Die vertauschten Leben - Michael Duesberg - E-Book

Die vertauschten Leben E-Book

Michael Duesberg

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Beschreibung

Als die Feen-Prinzessin Fay-Alinn in Tír na nÓg geboren wird, erhält sie zu ihrem Wiegenfest von zwölf weißen Feen Geschenke. Doch eine dreizehnte Fee, die dunkle Fianeg, erscheint ungeladen und zwingt der Prinzessin die zweifelhafte Gabe auf, ab ihrem siebten Lebensjahr Mensch zu werden. Zur selben Zeit wird ein Freudenfest bei den Nymphen des Nachbarreichs gefeiert, wo die junge Königin ihr erstes Kind erwartet. Fianeg, die jahrelang vergeblich um den König gefreit hatte, dringt auch hier ungeladen ein und tötet die Königin. Um seine ungeborene Tochter Glenna nicht auch noch zu verlieren, muss der König sie auf die Erde in einen Menschenleib versetzen. Damit verliert er zwar sein Kind aus Tír na nÓg, rettet es aber vor dem Tod. Ihrer Taten wegen wird Fianeg aus Tír na nÓg vertrieben und auf die Erde verbannt. Fay-Alinn und Glenna wachsen zusammen in einem kleinen Ort auf, besuchen dieselbe Schule und werden beste Freundinnen. Nach einer glücklichen Kinder- und Jugendzeit fangen sie gemeinsam ein Hochschulstudium an. Da erfahren sie, dass Fay-Alinns einstmals blühende Heimat in Trümmern liegt und ihre Eltern ins Exil fliehen mussten. Fay-Alinns Freundin Niëv, mit der die Prinzessin das Leben getauscht hatte, und die statt ihrer als Tochter des Königspaares und spätere Regentin bei den Leimoniaden lebte, war das Opfer falscher Ratgeber geworden und hatte sich durch Nachlässigkeit und Schwäche die Herrschaft abnehmen lassen. Als sie ihren Fehler erkannte, war es bereits zu spät; sie wurde verfolgt und musste fliehen. Während sich Niëv in ein neues Menschsein flüchtet, beschließen Fay-Alinn und Glenna, in die Anderswelt zurückzukehren und Fay-Alinns Reich zu befreien. Durch das Tor des Todes gelangen sie nach Tír na nÓg und erreichen, was sie sich vorgenommen haben: Die Widersacher werden vertrieben und das Königspaar aus dem Exil in die Heimat zurück geleitet. Fay-Alinn und Glenna müssen erleben, dass ihr Menschsein sie so verändert hat, dass sie nicht mehr dieselben Wesen sind wie einst: Eine unwiderstehliche Sehnsucht zieht sie in die Menschenwelt zurück. Als sie das zweite Mal auf die Erde zurückkehren, haben sie ihr voriges Leben mit all seinen Erfahrungen vergessen. Anders ergeht es Niëv, die nach dem Leben in Tír na nÓg das Menschsein nur noch mit Schmerzen erträgt und sich in die Anderswelt zurücksehnt. Unterdessen verfolgen dunkle Mächte die Entwicklung der drei Frauen mit scheelen Blicken. Sie fürchten, Fay-Alinn, Glenna und Niëv könnten die Möglichkeit finden, den Weg zwischen der Alltagswelt und der Anderswelt aus eigener Kraft zu öffnen und so auch für andere Sterbliche begehbar zu machen.

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Impressum:

© 2022 Michael Duesberg

ISBN Softcover: 978-3-347-63307-0

ISBN Hardcover: 978-3-347-63308-7

ISBN E-Book: 978-3-347-63309-4

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice",

Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Die vertauschten

Leben

Michael Duesberg

„Die Phantasie ist die schönste Tochter der Wahrheit, nur etwas lebhafter als die Mama.“

Carl Spitteler

Inhalt

NAMEN

ERSTES   BUCH

Prolog in der Anderswelt

Die Begegnung

Der Besuch bei den Müttern

Die Verwandlung

Erste Lernschritte

Erste Angriffe

Abenteuer und Gefahren

Fragen

Merkwürdige Ereignisse

Gewagte Manöver

Glennas Befreiung

Vergessen und Erinnern

Der Zusammenbruch des Leimoniaden-Reiches

Gefangene im Palast

Flucht

Das Ende der Schulzeit

Niëv gelangt zur Erde

ZWEITES   BUCH

Fay-Alinn und Glenna in Leipzig

Fay-Alinn und Glenna philosophieren

Rosalinde

An der Uni

Thema „Märchen“ in der Studiengruppe

Märchenabend

Fianegs Schmach

Simeliberg

Fay-Alinn und Glenna

Fay-Alinn gelangt nach Tír na nÓg

Der Trank der Mnemosyne

Niëvs Rückkehr und Studium

Zurück nach Tír na nÓg

Streit unter Göttern

Ein neuer Anfang

Die Begegnung

DRITTES   BUCH

Fianeg entkommt

Gedanken zur Weltverbesserung

Rosalinde und Dorran bei den Zwillingen

Dorrans Besuch in der Anderswelt

Jenseits und Diesseits

Alltag

Die neue Krankheit

Angriffe

Umweltfragen

Kunst, Wissenschaft und Religion

In der Klinik

Der Samhain-Abend und Halloween

Das Unglück nimmt seinen Lauf

Die Warnungen

Herbert Kohler tappt in die Falle

Die Zeit der Schwangerschaft

Anfang, Mitte oder Ende?

Glossar

Literaturverzeichnis

Simeliberg; Märchen der Brüder Grimm

Namen

Einige Götter, Halbgötter und Nymphen der griechischen Mythologie:

Tethys, Beherrscherin der Meere, Gemahlin des Okeanos.

Ihre Töchter sind die Okeaniden.

Doris, eine Okeanide, eine weitere Beherrscherin der Meere, Gemahlin des Nereus; Ihre hundert Töchter sind die Nereïden.

Nymphen des Wassers, der Luft, des Festen und des Feuers:

Undinen: Najaden (Quellen, Bäche), Potameiden (Flüsse und Ströme),

Hyaden (Regen, Tau, Nebel); Nereiden und Okeaniden (Meere);

Elfen: Leimoniaden (Wiesen, Lichtungen), Napaien (Niederungen, Täler);

Gnome: Oreaden (Berge, Felsen, Grotten);

Feuergeister: Salamander;

Elfen oder Salamander: Plejaden (Sterne)

Sylphen, Nymphen der Lüfte.

Nymphen der Bäume und Büsche:

Dryaden (Eichen- und Baumgeister), Meliai (Esche),

Hamadryaden (halb unsterbliche Baumnymphen),

Daphne (Lorbeer), Aigeiros ( Pappel), Balanos (Eiche),

Karya (Nüsse tragende Gewächse), Kraneia (Kornelkirsche),

Orea (Maulbeerbaum, Olive), Ptelea (Ulme), Syke (Feigenbaum),

Ampelos (Weinstock) und andere

Wind-Götter:

Boreas (Nordwind),

Euros (Ostwind),

Notos (Südwind) und

Zephyros (Westwind)

Nephele, Wolkengöttin mit dem Aussehen Heras, der Göttermutter

Die Musen, Töchter der Mnemosyne und des Zeus:

Klio: Geschichte, Kithara.

Melpomene("die Singende"): Tragödie, Trauergesang, tragische Dichtung.

Terpsichore("die Tanzfrohe"): Lyra, Tanzkunst, Chorgesang.

