»Diese hier haben etwas an sich«, bemerkte Dalinar. »Ich fühle mich … mit ihnen verwandt.«

»Das ist närrisch.« Gavilar ging zum Tisch und beugte sich neben seinem Bruder vor. »Dalinar, was ist los mit dir? Wo ist der Schwarzdorn geblieben?«

»Vielleicht ist er müde geworden«, sagte Dalinar. »Oder verblendet. Durch den andauernden Ruß und die Asche der Toten in seinem Gesicht …«

Dalinar jammerte noch immer wegen des Grabens? Was für eine Aufregung! Restares würde bald hier sein, und dann … war da noch Thaidakar. So viele Messer, die auf ihren Spitzen balanciert werden mussten, damit sie Gavilar nicht schnitten. Es passte ihm gar nicht, dass Dalinar gerade jetzt eine Gewissenskrise hatte.

»Bruder«, sagte Gavilar, »was würde Evi sagen, wenn sie dich so sähe?«

Das war ein sorgsam geschliffener Speer, den er geschickt in Dalinars Eingeweide stieß. Die Finger des Mannes krallten sich in die Tischplatte, und er zuckte vor ihrem Namen zurück.

»Sie würde wollen, dass du dich wie ein Krieger verhältst«, antwortete Gavilar sanft. »Und dass du Alethkar beschützt.«

»Ich …«, flüsterte Dalinar. »Sie …«

Gavilar bot ihm die Hand und half seinem Bruder beim Aufstehen, dann führte er ihn zur Tür. »Halte dich aufrecht.«

Dalinar nickte und legte die Hand auf den Türknauf.

»Oh«, sagte Gavilar. »Bruder? Befolge heute Abend den Kodex. Etwas Seltsames liegt im Wind.«

Der Kodex besagte, nichts zu trinken, wenn eine Schlacht unmittelbar bevorstand. Er sollte Dalinar daran erinnern, dass ein Fest gefeiert wurde und es eine enorme Menge Wein geben würde. Obwohl Dalinar noch immer glaubte, niemand wisse, dass er Evi getötet hatte, war es Gavilar gelungen, die Wahrheit herauszufinden, was ihm einen subtilen Einfluss auf seinen Bruder verschaffte.

Einen Augenblick später war Dalinar durch die Tür nach draußen getreten, und sein empfänglicher, schwerfälliger Verstand konzentrierte sich nun vermutlich auf zwei Dinge. Erstens auf das, was er Evi angetan hatte. Und zweitens darauf, wie er etwas auftreiben konnte, das stark genug war, das Erste vergessen zu machen.

Während Dalinar den Korridor entlangschritt, winkte Gavilar Tearim zu sich. Der Wächter gehörte zu den Söhnen Ehrs, einer Gruppe, die Gavilar im Zaum halten musste, denn sie durfte nie erfahren, dass er sich ihren Plänen bereits entwunden hatte.

»Folge meinem Bruder«, sagte Gavilar. »Sorge unauffällig dafür, dass er etwas zu trinken bekommt. Vielleicht führst du ihn zu den geheimen Vorräten meiner Frau.«

»Das habt Ihr mir doch vor ein paar Monaten schon einmal befohlen, Herr«, flüsterte Tearim. »Ich fürchte, viel wird dort nicht mehr übrig sein. Er teilt gern mit seinen Soldaten.«

»Dann treib irgendwo anders etwas für ihn auf«, erwiderte Gavilar. »Ich werde Restares und die anderen selbst hereinlassen, sobald sie eintreffen. Geh jetzt.«

Der Soldat verneigte sich und folgte Dalinar, wobei sich sein Splitterpanzer schwer auf und ab bewegte. Gavilar schloss die Tür fest zu. Als sich die Stimme des Sturmvaters in seinen Kopf drängte, war er keineswegs überrascht.

Er besitzt Potenzial, das du nicht siehst.

»Dalinar? Natürlich. Wenn ich ihn in die richtige Richtung schicke, wird er ganze Nationen niederbrennen.« Gavilar brauchte ihn bloß weiterhin mit Alkohol zu versorgen, damit er nicht diese Nation in Schutt und Asche legte.

Er könnte mehr sein, als du ahnst.

»Dalinar ist ein großes, dummes, stumpfes Instrument, das man so lange auf Probleme richtet, bis sie auseinanderfallen«, sagte Gavilar und zitterte, als er daran dachte, wie sein Bruder über ein Schlachtfeld auf ihn zu gestapft war. Blutgetränkt. Die Augen innerhalb seines Helms hatten rot geglüht und nach dem Leben gehungert, das Gavilar führte …

Dieser geisterhafte Anblick suchte ihn beständig heim. Zum Glück erleichterten es Dalinars Sucht und sein Schmerz, ihn zu kontrollieren.

Bald wurde Gavilar von einem weiteren Klopfen gestört. Er öffnete die Tür, fand jedoch niemanden davor. Doch dann zischte ihm der Sturmvater eine Warnung in den Geist, und er spürte eine plötzliche Kälte.

Als er sich umdrehte, war der alte Thaidakar da. Der Herr der Narben, in einen Kapuzenmantel gehüllt, der am Saum ausgefranst war. Bei den Stürmen!

»Mir sind Versprechungen gemacht worden«, sagte Thaidakar. Die Kapuze verhüllte sein Gesicht. »Ich habe dir Informationen gegeben, Gavilar – Neuigkeiten von der wertvollsten Art. Als Bezahlung verlange ich einen einzelnen Mann. Wirst du mir Restares ausliefern?«

»Bald«, erwiderte Gavilar. »Aber zuerst muss ich sein Zutrauen erringen.«

»Mir scheint«, sagte Thaidakar, »dass du weniger an unserem Handel und mehr an der Verfolgung deiner eigenen Absichten interessiert bist. Mir scheint, dass ich dich auf etwas Wertvolles zugeführt habe, von dem du beschlossen hast, es für dich behalten zu wollen. Mir scheint, dass du deine Spielchen mit mir treibst.«

»Und mir scheint«, antwortete Gavilar, während er näher an die verhüllte Gestalt herantrat, »dass du gar nicht in einer Position bist, in der du Forderungen stellen kannst. Du brauchst mich. Warum … warum spielen wir nicht einfach?«

Thaidakar schwieg für eine Weile. Dann hob er unter Seufzen die behandschuhten Hände und setzte seine Kapuze ab. Gavilar erstarrte. Obwohl sie schon mehrfach miteinander zu tun gehabt hatten, hatte er nie zuvor das Gesicht des Mannes gesehen.

Thaidakar bestand ausschließlich und durch und durch aus sanft schimmerndem weiß-blauem Licht. Er war jünger, als Gavilar es sich vorgestellt hatte – erst mittleren Alters und keineswegs der verwitterte Greis, den er vermutet hatte. Durch das eine Auge war ein langer Stachel geschlagen worden, der ebenfalls blau war. Die Spitze ragte aus seinem Hinterkopf hervor. War er so etwas wie ein Sprengsel?

