YULZEIT - Michael Duesberg - E-Book

YULZEIT E-Book

Michael Duesberg

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Beschreibung

Weihnachten - scheinbar vertraut und doch so voller Geheimnisse und Überraschungen! Das müssen auch die jungen Leute erfahren, die sich am 24. Dezember zu einer Party bei Freunden zusammenfinden und im Laufe des Abends spontan beschließen, das eigentliche Weihnachten zu hinterfragen und womöglich zu ergründen. Dabei gelingt es ihnen tatsächlich, einige der Schleier zu heben, die das Fest verhüllen. Hinter den Schleiern aber begegnen ihnen andere Dinge und Wesen als sie erwarten. Einige der Party-Gäste dringen bis zu Elementen des alten Yulfests vor und geraten in die Wirbel der Anderswelt, andere schaffen es in die noch älteren Regionen des uralten Yulfests und gelangen so zum Erleben der Großen Mutter. Doch nach dem Überschreiten von Schwellen können die Dinge leicht aus dem Ruder laufen …

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MICHAEL DUESBERG

YULZEIT

Impressum:

© 2018 Michael Duesberg

Umschlagbild: © Johannes Plenio (München) www.pixabay.com

Layout, Umschlaggestaltung u. Bildbearbeitung:

Angelika Fleckenstein; spotsrock.de

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359

Hamburg

ISBN:      978-3-7469-9262-4 (Paperback)

978-3-7469-9263-1 (Hardcover)

978-3-7469-9264-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

MICHAEL DUESBERG

YULZEIT

INHALT

I. ORAKEL

II. TOTENGEDENKEN

III. DER YULBLOCK

IV. DER TANZ DER ELEMENTE

V. WEIHNACHTSZAUBER

VI. FRAU-HOLLEN-NACHT

VII. DIE GROSSE MUTTER

VIII. PERCHTENNACHT

GESCHICHTE 1

GESCHICHTE 2

GESCHICHTE 3

GESCHICHTE 4

GESCHICHTE 5

EPILOG

NAMEN

I. ORAKEL

1.

„Du kannst darüber denken, wie du willst, aber ich finde diesen Orakelkram einfach unheimlich, er macht mir Angst, verstehst du?“ Anna-Maria blickte zur Bude des Wahrsagers hinüber. Dort stand in gelben Großbuchstaben auf violettem Grund: „Vertrauen Sie dem Orakel!“ Ganze Reihen von Hütten und Verkaufsstände drängten sich vor und hinter der Orakelbude über den Marktplatz hin, ebenso auf der Gegenseite, im Rücken von Benni und Anna-Maria. Die Besucher schlenderten die Wege entlang, die sich zwischen den Buden gebildet hatten oder standen schwatzend und lachend in Gruppen beieinander, vor allem vor den Ständen mit Essen und Getränken, wo sie sich bei einem Glühwein oder Schnaps aufwärmten.

Das Gedränge auf dem Weihnachtsmarkt war jetzt überschaubar geworden. Am frühen Nachmittag hatte es einen Höhepunkt gegeben, da konnte man sich kaum noch durch die quirlenden Massen durchschieben; mittlerweile war es deutlich ruhiger. Benjamin lachte über Anna-Marias Worte. „Solcher Hokuspokus soll doch nur den Markt hier spannend machen; da ist nichts dran, auch nichts Unheimliches, und erst recht nichts dahinter!“, sagte er.

„Ich weiß schon, wie du darüber denkst“, entgegnete Anna-Maria und nestelte an einer ihrer Anoraktaschen herum.

„Suchst du etwas?“, fragte Benni.

„Ja. Vorhin hab ich doch den Geldbeutel in die rechte Tasche gesteckt; aber die ist leer.“

„Und links?“

Sie suchte weiter. „Ebenfalls leer“, sagte sie.

„Und in der Hose?“

„Frauenhosen haben keine Taschen, das solltest du allmählich wissen, diese hier macht keine Ausnahme.“ Sie wühlte eine Zeit lang in ihren beiden Einkaufstüten herum, aber der gesuchte Gegenstand blieb verschwunden. Anna-Maria wurde nervös.

„Jetzt wäre doch eine passende Gelegenheit, uns von dem Zaubermaxe dort drüben sagen zu lassen, wo das gute Stück abgeblieben ist“, meinte Benni.

Anna-Maria musste lachen: „Okay“, sagte sie, „also doch da rein!“

Sie gingen auf die Bude zu, klopften an die Holztür und warteten. Als ein deutliches „Herein!“ ertönte, öffneten sie und traten ein. Ein schwarzer Vorhang trennte den Vorraum vom Innern der Hütte. Die einzige Glühbirne war dreckig und verbreitete wenig Licht. Ein hagerer Mann im schwarzen Frack trat geräuschlos hinter einem der Vorhänge hervor. „Willkommen, die Herrschaften!“ sagte er. „Sie suchen sicher Ihre Börse, nicht wahr?“ Er griff in die Brusttasche seines schwarzen Fracks, zog Anna-Marias Geldbeutel daraus hervor und hielt ihn ihr vor die Nase. „Nehmen Sie einstweilen diese hier!“

Anna-Maria schnappte nach Luft. Benni lachte, halb ungläubig, halb anerkennend; dann fragte er: „Jetzt lassen wir uns aber auch noch die Zukunft voraussagen, oder?“ Er blickte seine Begleiterin auffordernd an. Als diese nicht reagierte, wandte er sich an den Zauberer: „Zweimal Zukunft, bitte. Was kostet das?“

„Fünf Euro pro Person und Cluster. Ein Cluster ist ein Themenkreis. Bitte gedulden Sie sich einen Moment, ich bin in zwei Minuten zurück.“ Damit verschwand er geräuschlos hinter einem Vorhang.