Thaleia("die Blühende"): Komödie, Unterhaltung, ländliche Dichtung

Euterpe("die Ergötzende"): Flötenmusik, lyrische Poesie

Erato: Gesang und Tanz, Liebesdichtung

Urania: Sternenkunde

Polyhymnia("die Hymnenreiche"): Tanz, Pantomime, Geometrie, gottesdienstliche Gesänge

Kalliope("die Schönstimmige"): Hauptmuse; Saitenspiel,

heroische Dichtung, Epik (Mutter des Orpheus).

Götter der indischen Mythologie (aus dem Vishnupurana)

Rudraoder Marut („der Brüllende“), Sturmgott der indischen Veden.

Die 11 Rudras sind die Söhne Rudras. Sie alle tragen den Namen Rudra.

Einige Götter der Túatha Dé Danann

(keltisch-gälische Mythologie)

Die Göttermutter Dana

Der Göttervater Dagda, der Grüne Harfner (mit dem Kessel der Fülle), Sohn der Dana

Midyir mit dem roten Haar (besitzt den Stein des Schicksals), Sohn des Dagda

Ogma der Weise (mit dem Lichtschwert), Halbbruder des Lugh

Nuada, der Schwinger des weißen Lichts (Speer des Sieges), König der Túatha Dé Danann

Gobniu der Wunderschmied (Sohn der Dana). Tritt hier als Karl Gobni auf.

Der Sonnengott Lugh (Sohn von Gobniu)

Angus, der Ewig-Junge (Sohn des Dagda)

Die drei Nornen: Urd, Werdandi, Skuld (germanische Mythologie)

Urd: Vergangenheit; Werdandi: Gegenwart; Skuld: Zukunft.

Gedankenfaden, Lebensfaden, Schicksalsfaden. Reminiszenzen aus der Zeit der Magna Mater, der Großen Mutter aus vor-patriarchalischer Zeit.

Götter und Wesen mit erfundenen Namen:

Wesen des Feuers:

Ssuut, ein Feuergeist in Agnis Reich

1. Flóga: Wesen der züngelnden Flammen:

2.Kaptscha: Wesen des blauen heißen Feuers;

3.Fraka: Wesen der Glut Stoff;

4.Plasma: Wesen des reinsten Feuers.

Allwis, Berater Niëvs in der Anderswelt.

Audra, Führerin der Gesandtschaft der Leimoniaden. Später Krankenschwester, Pflegerin von Niëv (nach deren zweiter Geburt).

Goramla, Wortführerin der Versammlung der Königstreuen.

Alma, Nachfolgerin von Goramla

Gara, Späherin aus dem Volk der Hyaden.

Adhamh, ein Schretel (auch Schräzel oder Schrat; weibliche Pendants sind die Schrätteli, welche die Albträume verursachen).

Handelnde Personen:

NiëvSchoog (Niamh geschrieben, gesprochen: Niëv, „die Helle, Strahlende“), Bauernkind

Fay-Alinn ( „Fee Lieblich“), Königstochter aus dem Volk der Leimoniaden

Königin Sorcha („hell leuchtend“), die Mutter von Fay-Alinn

König Rae, der Vater von Fay-Alinn

Ailén, Napaien-Fürst, der Fianegs Werben abwies. Statt ihrer heiratete er

Lilasch („Lilie“). Als Lilasch mit Glenna schwanger wurde, tötete Fianeg sie. Das Kind konnte nur dadurch gerettet werden, dass es bei der Mensch gewordenen Napaie

Mibél („lieblich“), zur Welt kam. Als Mensch: MibélRoberts

Iahra Dschirwil, (eigentlich Eara Dìorbhail geschrieben; gesprochen: Iahra Dschirwil, Klassenlehrerin von Fay-Alinn.

Frau Dr. Schilah Banawudschach, Mutter von Clach. Ihr Name in der Anderswelt: Fianeg („Krähe“). Schwarze Napaie.

Charrig, Vater von Clach, ein Oreaden-Fürst.

Schofra („Wechselbalg“), Nymphe unbekannter Herkunft, vielleicht Napaie, Schwester auf der Krankenstation von Frau Banawudschach.

Dr.Viktor Bréag, Krankenhausarzt.

Klassenkameraden und –kameradinnen von Fay-Alinn:

Clach („Stein“) Banawudschach, Sohn der Schulärztin und der Oreade Charrig.

„Die Wilden Sieben“:

Fay-Alinn

Glenna Roberts, eine Napaie

Lara Munteid, Eltern Lehrer

Annabella Keltoid, Eltern Musiker.

Rosalinde Ältire, Vater Architekt, Mutter Hausfrau.

Birke Kerrek, Eltern haben einen Gemischtwarenladen.

Stella Bänje, Mutter Alleinerziehende.

Professor Friedrich Gundert, Biologe

Dr. Egon Schneider, Physiker

Dr. Richard Rettig, Chemiker

Fay-Alinn und Glenna Macleod

Dorran, Sohn von Rosalinde Ältire und Clach Banawudschach

Unterwelt (Griechische Mythologie): Orkus, Hades, Tartaros

Erebos, der Herr der dreifachen Unterwelt: Orkus, Hades und Tartaros

Realta-trachone, Abendstern, luziferisches Wesen; tritt gelegentlich als Frieda Fraka auf.

Tiárna-iffren, ‚Höllenfürst’, Weltenzerstörer Ahriman.

Schnerfust, Unhold von Ahrimans Gnaden.

Tsufrensch der Glorreiche, ein geadelter Nachfolger von Schnerfust

Marterpfahl, Quälgeist, Wundschmerz. Drei von Tiárna-iffrens Heerführern. Marterpfahl wird später zur Strafe als Wasserspeier aufs Ulmer Münster verbannt.

Totquetsch und Blutpress, zwei Henker-Unholde

Dr. Eusebius Hirnfutz, Arzt in Heiligenberg,

erklärter Gegner der Homöopathie

Dr. Heinrich Schlagetot, Rektor an der Hölderlin-Schule in ***

Eukephalona 9 PF und Eukephalona 18 PFSS, neue Krankheiten

San-impfola, Virulana, Vitatecno und Serulana MM Arzneimittelkonzerne

Frau Dr. Allwis, Vorsitzende des Ethikrats

Herr Dr. Häher, Mitglied des Ethikrats

Dr. Dietrich Sandbäcker, deutscher Bundespräsident

Moni Becker, Psychologin, Bekannte von Fay-Alinn.

Herbert Kohler, Polizeimeister, zu Beginn eine Chimäre

Joachim Herr, Kollege von Glenna

Tobi Schuler, behinderte Junge, Patenkind von Fay-Alinn und Herbert Kohler

Erstes   Buch

Prolog in der Anderswelt

Als die hohen Götter, welche in der christlichen Mythologie die Elohim heißen, die Welt, den Menschen und alle Wesen erschaffen hatten, teilten sie mit ihnen ihre Heimat, das Land der ewigen Jugend. Die Gälen nannten dieses Land Tír na nÓg, bei den Christen hieß es das Paradies, im Nahen Osten war sein Name der Garten Eden. Die Steine, die Lebewesen, die Götter und die Scharen der Naturgeister, die den Göttern dienen, lebten dort äonenlang in glückseliger Eintracht zusammen und verstanden, liebten und halfen einander. Später nannte man diese Zeit das Goldene Zeitalter.

Die Menschen waren damals noch wie kleine Kinder, doch sollten sie im Laufe der Jahrtausende allmählich erwachsen und mündig werden, ja, dereinst sogar ein eigenes Göttergeschlecht bilden. Daher ließen die Götter nun zu, dass jene von den guten Geistern abgefallenen Scharen, deren Anführer Luzifer war, in Tír na nÓg eindringen und die Menschen aus dem Lande des Lebens hinauslocken konnten. So kam der Mensch auf die feste Erde und lernte Krankheit, Leiden, Schmerz und Tod kennen. Die Scharen der dunklen Geister aber versuchten, den Menschen schon zu seinen Lebzeiten auf dunklen Wegen vom Leben in den Tod zu führen. Sie verwirrten seinen Sinn derart, dass er das Leben als „Tod“ und den Tod als „Leben“ betrachtete, und diese Verwirrung ist ihm bis heute geblieben.