»Gavilar«, sagte Thaidakar, »sieh dich vor. Du bist noch nicht unsterblich, aber du hast begonnen, mit Kräften zu spielen, die durch ihre bloße Axi einen Menschen auseinanderreißen können.«

»Weißt du, worum es sich bei ihnen handelt?«, fragte Gavilar gierig. »Bei den wichtigsten Worten, die ich je sprechen werde?«

»Nein«, sagte Thaidakar. »Aber hör mir zu: Nichts ist so, wie du glaubst, dass es sei. Übergib Restares an meine Abgesandten, und ich werde dir helfen, die alten Kräfte wiederzuerlangen.«

»Darüber bin ich bereits hinausgewachsen«, erwiderte Gavilar.

»Du kannst nicht über die Gezeiten hinauswachsen, Gavilar«, erwiderte Thaidakar. »Du schwimmst mit ihnen, oder du wirst hinweggespült. Unsere Pläne sind bereits in Gang gesetzt. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob wir überhaupt viel dazu beigetragen haben. Diese Gezeitenwelle war schon längst in Bewegung.«

Gavilar grunzte: »Also, ich habe vor …«

Er verstummte, als sich Thaidakar verwandelte. Sein Gesicht zerschmolz zu einer einfachen schwebenden Kugel mit einer Art geheimer Rune in der Mitte. Mantel, Körper und Handschuhe verschwanden in Rauchwölkchen, die sich rasch auflösten.

Gavilar riss die Augen auf. Das … das wirkte genauso wie das, was er über die Kräfte der Lichtweber gelesen hatte. Der Strahlenden Ritter. War Thaidakar etwa …

»Ich weiß, dass du dich heute mit Restares triffst«, sagte die Kugel, die nun leicht vibrierte. Sie verfügte über keinen Mund. »Bereite ihn vor und liefere ihn dann an meine Abgesandten zur Befragung aus. Ansonsten … Das ist mein Ultimatum, Gavilar. Ich kann dir versichern, dass du nicht mein Feind sein möchtest.«

Die Kugel aus Licht schrumpfte zusammen und wurde beinahe durchscheinend, während sie sich zur Tür bewegte. Dann sackte sie zu Boden und verschwand durch den Spalt unter der Tür.

»Was war das denn?«, wollte Gavilar vom Sturmvater nervös wissen.

Etwas Gefährliches, antwortete das Sprengsel in seinem Geist.

»Ein Strahlender?«

Nein. Ähnlich, aber nicht gleich.

Gavilar bemerkte, dass er zitterte. Das war dumm. Er war ein sturmverdammter König und würde bald sogar ein Halbgott sein. Er hatte eine Bestimmung; er würde sich auf keinen Fall durch billige Tricks und vage Drohungen einschüchtern lassen. Aber er musste sich mit der Hand an der Schreibtischplatte abstützen und tief durchatmen, während seine Finger die verstreuten Aufzeichnungen und Diagramme der letzten mechanischen Besessenheit seiner Frau durcheinanderbrachten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob Navani dieses Problem lösen könnte. Er vermisste das frühere gemeinsame Ränkeschmieden. Wie lange war es her, seit sie alle zusammen gelacht hatten? Er, Ialai, Navani und Torol?

Leider war dies kein Geheimnis, das man mit anderen teilen konnte. Ialai oder Sadeas würden ihm seine Beute abnehmen, wenn sie es konnten – und Gavilar würde es ihnen nicht einmal verübeln. Aber Navani … ob sie versuchen würde, die Unsterblichkeit für sich selbst zu beanspruchen? Vermochte sie überhaupt ihren Wert zu erkennen? In vieler Hinsicht war sie besonders klug und geschickt. Aber wenn er von seinem Ziel eines großen Vermächtnisses mit ihr sprach, verlor sie sich regelmäßig in den Einzelheiten. Sie weigerte sich, an den Berg zu denken, weil sie sich Gedanken um die Ersteigung des Vorgebirges machte.

Er bedauerte die Distanz zwischen ihnen. Diese Kälte, die sich über ihre Beziehung gelegt hatte. Die Gedanken an sie stachen ihm ins Herz. Er sollte …

Jeder, den du kennst, wird Staub sein, wenn du zurückgekehrt bist …

Vielleicht war es gut so.

Er hatte Pläne, die Dauer seiner Abwesenheit von dieser Welt erträglicher zu machen, aber ihre Vervollkommnung würde vielleicht noch einige Versuche erfordern. Je weniger Bindungen, desto besser. Das erlaubte einen saubereren Schnitt – wie von einer Splitterklinge.

Er richtete die Gedanken wieder auf seine Pläne und war gut vorbereitet, als Restares eintraf. Der kahl werdende Mann klopfte nicht an. Er spähte ins Zimmer, warf einen nervösen Blick in alle Ecken und schlüpfte dann durch die Tür. Ein Schatten folgte ihm: ein großer, gebieterischer Makabaki mit einem Muttermal auf der Wange. Gavilar hatte seine Bediensteten angewiesen, die beiden wie Botschafter zu behandeln, aber er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit diesem zweiten Mann zu sprechen, den er gar nicht kannte.

Der Neuankömmling bewegte sich mit einer gewissen … Festigkeit. Steifheit. Er war kein Mann, der zur Seite trat. Nicht für den Wind, nicht für den Sturm und erst recht nicht für andere Menschen.

»Gavilar Kholin«, sagte der Mann, ohne ihm die Hand zu reichen oder sich vor ihm zu verneigen. Ihre Blicke begegneten sich. Das war beeindruckend. Gavilar hatte jemanden erwartet, der … nun ja, der eher so war wie … Restares.

»Nimm dir einen Trunk«, sagte Dalinar und deutete auf die Flaschen.

»Nein«, sagte der Mann. Ohne ein Wort des Dankes oder der Anerkennung. Bemerkenswert. Beeindruckend.

Wie ein Kind, dem Süßigkeiten angeboten wurden, kam Restares herangetrippelt. Selbst jetzt, nachdem Gavilar diese neueste Inkarnation der Söhne Ehrs kennengelernt hatte, empfand er Restares noch immer als … seltsam. Der kleine Mann mit dem schütteren Haar schnüffelte an jeder einzelnen Weinflasche. Er hatte es noch nie gewagt, in Gavilars Gegenwart etwas zu trinken, aber immer wieder hatte er die Weine in Augenschein genommen. Als wollte er Gift in ihnen entdecken und damit seine Paranoia rechtfertigen.