„Hat das denn sein müssen, dass wir uns jetzt auch noch die Zukunft vermiesen lassen?“ Anna-Maria blickte ihren Freund vorwurfsvoll an. „Schließlich haben wir doch den Geldbeutel zurück; wozu da noch mehr Zukunft?“ Sie zählte das Geld in der Börse: „Boah, alles noch drin!“

Benni fand die Situation zum Lachen komisch und konnte kaum ernst bleiben: „Hokuspokus“, deutete er auf Anna-Maria, „Sie sind ein weiblicher Mensch und heißen …“ Er kratzte sich am Kopf, als würde er nachdenken.

Anna-Maria schwang eine ihrer Tüten mit Stoffsachen darin und klatschte sie Benni um die Ohren.

Doch der ließ sich nicht aus dem Konzept bringen: „… und Sie heißen Frieda-Helena …“

Patsch! knallte ihm die Tüte um das andere Ohr. Jetzt ergriff er die Flucht Richtung Ausgang. Als er die Holztür öffnen wollte, war sie jedoch verschlossen. Verdutzt blickte er die Freundin an. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte er.

Ein Räuspern hinter ihnen ließ sie herumfahren. „Da drinnen ist jetzt frei“, bemerkte der Zauberer höflich.

Die jungen Leute wandten sich um und traten durch den Vorhang in einen kleinen Raum mit Stühlen, wo Zeitungen und Bücher auf einem Beistelltisch zur Auswahl lagen, gerade so wie beim Zahnarzt oder Frisör. Der Hagere im Frack bat Benjamin, hier zu warten, er selbst ging mit Anna-Maria nach nebenan, schloss die Tür hinter ihnen und setzte sich an einen wuchtigen Schreibtisch. Anna-Maria nahm ihm gegenüber Platz und sah sich um. Schwere violette Vorhänge hingen an den Wänden und dämpften den Lärm von draußen. Der Jahrmarkt klang nur noch wie fernes Brausen herein.

„Was genau möchten Sie wissen?“, riss der Zauberer sie aus ihrer Betrachtung.

„Ähm, ja, die Zukunft, dachte ich“, stotterte Anna-Maria, „also wen ich mal heirate. Und natürlich wann und wo. Und ob meine Ehe glücklich sein wird. Und wie viele Kinder ich …“

„Nun, das wird Sie stattliche 20 € kosten; es sind vier Cluster.“

„Ja okay, ich mache das trotzdem“, sagte sie, „ich habe ja jetzt meinen Geldbeutel wieder.“

Der Mann lächelte, nahm einen verschnürten Stoffbeutel aus einer Schublade, drehte und schüttelte ihn, öffnete die Schnüre und ließ eine Fülle gleichartiger kleiner Holzstückchen in ein Tuch auf dem Tisch fallen. Die Hölzer waren beiderseits geschliffen und trugen auf der Vorderseite schwarze Zeichen, die Anna-Maria nicht kannte. „Schließen Sie jetzt bitte die Augen, wühlen Sie mit beiden Händen in diesen Runenstäben, und nehmen Sie sich dreimal drei davon aus dem Stoß. Lassen Sie sich viel Zeit dabei und achten Sie darauf, dass Sie nur solche Stäbe anfassen, die für Sie persönlich bestimmt sind!“

„Und woher soll ich wissen, was für mich bestimmt ist?“, fragte Anna-Maria und der Mann lächelte sie wieder an.

„Spüren Sie dem beim Wühlen bewusst nach; Sie werden es ganz sicher erleben.“

Anna-Maria stellte ihre Tüten neben den Sessel und legte beide Hände auf die Stäbe. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Gefühl der Hölzer zwischen den Fingern. Diese waren fest und warm und fühlten sich angenehm an. Nach einiger Zeit bemerkte sie, dass einige Runenstäbe tatsächlich etwas anders in der Hand lagen als andere, fast so, als wirkten sie abweisend und wollten nichts mit ihr zu tun haben; andere dagegen schmiegten sich gut an und waren berührungsfreundlich. Sie tastete ruhig weiter, nahm schließlich drei der Stäbe auf und legte sie vor dem Hageren auf den Tisch. Das wiederholte sie noch zweimal. Dann blickte sie den Mann erwartungsvoll an.

„Sehr gut!“, sagte der Wahrsager, der bisher geschwiegen und sie betrachtet hatte, „fast schon professionell! Ich habe doch vorhin gleich bemerkt, dass jemand Besonderes in die Nähe der Bude kommt.“ Anna-Maria wusste nicht, was sie auf derlei Schmeicheleien antworten sollte und schwieg.