Ähnlich wie auf Erden verschiedene Landschaften und Reiche aneinandergrenzen, so verhält es sich auch in der Anderswelt. Neben verschiedenen Reichen der Seligen, Tír na nÓg, Tir-na-Moe, Tir-fo-Tonn und Tir na mBeo (Land der Lebenden), finden sich dort auch die Länder Tir Naill (Das Andere Land), Mag Már (Die Große Ebene), Mag Mell (Die angenehme Ebene), Tir Tairngire (Das Land der Verheißung) und tausend andere, helle wie dunkle Welten, die alle ihre Geheimnisse bergen. In den hellen Regionen begegnet der Wanderer den guten Göttern und Wesen, die dem Menschen wohlgesonnen sind; in den dunklen schrecken ihn die Grauen erregenden schwarzen Schatten der Angst und des Wahns, die ihm Böses wollen.

Neben den Dämonen des Schreckens, deren Erscheinungen den Atem stocken und das Blut gerinnen lassen, gibt es auch Schwärme dunkler Wesen, deren größte Gefahr ihre Unsichtbarkeit ist. Sie dringen durch die geöffneten Tore, welche Alltagswelt und Anderswelt miteinander verbinden, und besiedeln unsere Herzen, Köpfe und Glieder. Ihre Tücke liegt in ihrer Heimlichkeit und in unserer Unkenntnis. Sie befallen uns wie eine Krankheit, trüben unseren Blick, lassen uns ertauben und verstummen und erstarren unsere Herzen mit der Finsternis und Kälte ihrer eigenen Welt, die sie wie einen Schleier um sich tragen. Der Mensch würde sie am liebsten aus seinem Leben aussperren, doch die Tore zwischen den Welten öffnen sich Jahr für Jahr zur Zeit des alten Samhain-Festes, in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November, und da schützt uns niemand vor dem Eindringen der Schatten und ihren Angriffen, denn gemäß seiner Bestimmung muss der Mensch der Kindheit entwachsen, und dazu gehört, dass er sich gegen das Böse zu wehren lernt; dass er sein Leben nicht verträumt, sondern alles, was ihn umgibt, immer bewusster wahrnimmt.

Im Lande der Blühenden Apfelbäume lebten die Völker der Sidhe, die wir die Elfen und Feen nennen. Aus gutem Grunde geben wir ihnen verschiedene Namen, denn sie gehören verschiedenen Völkern an. Auch ihre griechische Bezeichnung „Nymphen“ verschleiert, wie unterschiedlich sie sind. Unter ihnen finden wir solch mächtige Wesen, wie die Feen unserer Märchen und Sagen, und minder mächtige, wie die Elfen, Gnome, Sylphen und Salamander, welche die Elementarwesen der vier klassischen Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer sind.

Im Reich der Napaien, jener Nymphen, welche die Niederungen und Täler der Erde bewohnen, lebte eine schöne und mächtige Fürstin, die den Namen Fianeg trug. Das bedeutet in unserer Sprache „Krähe“. Sie war stolz und herrschsüchtig, und ihr Hochmut war noch größer als ihre Schönheit. Bei einem Fest der Leimoniaden, der Nymphen der Wiesen und Lichtungen, hatte sich Fianeg in deren Herrscher, König Rae verliebt und um seine Hand angehalten, doch der König erwiderte ihre Gefühle nicht. Fianegs Liebe wurde zum Brand, der ihr die Ruhe raubte. Eines Tages erfuhr sie, dass sich König Rae mit Sorcha der Strahlenden, einer Fürstin aus dem Reich der Leimoniaden vermählt hatte. Königin Sorcha war schöner als Fianeg. Fianegs Liebe schlug in Hass um, und sie sann auf den Untergang des Königspaares. Zunächst konnte sie den Herrschern keinen Schaden zufügen. Also verbarg sie Hass und Schmerz und suchte nach einem anderen Gemahl, der ihrer würdig wäre. Bei den Napaien fand sie den Elfenfürsten Ailén, um den sie warb, doch Ailén konnte sich nicht für sie entscheiden und hielt die Fürstin hin.

Unterdessen hatte Sorcha, die Königin der Leimoniaden, eine Tochter geboren, die den Namen Fay-Alinn erhielt. Zu Fay-Alinns Wiegenfest betrat Fianeg ungeladen die Halle des Königspaares und legte dem neugeborenen Kind als Gabe die Menschwerdung in die Wiege: In ihrem siebten Lebensjahr sollte die Prinzessin in ein Menschenleben gebannt werden.

Die Kunde davon verbreitete sich im ganzen Land und auch in den Nachbarreichen, bei den Napaien, Oreaden, Najaden, Potameiden und

Hyaden. Von da an hatte der Name der Fürstin Fianeg einen unheimlichen Beiklang. Auch am Hofe König Ailéns wurde über den Frevel Fianegs getuschelt, und als Fianeg offiziell um Ailéns Hand anhielt, wies dieser sie ab. Fianegs Zorn darüber wurde zum lodernden Brand. Zuerst wollte sie das ganze Napaien-Reich zerstören; doch dann besann sie sich eines Besseren und überlegte, wie sie Ailén noch schmerzhafter treffen könnte. Die Gelegenheit dazu ergab sich, als sich Ailén in die schöne Napaie Lilasch verliebte und diese zur Frau nahm. Fianeg wartete, bis Lilasch schwanger war, dann suchte sie unerkannt Ailéns Reich auf und verbarg sich in den Wäldern nahe dem Königsschloss. Während des Sonnwendfestes drang sie unbemerkt in den Palast ein und tötete die junge Königin. Ailén, der mit Lilaschs Tod nicht auch noch die ungeborene Tochter verlieren wollte, versetzte diese in den Leib der ehemaligen Napaie Mibél, einer Nymphe, die durch ihr Schicksal schon seit drei Jahrsiebten als Menschenfrau auf der Erde lebte. Lieber wollte Ailén seine Tochter fern von sich bei den Menschen aufwachsen sehen, als sie ganz zu verlieren. So wurde Mibél, die unter den Menschen den Namen Mibél Roberts trug, mit der Napaien-Prinzessin Glenna schwanger und empfing die Kleine voll Freude.

Fianegs Rachedurst war für den Augenblick gestillt, doch musste sie

einen hohen Preis dafür bezahlen, denn der Rat der Nymphen ließ sie aus Tír na nÓg vertreiben und verbannte sie auf die Erde, wo sie in einen Menschenleib eingeschlossen wurde. Durch ihre Verbindung zu den dunklen Mächten behielt sie zwar eine gewisse Macht und konnte auch einen Teil ihrer Erinnerungen an die Anderswelt bewahren, doch ihre Schönheit verflog und sie trug fortan einen grauen Schleier, der im Laufe der Jahre immer dunkler wurde. Ihre Verbannung in die Menschenwelt ließ ihren Groll auf die Königshäuser der Leimoniaden und der Napaien fortgesetzt schwelen, und sie schwor deren Fürsten Rache.

Dadurch, dass Fianeg als Mensch auf die Erde verbannt worden war, erhielt sie nun aber direkten Zugriff auf Fay-Alinn und Glenna, die Kinder der verhassten Fürstenhäuser.