»Verzeihung«, sagte Restares und rang die Hände, während er sich über die Flaschen beugte. »Verzeihung. Nicht … nicht durstig heute, Gavilar. Entschuldigung.«

Gavilar hätte ihn am liebsten beiseitegestoßen und die Kontrolle über die Söhne Ehrs an sich gerissen. Aber einige der anderen respektierten ihn – allen voran Amaram. Außerdem … warum war Thaidakar so interessiert an Restares? Er konnte doch wohl nicht so wichtig sein? Vielleicht stellte sein großer Freund die wahre Macht dar. Aber könnte Gavilar über etwas so Wichtiges zwei Jahre lang im Dunkeln gelassen worden sein?

»Ich bin froh, dass Ihr bereit seid, mich zu empfangen«, sagte Restares. »Ja, hm. Weil … hm. Also … eine Ankündigung. Ich muss eine Ankündigung machen.«

Gavilar runzelte die Stirn. »Worum geht es?«

»Ich habe gehört«, sagte Restares, »dass Ihr beabsichtigt, die … hm … Bringer der Leere zurückzuholen.«

»Und du hast die Söhne Ehrs gegründet, Restares«, erwiderte Gavilar, »damit sie die alten Eide und die Strahlenden Ritter wiederbeleben. Nun, sie sind verschwunden, als die Bringer der Leere verschwunden sind. Wenn wir diese zurückholen, werden auch die Mächte zurückkehren.«

Noch wichtiger, dachte er, ist der Umstand, dass die Herolde aus dem Land der Toten wiederkommen und uns abermals anführen werden.

Und dass ich dann die Position eines von ihnen einnehmen kann.

»Nein, nein, nein«, gab Restares mit einem Nachdruck zurück, der für ihn ungewöhnlich war. »Ich will, dass die Ehre der Menschen zurückkehrt! Wir müssen herausfinden, warum die Strahlenden so großartig gewesen sind. Bevor alles schiefgegangen ist.« Er fuhr sich mit der Hand durch das dünne Haar. »Bevor ich sie … in die Irre geführt habe …«

Restares wollte Gavilar nicht in die Augen schauen. »Wir sollten … versuchen, damit aufzuhören, diese Mächte zurückholen zu wollen«, erklärte Restares mit schwächer werdender Stimme und sah seinen strengen Freund an, als verspräche er sich von ihm Unterstützung. »Wir können uns eine weitere … Rückkehr nicht leisten …«

»Restares«, sagte Gavilar und trat auf den kleinen Mann zu. »Was ist los mit dir? Du redest davon, alles zu verraten, was wir glauben?« Oder wenigstens das, was wir zu glauben vorgeben. Gavilar stellte sich so vor Restares, dass er diesen überragte. »Hast du schon einmal von einem Mann namens Thaidakar gehört?«

Restares blickte auf und machte große Augen.

»Er sucht nach dir«, sagte Gavilar. »Bisher habe ich dich beschützt. Was will er von dir, Restares?«

»Geheimnisse«, flüsterte Restares. »Der Mann … kann es nicht ertragen, wenn … jemand Geheimnisse hat.«

»Was denn für Geheimnisse?«, fragte Gavilar mit fester Stimme. Restares wand sich. »Ich habe deine Lügen schon lange genug ertragen. Was geht hier vor? Was will Thaidakar?«

»Ich weiß, wo sie versteckt ist«, flüsterte Restares. »Wo ihre Seele ist. Ba-Ado-Mischram. Die Gewährerin der Gestalten. Jene, die es mit Ihm aufnehmen könnte. Dem, den wir … verraten haben.«

Ba-Ado-Mischram? Was ging Thaidakar denn eine Ungemachte an? Sie war ein seltsames Teil des ganzen Puzzles. Gavilar öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber eine Hand drückte auf seine Schulter. Die Finger wirkten wie ein Schraubstock. Gavilar drehte sich um und sah, dass Restares’ Makabaki-Freund hinter ihm stand.

»Was habt Ihr getan?«, fragte der Mann mit eisiger Stimme. »Gavilar Kholin. Welche Maßnahmen habt Ihr zur Erreichung des Ziels ergriffen, das mein Freund Euch irrtümlich vorgegeben hat?«

»Du hast ja keine Ahnung«, antwortete Gavilar und sah dem Fremden in die Augen, bis dieser endlich seinen Griff lockerte.

Gavilar nahm einen Beutel aus seiner Tasche und schüttelte nachlässig einige Kugeln und Edelsteine auf den Tisch. »Ich habe es fast geschafft. Restares, du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren!«

Der Fremde starrte ihn an und verzog die Lippen zu einem Grinsen. Er griff nach einer der Kugeln, die in einem dunklen, beinahe umgekehrten violetten Licht erstrahlte. Es war ein merkwürdiges Licht – eine Farbe, die gar nicht existieren sollte. Sobald sich die Finger des Fremden ihm näherten, zog er sie auch schon wieder weg und sah Gavilar erstaunt an.

»Ihr seid ein Narr«, sagte der Mann. »Ein schrecklicher Narr, der einem Großsturm mit einem Stecken entgegenläuft und hofft, ihn damit bekämpfen zu können. Was habt Ihr getan? Woher habt Ihr Leerlicht bekommen?«

Gavilar lächelte. Niemand wusste von dem Gelehrten, den er sich insgeheim hielt. Er war ein Meister aller Wissenschaften. Ein Mann, der weder ein Geisterblüter noch ein Sohn Ehrs war.

Ein Mann aus einer anderen Welt.

»Es ist in Gang gesetzt«, sagte Gavilar und warf Restares einen flüchtigen Blick zu. »Und das Projekt war ein voller Erfolg.«

Restares richtete sich auf. »Es … das war es? Ist dieses Licht …« Er wandte sich an seinen Freund. »Das könnte gelingen, Nale! Wir könnten sie zurückbringen und sie dann vernichten. Es könnte funktionieren.«

Nale! O bei den Stürmen! Gavilar wusste – und versuchte es zu übersehen –, dass Restares Eindruck schinden wollte, indem er vorgab, einer der Herolde zu sein. Der kleine Mann wusste nicht, dass Gavilar Bekanntschaft mit dem Sturmvater geschlossen und dieser ihm die Wahrheit gesagt hatte: dass nämlich alle Herolde schon vor langer Zeit gestorben und in den Schmorschlund gegangen waren.

Gab dieser Fremde also vor, Nalan zu sein, der Herold der Gerechtigkeit? Er … hatte jedenfalls das richtige Aussehen dafür. Nalan wurde oft als gebieterischer Makabaki dargestellt. Und dieses Muttermal … es glich auf verblüffende Weise einigen Abbildungen auf den älteren Gemälden.

Aber nein, das war lächerlich. Wenn Gavilar das glauben wollte, dann würde er auch glauben müssen, dass Restares – ausgerechnet Restares! – tatsächlich ein Herold war.