Der Mann strich die übrig gebliebenen Stäbe mit dem Handrücken beiseite und legte die neun ausgesuchten Hölzer so auf die freie Fläche, dass ein aufrechtes Rechteck vor der jungen Frau lag. Ein leichter Schwindel erfasste sie. „Ja, das wirkt verdammt stark“, murmelte der Mann; „Sie könnten ihre Fragen fast schon ohne Runen beantworten.“ Er betrachtete aufmerksam die Anordnung der Hölzer. „Soll ich darüber sprechen oder wollen Sie die Ergebnisse lieber selbst sehen und erleben?“, fragte er.

„Ich würde sie gern selbst sehen“, antwortete sie.

„Gut. Dann schließen Sie bitte die Augen, lehnen sich entspannt zurück und schweigen. Ab jetzt bin auch ich still.“

Anna-Maria konzentrierte sich auf die Hölzer.

Zuerst war alles nur dunkel. Dann sah sie einen Punkt in der Ferne, der tanzte. Sie fixierte ihn. Neugierig und zugleich fasziniert sah sie, wie er auf sie zukam. Es war ein kleiner Lichtpunkt. Er kam näher und näher. Er glühte in einer Laterne in der Hand einer verhüllten Gestalt. Alles darum herum wirkte verschwommen und irgendwie fremdartig. Dann aber wurden die Konturen deutlicher. Die Gestalt trat vor Anna-Maria hin. Ein starkes Glücksgefühl durchströmte sie und sie verlor einen Augenblick lang fast das Bewusstsein. Zugleich aber wurde sie sich ihrer selbst und der Umgebung auf merkwürdige Weise bewusst und war wach und gegenwärtig. Die Gestalt stand noch immer vor ihr. Es war eine verschleierte Frau. Die hob jetzt ihren Schleier auf und Anna-Maria blickte in ein Gesicht, das so schön und vertraut war, dass es fast wehtat. Die Frau strich sich übers Haar: „Was du auch sehen magst“, sagte sie freundlich, „bedenke, dass es nur zu deinem Besten ist und dass du selbst es gewollt und gesucht hast!“

Da war es Anna-Maria, als sinke sie in einen tiefen Schlaf. Träume kamen wie eine Bilderflut über sie. Sie sah einzelne Szenen sich abspielen: wie sie als Braut glücklich zu einem Altar schritt; wie sie als Geliebte einen Mann in den Armen hielt; wie sie als junge Mutter selig ihr erstes Kind wiegte; wie sie dann nach und nach vier weitere Kinder im Arm hielt, herzte und fütterte. Nach einer Weile sah sie sogar, wie sie als Großmutter im Kreise ihrer Lieben Weihnachten feierte. In einem stattlichen Zimmer stand ein herrlich geschmückter Baum. Seine Spitze berührte die Decke, und seine Zweige trugen Kerzen, bunte Holzfiguren, Strohsterne und rote Rosen. „Oh, ist das schön“, murmelte sie. Allmählich wurde der Traum dann durchsichtiger und drohte sich aufzulösen. Das Bild ihres künftigen Ehemanns blieb ihr vor dem inneren Auge stehen. Diese Gestalt drehte sich jetzt zu ihr um, trat aus den Schleiern ihres Traums heraus, und Anna-Maria fuhr entsetzt zusammen: Der Schwarzhaarige war ihr Bruder Peter! Es fehlte nicht viel, und sie hätte vor Überraschung aufgeschrien. Schnell presste sie die Hände vor den Mund und stöhnte leise.

„Ist Ihnen nicht wohl?“, fragte der Zauberer sogleich.

„Geht schon“, antwortete sie matt. Dann schlief sie wieder ein.

„Das war’s dann wohl“, sagte der Zauberer nach einer Weile und weckte sie mit seinen Worten. Sie erwachte, erhob sich, griff gedankenlos nach ihren Tüten und wollte gehen. In diesem Moment kam ihr die Frauengestalt wieder in den Sinn. Sie wandte sich halb dem Zauberer zu und fragte: „Wer war diese Frau?“

„Sie sprechen von der Gestalt mit dem Licht?“, fragte der Mann zurück.

Sie nickte: „Ja, die so wunderschön und vertraut war.“

Haben Sie denn Ihr Antlitz gesehen?“, fragte der Zauberer erstaunt.

„Ja sicher. Sie hob doch ihren Schleier auf und sah mich dabei an. Ich kenne sie gut, weiß aber nicht, woher!“

Der Zauberer pfiff leise durch die Zähne: „Millionen von Menschen würden Sie nie anders als verschleiert erblicken, und Ihnen zeigt Sie sich gleich beim ersten Mal unverschleiert, alle Achtung! Die Schöne ist die Mutter aller Mütter. Sie hat tausend Namen, soll ich sie Ihnen aufzählen?“

„Nein danke, nicht nötig.“ Anna-Maria, in deren Erinnerung plötzlich etwas zu klingeln begann, schritt wie im Halbschlaf auf den Nebenraum zu, wo Benni bei ihrem Eintreten die Zeitschrift sinken ließ und sie erschrocken anstarrte.

„Ist etwas passiert?“, stieß er hervor.

