Wolfsmond - Stephen King - E-Book

Wolfsmond E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Lange mussten die Fans ausharren, doch das Warten hat sich gelohnt. Wolfsmond, der fünfte Band des monumentalen Romanwerks „Der Dunkle Turm“ hält alles, was man von einem großen Opus erwarten kann – Fantasy, Horror, Science-Fiction, Western, Thriller, Abenteuergeschichte und Liebesroman verschmelzen zu einem packenden Lesevergnügen, das Lust auf die beiden abschließenden Werke des Zyklus macht.

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Inhaltsverzeichnis
 
Der Autor
Widmung
DIE LETZTE AUSEINANDERSETZUNG
Lob
WIDERSTAND
PROLOG
 
TEIL EINS – FLITZEN
Kapitel 1 – DAS GESICHT AUF DEM WASSER
1
2
3
4
5
Kapitel 2 – IM ALTEN NEW YORKER TROTT
1
2
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8
9
10
11
Kapitel 3 – MIA
1
2
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5
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9
Kapitel 4 – PALAVER
1
2
3
4
5
6
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9
10
Kapitel 5 – OVERHOLSER
1
2
3
4
5
6
Kapitel 6 – DER WEG DES ELD
1
2
3
4
5
Kapitel 7 – FLITZEN
1
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3
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5
6
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16
 
TEIL ZWEI – GESCHICHTEN ERZÄHLEN
Kapitel 1 – DER PAVILLON
1
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3
4
5
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14
Kapitel 2 – GELENKSTARRE
1
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4
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6
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Kapitel 3 – DIE GESCHICHTE DES PRIESTERS (NEW YORK)
1
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6
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12
Kapitel 4 – FORTSETZUNG DER GESCHICHTE DES PRIESTERS (HIGHWAYS IM VERBORGENEN)
1
2
3
4
5
6
7
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9
Kapitel 5 – DIE GESCHICHTE VON GRAY DICK
1
2
3
4
5
6
Kapitel 6 – GRAN-PERES ERZÄHLUNG
1
2
3
4
5
6
7
8
Kapitel 7 – NOCTURNE, HUNGER
1
2
3
Kapitel 8 – TOOKS LADEN; DIE NICHTGEFUNDENE TÜR
1
2
3
4
5
6
7
8
Kapitel 9 – SCHLUSS DER GESCHICHTE DES PRIESTERS (NICHTGEFUNDEN)
1
2
3
4
5
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18
19
20
 
TEIL DREI – DIE WÖLFE
Kapitel 1 – GEHEIMNISSE
1
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3
4
5
6
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8
9
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Kapitel 2 – DER DOGAN, TEIL 1
1
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17
Kapitel 3 – DER DOGAN, TEIL 2
1
2
3
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5
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12
13
Kapitel 4 – DER RATTENFÄNGER
1
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3
4
5
6
7
8
9
Kapitel 5 – DIE VERSAMMLUNG DER FOLKEN
1
2
3
4
5
6
Kapitel 6 – VOR DEM STURM
1
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3
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6
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17
Kapitel 7 – DIE WÖLFE
1
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4
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17
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20
21
 