Am Tage des Wiegenfests besuchte viel fremdes Volk den Königspalast der Leimoniaden, um die Tochter des Königspaars anzusehen. Fay-Alinn war schön wie der lichte Tag. Viele mächtige Feen kamen zu ihrem Wiegenfest und beschenkten sie mit ihren besonderen Gaben. Die erste Fee brachte ihr Liebe, die zweite Liebreiz, die dritte Schönheit, die vierte Fruchtbarkeit, die fünfte Kraft, die sechste Macht, die siebte Mut, die achte Klugheit, die neunte Weisheit, die zehnte Gelassenheit, die elfte Reichtum. Die zwölfte hatte sich verspätet, doch statt ihrer trat plötzlich Fianeg, die gar nicht eingeladen war, in die Halle, schritt zur Wiege hin, strich dem Königskind über das Köpfchen und legte ihm ihre Gabe in die Wiege. Dazu sprach sie: „Du, Fay-Alinn, sollst gesegnet sein mit der Gabe, im siebten Lebensjahr ein Mensch zu werden.“ Die Eltern erschraken, als sie diese Worte vernahmen, doch sie konnten dieselben nicht ungesprochen machen. Fianeg lächelte, wandte sich um und verließ die Halle wie ein Schatten. Nun eilte die zwölfte Fee herbei, die aufgehalten worden war, und legte dem Königskind noch die Gabe des Langmuts in die Wiege.

Seit jenem Feste wuchs Fay-Alinn heran und wurde von Jahr zu Jahr schöner. Als sie mit sieben Jahren zu einem Feenfräulein geworden war, zeigte sie neben ihren eigenen Fähigkeiten auch alle jene Gaben, welche die Feen ihr zum Namensfest geschenkt hatten. Doch die Gabe der dunklen Napaien-Fee Fianeg hatten alle wieder vergessen.

Die Begegnung

In einem Land lebte ein Mann mit seiner Frau. Sie hatten einen kleinen Gärtnerhof, dazu ein paar Kühe, Schafe, Schweine, Federvieh und etliche Völker Bienen. Auf den Weiden, Feldern und im Garten zogen sie heran, was sie und die Tiere zum Leben brauchten, und von dem Geld, das sie durch den Verkauf von Milch, Eiern, Honig und den Überschüssen ihrer Ernten einnahmen, bezahlten sie das Notwendige, das sie kaufen mussten.

Die Frau war in anderen Umständen. Im Juni gebar sie ein Mädchen, das nannten die Eltern Niëv, was so viel wie Helligkeit, Schönheit und Glanz bedeutet. Das Kind war wirklich so schön, wie sein Name verriet, und alle, die zu seinem Tauffest kamen, waren von ihm entzückt.

Niëv wuchs heran und wurde von Jahr zu Jahr schöner. Als sie ihr siebtes Jahr vollendete, widerfuhr ihr draußen im Garten etwas Merkwürdiges: Sie saß auf einer Gartenbank und häkelte Masche um Masche an einem Topf-lappen, als sich Licht und Stimmung um sie herum plötzlich veränderten. Sie sah von ihrer Handarbeit auf und erschrak, denn die Sonne hatte die Farbe von rotem Gold angenommen, während die Pflanzen und Bäume in schimmerndem Goldgrün und die Blüten umher in überirdisch leuchtenden Farben erstrahlten. Der Anblick war so wunderbar, dass ihr das Herz vor Wehmut schmerzte. Aus dem nahen Gesträuch trat ein Mädchen, das war so zauberhaft schön, wie Niëv noch nie eines gesehen hatte. Voller Staunen und Bewunderung blickte das Bauernkind die geheimnisvolle Besucherin an, die sie genauso verblüfft musterte.

Eine Weile schwiegen sie beide. Dann fragte Niëv: „Wer bist du?“

„Ich bin Fay-Alinn“, antwortete die Besucherin.

„Bist du ein Mensch?“, fragte Niëv.

Das fremde Mädchen schüttelte den Kopf.

„Was bist du dann?“, fragte Niëv.

„Ich bin eine Leimoniade.“

„Versteh ich nicht“, sagte Niëv, „ich kenne nur Limonade. Was ist das, eine Leimoniade?“

„In deiner Welt gibt es doch verschiedene Länder“, erklärte das Wesen, und Niëv nickte, „und darin leben verschiedene Völker. In ihren Nachbarländern leben auch Völker, aber die sprechen eine andere Sprache. Und so ist das auch bei uns: Die Leimoniaden wohnen in den Wiesen und auf den Lichtungen und sind doch nicht von dieser Welt. Und in einem anderen Reich nicht weit von ihnen leben unsere Nachbarn, die Napaien. Die besiedeln die Niederungen und Täler. Und in wieder einem anderen Reich wohnen die Oreaden, deren Heimat die Felsen, Berge und Grotten sind. Und wenn ich dir alle unsere Völker und alle Königreiche nennen wollte, so würden wir tausend mal tausend Jahre hier verbringen und du würdest immer noch nicht alle kennen.“

„Und aus welcher Welt kommst du?“, fragte Niëv voller Staunen.

„Aus der Anderswelt“, antwortete Fay-Alinn.

„Wo ist sie, diese Anderswelt?“, fragte Niëv.

„Sie ist überall, und doch könnt ihr Menschen sie nicht sehen. Doch das kann man lernen. Vorhin, als das Licht sich zu verändern begann, hast du schon angefangen richtig zu sehen.“

„Oh“, sagte Niëv, „das war zum Sterben schön!“

Fay-Alinn blickte sie erschrocken an. „Warum zum Sterben?“, fragte sie.

„Ach, das sagt man bei uns so“, antwortete Niëv. „Es bedeutet, dass etwas noch viel schöner ist, als du es im Leben finden kannst.“

„Aber du hast doch da ins Leben hineingeschaut“, wandte Fay-Alinn ein, „nicht auf seine Gegenseite, den Tod.“

„Hm“, sagte Niëv.

Dann, als würde sie sich plötzlich auf ihre guten Manieren besinnen, fragte sie: „Magst du etwas zu trinken oder zum Naschen haben?“

„Aus reiner Neugierde, ja. Hunger und Durst habe ich nicht.“

„Ich bringe dir ein paar Honigplätzchen, die haben Mama und ich zusammen gebacken.“ Sie stand auf und wollte zum Haus hinübergehen, doch kaum war sie aufgestanden, um das Angebotene zu holen, da erfasste sie ein kleiner Schwindel, die Welt war plötzlich wieder so wie immer und ihr Gast war weg. Enttäuscht blickte sie sich um. „Habe ich das jetzt getagträumt?“, fragte sie halblaut.

Die geflüsterte Antwort kam augenblicklich zurück: „Nein, du warst wach. Zum ersten Mal in deinem Leben“, raunte es aus dem Wind. Oder kam es aus dem Säuseln der Bäume und Büsche?

„Wo bist du?“, fragte Niëv. Ich sehe dich nicht.“

„Ich bin überall um dich herum, sogar in dir“, kam die Antwort. Doch je mehr Niëv sich anstrengte, das überirdische Wesen noch einmal zu sehen, desto mehr entglitt es ihr. In ihrem Herzen blieb eine tiefe Sehnsucht zurück.

Am Spätnachmittag zogen dunkle Wolken am Himmel auf, und fern im Westen grollte der Donner. Niëvs Eltern hatten die Kühe nach dem Melken im Stall gelassen, weil sie die Tiere bei Gewitter nicht auf die Weide treiben wollten. Dann überzog sich der Himmel mit schwarzgrünem Gewölk, und das Gewitter brach los. Es goss in Strömen und Blitz folgte auf Blitz, sodass der Donner nicht mehr verstummte. Das ging eine ganze Weile so weiter, doch so schnell, wie das Gewitter gekommen war, zog es dann auch vorüber. Die Wolkenwand riss im Westen auf, und die Abendsonne überzog das Land mit goldgelbem Licht, während es fern im Osten noch regnete.