„Nein“, beruhigte sie ihn, „jetzt geh du ruhig auch hinein, du wolltest ja unbedingt deine Zukunft erfahren.“

„Unsere Zukunft“, verbesserte er sie, legte die Zeitung hin und stand auf. Als Anna-Maria sich setzte, war er schon verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen.

2.

Benjamin setzte sich dem Wahrsager gegenüber in den Sessel und sah sich um. Der Zauberer blickte ihn gelassen an: „Was genau wollen Sie erfahren?“, fragte er nach einer Weile.

„Och, das habe ich mir noch gar nicht überlegt“, antwortete Benni, „aber sagen Sie mir doch einfach etwas über meine Freundin und unsere gemeinsame Zukunft.“

„Darf ich Ihnen einen fachmännischen Rat geben?“, fragte der Zauberer.

Benni blickte erstaunt auf: „Klar“, sagte er.

„Versuchen Sie niemals, etwas über zwei oder mehr Persönlichkeiten gleichzeitig zu erfahren! Bleiben Sie stets bei einer einzigen Person!“

„Ach ja?“, sagte Benni irritiert; doch dann lachte er: „Gut, das lässt sich machen. Schließlich kommt meine Freundin ohnehin mit ins Spiel, wenn es um mich geht, oder?“

„Welcher Zeitraum interessiert Sie denn am meisten?“, fragte der Zauberer, ohne auf Bennis Worte einzugehen.

„Sagen wir“, überlegte Benni laut, „wir werfen mal einen Blick auf mein künftiges Leben, so in fünf und dann noch einmal in zehn Jahren. Geht so was?“

„Das sind zwei verschiedene Cluster“, sagte der Zauberer, „kostet Sie 10 €. Wollen Sie die Dinge von mir erzählt bekommen oder vor Ihrem inneren Auge sehen?“

„Gern Letzteres, wenn das möglich ist.“

Der Zauberer nickte, nahm einen Stapel Karten mit merkwürdigen Bildern zur Hand und mischte sie. Dann fächerte er die Karten in beiden Händen auf und hielt sie Benjamin entgegen. „Ziehen Sie bitte drei Karten aus dem Fächer und legen Sie diese von links nach rechts in waagerechter Reihe auf den Tisch. Gut. Nun schieben Sie die Reihe so weit von sich weg, dass zwischen Ihnen und den Karten eine zweite und eine dritte Dreierreihe Platz hat. Jawohl, so. Nehmen Sie jetzt bitte wieder drei Karten und legen Sie diese von links nach rechts als zweite Reihe vor die bereits liegende hin. Gut. Und jetzt wieder, ein letztes Mal, drei Karten von links nach rechts, diesmal direkt vor Ihnen. Fein. Ich drehe jetzt alle diese Karten um.“ Der Zauberer ließ den Blick über die Bilder schweifen, dann fixierte er den jungen Mann und sagte: „Bitte schließen Sie die Augen und lehnen Sie sich entspannt zurück. Was auch immer passieren mag, denken Sie bitte nicht, ich sei schuld daran! Behalten Sie das im Bewusstsein!“

Etwas verwirrt schloss Benjamin die Augen und wartete. Zuerst geschah lange nichts. Dann erblickte er ein rundes zerfasertes Grau in der Ferne. Das kam ganz langsam näher und er sah eine düstere, felsige Wüstenlandschaft, kahl und unwirtlich, darin eine Gruppe dunkelhaariger, bärtiger Männer mit Rucksäcken auf den Rücken und Gewehren in der Hand. Jemand, der genau wie er selbst aussah, schien die Gruppe anzuführen, denn immer wenn sein Ebenbild einen Befehl brüllte, reagierten die anderen Männer darauf. Wie Benni so ganz versunken die Landschaft und die Personen betrachtete, hörte er plötzlich ganz nah ein helles Sirren und dann einen fernen Knall. Einer der Männer, der eben noch mit großen Schritten auf einen Felsen zugesprungen war, zuckte zusammen und fiel dann schlaff wie eine Puppe ins Geröll. Die anderen Männer und sein Ebenbild sprangen sofort in alle Richtungen auseinander und nahmen hinter Steinen und in Mulden Deckung. Dabei brachten sie auch schon ihre Gewehre in Anschlag und erwiderten das Feuer auf jenen Berghang gegenüber, von welchem der Knall gekommen war. Weitere Schüsse ertönten auch von drüben, sprengten aber, wo sie auftrafen, nur Splitter und Staub aus dem Gestein. Der Benni seines Traumbildes lag hinter einem großen Felsen und hatte den Rucksack auf den Boden gesetzt und geöffnet. Daraus holte er mehrere Rohre und Metallaufsätze heraus. Geübt schraubte er die Teile zusammen, legte sie auf einen ausziehbaren Ständer und schob das Rohr vorsichtig aus der Deckung heraus, bis es Richtung Berghang zeigte. Sucher und Ladevorrichtung befanden sich dabei noch im Schutze des Felsens. Er führte einen Metallzylinder in die Ladevorrichtung ein, schaltete den Sucher an und betrachtete das leuchtende Bild auf dem Schirm: Es zeigte den gegenüberliegenden Berghang. Mit einer Stellschraube konnte er die Landschaft heranzoomen und ihre Schärfe verstellen, bis jeder Stein am Hang drüben deutlich sichtbar war. Nun suchte er ohne Eile nach verräterischen Bewegungen oder anderen Zeichen, die sich als Ziel anboten. Eine minimale Bewegung in einer Felsspalte gegenüber verriet ihm kurz darauf die feindliche Stellung. Ein ruhiger Handgriff am Abzug: Ein Schlag ertönte und Bruchteile von Sekunden später riss das Geschoss am gegenüberliegenden Hang eine Fontäne aus Feuer, Rauch und Staub in die Luft. Die Männer in seiner Nähe brüllten vor Freude; der Tote aus den eigenen Reihen schien vergessen. Noch blieben sie in Deckung. Vor Benjamin, der in der Zauberbude saß, stand plötzlich die Frage, wo genau sich dieser andere Benni befand und wie er dazu kam, mit Kriegsgerät, von dem er nicht einmal den Namen kannte, so sicher umzugehen. Kaum aber hatte er sich die Frage gestellt, da hüllte sich die Szene auch schon in dichte Nebel und versank vor seinen Blicken, bis er nur noch samtige Schwärze um sich hatte.