Epilog
ANMERKUNG DES VERFASSERS
NACHWORT DES VERFASSERS
Copyright
Das Buch
Roland von Gilead, der Revolvermann, ist in Mitt-Welt noch immer auf der Suche nach dem magischen Dunklen Turm. Mit seinen Gefährten Eddie, Susannah und Jake gelangt er in den kleinen Ort Calla Bryn Sturgis, wo den Farmern auffällig häufig Zwillinge geboren werden. Doch seit Generationen überfallen regelmäßig Wolfsreiter auf grauen Pferden das Dorf und rauben jeweils einen der Zwillinge. Wenn das Kind dann zurückkehrt, ist es geistig behindert. Nun hat Andy, der Boten-Roboter, erneut einen Überfall der Wölfe angekündigt. Roland und seine Freunde, die sich bereit erklärt haben, den hilflosen Farmern beizustehen, entdecken in einer Höhle des Dorfes eine geheimnisvolle Tür, die sich als eine Verbindung zur Erde und zu anderen Welten entpuppt. Die Freunde nutzen die Tür, um im New York des Jahres 1977 eine Rettungsaktion zu unternehmen. Da stellt sich heraus, dass Susannah mit einem Dämonenkind schwanger ist, und die Wölfe greifen an...
Wolfsmond ist der fünfte Band der siebenteiligen Saga um Roland, den Revolvermann. Bereits im Heyne Taschenbuch erschienen sind die Bände Schwarz, Drei, tot. und Glas. Dazu gibt es von Robin Furth die erklärende Konkordanz Das Tor zu Stephen Kings Dunklem Turm I – IV, der erste Teil eines verlässlichen Führers durch die Welt des Dunklen Turms. Der sechste Band des Zyklus Susannah erschien im Heyne Hardcover im Juni 2004, der abschließende siebte Band Der Turm im November 2004.
Der Autor
Stephen King gilt weltweit als der Meister der modernen Horrorliteratur. Geboren 1947 in Portland, Maine, lebt er mit seiner Frau, der Schriftstellerin Tabitha King, in Maine und Florida. Schon während seines Studiums schrieb und veröffentlichte er Science-Fiction-Stories. 1973 gelang ihm mit Carrie der internationale Durchbruch. Alle seine Bücher wurden Bestseller, die meisten davon liegen im Wilhelm Heyne Verlag vor.
Dieses Buch ist für Frank Muller,der die Stimmen in meinem Kopf hört.
DIE LETZTE AUSEINANDERSETZUNG
Wolfsmond ist der fünfte Band einer längeren Geschichte, die durch Robert Brownings erzählendes Gedicht »Herr Roland kam zum finstern Turm« inspiriert wurde. Der sechste Band, Susannah, erscheint im Jahr 2004. Der siebte und letzte Band, Der Dunkle Turm, erscheint später im selben Jahr.
Der erste Band, Schwarz, erzählt, wie Roland Deschain von Gilead den Mann in Schwarz, Walter, verfolgt und letztlich stellt – den Mann, der Freundschaft mit Rolands Vater heuchelte, aber in Wirklichkeit dem Scharlachroten König in der fernen Endwelt diente. Den nur halb menschlichen Walter zu stellen, ist für Roland ein Schritt auf dem Weg zum Dunklen Turm, wo er die sich beschleunigende Zerstörung von Mittwelt und den allmählichen Verfall der Balken aufhalten oder sogar umkehren zu können hofft. Der Untertitel dieses Romans lautet WIEDERAUFNAHME.
Der Dunkle Turm ist Rolands Obsession, sein Gral, sein einziger Lebenszweck, als wir ihm begegnen. Wir erfahren, wie Marten versuchte, als Roland noch ein Junge war, ihn entehrt »nach Westen« schicken zu lassen, vom Brett des großen Spiels gewischt. Roland durchkreuzt Martens Pläne jedoch – hauptsächlich durch kluge Waffenwahl bei seiner Mannbarkeitsprüfung.
Steven Deschain, Rolands Vater, schickt seinen Sohn und dessen zwei Freunde (Cuthbert Allgood und Alain Johns) in die Küstenbaronie Mejis – hauptsächlich um ihn außer Reichweite Walters zu schaffen. Roland begegnet dort Susan Delgado, die in Konflikt mit einer Hexe geraten ist, und verliebt sich in sie. Rhea vom Cöos, eifersüchtig auf die Schönheit des Mädchens, ist besonders gefährlich, weil sie eine der großen Glaskugeln, die als die Regenbogen-Bogen oder Zauberergläser bekannt sind, an sich gebracht hat. Insgesamt gibt es dreizehn davon, und die Stärkste und Gefährlichste von ihnen ist die Schwarze Dreizehn. Roland und seine Freunde bestehen in Mejis viele Abenteuer, und obwohl sie lebend (und mit dem rosa Regenbogen-Bogen) entkommen, stirbt Susan, das liebreizende Mädchen am Fenster, auf dem Scheiterhaufen. Diese Geschichte wird im vierten Band, Glas, erzählt. Der Untertitel dieses Romans lautet RÜCKSICHT.
Im Verlauf der Erzählungen vom Dunklen Turm entdecken wir, dass die Welt des Revolvermanns auf fundamentale und schreckliche Weise mit unserer eigenen verbunden ist. Die erste dieser Verbindungen wird enthüllt, als Jake, ein Junge aus dem New York des Jahres 1977, lange Jahre nach Susan Delgados Tod an einer Zwischenstation in der Wüste Roland begegnet. Es gibt Türen zwischen Rolands Welt und unserer eigenen, und eine davon ist der Tod. Jake findet sich in dieser Zwischenstation in der Wüste wieder, nachdem er auf die Forty-third Street geschubst und von einem Auto überfahren wurde. Der Fahrer des Wagens war ein Mann namens Enrico Balazar. Vors Auto geschubst hat Jake ein Psychopath namens Jack Mort, Walters Repräsentant auf der New Yorker Ebene des Dunklen Turms.
Bevor Jake und Roland jenen Walter einholen, stirbt Jake nochmals … diesmal, weil der Revolvermann, als er vor die qualvolle Wahl zwischen seinem symbolischen Sohn und dem Dunklen Turm gestellt wird, sich für den Turm entscheidet. Jakes letzte Worte vor seinem Sturz in den Abgrund lauten: »Dann geh – es gibt andere Welten als diese.«
Die letzte Konfrontation zwischen Roland und Walter ereignet sich in der Nähe des Westlichen Meeres. Bei einem Palaver, das eine ganze Nacht lang dauert, liest der Mann in Schwarz Roland die Zukunft aus einem Blatt sehr seltsamer Tarotkarten. Roland wird besonders auf drei Karten – der Gefangene, die Herrin der Schatten und der Tod (»aber nicht für dich, Revolvermann«) – aufmerksam gemacht.
Drei (mit dem Untertitel ERNEUERUNG) beginnt an der Küste des Westlichen Meeres, nicht lange nachdem Roland von seiner Konfrontation mit Walter erwacht. Der erschöpfte Revolvermann wird von einem Schwarm Fleisch fressender »Monsterhummer« angefallen, und bevor er ihnen entkommen kann, hat er zwei Finger seiner rechten Hand eingebüßt und sich eine schwere Infektion zugezogen. Roland setzt seine Wanderung entlang der Küste des Westlichen Meeres fort, obwohl er krank, vielleicht sogar todkrank ist.
Auf seiner Wanderung kommt er zu drei Türen, die frei am Strand stehen. Sie öffnen sich zu drei verschiedenen Wanns in die Stadt New York. Aus dem Jahr 1987 zieht Roland einen gewissen Eddie Dean, einen Gefangenen des Heroins. Aus dem Jahr 1964 zieht er Odetta Susannah Holmes, die beide Beine verloren hat, weil ein Psychopath namens Jack Mort sie vor eine U-Bahn geschubst hat. Sie ist die Herrin der Schatten, in deren Kopf sich eine gewalttätige »Andere« verbirgt. Diese verborgene Frau, die gewalttätige und verschlagene Detta Walker, ist entschlossen, Roland und Eddie zu ermorden, als der Revolvermann sie nach Mittwelt zieht.
Roland glaubt, er habe die drei vielleicht schon mit Eddie und Odetta gezogen, weil Odetta in Wirklichkeit aus zwei Persönlichkeiten besteht, aber als Odetta und Detta zu Susannah verschmelzen (vor allem dank Eddie Deans Liebe und Mut), weiß der Revolvermann, dass dies nicht der Fall ist. Und er weiß noch etwas anderes: Ihn quält die Erinnerung an Jake, an den Jungen, der zum Zeitpunkt seines Todes von anderen Welten gesprochen hat.