Der Fremde versuchte Gavilar niederzustarren. Reglos, mit kalter Miene. Kein Mann war das, sondern ein Monolith. »Das ist viel zu gefährlich.«

Gavilar hielt seinem Blick weiterhin stand. Die Welt würde sich seinem Verlangen beugen. Das hatte sie bisher immer getan.

»Aber Ihr seid der König«, erklärte der Mann schließlich und wich einen Schritt zurück. »Euer Wille … ist Gesetz … in diesem Land.«

»Ja«, sagte Gavilar. »Das trifft zu. Restares, ich habe weitere gute Neuigkeiten. Wir können das Leerlicht aus dem Sturm ins Körperreich holen. Wir können es sogar zwischen diesem Ort und der Verdammnis hin und her bewegen, so wie du es wolltest.«

»Das könnte ein Weg sein«, sagte Restares und sah Nale an. »Ein Weg, um zu … entkommen.«

Nale zeigte auf die Kugeln. »Sie vom Schmorschlund weg und zurückzubringen, bedeutet gar nichts. Er liegt nicht weit genug entfernt.«

»Vor ein paar Jahren ist es noch unmöglich gewesen«, sagte Gavilar. »Das hier ist ein Beweis. Die Verbindung ist nicht durchtrennt, und die Reise ist möglich. Vielleicht nicht so weit, wie du es willst, aber irgendwo müssen wir anfangen.«

Er verstand nicht, warum es für Restares so wichtig war, das Licht in Schadesmar hin und her zu bewegen. Thaidakar wollte es ebenfalls wissen. Er wollte in Erfahrung bringen, wie es möglich sein konnte, Sturmlicht – und dieses neue Leerlicht – über weite Entfernungen zu transportieren. Während Gavilar darüber nachdachte, sah er etwas. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Ein Auge spähte herein.

Verdammnis! Das war Navani. Wie viel mochte sie gehört haben?

»Mein Gemahl«, sagte sie und drängte in den Raum. »Die Gäste vermissen dich. Du scheinst die Zeit vergessen zu haben.«

Er unterdrückte seine Wut über ihre Bespitzelung und wandte sich wieder an Restares und dessen Freund. »Meine Herren, ich muss mich entschuldigen.«

Restares fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Ich möchte mehr über das Projekt erfahren, Gavilar. Außerdem müsst Ihr wissen, dass noch jemand von uns heute Abend hier ist. Ich habe vorhin seine Spuren erkannt.«

Noch jemand? Ein Kind Ehrs.

Nein, er meinte einen weiteren Herold. Restares wurde immer wahnhafter.

»Ich werde mich gleich mit Meridas und den anderen treffen«, sagte Gavilar und beruhigte Restares ein wenig. »Sie meinten, mehr Informationen für mich zu haben. Danach können wir weiterreden.«

»Nein«, knurrte der Makabaki. »Das bezweifle ich.«

»Es geht um mehr, Nale!«, sagte Restares, obwohl er und sein Gefährte sich widerstandslos von Gavilar aus dem Zimmer geleiten ließen. »Es ist wichtig! Ich will raus. Und das ist die einzige Möglichkeit …«

Hinter ihnen schloss Gavilar die Tür. Dann wandte er sich seiner Frau zu. Bei der Verdammnis, sie sollte wissen, dass sie ihn nicht stören durfte. Sie …

Bei den Stürmen! Ihr Kleid war schön, ihr Gesicht war noch schöner, selbst wenn sie wütend war. Sie sah ihn mit strahlenden Augen an, und beinahe schien sich eine feurige Aureole um sie zu legen.

Er dachte noch einmal nach.

Und verwarf die Idee erneut.

Wenn er zu einem Gott werden wollte, musste er alle Beziehungen lösen. Die Sonne konnte die Sterne lieben. Aber niemals als gleichwertige Partner.

Nachdem er sich um Navani gekümmert hatte, huschte Gavilar einige Zeit später wieder davon. Diesmal begab er sich in seine eigenen Gemächer, wo er sich dem stellen konnte, was er erfahren hatte.

»Verrate mir«, sagte er, während er über den federnden Teppich schritt und die Karte von Roschar auf der Tischplatte ansah, »warum Thaidakar so interessiert an Ba-Ado-Mischram ist.«

Der Sturmvater bildete eine Kräuselung neben Gavilar, die vage die Gestalt eines Menschen annahm. Es war wie das Flirren der Luft, die von großer Hitze über Steinen ausging.

Sie hat eure Parscher zufällig erschaffen, sagte er. Vor langer Zeit, kurz vor der Wiedererschaffung, hat Mischram versucht, sich zu erheben, Odium zu ersetzen und den Bringern der Leere Macht zu verschaffen.

»Merkwürdig«, bemerkte Gavilar. »Und dann?«

Und dann … ist sie gestürzt. Sie war zu klein, um ein ganzes Volk zu stützen. Alles brach über ihr zusammen. Einige tapfere Strahlende haben Mischram in einen Edelstein eingesperrt und dadurch verhindert, dass sie ganz Roschar vernichtet. Ein Nebenergebnis dessen war die Erschaffung der Parscher.

Die einfachen Parscher. Sie waren die Bringer der Leere. Dies war ein köstliches Geheimnis, das er dem Sturmvater schon vor einigen Wochen entlockt hatte. Gavilar ging zum Bücherschrank, in dem eines der neuen Heizfabriale lag, das ihm von dem Gelehrten Ruschur Kris gegeben worden war. Er nahm es aus der Stoffumhüllung und wog es in der Hand.

Er hatte eine Möglichkeit gefunden, Leersprengsel durch Schadesmar in diese Welt zu holen, indem er Edelsteine und Aluminiumschachteln benutzte. Wer wäre je auf den Gedanken gekommen, dass sich Navanis Freizeit-Forschungen jemals als so nützlich erweisen würden? Und wenn diese hinterhältige Axindweth seinem Griff entwischen sollte, würde er sich dem nächsten Teil ohne sie widmen. Er hatte seinen Gelehrten, auch wenn Gavilar äußerst verblüfft von dem Licht war, das dieser erschuf … Konnte dieses Licht etwa die Bringer der Leere töten? Wie hatte Vascher es gemacht …

Er glaubte, ein schwaches Knistern vom Sturmvater zu hören. Ein Blitz? Wie nett.

»Du hast nie infrage gestellt, was ich tue«, sagte Gavilar. »Man könnte doch der Meinung sein, dass die Rückkehr der Bringer der Leere deiner Natur zuwiderläuft.«

Widerstand ist bisweilen notwendig, sagte der Sturmvater. Du brauchst jemanden, gegen den du kämpfen kannst, wenn du Kampfmeister werden möchtest.

»Mach mich dazu«, sagte Gavilar. »Jetzt sofort. Mach mich zu einem Herold. Ich brauche das.«

Der Sturmvater drehte ihm den schimmernden Kopf zu. Das waren sie beinahe.