Doch gleich darauf spürte er eine ganz andere Stimmung in sich aufsteigen und sah das ferne zerfaserte Grau wieder heraufziehen. Abermals trieb es wie Gewölk auf ihn zu, bis er darin eingeschlossen war. Als der Nebel sich lichtete, fand Benni sich in einem Wohnzimmer sitzend in einer Gesellschaft wieder, die er zwar nicht kannte, die ihm aber urvertraut war. Ein hübscher kleiner Junge spielte unter dem Weihnachtsbaum mit Klötzchen und eine dunkelhaarige Schöne saß neben ihm und verfolgte glücklich das Spielen des Kindes. Ihr Umstandskleid zeigte, dass sie schwanger war, und Benni kam zum Bewusstsein, dass er selbst wohl der Vater der beiden Kinder sei. Eine wunderschöne ältere Frau, offenbar seine Schwiegermutter, saß ihnen gegenüber auf dem Sofa. Soeben kam auch sein Schwiegervater mit einer Flasche Wein in der Hand aus der Küche. Alle wirkten sie fröhlich und entspannt, auch er selbst. „Wer sind diese sympathischen Menschen“, dachte er verwundert. Da fing das Bild auch schon an zu verblassen. „Sarah“, sagte der Mann mit der Weinflasche zu seiner schwangeren Tochter, „warum seid ihr damals eigentlich an den Bodensee gezogen?“ Die Antwort konnte Benjamin nicht mehr hören, denn das Bild vor ihm wurde augenblicklich unscharf und versank in dichten Nebeln.

Als er die Augen öffnete, fand er sich nicht sogleich in der Wirklichkeit zurecht; es war, als wäre ein Teil seines Wesens irgendwo zwischen der imaginierten und der Alltagswelt hängengeblieben. Mit schmerzlicher Nüchternheit erkannte er, dass ihn mit seiner Freundin Anna-Maria wohl doch nicht das verband, was er sich vor der Bude des Wahrsagers erhofft hatte! Und doch spürte er, dass zwischen ihnen beiden eine, wie auch immer geartete, besondere Beziehung bestand. Woher er dieses Wissen nahm, wusste er nicht.

3.

So erhob sich Benjamin schließlich und stand, etwas zitterig noch, vor dem Zauberer, der ihn mitfühlend ansah: „Bezahlen Sie für Sie beide?“, fragte er.

„Was kostete es bei meiner Freundin?“, fragte Benjamin.

„20 €, dazu dann Ihre 10, macht zusammen 30 €.“

Benjamin bezahlte und ging unsicher auf den Nebenraum zu, wo Anna-Maria wartete. Er öffnete die Tür und sagte: „Ich bin fix und fertig.“ Seine sonstige sanguinische Unbefangenheit war wie fortgeblasen.

Anna-Maria, die tief in Gedanken versunken dagesessen war, schien es nicht einmal zu bemerken. Schweigend traten sie zusammen aus der Bude hinaus ins Licht, blinzelten und versuchten, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Sie schlenderten noch eine Zeit lang auf dem Markt umher, tranken auch einen Kaffee, waren aber irgendwie lustlos geworden und machten sich schließlich auf den Heimweg.

Wenn sie später an den gemeinsamen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt zurückdachten, war ihnen klar, dass dieser Tag ihre Trennung eingeläutet hatte. Doch zunächst wollte keiner von beiden es wahrhaben. Auf dem Heimweg entstand bereits ein erster Missklang. Benjamin hatte die Frage gestellt: „Zu dir oder zu mir?“, und Anna-Maria hatte nicht sogleich geantwortet.