tot. mit dem Untertitel ERLÖSUNG beginnt mit einem Paradox: Für Roland scheint Jake zugleich lebendig und tot zu sein. Im New York der späten Siebzigerjahre wird Jake Chambers von derselben Frage gequält: Lebendig oder tot? Was ist er? Nachdem sie einen riesenhaften Bären, der entweder Mir (so von dem alten Volk genannt, das ihn fürchtete) oder Shardik (von den Großen Alten, die ihn erbaut haben) heißt, erlegt haben, gelangen Roland, Eddie und Susannah zu dessen Heimstatt und entdecken dort den Pfad des Balkens, der als Shardik zu Maturin, Bär zu Schildkröte, bekannt ist. Einst gab es sechs dieser Balken, die zwischen den zwölf Portalen verliefen, die den Rand von Mittwelt bezeichnen. Wo die Balken sich kreuzen, im Mittelpunkt von Rolands Welt (und aller Welten), erhebt sich der Dunkle Turm, der Nexus aller Wos und Wanns.
Unterdessen sind Eddie und Susannah nicht länger Gefangene in Rolands Welt. Sie lieben sich, sind weit darin fortgeschritten, selbst Revolvermänner zu werden, sind vollwertige Teilnehmer an der Suche und folgen Roland, dem letzten Seppe-Sai (Todesverkäufer), auf dem Pfad von Shardik, dem Weg in Richtung Maturin.
In einem sprechenden Ring, nicht weit vom Portal des Bären entfernt, wird die Zeit gekittet, das Paradox beendet und der wahre Dritte gezogen. Jake kehrt zum Schluss eines gefährlichen Rituals, bei dem alle vier – Jake, Eddie, Susannah und Roland – sich an das Angesicht ihrer Väter erinnern und sich tapfer bewähren, nach Mittwelt zurück. Wenig später wird das Quartett sogar zu einem Quintett, als Jake Freundschaft mit einem Billy-Bumbler schließt. Bumbler, die wie eine Kreuzung aus Dachs, Waschbär und Hund aussehen, verfügen über ein beschränktes Sprechvermögen. Jake nennt seinen neuen Freund Oy.
Der Weg der Pilger führt sie zur Stadt Lud, in der die degenerierten Überlebenden zweier von alters her im Streit liegenden Gruppierungen endlose Kämpfe austragen. Bevor sie die Stadt erreichen, begegnen sie in der Kleinstadt River Crossing einigen greisen Überlebenden aus alten Zeiten. Diese erkennen Roland als Mitüberlebenden aus jenen Tagen, bevor die Welt sich weiterbewegt hat, und ehren ihn und seine Gefährten. Die alten Leute erzählen ihnen auch von einer Einschienenbahn, die möglicherweise noch immer von Lud aus ins Ödland, dem Pfad des Balkens folgend, in Richtung Dunkler Turm fährt.
Diese Mitteilung ängstigt Jake, aber sie überrascht ihn nicht; bevor er aus New York gezogen wurde, hat er in einer Buchhandlung, die einem Mann mit dem nachdenklich machenden Namen Calvin Tower gehörte, zwei Bücher gekauft. Eines ist ein Rätselbuch, aus dem die Lösungsseiten herausgerissen wurden. Das andere, Charlie Tschuff-Tschuff, ist eine Kindergeschichte mit dunklen Anklängen an Mittwelt. Beispielsweise bedeutet das Wort Char in der Hohen Sprache, mit der Roland in Gilead aufgewachsen ist: Tod.
Tante Talitha, die Matriarchin von River Crossing, schenkt Roland ein silbernes Kreuz, das er tragen soll, und die Reisenden ziehen weiter. Als sie eine baufällige Brücke überqueren, die den Fluss Send überspannt, wird Jake von einem todkranken (und sehr gefährlichen) Verbrecher namens Gasher – »Schlitzer« – unter die Erde zum Ticktackmann verschleppt, dem letzten Anführer der als die Grauen bekannten Gruppierung.
Während Roland und Oy sich aufmachen, um Jake zu befreien, finden Eddie und Susannah die Wiege von Lud, wo Blaine der Mono erwacht. Blaine ist das letzte oberirdische Artefakt eines riesigen Computersystems, das unter Lud liegt, und er interessiert sich nur noch für eines: Rätsel. Blaine verspricht, die Reisenden bis zu seiner Endstation zu bringen … wenn sie ihm ein Rätsel stellen können, das er nicht lösen kann. Andernfalls, sagt Blaine, werde er sie dorthin mitnehmen, »wo der Pfad auf der Lichtung endet« – in den Tod.
Roland rettet Jake und lässt den Ticktackmann scheinbar tot zurück. Aber Andrew Quick ist nicht tot. Halb blind, mit grausig verletztem Gesicht, wird er von einem Mann gerettet, der sich Richard Fannin nennt. Fannin gibt sich jedoch auch als der Zeitlose Fremde zu erkennen – ein Dämon, vor dem Roland einst gewarnt worden ist.
Die Pilger setzen ihre Reise von der sterbenden Stadt Lud aus fort, jetzt mit der Einschienenbahn. Die Tatsache, dass die wahre Intelligenz, die den Mono steuert, in Computern existiert, die immer weiter hinter ihnen zurückbleiben, wird so oder so keine Rolle mehr spielen, wenn das rosa Geschoss irgendwo entlang des Balkenpfads mit über achthundert Meilen in der Stunde von seiner verrotteten Schiene springt. Ihre einzige Überlebenschance besteht darin, Blaine ein Rätsel zu stellen, das er nicht lösen kann.
Am Anfang von Glas kann Eddie dann tatsächlich ein solches Rätsel stellen und zerstört Blaine mit einer allein Menschen vorbehaltenen Waffe: Unlogik. Der Mono hält in einer Variante von Topeka, Kansas, die von einer »Supergrippe« genannten Krankheit entvölkert worden ist. Als sie ihre Reise entlang dem Balkenpfad fortsetzen (jetzt auf einer apokalyptischen Version der Interstate 70), sehen sie auf Straßenschildern beunruhigende Aufschriften. HEIL DEM SCHARLACHROTEN KÖNIG, verkündet eine. HÜTET EUCH VOR DEM WANDELNDEN GECKEN, steht auf einem anderen. Und wie aufmerksame Leser wissen, trägt der Wandelnde Geck einen Namen, der sehr ähnlich wie Richard Fannin klingt.
Nachdem Roland seinen Freunden die Geschichte von Susan Delgado erzählt hat, kommen sie zu einem Palast aus grünem Glas, der die I-70 überspannt und starke Ähnlichkeit mit dem hat, den Dorothy Gale in Der Zauberer von Oz suchte. Im Thronsaal dieses prächtigen Schlosses begegnen sie aber nicht Oz dem Großen und Schrecklichen, sondern dem Ticktackmann, dem letzten Flüchtling aus der großen Stadt Lud. Als der Ticktackmann tot ist, zeigt sich der wahre Zauberer: Rolands uralte Nemesis Marten Broadcloak, der in manchen Welten als Randall Flagg, in anderen als Richard Fannin und in wieder anderen als John Farson (der Gute Mann) bekannt ist. Roland und seinen Freunden gelingt es nicht, dieses Gespenst zu töten, das sie ein letztes Mal davor warnt, ihre Suche nach dem Turm fortzusetzen (»Schlägt nur auf mich zurück, Roland, alter Junge«, erklärt es dem Revolvermann), aber sie können es verbannen.
Nach einem abschließenden Trip ins Zaubererglas und einer letzten grausigen Enthüllung – dass Roland von Gilead seine eigene Mutter erschossen hat, weil er sie irrtümlich für die Hexe Rhea hielt – befinden die Wanderer sich wieder in Mittwelt und wieder auf dem Pfad des Balkens. Sie nehmen ihre Suche erneut auf, und hier begegnen wir ihnen auf den ersten Seiten von Wolfsmond.
Dieser Überblick ist keineswegs eine Zusammenfassung der ersten vier Bände des Turm-Zyklus; wenn Sie diese Bücher nicht gelesen haben, bevor Sie den vorliegenden beginnen, rate ich Ihnen dringend, es zu tun oder diesen erst einmal hier beiseite zu legen. Diese Bücher sind nur Teile einer einzigen langen Geschichte, und Sie täten besser daran, sie von Anfang an zu lesen, statt in der Mitte anzufangen.
»Wir sind Reisende in Blei.«
STEVE MCQUEEN in Die Glorreichen Sieben
»Erst kommt Lächeln, dann kommen Lügen. Zuletzt Schüsse.«
ROLAND DESCHAIN VON GILEAD
 