Niëv öffnete ein Fenster und blickte hinaus. Am Osthimmel stand ein dreifacher Regenbogen, der an Leuchtkraft ständig zunahm. Beim Anblick des farbigen Bogens überfiel Niëv wieder die Erinnerung an Fay-Alinn und die Anderswelt und sie sagte: „Fay-Alinn, liebe Schwester, jetzt erhebt sich über den Osthimmel ein Regenbogen mit drei Brücken, da darf ich also einen Wunsch aussprechen, und der muss dann auch in Erfüllung gehen. Also wünsche ich mir, dass ich wieder in deine Welt eintreten darf und wir wie Schwestern zusammenleben!“

Bildete sie es sich ein, oder hörte sie wirklich ein Wispern?

„Dein Wunsch wird sich erfüllen.“

Verwundert kehrte Niëv in den Alltag zurück, doch die Sehnsucht nach der fremden Welt wurzelte bereits tief in ihrem Herzen. Und dieses Sehnen wuchs, denn als sie am späten Abend zu Bett ging, fühlte sie heftiges Fernweh nach der Anderswelt, scharf wie einen Schmerz. Und als sie eingeschlafen war, verfing sie sich in einem Traumnetz. Da war sie plötzlich in einem fremden Land, konnte aber nur wenig um sich herum erkennen, weil dichter Nebel diese Welt verhüllte. Niëv eilte durch das Grau und suchte nach etwas, doch wonach sie suchte, wusste sie nicht. Da fiel ihr ein, dass sie ja Fay-Alinn zu Hilfe rufen könnte, die würde sich hier auskennen.

„Fay-Alinn!“, rief sie so laut sie vermochte. Mit einem Mal wurde es heller, und kurz darauf drückte eine bleiche goldene Sonne die Nebelschleier tiefer und immer weiter hinab, bis sie in die Erde schlupften und verschwanden. Oben aber riss das Grau auf, die Sonne stand strahlend im Azur und erfüllte die Welt mit lichtem Gold. Eine liebliche Landschaft umgab Niëv. Sie stand auf einer Wiese und sah sich entzückt um. Aus einem Wäldchen in der Nähe trat Fay-Alinn ins Freie und flog auf Niëv zu.

„Du hast es geschafft!“, rief sie schon von weitem, und als sie vor ihr stand, nahm sie Niëv in die Arme und lachte. „Du hast es wirklich geschafft“, wiederholte sie, als könne sie es noch immer nicht glauben.

Niëv hielt Fay-Alinn umfangen und drückte sie an sich. „Aber ich habe doch gar nichts gemacht“, wandte sie ein.

„Sag das nicht“, widersprach Fay-Alinn, „nicht jedem ist unsere Welt im Traume zugänglich.“

„Ist dies dein Land?“, fragte Niëv.

Fay-Alinn lachte fröhlich. „Oh nein“, sagte sie, „dieses Land hier ist so ähnlich wie in deinem Haus der Flur: Willst du in die gute Stube hinein, musst du zuerst den Flur durchqueren.“

„Also ist das hier das Vorland“, stellte Niëv fest.

Fay-Alinn blickte Niëv zuerst erstaunt an, doch dann musste sie lachen. „Ja“, bestätigte sie, „nennen wir es Vorland.“

„Wie heißt es denn bei euch?“

„Es ist namenlos, aber wenn wir ihm einen Namen geben müssten, so würde es ‚Kurdach’ heißen“, antwortete Fay-Alinn.

„Und was bedeutet ‚Kurdach’ in meiner Sprache?“, wollte Niëv wissen.

Fay-Alinn lächelte. „Es bedeutet ‚Suche’“, sagte sie, „und jeder, der etwas sucht, muss da zuerst durch.“ Dann wurde Fay-Alinn wieder ernst. „Du hast am Ende des vergangenen Tages einen Wunsch über die Brücke geschickt, und der ist bei uns angekommen.“

„Über welche Brücke?“, fragte Niëv.

„Den Regenbogen“, antwortete Fay-Alinn, „und jetzt sage mir, was genau du dir wünschst.“

„Ich weiß es selbst noch nicht“, gestand Niëv, „einerseits möchte ich zu euch in die Anderswelt kommen, andrerseits möchte ich auch bei Mama und Papa bleiben. Doch ja, jetzt wird es mir ein bisschen klarer: Ich möchte ein Wanderer sein, so jemand, der durch beide Welten schweifen kann. Und ich will deine Schwester werden.“

Fay-Alinn nahm sie in den Arm.

„Der zweite Teil deines Wunsches freut mich besonders, und er ist jetzt schon erfüllt“, sagte sie, „doch den ersten Teil können wir nicht erfüllen. Ihn zu gewähren, steht nicht in unserer Macht.“

„Aber du bist doch gestern bei mir gewesen und dabei konnte ich auch in deine Welt hineinschauen“, wandte Niëv ein.

„Ja“, bestätigte Fay-Alinn, „doch das lag nicht an mir, sondern an dir.“

„Heißt das etwa …“, begann Niëv und verstummte.

Fay-Alinn führte ihren Gedanken zu Ende: „Ja, es heißt, dass es an dir selbst liegt, ein Wanderer zu werden. Und das ist vieltausendmal schwerer, als es sich nur zu wünschen und dann erfüllen zu lassen.“

„Da mache dir keine Sorgen drum“, lachte Niëv, „was ich will, das kann ich.“ Niëv spürte, wie ein starker Sog sie erfasste. „Ich glaube, ich muss jetzt irgendwie weiter“, sagte sie und sah sich um.

Fay-Alinn nickte. „Ich begleite dich noch durch einige Länder hier“, sagte sie, „dann muss auch ich umkehren.“ Sie fasste Niëv an der Hand, und plötzlich konnte Niëv ebenfalls fliegen. Doch allmählich schwand ihr das Bewusstsein, neue Nebelfelder trieben heran und hüllten sie ein. Und dann fühlte sie, wie Fay-Alinn ihre Hand losließ. Es tat weh, doch dieses Mal war Niëv nicht so traurig, denn sie fühlte, dass Fay-Alinn immer noch in ihrem Herzen war. „Schwester“, murmelte sie, doch dann vernahm sie die Antwort schon nicht mehr.

Der Besuch bei den Müttern

Am folgenden Tag, als Niëv draußen auf einem Feld Rüben hackte, erlebte sie zum zweiten Mal am helllichten Tage die Verwandlung ihres Alltags in den Zauberglanz der Anderswelt. Zuerst gerann das Tageslicht wieder zu Gold, während Erdreich und Steine wie durchsichtig wurden und zu leuchten begannen. Und wieder erstrahlte der Himmel in tiefem Azur. Aus der Himbeeranlage des Gartens trat Fay-Alinn hervor und war so schön, dass Niëv der Atem stockte. Die Leimoniade kam auf Niëv zu und umarmte sie, doch sie sah ernst aus.

„Ist etwas passiert?“, fragte Niëv erschrocken.

„So könnte man es nennen“, erwiderte Fay-Alinn, „passiert ist es zwar schon vor langer Zeit, doch erfahren habe ich es erst jetzt.“

„Schlimm?“, fragte Niëv. „Das weiß ich noch nicht, doch ich fürchte, ja“, antwortete Fay-Alinn.

„Was ist es denn?“, fragte Niëv.