»Was? Diese Worte?«, fragte Gavilar. »Ist das eine Forderung?«

So nah. Und doch so fern.

Gavilar lächelte, wog das Fabrial weiter in seiner Hand und dachte an das Flammensprengsel, das darin gefangen war. Der Sturmvater schien beständig misstrauischer und feindseliger zu werden. Wenn alles schiefging … konnte er dann auch den Sturmvater in eines dieser Fabriale einschließen?

Bald schon traf Amaram mit einer kleinen Gefolgschaft ein, die aus zwei Männern und zwei Frauen bestand. Einer der Männer war Amarams Leutnant. Die anderen drei waren gewiss wichtige neue Rekruten für die Söhne Ehrs, die zu diesem Fest eingeladen worden waren und danach eine exklusive Audienz beim König erhalten würden. Es mochte störend sein, aber es war notwendig. Gavilar erkannte die beiden Frauen anhand der Aufzeichnungen wieder, nicht aber den älteren gewandten Mann. Wer mochte er sein? Ein Sturmwächter? Amaram hatte sie gern in seiner Nähe, damit sie ihm ihre Schrift beibrachten, in der einige der Vorin-Anbetungen überliefert waren. Das bedeutete ihm viel.

Gavilar gegrüßte alle Personen nacheinander, und als die Reihe an den älteren Mann kam, fiel es ihm wieder ein. Das war Taravangian, der König von Kharbranth. Ihm eilte der Ruf voraus, ein Mann ohne Einfluss und Begabung zu sein. Gavilar warf Amaram einen raschen Blick zu. Sie wollten ihm doch wohl nicht ihr Vertrauen schenken? Vielmehr sollten sie sich auf die Suche nach der Macht begeben, die insgeheim über Kharbranth herrschte. Vermutlich handelte es sich dabei um eine von zwei Frauen, von denen Gavilars Spione berichtet hatten.

Amaram nickte. Also hielt Gavilar seine Rede über die alten Eide und die Strahlenden, über vergangenen Ruhm und eine strahlende Zukunft. Zwar war es eine gute Rede, allmählich aber ging sie ihm doch auf die Nerven. Früher hatten seine Worte die Truppen inspiriert, nun verbrachte er sein ganzes Leben mit solchen Zusammenkünften. Als er fertig war, bedeutete er jedem, sich etwas zu trinken zu holen.

»Meridas«, flüsterte Gavilar und zog Amaram zur Seite. »Diese Treffen werden immer lästiger. Mein Experiment war erfolgreich. Ich habe die Waffe.«

Amaram zuckte zusammen, dann sagte er sanft: »Ihr meint …«

»Ja, sobald wir die Bringer der Leere zurückholen, werden wir eine neue Möglichkeit haben, sie zu bekämpfen.«

»Oder eine neue Möglichkeit, sie zu beherrschen«, flüsterte Amaram.

Nun ja, das war etwas Neues. Gavilar sah seinen Freund an und dachte über die Bedeutung seiner Worte nach. Es wäre gut für dich, Amaram.

»Wir müssen die Wüstwerdungen zurückholen«, sagte Gavilar, »was immer es kosten mag. Das ist der einzige Weg.«

»Dem stimme ich zu«, sagte Amaram. »Jetzt mehr denn je.« Er zögerte. »Meine Bemühungen bei Eurer Tochter sind vorhin nicht von Erfolg gekrönt worden. Ich dachte, wir haben eine Übereinkunft.«

»Du brauchst einfach nur mehr Zeit, mein Freund, wenn du sie für dich gewinnen willst.«

Amaram gelüstete es ebenso nach dem Thron, wie es Gavilar nach der Unsterblichkeit gelüstete. Und vielleicht würde Gavilar Amaram damit belohnen. Elhokar verdiente es ganz gewiss nicht, König zu sein. Er war das genaue Gegenteil des Vermächtnisses, das Gavilar sich vorgestellt hatte.

Er schickte Amaram los, der mit den anderen sprechen sollte. Sobald sie ihre Getränke genossen hatten, würde Gavilar eine weitere kurze Rede halten. Und dann konnte er …

Er runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass sich einer der neuen Rekruten nicht mit den anderen unterhielt. Taravangian, der ältere Mann, betrachtete die Karte von Roschar. Die anderen lachten gerade über etwas, das Amaram gesagt hatte. Taravangian blickte nicht einmal in die Richtung des Gelächters.

Gavilar ging zu ihm hinüber, aber noch bevor er etwas sagen konnte, flüsterte Taravangian: »Habt Ihr Euch je gefragt, welches Leben wir ihnen geben? Denjenigen, über die wir herrschen?«

Gavilar war es gar nicht gewohnt, mit einer solchen Vertrautheit angesprochen zu werden – erst recht nicht von einem Fremden. Aber Taravangian betrachtete sich selbst als König und glaubte, Gavilar ebenbürtig zu sein. Das war jedoch lächerlich, denn Taravangian herrschte nur über eine kleine Stadt.

»Ich mache mir weniger Gedanken über ihr gegenwärtiges Leben«, gab Gavilar zurück, »als über das, was danach kommen mag.«

Taravangian nickte und wirkte nachdenklich. »Das war eine inspirierende Rede. Glaubt Ihr wirklich an das, was Ihr gesagt habt?«

»Hätte ich es sonst gesagt?«

»Natürlich hättet Ihr das. Ein König sagt doch andauernd das, was gesagt werden muss. Wäre es nicht großartig, wenn dies auch immer das wäre, was er tatsächlich glaubt?« Er sah Gavilar an und lächelte. »Glaubt Ihr wirklich, dass die Strahlenden zurückkehren können?«

»Ja«, sagte Gavilar. »Das glaube ich.«

»Und Ihr seid kein Narr«, meinte Taravangian nachdenklich. »Also müsst Ihr gute Gründe für Eure Worte haben.«

Gavilar überdachte seine Meinung von vorhin. Auch ein kleiner König war ein König. Von all den Würdenträgern, die sich heute Abend in der Stadt befanden, verstand dieser Mann auf seine Weise vielleicht am besten die Verpflichtungen, zwischen denen derjenige zerrieben wurde, der sich zwischen Krone und Thron befand.

»Es nähert sich eine Gefahr«, erklärte Gavilar leise und war über seine eigene Aufrichtigkeit entsetzt. »Eine Gefahr für dieses Land. Für diese Welt. Eine uralte Gefahr.«

Taravangian kniff die Augen zusammen.

»Wir haben nicht nur eine weitere Wüstwerdung zu befürchten«, sagte Gavilar. »Sie wird kommen. Und der wahre Ewigsturm. Die Nacht der Klagen.«

Bemerkenswerterweise wurde Taravangian auf der Stelle bleich.