 
 
 
The blood that flowing through you flows through meWhen I look in any mirror it’s your face that I seeLean on meI’ll be strongWe’re almost freeIt won’t be longWandering boy
RODNEY CROWELL »Wandering Boy«
WIDERSTAND
19
PROLOG
MINDER

1

Tian war mit drei Feldern gesegnet (obwohl nur wenige Farmer ein solches Wort verwendet hätten): mit dem Flussfeld, auf dem seine Familie seit undenklichen Zeiten Reis anbaute; dem Straßenfeld, auf dem die Ka-Jaffords seit ebenso vielen Jahren und Generationen Scharfwurzel, Kürbis und Mais angebaut hatten; und dem Scheißfeld, einem undankbaren Stück Land, das hauptsächlich Felsbrocken, Blasen und enttäuschte Hoffnungen hervorbrachte. Tian war nicht der erste Jaffords, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, etwas aus den zwanzig Morgen Land hinter der Heimstatt zu machen; sein Gran-Pere, sonst in fast jeder Beziehung ganz normal, war der Überzeugung gewesen, dort gebe es Gold. Tians Ma war ebenso überzeugt gewesen, dort lasse sich Porin, ein sehr wertvolles Gewürz anbauen. Tian selbst hegte eine spezielle Verrücktheit hinsichtlich Madrigal. Natürlich konnte man auf dem Scheißfeld Madrigal anbauen. Es musste dort wachsen. Er hatte sich tausend Samen beschafft (und einen schönen Batzen Geld dafür ausgegeben), die jetzt unter den Dielenbrettern seines Schlafzimmers versteckt waren. Bevor er im kommenden Jahr mit der Aussaat beginnen konnte, musste er das Scheißfeld nur noch umpflügen. Aber das war leichter gesagt als getan.
Der Jaffords-Clan war mit Vieh gesegnet, zu dem drei Maultiere gehörten, aber ein Mann, der versucht hätte, das Scheißfeld mit einem Maultier umzupflügen, wäre verrückt gewesen; das Tier, welches das Unglück hatte, dazu hergenommen zu werden, würde wahrscheinlich schon am Mittag des ersten Tages mit gebrochenem Bein oder totgestochen daliegen. Einer von Tians Onkeln hatte vor einigen Jahren beinahe letzteres Schicksal erlitten. Er war, aus voller Lunge kreischend und von riesigen Mutie-Wespen mit nagelgroßen Stacheln verfolgt, auf die Heimstatt zurückgerannt gekommen.
Sie hatten das Nest gefunden (nun, Andy hatte es gefunden; Andy störten Wespen nicht, wie groß sie auch sein mochten) und mit Petroleum verbrannt, aber es konnte weitere geben. Und es gab Löcher. Schitt auch, die gab es in Massen, und Löcher konnte man nicht verbrennen, oder? Nein. Das Scheißfeld befand sich auf etwas, was die Alten »lockeren Grund« nannten. Deshalb wies es fast so viele Löcher auf wie Felsbrocken, ganz zu schweigen von mindestens einer Höhle, aus der manchmal ein übel riechender Pestilenzhauch wehte. Wer wusste, was für Gnomen und Erdgeister in ihren dunklen Tiefen lauern mochten?
Und die schlimmsten Löcher lagen nicht im Freien, wo ein Mann (oder Maultier) sie sehen konnte. Überhaupt nicht, mein Herr, vergesst es. Diese Beinbrecher waren stets in scheinbar harmlosen Unkrautklumpen und hohem Gras versteckt. Euer Maultier würde hineintreten, dann wäre ein scharfes Knacken zu hören, als zersplittere ein Zweig, und dann läge das verdammte Ding vor einem auf dem Boden, fletschte die Zähne, verdrehte die Augen und schrie all seinen Schmerz gen Himmel. Das heißt, bis man es von seinen Qualen erlöste, und Vieh war in Calla Bryn Sturgis wertvoll, auch Vieh, das nicht gerade bester Erblinie war.
Deshalb pflügte Tian mit seiner Schwester im Geschirr. Kein Grund, das nicht zu tun. Tia war minder, daher zu fast nichts anderem zu gebrauchen. Sie war ein großes Mädchen – die Minderen entwickelten sich oft zu unglaublicher Größe -, und sie war willig, der Jesusmensch liebe sie. Der Alte Kerl hatte ihr einen Jesusbaum geschnitzt, den er ein Crusie-fix nannte, und sie trug ihn überall. Jetzt baumelte er hin und her und schlug an ihre schweißnasse Haut, während sie den Pflug zog.
Der Pflug war durch ein Geschirr aus Rohleder mit ihren Schultern verbunden. Hinter ihr grunzte und ruckte und schob Tian, der abwechselnd den Pflug an seinen alten Eisenholzgriffen führte und seine Schwester am Zaumzeug leitete, wenn die Pflugschar sich tief eingrub und kurz davor war, stecken zu bleiben. Die Vollerde ging dem Ende zu, aber hier auf dem Scheißfeld war es heiß wie im Hochsommer; Tias Latzhose war dunkel und feucht und klebte ihr an den langen, muskulösen Schenkeln. Warf Tian den Kopf nach hinten, um die Haare aus den Augen zu bekommen, sprühte jedes Mal ein Regen von Schweißtropfen aus seiner Mähne.
»Hü, du Miststück!«, rief er. »Der Felsblock da ist ein Pflugbrecher, bist du blind?«
Nicht blind; auch nicht taub; nur minder. Sie zog ruckartig nach links. Hinter ihr stolperte Tian mit einem halsbrecherischen Ruck nach links und schlug sich das Schienbein an einem anderen Felsblock an, den er nicht gesehen und den der Pflug ausnahmsweise verfehlt hatte. Als er die ersten warmen Rinnsale von Blut zum Knöchel hinunterlaufen spürte, fragte er sich (und nicht zum ersten Mal), welche Verrücktheit die Jaffordsens wohl immer wieder hier hinaustrieb. Im tiefsten Inneren ahnte er, dass Madrigal hier nicht besser gedeihen würde als zuvor Porin, obwohl er hier hätte Teufelsgras anbauen können; yar, hätte er gewollt, hätte er auf den gesamten zwanzig Morgen dieses Scheißzeug blühen lassen können. Das Kunststück war eben, es nicht aufkommen zu lassen, und das war bei Neue Erde stets ihre zuvörderste Aufgabe. Es …