Ihre Besucherin seufzte. „Zu meinem Namensfest waren zwölf Feen eingeladen“, erzählte sie, „das ist bei uns so üblich und geschieht bei Königskindern immer. Doch die zwölfte Fee wurde auf dem Weg zu uns aufgehalten und verspätete sich. Statt ihrer trat eine dunkle Fee an meine Wiege, und ihre Gabe an mich war, dass ich in meinem siebten Lebensjahr zum Menschen werden sollte; da wussten meine Eltern und die Gäste noch nicht, ob das ein Segen oder ein Fluch wäre. Nachdem die dunkle Fee mir das Geschenk in die Wiege gelegt hatte, konnte niemand es mehr rückgängig machen.“

Niëv schwieg eine Weile. „Und wie hast du es jetzt erfahren?“, fragte sie.

„Ich habe meinen Eltern von dir erzählt, und da erinnerten sie sich wieder des Vorfalls von damals und berichteten mir davon.“

„Und was ist daran so schlimm?“, fragte Niëv.

„Wenn ich ein Mensch werden soll, muss ich ja sterben“, antwortete Fay-Alinn, „und das ist für eine Unsterbliche ganz schön erschreckend. Es macht mir Angst.

„Aber warum denn sterben?“, fragte Niëv verwundert, „ich lebe doch auch, und ich bin ein Mensch.“

„Aber du sagst es ja: Du bist ein Mensch. Bei euch verläuft das Menschwerden irgendwie anders. Du hast einen festen Leib, und wie du es fertigbringst, dabei nicht zu sterben, ist mir ein Rätsel.“

„Aber du kommst doch auch in einem festen Leib zu mir“, wandte Niëv ein.

„Ha“, sagte Fay-Alinn, „da hüte ich mich aber sehr davor! Nein, nein, ich spiele nur ein wenig mit den Lebenskräften herum und lasse sie in eine Form gerinnen, dann sehen sie aus wie fester Erdenstoff, fühlen sich für dich auch so an, sind aber etwas ganz anderes.“

„Und was gedenkst du nun zu tun?“, fragte Niëv.

„Ich will als erstes jene dunkle Fee aufsuchen, die mir damals die Gabe in die Wiege legte, und sie um Hilfe bitten.“

„Und wenn sie nicht will?“

„Dann wende ich mich an die Nornen im Gezweig der Weltenesche oder an Frau Huldr im Inneren der Erde. Frau Huldr ist unsere Königin und Mutter.“

Niëv machte große Augen. „Aber ich dachte, deine Eltern sind das

Königspaar der Leimoniaden. Dann ist deine Mutter doch die Königin“, wandte sie ein.

„Frau Huldr ist auch die Mutter meiner Eltern“, erklärte ihr Fay-Alinn.

„Dann ist Frau Huldr also deine Großmutter“, stellte Niëv fest.

„O nein, nein“, korrigierte Fay-Alinn sie und musste kichern, „bei uns kann man mehrere Mütter haben. Kennst du nicht die Geschichte von dem Hüter der Regenbogenbrücke?“

Niëv schüttelte den Kopf. „Bei den Menschen hieß er Heimdall“, fuhr Fay-Alinn fort, „er hatte neun Mütter, das waren die Töchter von Ägir und Ran, den Beherrschern der Meere.“

„Und welche der neun hat ihn dann geboren?“, fragte Niëv.

„Na, alle neun natürlich“, antwortete Fay-Alinn.

„Hm“, sagte Niëv und schüttelte den Kopf.

„Was ist daran so komisch?“, fragte Fay-Alinn.

„Bei uns kann man nur eine Mutter und einen Vater haben“, erklärte Niëv, „mehr geht nicht.“

„Hm“, sagte nun auch Fay-Alinn und machte ein bedenkliches Gesicht.

„Erzählst du mir hinterher, was die dunkle Fee gesagt hat?“, bat Niëv.

„Das muss ich gar nicht, denn ich würde dich gern zu ihr mitnehmen“, sagte Fay-Alinn, „würdest du mich begleiten?“

„Klar, das mache ich“, antwortete Niëv, „aber geht das überhaupt? Und ich weiß ja nicht einmal, wie man sich bei euch benimmt.“

„Huldr sei Dank, dass du mitgehst!“, rief Fay-Alinn. „Du kannst sicher alle Fragen über das Menschsein beantworten, die sie an dich richtet. Das könnte ich nämlich nicht.“

„Aber“, wandte Niëv ein, „ich müsste am Mittag wieder hier zurück sein, sonst warten meine Eltern mit dem Mittagessen auf mich, und das mögen sie nicht.“

Fay-Alinn lachte. „Wir könnten am Nachmittag aufbrechen und wären dann am frühen Vormittag zurück“, sagte sie.

„Nein, so geht das bestimmt nicht“, widersprach Niëv und lachte, „wir können nicht die Zeit anhalten oder gar zurückstellen.“

Jetzt gluckste auch Fay-Alinn vor Lachen. „Das meinst aber auch nur du“, sagte sie, „und das kommt sicher daher, dass ihr Menschen alles so fest und starr ausstaffiert habt, um es besser besehen, betatschen und am Ende auch glauben zu können. Bei uns ist das viel einfacher. Wir wissen ja auch, wie die Zeit entsteht.“

„Ach ja?“, staunte Niëv. „Verrätst du mir, wie?“

Fay-Alinn sah sie bedeutungsvoll an. „Weißt du, wer die Götter sind?“

„Klar, das weiß doch jedes kleine Kind.“

„Dann stelle dir einige dieser Götter vor, gib ihnen dabei ruhig ein menschliches Aussehen und dazu ein Paar schimmernde Flügel. Kannst du sie vor dir sehen?“

„Hm, ich versuche es gerade.“

Fay-Alinn nahm Niëv an der Hand. „Und was siehst du jetzt?“, fragte die Prinzessin.

„Ich sehe wunderschöne Engel“, rief Niëv überrascht aus, „und sie bewegen ihre Flügel.“

„Da siehst du es“, erklärte Fay-Alinn, „der Windhauch, der durch das Schwingen ihrer Flügel entsteht: das ist die Zeit. Sie weht fortwährend von ihnen fort und zu allen Wesen auf der Erde hin. Aber nur die Menschen fassen sie als Zeit auf.“

„Warum nennst du diese Engel denn ‚Götter’?“, fragte Niëv.

„Weil sie doch Götter sind. Aber nun löse dich bitte schnell von ihrem Bilde, sonst ziehen sie dich zu stark in unsere Welt hinein.“

„Lass sie ruhig an mir ziehen“, sagte Niëv und lachte, „ich würde nämlich sehr gern in deine Welt mitkommen.“

„Dann lass uns zuvor noch schnell zu den Nornen fliegen; die leben auch hier in der Nähe. Ich will sie fragen, ob ich die dunkle Fee überhaupt aufsuchen darf oder ob das irgendwie gefährlich ist.“

„Abgemacht.“ Fay-Alinn hatte kaum das Wort ausgesprochen, als ein Schwindel sie erfasste. Ein kräftiger Sog zog sie himmelwärts. „Müssen wir nicht in die Erde hinunter?“, fragte sie atemlos.

„Nicht, wenn wir zu Urds Brunnen gelangen wollen“, sagte Fay-Alinn.

Niëv kniff für einen Moment die Augen zu.

Als sie die Augen wieder aufschlug, fand sie sich und ihre Begleiterin im Geäst eines riesenhaften Baumes wieder. Den Blättern nach war es eine Esche, aber ihr Laub schimmerte in wechselnden Farben von Goldgrün mit blauen Sprenkeln. Vor ihnen erhob sich ein See, der von glitzerndem Kristall eingefasst war.