Er glaubte ihm. Für gewöhnlich kam sich Gavilar närrisch vor, wenn er versuchte, die wahren Gefahren zu erklären, die ihm der Sturmvater gezeigt hatte – den Wettstreit der Kampfmeister um das Schicksal von Roschar. Er befürchtete, dass ihn die anderen dann als verrückt betrachteten. Aber dieser Mann … glaubte ihm?

»Wo habt Ihr diese Worte gehört?«, fragte Taravangian.

»Ich weiß nicht, ob Ihr mir glauben werdet, wenn ich es Euch sage.«

»Würdet Ihr mir denn glauben?«, fragte Taravangian. »Vor zehn Jahren ist meine Mutter an ihren Tumoren gestorben. Schwach und gebrechlich lag sie auf ihrem Bett, und allzu viele Duftwässer bemühten sich, den Gestank des Todes zu überlagern. In ihren letzten Augenblicken sah sie mich an …« Sein Blick traf sich mit dem von Gavilar. »Und sie flüsterte: ›Ich stehe vor ihm, über der Welt, und er spricht die Wahrheit. Die Wüstwerdung ist nahe … Der wahre Ewigsturm. Die Nacht der Klagen.‹ Und dann ist sie gestorben.«

»Ich … habe davon gehört«, gab Gavilar zu. »Die prophetischen Worte der Toten …«

»Wo habt Ihr diese Worte gehört?«, fragte Taravangian; es war fast ein Flehen. »Bitte.«

»Ich habe Visionen«, gestand Gavilar. »Sie werden mir vom Allmächtigen verliehen, damit wir uns vorbereiten können.« Dabei warf er einen Blick auf die Landkarte. »Die Herolde mögen geben, dass ich zu der Person werde, die ich sein muss, damit das Kommende aufgehalten werden kann …«

Der Sturmvater sollte sehen, dass Gavilar es ehrlich meinte. Bei den Stürmen … plötzlich spürte Gavilar es auch. Als er vor diesem kleinen König stand, spürte er es. Nie zuvor – nie in dieser ganzen Zeit – hatte Gavilar auch nur vermutet, er könnte der Aufgabe nicht gewachsen sein.

Vielleicht, dachte er, sollte ich Dalinar dazu ermuntern, seine Ausbildung wieder aufzunehmen. Vielleicht sollte ich ihm klarmachen, dass er ein Soldat ist. Gavilar hegte die Befürchtung, dass er schon bald wieder der Schwarzdorn sein musste.

Draußen nähert sich jemand der Tür, warnte der Sturmvater. Eine Lauscherin. Eschonai. An ihr scheint etwas …

Eine der Parschendi? Gavilar schüttelte sich. Er entließ Taravangian, Amaram und die anderen und war froh, den alten Mann los zu sein und seine fragenden Blicke nicht mehr ertragen zu müssen. Warum machte er Gavilar bloß so nervös?

Eschonai trat ein, während Amaram seine Einladung weitergab. Das Gespräch mit der Parscherin verlief glatt. Er manipulierte sie und ihr ganzes Volk. Dieses bereitete er auf die Rolle vor, die es würde spielen müssen.

Nachdem das Abkommen unterzeichnet war, wurde Gavilar müde. Er verließ das Fest und zog sich in seine Gemächer zurück. Dort sank er in einen tiefen Polstersessel vor dem Balkon und stieß einen langen Seufzer aus. Früher, in seiner Zeit als Kriegsherr, hätte er sich nie den Luxus der Bequemlichkeit gegönnt. Er hatte fälschlich angenommen, dass er selbst bequem wurde, sobald er Bequemlichkeit genoss.

Das war ein üblicher Irrtum von Männern, die stark erscheinen wollten. Sich zu entspannen, war jedoch keine Schwäche. Aber indem sie sich vor etwas fürchteten, gaben sie diesen einfachen Dingen Macht über sie.

Die Luft vor ihm schimmerte.

»Ein voller Tag«, sagte Gavilar.

Ja.

»Der erste von vielen gleichartigen«, fuhr Gavilar fort. »Ich werde bald eine Expedition zur Zerbrochenen Ebene zusammenstellen. Wir können das neue Abkommen dazu benutzen, Führer anzuwerben, die uns mitten in dieses Gebiet bringen werden. Nach Urithiru.«

Darauf sagte der Sturmvater nichts. Gavilar wusste nicht, ob das Sprengsel menschliche Eigenschaften besaß. Heute jedoch … diese abgewandte Haltung, die im Flimmern der Luft angedeutet war … und dieses Schweigen …

»Bereust du es, mich auserwählt zu haben?«, fragte Gavilar.

Ich bedauere, wie ich dich behandelt habe, sagte der Sturmvater. Ich hätte nicht so entgegenkommend sein dürfen. Das hat dich faul und träge gemacht.

»Du nennst mich faul und träge?«, fragte Gavilar und zwang ein wenig Belustigung in seine Stimme, mit der er seinen Ärger verbergen wollte.

Du ehrst die Position nicht, die du begehrst, sagte der Sturmvater. Ich spüre … du bist nicht der Kampfmeister, den ich brauche. Vielleicht … habe ich mich die ganze Zeit geirrt.

»Du hast gesagt, dass du beauftragt wurdest, einen Meister zu finden«, sagte Gavilar. »Von Ehr.«

Das stimmt. Ich spreche nicht auf die Art der Menschen. Aber wenn du ein Herold geworden bist, wirst du zwischen den Wiederkehren gequält werden. Warum macht dir das keine Sorge?

Gavilar zuckte mit den Schultern. »Ich werde einfach aufgeben.«

Was?

»Aufgeben«, sagte Gavilar und stemmte sich aus seinem Sessel. »Warum soll ich mich foltern lassen und möglicherweise den Verstand verlieren? Ich werde jedes Mal abtreten und dann sofort wieder zurückkehren.«

Die Herolde bleiben in der Verdammnis, wo sie die Bringer der Leere bewachen. Und sie davon abhalten, die Welt zu überrennen. Sie …

»Die Herolde sind wie die zehn Narren«, erklärte Gavilar und goss sich vor seinem Balkon Wein aus der Karaffe ein. »Wenn ich nicht sterben kann, werde ich der größte König sein, den diese Welt je gesehen hat. Warum sollte ich mein Wissen und meine Fähigkeiten wegsperren?«

Um den Krieg zu beenden.