Der Pflug ruckte nach rechts und dann wieder vorwärts und riss ihm dabei fast die Arme aus den Gelenken. »Brrr!«, rief Tian. »Langsam, Mädchen! Ich kann keine nachwachsen lassen, wenn du sie mir ausreißt, oder?«
Tia hob das breite, schweißnasse, leere Gesicht zu einem Himmel voller tief hängender Wolken und röhrte ein Lachen heraus. O Jesusmensch, sie klang sogar wie ein Esel. Dennoch war das ein Lachen, ein menschliches Lachen. Tian fragte sich, wie er’s manchmal unwillkürlich tat, ob dieses Lachen irgendetwas bedeutete. Verstand sie etwas von dem, was er sagte, oder reagierte sie nur auf seinen Ton? Gab es Mindere, die …
»Guten Tag, Sai«, sagte eine laute und fast gänzlich ausdruckslose Stimme hinter ihm. Der Besitzer dieser Stimme schien Tians überraschten Aufschrei nicht weiter zu beachten. »Angenehme Tage, und mögt Ihr sie lange auf der Erde verbringen. Ich bin von einer ziemlichen Wanderung zurück und stehe zu Euren Diensten.«
Tian fuhr herum, sah dort Andy stehen – in seiner vollen Größe von sieben Fuß – und schlug dann fast der Länge nach hin, weil seine Schwester gerade einen weiteren ihrer großen schwerfälligen Schritte vorwärts machte. Das Zaumzeug wurde ihm aus den Händen gerissen und wickelte sich ihm mit hörbarem Knall um den Hals. Tia, die nichts von der ihm drohenden Katastrophe ahnte, machte einen weiteren kräftigen Schritt vorwärts. Als sie das tat, wurde Tian die Luft abgeschnürt. Er stieß einen aufgebrachten, halb erstickten Schrei aus und krallte nach den Lederriemen. Das alles beobachtete Andy mit seinem gewohnt breiten, bedeutungslosen Lächeln.
Tia ruckte erneut vorwärts, und Tian wurde von den Beinen geholt. Er landete auf einem Felsbrocken, der sich ihm schmerzhaft in den Spalt zwischen den Gesäßbacken bohrte, aber wenigstens bekam er jetzt wieder Luft. Zumindest vorläufig. Das verdammte Unglücksfeld! Es hatte immer Unglück gebracht! Würde immer welches bringen!
Tian schnappte sich den Lederriemen, bevor der sich wieder um den Hals festziehen konnte, und schrie: »Halt, du Miststück! Bleib stehen, wenn du nicht willst, dass ich dir deine großen, nutzlosen Titten vom Leib abreiße!«
Tia blieb bereitwillig stehen und sah sich um, um festzustellen, was Sache war. Ihr Lächeln wurde breiter. Sie hob einen mit Muskeln bepackten Arm – er glänzte von Schweiß – und streckte ihn aus. »Andy!«, sagte sie. »Andy ist gekommen!«
»Bin ja nicht blind«, sagte Tian, rappelte sich auf und rieb sich den Hintern. Blutete dieser Körperteil etwa auch? Gütiger Jesusmensch, er hatte das Gefühl, dass er’s auch tat.
»Guten Tag, Sai«, sagte Andy zu ihr und tippte sich mit seinen drei Metallfingern dreimal an den Metallkehlkopf. »Lange Tage und angenehme Nächte.«
Obwohl Tia die Standardantwort auf diesen Wunsch – Und mögen sie dir doppelt vergönnt sein - bestimmt schon tausend oder mehr Male gehört hatte, konnte sie nicht mehr tun, als ihr breites Idiotengesicht erneut gen Himmel zu heben und wieder ihr Eselslachen zu röhren. Tian spürte überraschend einen schmerzlichen Stich, nicht in Armen oder Hals oder seinem verletzten Hintern, sondern im Herzen. Er konnte sich verschwommen entsinnen, wie sie als kleines Mädchen gewesen war: hübsch und flink wie eine Libelle, so klug, wie man sie sich nur wünschen konnte. Und dann …
Aber bevor er diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, überfiel ihn eine Vorahnung. Er fühlte, wie ihm das Herz sank. Die Nachricht musste ja kommen, während ich hier draußen bin, sagte er sich. Draußen auf diesem gottverlassenen Stück Land, wo nichts gut ist und alles nur Unglück bringt. Es war an der Zeit, oder? Überfällig.
»Andy«, sagte er.
»Ja!«, sagte Andy und lächelte. »Andy, Euer Freund! Von einer ziemlichen Wanderung zurück und zu Euren Diensten. Möchtet Ihr Euer Horoskop hören, Sai Tian? Es ist Volle Erde. Der Mond ist rot – ein Jägerinnenmond, wie man in Mittwelt einst sagte. Ein Freund wird Euch besuchen! Die Geschäfte werden florieren! Ihr werdet zwei Einfälle haben, einen guten und einen schlechten …«
»Der schlechte war, hierher zu kommen, um dieses Feld umzupflügen«, sagte Tian. »Lass jetzt mal mein gottverdammtes Horoskop, Andy. Wozu bist du hier?«
Andys Lächeln konnte vermutlich nicht bekümmert werden – schließlich war er ein Roboter, der letzte in Calla Bryn Sturgis und im Umkreis von vielen Meilen und Rädern -, aber Tian hatte trotzdem den Eindruck, dass es bekümmert wurde. Der Roboter sah wie ein von einem kleinen Kind gezeichnetes Strichmännchen aus: unheimlich groß und unheimlich dünn. Die Arme und Beine waren silbern. Der Kopf war ein Zylinder aus rostfreiem Stahl mit elektrischen Augen. Sein Körper, ebenfalls ein Zylinder, glänzte golden. Im oberen Drittel – wo bei einem Menschen die Brust gewesen wäre – war folgender Text eingeprägt:
NORTH CENTRAL POSITRONICS, LTD.
präsentiert in Zusammenarbeit mitLaMERK INDUSTRIES
 