Schließlich, als das Schweigen drückend wurde, sagte sie: „Ich bin seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr in Stuttgart gewesen, und ich habe meinen Bruder das letzte Mal vor einem Jahr gesehen, als er mich hier besuchte; außerdem möchte ich irgendwann einmal mit dem Pfarrer Kontakt aufnehmen, der das Sterben meiner Mutter damals so treu begleitet hat. All die Jahre habe ich mich davor gedrückt, weil es mir noch zu nah ging oder auch einfach zu viel wurde, ich weiß es nicht; jetzt jedenfalls habe ich das Gefühl, ich sollte es endlich anpacken.“

„Aber davon war doch bisher nicht die Rede, dass du an Weihnachten wegfährst, wir wollten doch zusammen feiern.“

„Ja, das stimmt schon, wir wollten. Aber ich hätte ein richtig schlechtes Gewissen, wenn ich nicht irgendwann die Initiative ergreifen würde. Und die alte Besuchsschuld gegenüber meinem Bruder kann ich dabei auch gleich abtragen. Wann anders als während der Feiertage habe ich die Gelegenheit dazu? Nächstes Jahr geht das alles nicht mehr.“

„Na toll, und was mache ich so lange? Peter wäre übrigens auch ohne dich nicht gerade einsam; der hat in Stuttgart schließlich eine ganze Clique um sich. Und seine neue Freundin wird ihn deine Abwesenheit auch verschmerzen lassen.“

„Peter ist zurzeit Single. Feiere du doch dieses Jahr mit deinen Eltern zusammen, die würden sich sicher riesig freuen. Oder feiere bei unseren Freunden in Heiligenberg; Birgit und Günter finden das bestimmt gut.“

„Klar doch, aber deine Anwesenheit fänden sie noch toller.“ Benni war eingeschnappt und hatte Mühe sich zu beherrschen. Im Grunde war ihm nach Heulen zumute, aber er war auch wütend. Unterdessen erreichten sie den Parkplatz, wo Bennis Wagen stand. Sie kratzten die Scheiben frei und stiegen ein.

Anna-Maria setzte sich ans Steuer. Benjamin starrte düster in die Dämmerung vor dem Fenster und sagte kein Wort mehr. Als sie von der Nebenstraße abbogen, geschah es plötzlich: Der Wagen kam auf Eis und rutschte seitwärts weg. Anna-Maria stand auf der Bremse und riss das Lenkrad herum, aber der Wagen brach aus und knallte mit der hinteren Seitentür gegen den Pfosten eines Straßenschildes. Anna-Maria würgte den Motor ab, und die jäh eingetretene Stille legte sich schwer wie ein Tuch über sie beide.

Benjamins Zorn und Enttäuschung von vorher stiegen wieder in ihm auf und er fuhr die Freundin unbedacht an: „Scheiße, kannst du nicht besser aufpassen! Jetzt ist auch noch der Wagen im Arsch!“

Anna-Maria wandte sich halb zu ihm um, dann öffnete sie die Fahrertür, ergriff ihre Einkaufstüten vom Rücksitz, stieg aus und ging ohne ein Wort zu verlieren Richtung Bushaltestelle zurück.

„Halt! Bleib doch da!“, versuchte Benjamin sie aufzuhalten, „wohin willst du denn jetzt gehen?“

Sie wandte sich nicht einmal um, sondern schritt unbeirrt weiter und, als ob auch das Schicksal sich gegen Benjamin verschworen habe, kam in diesem Augenblick ein Bus gefahren. Er hielt vor Anna-Maria an, sie stieg ein, er fuhr wieder an und an Benjamin vorbei und davon. Benjamin fluchte, stieg in den Wagen und startete den Motor. Er fuhr auf die Straße zurück und hielt unter einer Lampe an. Dort stieg er aus und besah sich den Schaden. Die Tür war zwar etwas eingedellt, aber weder Griff noch Glas waren verletzt.

Keine große Angelegenheit also, aber eine umso größere Wirkung, dachte er bitter. Er fuhr zu sich nach Hause und wusste mit schmerzlicher Sicherheit, dass zwischen ihm und der Freundin nichts mehr so sein würde wie am Morgen dieses unseligen Tages und dass im Grunde keiner von ihnen die Schuld daran trug.

4.

Am darauffolgenden Morgen rief Benjamin bei Anna-Maria an, doch niemand hob ab. Er ließ läuten, bis der Anrufbeantworter ansprang: „Anna-Maria Lander. Guten Tag! Leider erreichen Sie mich nicht zu Hause. Ich bin nach Stuttgart gefahren und komme am 6. Januar wieder zurück. Sie können mir gern eine Nachricht aufs Band sprechen. Danke für Ihren Anruf, auf Wiederhören!“

„Jetzt hat sie’s also doch gemacht“, murmelte Benjamin und legte den Hörer auf die Gabel. „Das heißt also: Weihnachten bin ich allein, wenn ich jetzt nicht die Initiative ergreife und mich bei den alten Freunden melde.“ Er blätterte im Adressbuch herum und suchte die Telefonnummer. „Birgit und Günter Nothelfer“, sagte er laut, „da sind sie.“ Er griff wieder zum Hörer und wählte.