»Warum sollte ich mich bemühen, einen Krieg zu beenden?«, fragte Gavilar in ehrlicher Belustigung. »Krieg ist der Weg zum Ruhm und zur Ausbildung unserer Soldaten, damit sie die Stillen Hallen zurückerobern können. Glaubst du nicht auch, dass meine Truppe so erfahren wie möglich sein sollte?« Er drehte sich zu dem Schimmern um und nippte an seinem Orangenwein. »Ich fürchte diese Bringer der Leere nicht. Sollen sie doch bleiben und kämpfen. Wenn sie wiedergeboren werden, gehen uns die Feinde aus, die wir töten können.«

Darauf sagte der Sturmvater nichts. Abermals versuchte Gavilar die Haltung des Wesens zu deuten. War der Sturmvater stolz auf ihn? Gavilar betrachtete seine Lösung des Problems als elegant und war verwirrt, dass die Herolde nie daran gedacht hatten. Viellicht waren sie Feiglinge.

Ah, Gavilar, sagte der Sturmvater nun. Ich erkenne meine Fehleinschätzung. Deine gesamte religiöse Erziehung … ausgehend von Aharietiams Lügen und von Ehrs Versagen … läuft auf diesen Schluss hinaus.

Verdammnis! Der Sturmvater war nicht zufrieden. Es fühlte sich plötzlich furchtbar ungerecht an. Hier war er und trank diesen schrecklichen Weinersatz, damit er den lächerlichen Kodex befolgte, und er brachte jedes mögliche Opfer der Frömmigkeit dar – und doch reichte das alles nicht?

»Was soll ich denn tun, damit ich in der rechten Weise diene?«, fragte Gavilar.

Du verstehst es nicht, sagte der Sturmvater. Das sind nicht die Worte, Gavilar.

»Was sind denn die sturmverdammten Worte?«, rief er und stellte das Glas so heftig auf dem Tisch ab, dass es zerbrach. Der Wein spritzte bis an die Wand. »Du willst, dass ich diesen Planeten rette? Dann hilf mir! Sag mir, was ich falsch sage!«

Es geht nicht um das, was du sagst.

»Aber …«

Plötzlich schwankte der Sturmvater. Licht pulsierte durch seine schimmernde Gestalt und erfüllte Gavilars Zimmer mit einem elektrischen Glimmern. Blau überzog die Teppiche; reines Licht spiegelte sich im Glas der Balkontüren wider.

Und der Sturmvater schrie. Es war der Klang von Donner und Schmerz.

»Was denn …?«, fragte Gavilar und wich zurück. »Was ist passiert?«

Ein Herold … ein Herold ist gestorben … Nein. Ich bin nicht bereit. Der Eidpakt … Nein! Sie dürfen es nicht sehen. Sie dürfen nicht wissen …

»Gestorben?«, fragte Gavilar. »Gestorben. Du hast doch gesagt, dass sie schon alle tot sind! Du hast gesagt, dass sie sich in der Verdammnis befinden!«

Der Sturmvater kräuselte sich, dann bildete sich ein Gesicht in dem Schimmern. Zwei Augen, wie Löcher im Sturm, und Wolken drehten sich um sie herum und trieben in die Tiefen.

»Du hast gelogen«, erklärte Gavilar. »Du hast gelogen?«

O Gavilar. Es gibt so vieles, was du nicht weißt. So vieles, was du annimmst und vermutest. Und nie passt es zusammen. Wie Wege, die in zwei verschiedene Städte führen.

Diese Augen schienen Gavilar nach vorn zu ziehen, ihn zu überwältigen und dann zu verzehren. Er … er sah Stürme, endlose Stürme, und die Welt war so zerbrechlich. Ein winziger Fleck aus Blau vor einer unendlichen Leinwand aus Schwarz.

Der Sturmvater konnte lügen?

»Restares«, flüsterte Gavilar. »Ist er … wirklich ein Herold?«

Ja.

Gavilar spürte eine schreckliche Kälte, als würde er mitten in einem Großsturm stehen. Eis sickerte durch seine Haut. Suchte nach seinem Herzen. Diese Augen …

»Was bist du?«, flüsterte Gavilar heiser.

Der größte Narr von allen, sagte der Sturmvater. LEBEWOHL, GAVILAR. ICHHABEEINENBLICKAUFDASERHASCHT, WASKOMMT. ICHWERDEESNICHTVERHINDERN.

»Was denn?«, wollte Gavilar wissen. »Was kommt?«

DEINVERMÄCHTNIS.

Die Tür wurde aufgestoßen. Sadeas stürmte herein, sein Gesicht war rot vor Anstrengung. »Attentäter«, sagte er und winkte Tearim in seiner Rüstung herein. »Er kommt hierher und tötet dabei die Wachen. Ihr müsst Eure Rüstung anlegen. Tearim, zieh sie aus. Wir müssen den König schützen.«

Gavilar sah ihn verblüfft an.

Dann drang eines der Worte zu ihm durch.

Attentäter.

Ich bin verraten worden, dachte er und stellte fest, dass er gar nicht überrascht war. Irgendwann musste ihm einmal jemand nach dem Leben trachten.

Aber wer war es?

»Gavilar!«, brüllte Sadeas. »Ihr müsst Eure Rüstung anlegen! Attentäter auf dem Weg!«

»Tearim kann gegen ihn kämpfen, Torol«, sagte Gavilar. »Was ist denn schon ein einzelner Attentäter?«

»Dieser hier hat bereits Dutzende getötet«, sagte Sadeas. »Ich glaube, Ihr solltet vorsichtshalber die Splitterrüstung anlegen. Ich würde Euch meine geben, aber meine Rüstmeister sind noch mit ihr unterwegs hierher.«

»Du hast deine Rüstung mit zum Fest gebracht?«

»Natürlich«, sagte Sadeas. »Ich traue diesen Parschendi nicht. Es wäre gut gewesen, wenn Ihr es ebenfalls nicht getan hättet. Zu großes Vertrauen wird Euch eines Tages umbringen.«

In der Ferne waren Schreie zu hören. Der immer treue Tearim machte sich daran, seine Rüstung auszuziehen, damit Gavilar sie anlegen konnte.

»Zu langsam«, sagte Sadeas. »Wir müssen uns Zeit verschaffen. Gebt mir Eure Robe.«

Gavilar zögerte, dann sah er seinem Freund in die Augen. »Das würdest du tun?«

»Ich habe zu hart dafür gearbeitet, Euch auf den Thron zu setzen, Gavilar«, sagte Sadeas grimmig. »Ich werde nicht zulassen, dass das alles umsonst war.«

»Danke«, sagte Gavilar.

Sadeas zuckte die Achseln und zog die königliche Robe über, während Tearim Gavilar half, die Rüstung anzulegen. Wer immer dieser Attentäter sein mochte, er würde einem Splitterträger gegenübertreten müssen.

Gavilar schaute zu der Stelle, wo sich vorhin noch der Sturmvater befunden hatte – aber das Schimmern war verschwunden.

Sprengsel konnten nicht lügen. Sie konnten es einfach nicht. Das hatte er … vom Sturmvater erfahren.