ANDY
 
Modell: Kurier (viele weitere Funktionen)Seriennummer: DNF-44821-V-63
Wie oder warum dieses blöde Ding überlebt hatte, während alle übrigen Roboter verschwunden waren – seit Generationen verschwunden -, wusste Tian nicht, und es war ihm auch egal. Man konnte ihm allerorten in der Calla begegnen (über ihre Grenzen wagte er sich nicht hinaus), wo er auf seinen unheimlich dünnen silbernen Beinen umherstakste, sich überall umsah und manchmal vor sich hin klickte, während er Informationen speicherte (oder vielleicht löschte – wer wusste das schon?). Er sang Lieder, verbreitete Klatsch und Gerüchte von einem Ende des Dorfes bis zum anderen – Andy der Kurierroboter war ein unermüdlicher Wanderer – und schien den größten Spaß daran zu haben, Horoskope zu stellen, obwohl die Dörfler sich darüber einig waren, dass jene wenig bedeuteten.
Er besaß jedoch eine weitere Funktion, und die bedeutete viel.
»Wozu bist du hier, du Ansammlung aus Schrauben und Drähten? Antworte! Sind’s die Wölfe? Kommen sie wieder aus Donnerschlag?«
Tian stand da, sah in Andys dümmlich lächelndes Metallgesicht auf, fühlte den Schweiß auf der Haut kalt werden und betete mit aller Macht darum, dass das blöde Ding Nein sagen und sich dann erbieten würde, ihm nochmals sein Horoskop zu stellen oder vielleicht »He, ho, das Korn sprießt« zu singen, alle zwanzig oder dreißig Verse.
Aber Andy, weiterhin lächelnd, sagte nur: »Ja, Sai.«
»Christus und der Jesusmensch«, sagte Tian (durch den Alten Kerl war er auf den Gedanken gekommen, dies seien zwei Namen für dasselbe Ding, aber er hatte sich nie die Mühe gemacht, diese Frage weiter zu verfolgen). »Wie lange noch?«
»Ein Mond von Tagen, bevor sie eintreffen«, antwortete Andy, noch immer lächelnd.
»Von voll bis voll?«
»Ziemlich genau, Sai.«
Also dreißig Tage. Dreißig Tage bis zu den Wölfen. Und es war zwecklos, darauf zu hoffen, Andy könnte sich irren. Niemand konnte sich erklären, woher der Roboter so lange vor ihrer Ankunft wissen konnte, dass sie aus Donnerschlag kommen würden, aber er wusste es. Und er irrte sich nie.
»Verpiss dich mit deiner schlechten Nachricht!«, rief Tian aus und war wütend über das Zittern, das er in seiner Stimme hörte. »Wozu taugst du überhaupt?«
»Tut mir Leid, dass die Nachricht schlecht ist«, sagte Andy. In seinem Körper klickte es hörbar, die Augen leuchteten noch blauer, und er machte einen Schritt rückwärts. »Möchtet Ihr nicht, dass ich Euch Euer Horoskop stelle? Gegenwärtig ist Ende der Vollerde, eine besonders günstige Zeit, um alte Geschäfte abzuschließen und neue Bekanntschaften zu machen …«
»Und verpiss dich auch mit deinen falschen Prophezeiungen!« Tian bückte sich, hob einen Klumpen Erde auf und warf damit nach dem Roboter. Ein in dem Klumpen verborgener Stein schepperte gegen Andys metallene Haut. Tia holte erschrocken tief Luft, dann begann sie zu weinen. Andy, dessen Schatten weit übers Scheißfeld ausgriff, wich noch einen Schritt zurück. Aber sein abscheuliches, dümmliches Lächeln blieb.
»Wie wär’s mit einem Lied? Von den Manni weit nördlich der Stadt habe ich ein amüsantes gelernt; es heißt ›In traurigen Zeiten soll Gott dich begleiten‹.« Irgendwo aus Andys Innerem kam das klagende Tremolieren einer Stimmpfeife, dann folgten perlende Läufe auf einem Klavier. »Es geht folgendermaßen …«
Schweiß rann ihm übers Gesicht, Schweiß ließ seine juckenden Hoden an den Oberschenkeln kleben. Der Gestank der eigenen närrischen Besessenheit. Tia, die ihr einfältiges Gesicht blökend zum Himmel hob. Und dieser idiotische Roboter, der Überbringer schlimmer Nachrichten, der sich bereit machte, ihm irgendein Manni-Loblied vorzusingen.
»Schweig, Andy.« Er sprach ganz vernünftig, aber mit zusammengebissenen Zähnen.
»Sai«, sagte der Roboter, dann verstummte er barmherzigerweise.
Tian ging zu seiner plärrenden Schwester, legte einen Arm um sie und nahm dabei ihren starken (aber nicht ganz unangenehmen) Geruch wahr. Hier gab es keine Besessenheit, nur den Geruch von Arbeit und Fügsamkeit. Er seufzte und streichelte dann ihren zitternden Arm.
»Hör auf, du große plärrende Fotze«, sagte er. Die Worte mochten hässlich sein, aber sein Ton war äußerst liebevoll, und Tia reagierte allein auf den Ton. Sie beruhigte sich allmählich. Als ihr Bruder so neben ihr stand, berührte der Schwung ihrer Hüfte ihn dicht unter dem Brustkorb (sie war über einen Kopf größer), und jeder vorbeikommende Fremde wäre vermutlich stehen geblieben, um sie anzustarren, weil ihn die Ähnlichkeit der Gesichter und der auffällige Größenunterschied zwischen ihnen verblüfften. Zumindest die Ähnlichkeit war ehrlich erworben: Sie waren Zwillinge.
Er beruhigte seine Schwester mit einer Mischung aus Kosenamen und Unanständigkeiten – seit sie vor Jahren minder aus dem Osten zurückgekommen war, waren diese beiden Ausdrucksweisen für Tian Jaffords weitgehend identisch geworden -, und sie hörte endlich zu weinen auf. Und als ein Häher über sie hinwegflog, Überschläge machte und dabei wie gewöhnlich misstönend kreischte, deutete sie darauf und lachte.
In Tian stieg ein Gefühl auf, das so fremdartig war, dass er es nicht einmal erkannte. »’s ist nicht recht«, sagte er. »O nein, mein Herr. Beim Jesusmenschen und allen Göttern, die es gibt,’s ist nicht recht.« Er sah nach Osten, wo die sanften Hügel in ein aufsteigendes, halb durchsichtiges Dunkel übergingen, das wie Wolken aussah, aber doch nicht aus Wolken bestand. Es war der Rand von Donnerschlag.
»’s ist nicht recht, was sie uns antun.«
»Wollt Ihr wirklich nicht Euer Horoskop hören, Sai? Ich sehe blanke Münzen und eine schöne dunkelhaarige Dame.«
»Die dunkelhaarigen Damen werden ohne mich auskommen müssen«, sagte Tian und machte sich daran, das Geschirr von den breiten Schultern seiner Schwester abzuziehen. »Ich bin verheiratet, wie du bestimmt sehr gut weißt.«
»So mancher verheiratete Mann hat ein Feinsliebchen gehabt«, bemerkte Andy. Tian fand, dass das Ganze irgendwie selbstgefällig klang.
»Nicht die, die ihre Frau lieben.« Tian nahm das Geschirr über die Schultern (er hatte es selbst angefertigt, weil in den meisten Mietställen ein auffälliger Mangel an Zaumzeug für Menschen herrschte) und wandte sich der Heimstatt zu. »Und keinesfalls Farmer. Zeig mir einen Farmer, der sich ein Feinsliebchen leisten kann, dann küsse ich deinen glänzenden Hintern. Auf, Tia. Wir packen’s und gehen.«
»Heimstatt?«, fragte sie.
»Genau.«
»Mittagessen in der Heimstatt?« Sie sah ihn auf konfus hoffnungsvolle Weise an. »Toffeln?« Eine Pause. »Mit Soße?«
»Klar«, sagte Tian. »Warum zum Teufel nicht?«
Tia stieß einen Freudenschrei aus und machte sich rennend auf den Weg zum Haus. Sie hatte etwas fast Ehrfurcht gebietendes an sich, wenn sie rannte. Wie ihr Vater einmal, nicht lange vor dem Sturz, nach dem er abberufen worden war, bemerkt hatte: »Klug oder dumm, da ist ein Haufen Fleisch in Bewegung.«
Tian folgte ihr langsam und hielt dabei den Kopf gesenkt, um auf die Löcher zu achten, die seine Schwester zu vermeiden schien, ohne auch nur hinzusehen, so als hätte sie irgendwo in den Tiefen ihres Ichs die genaue Lage jedes einzelnen gespeichert. Jenes seltsame neue Gefühl wurde immer stärker. Er kannte den Zorn – jeder Farmer, der jemals Kühe durch Milchfieber verloren oder erlebt hatte, wie ein sommerlicher Hagelsturm seinen Mais flachlegte, wusste so einiges darüber -, aber dieses Gefühl ging tiefer. Es war unbändige Wut, und das war für ihn etwas ganz Neues. Er ging langsam dahin, den Kopf gesenkt, die Fäuste geballt. Er war sich nicht bewusst, dass Andy ihm folgte, bis der Roboter sagte: »Es gibt weitere Neuigkeiten, Sai. Nordwestlich des Dorfes, entlang dem Balkenpfad, sind Fremde aus der Außenwelt …«
»Scheiß auf den Balken, scheiß auf die Fremden und scheiß auf deine Wenigkeit«, sagte Tian. »Lass mich in Ruhe, Andy.«
Andy blieb einen Augenblick dort stehen, wo er war: von den Felsbrocken und dem Unkraut und den unnützen Erdklumpen des Scheißfelds umgeben, inmitten jenes undankbaren Stücks Land der Jaffordsens. In seinem Inneren klickten Relais. Die Augen blitzten. Und er beschloss, hinzugehen und mit dem Alten Kerl zu reden. Der Alte Kerl forderte ihn niemals auf, auf seine Wenigkeit zu scheißen. Der Alte Kerl war immer bereit, sich sein Horoskop anzuhören.
Und er interessierte sich immer für Fremde.
Andy machte sich auf den Weg ins Dorf und zu Unserer Lieben Frau der Heiteren.