Am anderen Ende hob Birgit ab: „Nothelfer, hallo?“

„Hallo“, sagte Benjamin, „hier ist Benjamin, aber ohne Anna-Maria.“

„Ja was“, staunte Birgit, „gibt’s das auch: Benni ohne?“

„Ja, das gibt’s: Anna-Maria ist in Stuttgart auf Familien-Trip und wird erst am 6. Januar zurück sein. Was ich dich fragen wollte: Läuft irgendwas um Weihnachten herum bei euch?“

„Du, ich hätte euch beide sowieso noch angerufen. Wir schmeißen am 25. Dezember eine Art Weihnachtsfete, freilassend wie immer und mit Open End, es kann also durchaus bis 26. oder 27. gehen, je nach Lust und Laune. Dazu wollten wir unsere Freunde einladen, also auch solche Exemplare wie euch beide.“

„Und auch Singles und Strohwitwer?“

„Na klar doch, das ganze gesellschaftliche Spektrum von monogam, duogam, trigam bis multigam.“

„Hej! Ich hab’s verstanden! Bei mir wäre das aber eher nullogam, oder?“

„Je nachdem, was du von dem Begriff Treue hältst“, antwortete Birgit.

Benni ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er: „Also, ich komme sehr gern. Und herzlichen Dank schon mal für die Einladung! Soll ich was mitbringen?“

„Ich denke, etwas zu trinken wäre gut. Essen stellen wir wieder zur Verfügung, Betten, Notlager und Kotzschüsseln ebenfalls.“ Sie lachte.

Benjamin beruhigte sie: „Letzteres werden wir wahrscheinlich nicht brauchen. Wer kommt denn alles?“

Birgit lachte: „Die ganze Bande, also das heißt bisher: Alle ohne Anna-Maria, Sibylla und Aytan. Dafür kommen zwei Neue; eine heißt Monika, die andere ist ihre Freundin und heißt Katharina die Große. Beide sind Studienkolleginnen von Elin und Lukas Lindgren.“

„Ist sie so groß?“, fragte Benni.

„Na ja“, antwortete Birgit, „muss wohl seelisch oder geistig gemeint sein, nicht körperlich. Sie ist mittelgroß, aber sehr attraktiv!“

„Willst mir wohl den Mund wässrig machen“, spottete Benjamin.

„Nee“, widersprach Birgit, „Du hast ja schon jemanden. Ups, es klingelt; wir können nachher weitersprechen, ist das ok?“

„Halt, brauchen wir gar nicht. Ich weiß ja jetzt Bescheid und du auch. Tschüss, und grüße bitte Günter!“

„Ciao!“ Damit legten sie auf.

Die zwei Tage bis Weihnachten vergingen rasch, trotz Benjamins Einsamkeit und Frust. Er machte kleine Einkäufe und besorgte dabei auch die Geschenke für die Familie seines Bruders in Basel, für seine Eltern in Friedrichshafen, für sein Patenkind in Singen und für Anna-Maria nach ihrer Rückkehr. Sodann wählte er sorgfältig acht Flaschen Wein aus, vier rote und vier weiße. Überdies etwas Verpflegung für über Weihnachten daheim. Als er nach Hause kam, war er ziemlich kaputt, nicht so sehr wegen der Einkäufe, sondern mehr wegen des Missklangs zwischen ihm und der Freundin.

Endlich waren die öden Tage vor dem Fest um! Am Heiligabend hatte Benni noch stundenlang mit seinen Eltern, seinem Bruder, dem Patenkind und etlichen Freunden telefoniert. Bis er den Hörer das letzte Mal aufgelegt hatte, war der 24. Dezember schon vorbei und der 25. angebrochen. Lenni versuchte, sich mit Fernsehen und Musik einen Teil der Nacht zu vertreiben, hielt aber nicht lange durch und schlief im Sessel ein.

Der Vormittag des 25. Dezember kam mit spätem Morgengrauen heraufgezogen. Benjamin erwachte im Sessel. Er sah sich im Zimmer um. Ach ja, Weihnachten. Einen Christbaum hatte er sich nicht in die Stube gestellt, der lehnte noch ungeschmückt in der Speisekammer und würde am 6. Januar sowieso sang- und klanglos ins Feuer wandern, eigentlich schade drum! Aber Benni lechzte mehr nach Gesellschaft als nach Baum, und Gesellschaft würde er ja am Abend bekommen!

Um 18 Uhr nahm er seine beiden Stofftaschen mit dem Wein, schloss die Wohnung hinter sich ab und sauste Richtung Heiligenberg davon, wo Birgit und Günter wohnten. Als er den Silberberg hochfuhr, überfiel ihn jäh ein Gefühl, als ob er plötzlich die schweren Schritte des Schicksals über die verschneiten Fluren seines Lebens knirschen hörte. So ähnlich hatte es sich auch auf dem Weihnachtsmarkt angefühlt, als er und Anna-Maria auf die Bude des Zauberers zugegangen waren. Damals war es ja nicht gut ausgegangen. Um seine düstere Stimmung etwas aufzuhellen, drehte er das Radio an. Eine keltische Weihnachtsweise erklang, die ihn noch trauriger machte. Schnell schaltete er wieder ab. Er erreichte Heiligenberg und fuhr die Hauptstraße entlang zum Hause der Freunde, wo er parkte und ausstieg. Hier oben war es bestimmt 5 Grad kälter als unten im Tal.

Er klingelte und Günter öffnete die Tür. „Hej, Alter“, sagte Günter, obwohl eigentlich er der Ältere war.

„Hej, Kleiner“, antwortete Benjamin. Der andere ließ ihn eintreten und die Jacke ablegen. Dann stellten sie seinen Wein in die Speisekammer.

„Erst einen Umtrunk zum Trainieren?“, fragte Günter.