„Das ist Urds Brunnen“, erklärte ihr Fay-Alinn. Als sie näher kamen, sahen sie, von den Zweigen des Baumes teilweise verdeckt, drei Frauen, die einen goldenen Faden durch ihre Finger gleiten ließen.

„Da, sieh an, das ist ja dein Lebensfaden“, flüsterte Fay-Alinn ihrer Begleiterin zu.

„Bist du sicher?“, flüsterte Niëv zurück. Die drei Frauen wandten sich zu den Ankömmlingen um und winkten sie herbei.

„Fay-Alinn hat recht“, sagte die erste Frau, „dieser Faden hier ist deiner, Niëv, und er ist wunderschön. Tretet näher, ihr ungleichen Schwestern, und seid willkommen in der Spinnstube des Schicksals! Mein Name ist Urd, meine Schwester zur Rechten heißt Werdandi, und die Schwester jenseits von ihr ist Skuld.“

Werdandi legte den Faden vorsichtig auf ihrem Schoß ab und ließ ihre Hände zart über ihn hinweggleiten.

„Wir wissen, weshalb ihr gekommen seid“, sagte sie, „und wir geben euch gern unseren Rat mit, wenn euch daran gelegen ist.“

Skuld lächelte sie an. „Ich werde euch sicher ein bisschen unheimlich sein“, sagte sie, „das sehe ich euren Gesichtern an. Aber fürchtet euch nicht: Nicht ich bin es, die euch Angst macht, sondern die Ungewissheit der kommenden Ereignisse.“

Jetzt blickte sie Fay-Alinn voll ins Gesicht und sagte: „Alles Fremde, Unbekannte ängstigt, das ist seit alters so. Was kann ich für dich tun, meine Tochter?“

Fay-Alinn machte große Augen: „Mutter?“, fragte sie fassungslos.

„Du siehst“, sagte Urd, „du müsstest gar nicht zu Frau Huldr ins Innere der Erde vordringen“, und dabei wandte sie sich Niëv zu, „oder zum Wolkenschloss der Frau Holle fliegen oder in deren Brunnen stürzen, denn wir alle sind ein und dieselbe.“

„Aber ihr seid doch dreie“, wandte Niëv schüchtern ein.

„Ja und nein“, sagte Werdandi, „aber Frau Holle ist ebenfalls zu dritt. Und du selbst bist ebenfalls dreie.“

„Ich?“, fragte Niëv erstaunt.

Skuld lachte und sprach: „Du kennst doch dein Spiegelbild, ja?“

Niëv nickte.

„Und wer sind dann diese beiden Frauen?“, fragte die Norne und winkte unvermittelt zwei Frauen aus dem Gezweig des Baumes herbei. Die eine war eine blühende Frau in der Mitte ihres Lebens, die andere eine schöne Greisin.

„Keine Sorge“, sagte Werdandi, „die beiden sind nur deine Spiegelbilder. Schau sie dir gut an, kleine Niëv. Erkennst du sie?“

Die Fremden kamen Niëv bekannt vor und trugen unverkennbar ihre eigenen Züge, doch Niëv überlegte, dass die beiden ja eigentlich nur irgendwelche Vorfahren sein konnten.

„Vielleicht eine Urgroßtante von mir und deren Mutter?“, fragte sie.

„Nein“, lächelte Werdandi, „jetzt rätst du ganz daneben. Das bist du selbst: Die jüngere von beiden bist du, wenn du die Mitte deines Lebens erreicht hast, die ältere ist die alte Niëv als Großmütterchen.“

„Und so siehst du“, fügte Skuld an, „dass auch du selbst dreie und doch zugleich ein und dieselbe bist.“

„Und dabei hast du jetzt nur deinen Erdenleib zu Gesicht bekommen“, ergänzte Urd, „bei deiner Seele setzt sich diese Dreiheit fort.“

Skuld wandte sich Fay-Alinn zu. „Stelle deine Fragen, Kind“, gebot sie der Leimoniaden-Prinzessin.

Fay-Alinn überlegte kurz. „Muss ich sterben?“, fragte sie.

„Ja“, antwortete Skuld.

„Und bin ich dann tot?“, fragte Fay-Alinn weiter.

„Nein, mitnichten“, kam die Antwort.

„Tut es weh?“

„Nur kurz am Anfang, dann nicht mehr.“

„Bleiben Niëv und ich als Schwestern zusammen?“

„Ja, solange ihr euch darum bemüht“, antwortete Skuld, „aber nun hast du vier Fragen gestellt, eine für jede Himmelsrichtung. Damit kannst du leben, mein Kind.“

Plötzlich wurde es dunkel, ein Wind kam auf, wurde zum Sturm, ergriff Fay-Alinn und Niëv und wehte sie in den Erdengarten zurück, von dem sie kurz zuvor aufgebrochen waren. Fay-Alinn umarmte ihre Menschenschwester.

„Leb wohl, du neue Schwester, bis bald, und schau, dass du rechtzeitig zum Mittagessen kommst.“

Mit diesen Worten verschwand sie kichernd in der Himbeeranlage, aus der sie anfangs hervorgetreten war.

Niëv ging zu ihrem Elternhaus hinüber und trat ein.

„Zum Essen ist es aber noch zu früh, Liebes“, sagte ihre Mutter, die am Herd stand und das Mittagessen zubereitete, „frühestens in einer Stunde ist Essenszeit.“

Die Verwandlung

Das Jahr rückte weiter. Nach dem milden Juni kam ein ungewöhnlich heißer Sommer mit blendenden Sonnentagen und flammenden Gewittern in den Abendstunden. Zeiten der Dürre wechselten mit Sturzgüssen von Regen. Im August stand am Spätnachmittag fast täglich ein Regenbogen über dem Land. Die Tage waren gewittrig, und in den schwülen Nächten braute sich eine Sehnsucht nach Morgentau und Frische zusammen, die zu Tagesbeginn keine Erfüllung fand.

Das Bauernkind Niëv und die Feenprinzessin Fay-Alinn trafen sich jetzt täglich zum Spielen und Plaudern und bereiteten sich gegenseitig auf ihr neues Leben vor. Dass eine Veränderung auf sie zukommen würde, konnten sie beide spüren.

„Weißt du schon, wann du die Verwandlung zum Menschen durchmachen wirst und wie das geschieht?“, fragte Niëv die Feen-Schwester.

„Ich weiß weder das eine noch das andere; ich weiß nur, dass es nicht mehr lange dauert“, antwortete Fay-Alinn und seufzte.

Als an diesem Nachmittag das tägliche Gewitter getobt hatte und sich ein kräftiger Regenbogen über die im Licht dampfende und glitzernde Erde spannte, ging dann plötzlich alles ganz schnell: Ein von Schwänen gezogener silberner Nachen glitt durch die Nebel auf sie zu, hielt vor ihnen an, und sie stiegen ohne Fragen zu stellen ein. Das Traumschiff setzte sich in Bewegung, und ehe sie sich versahen, erhob sich vor ihnen die kristallen schimmernde Umrandung von Urds Brunnen unter den Zweigen der Esche. Die Nornen ließen zwei goldene Fäden zusammen durch ihre Hände gleiten, dann ergriff Skuld diese, verknüpfte sie miteinander, ließ sie nebeneinander weiterlaufen und reichte sie an ihre Schwester Werdandi. In diesem Augenblick erlebten die Kinder einen heftigen Ruck, verloren das Bewusstsein und sanken vor dem Brunnen ins Gras.

Als sie erwachten, schien die Sonne noch warm auf sie herab. Verwundert gewahrten sie, dass sie in smaragdgrünen Schreinen lagen. Sie stiegen schnell aus diesen aus, und sofort glitten wieder die Schwäne aus dem Nebel auf sie zu und zogen die Schreine nach Westen, der untergehenden Sonne zu. Plötzlich fing Fay-Alinn an zu weinen, nahm Niëv in die Arme und schluchzte verzweifelt an ihrer Schulter.