2

Zalia Jaffords sah ihren Mann und ihre Schwägerin nicht vom Scheißfeld zurückkommen; hörte nicht, wie Tia den Kopf mehrmals in die Regentonne vor der Scheune tunkte und dann wie ein Pferd das Wasser von den Lippen prustete. Zalia war auf der Südseite des Hauses, wo sie gerade Wäsche aufhängte und gleichzeitig die Kinder im Auge behielt. Sie war sich nicht bewusst, dass Tian wieder da war, bis sie merkte, dass er aus dem Küchenfenster zu ihr hinaussah. Sie war erstaunt, ihn überhaupt dort zu sehen, und noch weit mehr erstaunte sie sein Aussehen. Sein Gesicht war aschfahl bis auf zwei hochrote Flecken über den Backenknochen und einem dritten Fleck, der wie ein Brandmal mitten auf der Stirn leuchtete.
Sie ließ die wenigen Wäscheklammern, die sie noch in der Hand hielt, in den Wäschekorb fallen und machte sich auf den Weg ins Haus.
»Wohin gehst, Mah?«, rief Heddon, und Hedda echote: »Wohin gehst, Mah-Mah?«
»Unwichtig«, sagte Zalia. »Behaltet nur eure Ka-Babbies im Auge.«
»Wiesoooo?«, quengelte Hedda. Dieses Gequengel war ihre Spezialität. Irgendwann würde sie es zu lange hinausziehen, und ihre Mutter würde sie mit einem einzigen Schlag tot zu Boden strecken.
»Weil ihr die Ältesten seid«, sagte sie.
»Aber …«
»Halt die Klappe, Hedda Jaffords.«
»Wir passen auf sie auf, Mah«, sagte Heddon. Immer folgsam, das war ihr Heddon; vielleicht nicht ganz so klug wie seine Schwester, aber Klugheit war nicht alles. Bei weitem nicht. »Sollen wir die übrige Wäsche aufhängen?«
»Hed-donnn …« Seine Schwester meldete sich zu Wort. Wieder mit diesem ärgerlichen Quengeln. Aber Zalia hatte keine Zeit für die beiden. Sie warf nur noch einen raschen Blick auf die anderen: Lyman und Lia, die beide fünf waren, und Aaron, der zwei war. Aaron saß nackt auf dem Erdboden und schlug fröhlich zwei Steine aneinander. Er war ein seltenes Einzelkind, und wie die Frauen des Dorfs sie seinetwegen beneideten! Weil Aaron stets außer Gefahr sein würde. Die anderen jedoch, Heddon und Hedda … Lyman und Lia …
Sie begriff plötzlich, was es bedeuten konnte, dass Tian mitten am Tag ins Haus zurückgekehrt war. Sie betete zu den Göttern, es möge nicht so sein, aber als sie in die Küche kam und sah, wie er zu den Kiddies hinausstarrte, wusste sie irgendwie, dass es so war.
»Sag, dass es nicht die Wölfe sind«, sagte sie mit heiserer, hektischer Stimme. »Sag, dass es nicht so ist.«
»Ist aber so«, antwortete Tian. »Dreißig Tage, sagt Andy – von Mond zu Mond. Und darin hat Andy sich noch nie …«
Bevor er weitersprechen konnte, schlug Zalia Jaffords die Hände an die Schläfen und kreischte. Hinter dem Haus sprang Hedda auf. Im nächsten Augenblick wäre sie hineingelaufen, aber Heddon hielt sie zurück.
»Sie nehmen nicht so Junge wie Lyman und Lia, nicht wahr?«, fragte sie ihn. »Hedda oder Heddon, die vielleicht, aber gewiss nicht meine Kleinen, oder? Die sehen ihr sechstes doch erst in einem halben Jahr!«
»Die Wölfe haben schon welche mit drei genommen, das weißt du doch«, sagte Tian. Er ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie, ballte sie. Dieses Gefühl in seinem Inneren wurde stärker – das Gefühl, das mehr war als bloßer Zorn.
Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie ihn ansah.
»Vielleicht ist’s an der Zeit, einmal Nein zu sagen.« Tian sprach mit einer Stimme, die er kaum als seine eigene erkannte.
»Wie soll das gehen?«, flüsterte sie. »Im Namen der Götter, wie soll das gehen?«
»Weiß ich nicht«, sagte er. »Aber komm mal mit, Weib, ich bitte dich.«
Sie ging mit ihm, warf einen letzten Blick über die Schulter auf die fünf Kinder hinter dem Haus – als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch da waren, dass die Wölfe sie nicht schon mitgenommen hatten – und durchquerte dann das Wohnzimmer. Gran-Pere hockte in seinem Lehnstuhl am erloschenen Kamin, hatte den Kopf auf die Brust gesenkt, döste und sabberte dabei aus seinem eingefallenen, zahnlosen Mund.
Von diesem Zimmer aus war die Scheune zu sehen. Tian zog seine Frau ans Fenster und zeigte nach draußen. »Da«, sagte er. »Erkennst du sie, Weib? Siehst du sie gut?«
Natürlich tat sie das. Tians Schwester, sechseinhalb Fuß groß, stand jetzt mit halb herabgestreifter Latzhose da, und ihre großen Brüste glänzten feucht, während sie sie mit Wasser aus der Regentonne bespritzte. Unter dem Scheunentor stand Zalman, Zalias Bruder. Fast sieben Fuß maß er, ein Hüne wie Lord Perth, so groß wie Andy und mit ebenso leerem Gesichtsausdruck wie das Mädchen. Bei einem strammen jungen Mann, der zusah, wie eine stramme junge Frau die Brüste derart zur Schau stellte, hätte sich vorn in der Hose leicht eine Ausbuchtung abzeichnen können, aber bei Zally war keine zu sehen. Es würde auch nie eine geben. Er war minder.
Sie drehte sich nach Tian um. Sie sahen sich an: ein Mann und eine Frau, die nur eines glücklichen Zufalls wegen nicht minder waren. Ihres Wissens hätten hier ebenso gut Zalman und Tia stehen und Tian und Zalia draußen bei der Scheune beobachten können, beide zu großem Leib und leerem Verstand herangewachsen.
»Natürlich sehe ich sie«, erklärte sie ihm. »Glaubst du, ich bin blind?«
»Wünschst du dir nicht manchmal, du wärst es?«, sagte er. »Wenn du sie so sehen musst?«
Zalia gab keine Antwort.
»’s ist nicht recht, Weib. Nicht recht. Nie gewesen.«
»Aber seit undenklichen Zeiten …«
»Scheiß auch auf undenkliche Zeiten!«, rief Tian zornig aus. »Sie sind Kinder! Unsere Kinder!«
»Willst du also, dass die Wölfe die Calla niederbrennen? Uns alle mit durchschnittenen Kehlen und im Kopf verbrannten Augen zurücklassen? So ist’s nämlich schon geschehen. Das weißt du wohl.«
Das wusste er allerdings. Aber wer konnte die Sache in Ordnung bringen, wenn nicht die Männer von Calla Bryn Sturgis? Ganz gewiss gab es hierzulande keine Vertreter der Obrigkeit, nicht mal einen Sheriff, weder hoch noch niedrig. Sie waren auf sich allein gestellt. Selbst in der Vergangenheit, als die Inneren Baronien von Licht und Ordnung geglänzt hatten, hätten sie hier draußen herzlich wenig von jenem glänzenden Leben gesehen. Sie waren hier im Grenzland, und das hiesige Leben war immer seltsam gewesen. Dann hatte es damit begonnen, dass die Wölfe kamen, und das Leben war noch weit seltsamer geworden. Vor wie langer Zeit hatte das angefangen? Vor wie vielen Generationen? Tian konnte es nicht sagen, aber er glaubte, »seit undenklichen Zeiten« sei zu lange. Jedenfalls waren die Wölfe in die Dörfer schon im Grenzland eingefallen, als Gran-Pere noch ein Kind war – Gran-Peres eigener Zwilling war geraubt worden, als die beiden im Staub gesessen und mit Murmeln gespielt hatten. »Se ham ihn genomm, weil er näha anner Straß«, hatte Gran-Pere ihnen schon oft erzählt. »Wär ich an diesm Tag zuers ausm Haus gekomm, wär ich näha anne Straß, und se hättn mich genomm, Gott ist gut!« Dann küsste er immer das hölzerne Crusie-fix, das der Alte Kerl ihm geschenkt hatte, hob es gen Himmel und lachte meckernd.
Aber Gran-Peres eigener Gran-Pere hatte ihm erzählt, zu seiner Zeit – das musste vor fünf oder sogar sechs Generationen gewesen sein, wenn Tians Rechnung stimmte – seien keine Wölfe auf ihren Grauschimmeln aus Donnerschlag übers Land gefegt. Tian hatte den Alten einmal gefragt: Und sind auch damals alle Babbies, bis auf einige Ausnahmen, paarweise zur Welt gekommen? Haben die alten Leute jemals davon gesprochen? Gran-Pere hatte lange darüber nachgedacht, dann hatte er den Kopf geschüttelt. Nein, er konnte sich nicht daran erinnern, dass die Alten jemals davon gesprochen hätten, so oder so.
Zalia sah ihn besorgt an. »Du bist nicht ausgeruht genug, an solche Dinge zu denken, dünkt mir, nachdem du dich den Morgen auf diesem felsigen Feld geplagt hast.«
»Wann sie kommen oder wen sie nehmen, ändert nichts an meiner Meinung«, sagte Tian.
»Du wirst keine Dummheiten machen, T, oder? Nichts Unbedachtes und auf eigene Faust?«
»Nein«, sagte er.
Kein Zögern. Er hat schon angefangen, Pläne zu schmieden, dachte sie und gestattete sich, leise Hoffnung zu empfinden. Gewiss konnte Tian nichts gegen die Wölfe ausrichten – gegen die waren sie alle machtlos -, aber er war keineswegs dumm. In einem Bauerndorf, in dem die meisten Männer nicht weiter denken konnten, als die nächste Reihe anzupflanzen (oder am Samstagabend ihren Steifen einzupflanzen), war Tian eine Ausnahmeerscheinung. Er konnte seinen Namen schreiben; er konnte Wörter schreiben, die ICH LIEBE DICH, ZALLIE besagten (und hatte sie dadurch für sich gewonnen, obwohl sie die in den Staub geschriebenen Wörter nicht hatte lesen können); er konnte Zahlen zusammenzählen und sie auch wieder von großen in kleine Zahlen verwandeln, was sogar noch schwieriger war, wie er sagte. War es denkbar …?
Ein Teil ihres Ichs wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Und doch, wenn sie mit dem Herzen und Verstand einer Mutter an Hedda und Heddon, Lia und Lyman dachte, wollte ein Teil ihres Ichs hoffen. »Was also?«
»Ich berufe eine Stadtversammlung ein. Ich schicke die Feder herum.«
»Werden sie kommen?«
»Wenn sie diese Nachricht hören, wird jeder Mann der Calla kommen. Wir werden die Sache besprechen. Vielleicht wollen sie diesmal kämpfen. Vielleicht wollen sie für ihre Babbies kämpfen.«
Hinter ihnen sagte eine brüchige alte Stimme: »Du närrischer Killin.«
Tian und Zalia drehten sich Hand in Hand um und sahen den Alten an. Killin war ein schroffes Wort, aber Tian hatte den Eindruck, der Alte betrachte sie – ihn – nicht unfreundlich.
»Warum sagst du das, Gran-Pere?«, fragte er.
»Männa würdn vonna Vasammlung, wie du se planst, weggehn un es Wolfsland verwüstn, wärn se betrunkn«, sagte der Alte. »Aba nüchtane Männa …« Er schüttelte den Kopf. »Die bewegs du nich.«
»Ich glaube, diesmal könntest du dich täuschen, Gran-Pere«, sagte Tian, und Zalia fühlte, wie eisiges Entsetzen ihr Herz erfasste. Und doch glühte darunter warm jene Hoffnung.