Beim Blut meiner Väter, dachte Gavilar, während sich die Rüstung um seine Beine schloss. Worüber hat er mich sonst noch belogen?

Gavilar fiel.

Und als er fiel, wusste er, dass es das war. Sein Ende.

Ein zerrissenes Vermächtnis. Ein Attentäter, der sich mit unirdischer Anmut bewegte, der über Wände und Decken lief und über das Licht gebot, das aus den Stürmen austrat.

Gavilar prallte auf den Boden – umgeben von den Trümmern seines Balkons – und sah etwas Weißes aufblitzen. Sein Körper spürte keinen Schmerz. Das war ein sehr schlechtes Zeichen.

Thaidakar, dachte er, als sich schattenhaft eine Gestalt vor ihm in der Nachtluft erhob. Nur Thaidakar kann einen Attentäter aussenden, der so etwas vermag.

Gavilar hustete, als die Gestalt über ihm aufragte. »Ich … hatte erwartet, dass du kommst.«

Der Attentäter kniete sich vor ihn, aber Gavilar sah nichts anderes als Schatten. Dann … tat der Attentäter etwas, das Gavilar nicht erkannte, und wieder glühte er wie eine Kugel.

»Du kannst … Thaidakar sagen«, flüsterte Gavilar, »dass er zu spät dran ist …«

»Ich weiß nicht, wer das ist«, sagte der Attentäter. Seine Worte waren aber kaum zu verstehen. Dann streckte der Mann die Hand zur Seite aus. Er rief eine Splitterklinge herbei.

Das war es. Hinter dem Attentäter entstand eine Aureole aus schimmerndem Licht. Der Sturmvater.

Ich habe das nicht veranlasst, sagte der Sturmvater in seinem Kopf. Ich weiß nicht, ob dir das in deinen letzten Momenten Frieden geben wird, Gavilar.

»Aber … wer dann …?«, zwang Gavilar heraus. »Restares? Sadeas? Ich hätte nie geglaubt …«

»Meine Herren sind die Parschendi«, sagte der Attentäter.

Gavilar blinzelte und sah den Mann noch einmal an, während sich seine Klinge formte. Bei den Stürmen … das war doch Jezriens Ehrenklinge, oder? Was ging denn hier vor?

»Die Parschendi? Das ergibt aber keinen Sinn.«

Das ist genauso sehr mein Versagen wie das deine, bemerkte der Sturmvater. Wenn ich es noch einmal versuche, werde ich es anders machen. Aber ich dachte … deine Familie …

Seine Familie. In diesem Augenblick sah Gavilar, wie sein Vermächtnis zerfiel. Er lag im Sterben.

Bei den Stürmen. Er starb! Was spielte jetzt noch eine Rolle? Er konnte nicht … er durfte nicht …

Er sollte doch unsterblich sein …

Ich habe den Feind eingeladen, erkannte er. Das Ende kommt. Und meine Familie und mein Königreich werden vernichtet werden, und zwar ohne die Möglichkeit eines Kampfes. Es sei denn …

Mit zitternder Hand nahm er eine Kugel aus seiner Hosentasche. Die Waffe. Sie brauchten das hier. Sein Sohn … Nein, sein Sohn konnte mit einer solchen Macht nicht umgehen … Sie brauchten einen Krieger. Einen richtigen Krieger. Einen, den Gavilar zu unterdrücken versucht hatte – aus einer Angst heraus, die er sich sogar noch in seinen letzten rasselnden Atemzügen nicht eingestehen wollte.

Dalinar. Mochten die Stürme ihnen helfen, aber alles lief auf Dalinar hinaus.

Er hielt die Kugel dem Sturmvater entgegen, und dann verschwamm sein Gesichtsfeld. Das Denken … wurde … schwierig.

»Du musst das an dich nehmen«, flüsterte Gavilar dem Sturmvater zu. »Sie dürfen diese Kugel nicht bekommen. Sag … sag meinem Bruder … er muss die wichtigsten Worte finden, die ein Mann aussprechen kann …«

Nein, erwiderte der Sturmvater, obwohl eine Hand die Kugel ergriff. Nicht er. Es tut mir leid, Gavilar. Ich habe diesen Fehler schon einmal gemacht. Deiner Familie werde ich nie wieder trauen.

Gavilar gab ein schmerzvolles Jammern von sich. Es rührte nicht aus seinem Körper her, sondern aus seiner Seele. Er hatte versagt. Er hatte sie alle in den Untergang getrieben. Mit Entsetzen erkannte er, dass dies sein Vermächtnis war.

Am Ende starb Gavilar Kholin, der Erbe der Herolde. Er starb wie alle Menschen.

Allein.

TAG EINS

Schallans Skizzenbuch: Sternensprengsel

1: Unvertrauter Boden

Ich hätte wissen müssen, dass ich beobachtet wurde. Mein ganzes Leben hindurch waren die Anzeichen dafür da.

Aus Ritter der Winde und Wahrheit, Seite 1

Kaladin fühlte sich gut.

Nicht großartig. Das war nach den langen Wochen in einem Versteck der besetzten Stadt auch unmöglich. Nicht nachdem er sich körperlich und seelisch so sehr verausgabt hatte. Nicht nach dem, was mit Teft geschehen war.

Am ersten Morgen des Monats stand er an seinem Fenster. Das Sonnenlicht strömte in das Zimmer und umgab ihn, und der Wind zupfte an seinen Haaren. Er sollte sich nicht gut fühlen. Ja, er hatte dabei geholfen, Urithiru zu beschützen, aber dieser Sieg war schmerzlich teuer gewesen. Überdies hatte Dalinar ein Abkommen mit dem Feind geschlossen. In nur zehn Tagen würden Ehrs Kampfmeister und auch der von Odium über das Schicksal von Roschar entscheiden.

Das Ausmaß des Ganzen mochte erschreckend sein, aber Kaladin war inzwischen als Anführer der Windläufer zurückgetreten. Er hatte zwar die richtigen Worte gesprochen, aber er hatte auch erkannt, dass Worte allein nicht genügten. Während das Sturmlicht seinen Körper sofort geheilt hatte, hatte seine Seele etwas Zeit gebraucht. Wenn es zur Schlacht kommen sollte, würden seine Freunde ohne ihn kämpfen müssen. Und wenn die Kampfmeister in zehn Tagen auf dem Dach von Urithiru zusammentrafen – in neun Tagen, denn der erste Tag der Frist verstrich bereits –, würde Kaladin nicht daran teilnehmen.

Das hätte ihn eigentlich zu einem ängstlichen Nervenbündel machen sollen. Doch stattdessen lehnte er den Kopf zurück und spürte die warme Sonne auf der Haut. Zwar fühlte er sich jetzt nicht großartig, aber immerhin konnte er davon ausgehen, dass er sich irgendwann wieder großartig fühlen würde.

Für heute reichte ihm das.