„Nicht jetzt schon“, dankte Benni, „aber später vielleicht.“

Sie traten ins Wohnzimmer, dessen Trennwand zum Esszimmer hin geöffnet war, sodass der Raum sehr groß wirkte. Die Gäste saßen schon in Grüppchen umher, unterhielten sich leise und knabberten Salzstangen und Nüsse. Ein wunderschön geschmückter Christbaum stand in einer geschützten Ecke über aufgeschüttetem Stroh, das von armlangen rohen Aststücken begrenzt und an seinem Platz gehalten wurde.

Benni trat zu der größten Gruppe, bei der auch Birgit saß, begrüßte die Gastgeberin und alle anderen herzlich und wurde mit den „Neuen“ der Runde bekannt gemacht. Das waren drei junge Frauen, von denen eine ihm besonders auffiel. Noch bevor sie einander vorgestellt wurden, dachte er: „Das ist bestimmt Katharina die Große!“, und sie war es dann auch. Anschließend setzte Benni die Begrüßung am anderen Ende des Zimmers fort, wo sich zwei kleinere Grüppchen das Sofa und die Sessel teilten. Insgesamt waren um die 20 Personen anwesend.

Als Benni sich umwandte und zum Tisch mit den Knabbersachen ging, hatten sich auch zwei der Neuen, Katharina und Monika, dort angestellt, um etwas Proviant auf die Teller zu laden. Benjamin wandte sich an die jungen Frauen: „Sie kommen von der Uni, wo auch Elin und Lukas studieren?“, fragte er.

„Das ist richtig“, antworteten beide zugleich, worauf sie sich verblüfft ansahen und zu lachen begannen.

„Lernt man dort das Chorsprechen?“, griff Benni den Faden auf.

„Wir müssen das nicht lernen“, protestierte Monika, „wir haben da eine Naturbegabung.“

„Beeindruckend“, sagte Benni. „Was studieren Sie denn?“

„Wen fragen Sie speziell?“, fragte Monika zurück. „Übrigens“, fuhr sie fort, „duzen wir uns doch! Auch wir sind Freunde einiger der Anwesenden hier. Unsere Namen kennst du ja bereits, doch als Erinnerungshilfe: Die Dame hier an meiner Seite, die so gierig zu den Nüssen hinschielt, heißt Katharina, und ich bin Monika.“

„Hej, ich schiele nicht hin“, sagte Katharina, „ich habe ganz offen gierig hingeschaut.“ Die zwei schüttelten sich vor Lachen. „Also, Entschuldigung“, griff Monika Bennis Frage wieder auf, „was wir studieren? Katharina quält sich rum mit Psychologie, Religion, Ethik und Germanistik. Ich genieße Anthropologie und Ethnologie. Studierst du auch?“

„Noch nicht“, antwortete Benni, „ich wüsste auch noch gar nicht, was.“

„Kommt Zeit, kommt Rat“, tröstete Monika und Katharina lachte.

„Und innerhalb welcher Zeitspanne kann man so in der Regel mit Rat rechnen?“, fragte Benjamin.

„Och, das ist unterschiedlich. Du solltest aber vor dem 80. Lebensjahr mit dem Studium beginnen, weil du sonst eventuell Schwierigkeiten mit dem BAföG bekommst.“

„Dann muss ich mich aber beeilen!“, rief Benjamin mit gespieltem Entsetzen. Da sie spürbar Gefallen aneinander gefunden hatten, plauderten sie zusammen weiter.

Auch den späteren Abend über blieben die drei im Gespräch zusammen und langweilig wurde ihnen nicht dabei. Gegen Mitternacht kam die Rede auf mysteriöse Begebenheiten, und die beiden Frauen gaben Geschichten zum Besten, die ihnen selbst widerfahren waren oder die sie irgendwann erzählt bekommen hatten. Unterdessen war auch eins der jüngeren Paare zu ihnen gestoßen, welches sich ebenfalls für das Thema interessierte. Benjamin berichtete von dem Erlebnis mit dem Wahrsager. Gegen Ende der Fete waren sie dann schon so vertraut miteinander geworden, dass Benni eine der Fragen stellte, die ihn seit dem Jahrmarktsbesuch quälten: „Was macht man, wenn man etwas so real vor sich gesehen hat wie ich diese Geschichte mit der fremden Familie? Kann man mit seiner Freundin über so etwas sprechen?“

Katharina sagte: „An deinen Problemen und Belangen kannst natürlich nur du selbst arbeiten; aber, wenn ich du wäre, würde ich möglichst bald erfahren wollen, was deine Partnerin bei dem Wahrsager erlebt hat und ich würde sehr genau darauf achten, was sie beim Erzählen und später dann auch beim Zuhören für Signale aussendet, wenn du über die familiären Ausblicke berichtest, die du zu sehen bekommen hast.“

„Und dann zerbricht unsere Freundschaft endgültig und ich gehe zerknirscht zum Bund, absolviere eine Spezialausbildung und trainiere danach Soldaten in Afghanistan?“

„Wenn du davon überzeugt bist, dass die Vision echt war, musst du so schnell wie möglich mit dem Schicksal kooperieren; vorher lernst du ja auch deine künftige Gattin nicht kennen.“