3

Es hätte weniger Murren gegeben, wenn er die Versammlung wenigstens mit einer Nacht Vorwarnung einberufen hätte, aber das wollte Tian nicht. Sie durften sich nicht einmal den Luxus einer einzigen untätig verbrachten Nacht leisten. Und als er Heddon und Hedda mit der Feder herumschickte, kamen sie alle. Wie er’s gewusst hatte.
Die Versammlungshalle der Calla stand am Ende der Dorfstraße, hinter Tooks Gemischtwarenhandlung und schräg gegenüber dem Stadtpavillon, der jetzt am Ende des Sommers dunkel und staubig dalag. Schon bald würden die Frauen der Stadt beginnen, ihn für den Erntedank zu schmücken, wenngleich in der Calla die Erntedanknacht nie sonderlich gefeiert wurde. Die Kinder hatten natürlich immer Spaß daran, wenn die Strohpuppen ins Feuer geworfen wurden, und die mutigeren Burschen stahlen sich ihren Teil an Küssen, während die Nacht herabsank, aber das war schon fast alles. Flitter und Feste mochten etwas für Mittwelt und Innerwelt sein, aber hier war man in keiner von beiden. Hier draußen machte man sich Sorgen über ernsthaftere Dinge als Jahrmärkte zum Erntetag. – Über Dinge wie die Wölfe.
Einige der Männer – von den wohlhabenden Farmen im Osten und den drei Ranches im Süden – kamen zu Pferd. Eisenhart von der Rocking B brachte sogar seine Flinte mit und trug auf der Brust gekreuzte Munitionsgurte. (Tian Jaffords bezweifelte, dass die Kugeln etwas taugten oder die uralte Flinte schießen würde, selbst wenn einige der Patronen noch in Ordnung waren.) Eine Delegation der Manni-Leute kam auf einem Stellwagen zusammengepfercht, der mit zwei Mutie-Wallachen bespannt war – einer mit drei Augen, der andere mit einem Horn aus nacktem rosa Fleisch auf dem Rücken. Die meisten Männer der Calla kamen auf Eseln und kleinen Burros und trugen dabei ihre weißen Hosen und langen bunten Hemden. Als sie die Versammlungshalle betraten, schoben sie die staubigen Sombreros mit schwieligen Daumen nach hinten, sodass sie an den Kinnriemen baumelten, und musterten einander unbehaglich. Die Bänke bestanden aus rohem Kiefernholz. Ohne Weibervolk und ohne Mindere füllten die Männer weniger als dreißig der neunzig Bänke. Es gab halblaute Gespräche, aber niemand lachte.
Tian, jetzt mit der Feder in den Händen, stand vorn und beobachtete die Sonne, wie sie zum Horizont hinabsank und sich ihr Gold zu einem Rot verdunkelte, das vergiftetem Blut glich. Als sie das Land berührte, warf er einen letzten Blick auf die Dorfstraße. Sie war leer bis auf drei oder vier Mindere, die auf den Stufen vor Tooks Laden hockten. Alle riesig und zu nichts anderem zu gebrauchen, als Felsbrocken aus der Erde zu reißen. Er sah keine weiteren Männer, keine noch herankommenden Esel. Er holte tief Luft, atmete aus, atmete ein weiteres Mal durch und sah zu dem dunkler werdenden Himmel auf.
»Jesusmensch, ich glaube nicht an dich«, sagte er. »Aber wenn’s dich gibt, hilf mir jetzt. Sag Gott meinen Dank.«
Dann ging er hinein und schloss die Tür der Versammlungshalle etwas nachdrücklicher, als nötig gewesen wäre. Die Gespräche verstummten. Hundertvierzig Männer, die meisten von ihnen Farmer, beobachteten ihn, wie er durch die Halle nach vorn ging, wobei seine weiten weißen Hosenbeine raschelten und die Absätze seiner Kurzstiefel auf den Tannendielen klackten. Er hatte erwartet, zu diesem Zeitpunkt ängstlich, vielleicht sogar sprachlos zu sein. Dann dachte er an seine Kinder, und als er zu den Männern aufsah, stellte er fest, dass er ihren Blicken ohne weiteres standhalten konnte. Die Feder in seinen Händen zitterte nicht. Als er sprach, folgten seine Worte flüssig, ungekünstelt und zusammenhängend aufeinander. Die Männer würden vielleicht nicht das tun, was er von ihnen erhoffte – darin konnte Gran-Pere Recht behalten -, aber sie schienen durchaus bereit zu sein, ihm Gehör zu schenken.
»Ihr wisst alle, wer ich bin«, sagte er, als er mit dem Kiel der altehrwürdigen rötlichen Feder in den Händen dastand. »Tian Jaffords, Sohn des Luke, Ehemann von Zalia, geborene Hoonik. Sie und ich haben fünf, zwei Paare und ein Einzelkind.«
Daraufhin leises Gemurmel, das sehr wahrscheinlich damit zu tun hatte, wie gut Tian und Zalia es mit ihrem Aaron getroffen hatten. Tian wartete, bis es verstummt war.
»Ich lebe seit meiner Geburt in der Calla. Ich habe euer Khef geteilt wie ihr meinen. Hört jetzt, was ich sage, ich bitte euch.«
»Wir sagen danke-sai«, murmelten sie. Das war kaum mehr als die übliche Antwort, aber Tian fühlte sich ermutigt.
»Die Wölfe kommen«, sagte er. »Diese Nachricht habe ich von Andy. Dreißig Tage von Mond zu Mond, dann sind sie da.«
Wieder halblautes Gemurmel. Tian hörte Verzweiflung und Empörung, aber keine Überraschung. Ging es um die Verbreitung von Nachrichten, war Andy äußerst tüchtig.
»Selbst die unter uns, die lesen und ein wenig schreiben können, haben fast kein Schreibpapier«, sagte Tian, »deshalb kann ich euch nicht mit Gewissheit sagen, wann sie zuletzt hier waren. Es gibt keine Aufzeichnungen, das wisst ihr, nur Überlieferungen von Mund zu Mund. Ich weiß, dass ich längst geboren war, also ist’s länger als zwanzig Jahre her …«
»Es sind vierundzwanzig«, sagte eine Stimme aus den hinteren Reihen.
»Nay, dreiundzwanzig«, sagte eine Stimme weiter vorn. Reuben Caverra stand auf. Er war ein stämmiger Mann mit rundem, fröhlichem Gesicht. Alle Fröhlichkeit war jedoch daraus verschwunden, und er wirkte kummervoll. »Sie haben mein Schwesterchen Ruth mitgenommen, hört mich an, ich bitte euch.«
Ein Murmeln – eigentlich kaum mehr als ein zustimmendes Seufzen – kam von den auf den Bänken zusammengedrängt sitzenden Männern. Sie hätten sich verteilen können, hatten sich aber dafür entschieden, Schulter an Schulter zu sitzen. Unbequemlichkeit konnte manchmal ziemlich tröstlich sein, dachte Tian.
»Wir haben gerade unter dem großen Kiefernbaum vor dem Haus gespielt, als sie gekommen sind«, sagte Reuben. »Seitdem habe ich jedes Jahr eine Kerbe in den Baum geschnitzt. Auch nachdem man sie zurückgebracht hatte, habe ich das weitergemacht. Es sind dreiundzwanzig Kerben und damit dreiundzwanzig Jahre.« Er setzte sich wieder.

ENDE DER LESEPROBE

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Die Originalausgabe THE DARK TOWER V: WOLVES OF THE CALLA erschien bei Scribner, New York
 
 
 
 
Taschenbucherstausgabe 12/2004
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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH München – Zürich
 
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, nach einer Originalvorlage von (c) Rhett Podersoo
 
eISBN : 978-3-641-02559-5V003
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