„Sch… was ist los, Liebes? Warum weinst du denn?“, fragte Niëv.

„Hast du’s denn noch nicht gesehen?“, stieß Fay-Alinn zwischen ihren Schluchzern hervor.

„Nein, was ist denn zu sehen?“

„Schau mich an!“, befahl Fay-Alinn und löste sich aus Niëvs Armen.

Niëv blickte sie an und bekam große Augen. „Das ist nicht möglich“, stammelte sie.

„Doch, es ist so“, jammerte Fay-Alinn und begann wieder zu weinen.

„Au weia“, sagte Niëv, „jetzt gibt es kein Zurück mehr.“

Sobald Niëv ihre Feenschwester anschaute, sah sie ihr eigenes Spiegelbild. Den Rest konnte sie sich denken: Sie selbst würde Fay-Alinn aufs Haar gleichen.

„Also du bist jetzt ich und ich bin du“, stammelte sie. Fay-Alinn nickte.

„Du bist eine Prinzessin der Leimoniaden, und ich bin ein Mensch“, sagte sie.

„Oje“, rief Niëv aus, „was soll ich denn sagen, wenn ich zu deinen Eltern komme?“

„Sag einfach: Biachlomaat“, seufzte Fay-Alinn, „das heißt ‚Guten Tag’. Oder sage: Tranona madet, ‚Guten Abend’. Es ist Gälisch. Du kannst aber auch auf Griechisch oder Deutsch grüßen. Da du meinen Lebensleib übernommen hast, brauchst du nicht Vieles neu zu lernen; es steckt schon alles in ihm drin.“

„Aber du hast doch gesagt, du hättest gar keinen Leib“, wandte Niëv ein, „hast du jetzt plötzlich doch einen?“

„Was du als unsichtbaren ‚Leib’ hast oder hattest, das war bei mir mein sichtbarer Leib“, erklärte Fay-Alinn, „dein Gedächtnis hängt von diesem Lebensleib ab. Was immer du also sagen oder tun willst: Es wird dir aus meinem Leib von selbst entgegenkommen. Ach, du liebe Zeit!“, rief sie plötzlich aus. „Jetzt habe ich ja deinen Erdenleib abbekommen. Ich verstehe gar nicht, dass ich dabei noch am Leben bin.“

Sie nahmen sich noch einmal fest in die Arme.

„Ich wünsche dir, dass alles gut geht!“, sagte Niëv.

„Dasselbe wünsche ich auch dir, du neugeborenes Leimoniaden-Baby“, sagte Fay-Alinn und fing schon wieder an zu weinen. So trennten sie sich, um zu ihren neuen Familien zurückzukehren.

Als Niëv ins Reich der Leimoniaden gelangte, wohin ihr neuer Feenleib sie wie von selbst führte, sahen Fay-Alinns Eltern sofort, dass da nicht ihre Tochter, sondern ein anderes Wesen zu ihnen kam. Sorcha, Fay-Alinns Mutter, nahm Niëv in den Arm und sagte: „Gräme dich nicht, liebes Menschenkind, es wird schon alles wieder gut werden.“

Niëv kämpfte mit den Tränen. Fay-Alinns Vater Rae strich ihr über das Haar und murmelte Trostworte, die sie nicht verstand.

Alle Völker der Leimoniaden spürten, dass in ihrem Reich etwas Außergewöhnliches geschehen war, und immer wieder kamen Besucher und Besucherinnen zum Königshaus, welche das zur Fee gewordene Menschenkind anschauen wollten. Doch nicht allein die Völker der Leimoniaden hatten den Wechsel bemerkt, sondern auch die Napaien und Oreaden aus Tälern und Bergen und die Najaden, Potameiden und Hyaden, die in den Wassern leben. Unter den Napaien, welche die Niederungen und Täler bewohnten, gab es größere Scharen solcher Wesen, die grau-schwarz und den Menschen spinnefeind waren. Die rotteten sich sofort zusammen und drangen in das Reich der Leimoniaden ein. Anders als in der Welt der Menschen, wo man böse Absichten und ein schlimmes Wesen leicht hinter einer freundlichen Miene verbergen und dann ganz harmlos aussehen kann, verhält es sich in der Anderswelt, wo die Bösen schlimm aussehen oder gar abschreckend hässlich sind. Als Niëv solche Wesen zum ersten Mal erblickte, erschrak sie derart, dass sie sich zitternd in die Arme der Königin flüchtete.

„Was erschreckt dich so?“, fragte Sorcha.

„Vor dem Palast sind ganz hässliche Wesen“, antwortete Niëv, „die glotzen so böse zu mir her.“

„Ach“, sagte Sorcha, „das sind nur ein paar abgefallene Napaien aus den Niederungen. Da haben die Menschen das Land und die Lebewesen vor einigen Jahren vergiftet, und das hat die üblen Napaien angezogen. Die können dir aber nichts antun. Mehr als glotzen können die nicht.“

Zur selben Zeit, als Niëv ins Feenreich gelangte, erreichte Fay-Alinn das Elternhaus ihrer Menschen-Schwester. Doch im Gegensatz zu Fay-Alinns Eltern bemerkten die von Niëv nicht, dass sich im Leib ihrer Tochter ein fremdes Wesen befand. Sie aßen zusammen zu Abend, räumten danach alles ab, spülten und setzten sich hinterher zusammen an den Tisch, um gemeinsam Spiele zu spielen. Beim Scrabble wunderten sich Niëvs Eltern sehr, über welchen Wortschatz ihre Tochter plötzlich verfügte. Das kam aber daher, dass Fay-Alinn, wenn sie in ihrem eigenen, also in Niëvs Leib, keine brauchbaren Wörter fand, mühelos in den Gedanken und Erinnerungen der Erwachsenen kramen und das Vorhandene ablesen konnte. Sie sah das nicht einmal als Schummeln an, weil sie ja als Fee auch keinen Ehrgeiz hatte zu gewinnen.

„Na, unsere Kleine kann ja nächstes Jahr schon Abi machen“, witzelte Niëvs Vater.

„Aus dem Kindergarten hat sie das nicht“, meinte Niëvs Mutter.

Fay-Alinn atmete auf, als sie alle zu Bett gingen. Die liebevollen Umarmungen ihrer neuen Eltern und den Gutenachtkuss erlebte sie als wunderschönen Brauch. Daran dachte sie sogar noch, als sie schon ein Weilchen im Bett lag.

„Das sollten wir bei uns auch einführen“, murmelte sie; dann schlief sie zum ersten Mal in ihrem Leben richtig ein, fast so wie ein gewöhnlicher Mensch.

Draußen vor Fay-Alinns Schlafzimmerfenster in Niëvs Elternhaus entstand ein wahrer Tumult unter den Nymphenvölkern, die im Gestein, im Wasser, in der Luft und im Feuer ihre Heimat haben. Unter ihnen befanden sich auch etliche graue und schwarze Wesen. Die letzteren warfen scheele Blicke durch die Steinwände hindurch auf die menschgewordene Feentochter und berieten, wie sie ihr schaden könnten. Hierbei taten sich besonders einige schwarze Oreaden und Trolle hervor.

„Jetzt ist die feine Prinzessin ein gewöhnliches Menschlein geworden“, grunzten ein paar abgerissene Trolle, „jetzt zerquetschen wir sie mit Felsbrocken, die wir von oben auf sie hinabfallen lassen.“

„Wir füttern sie mit Steinen, Sand und Schotter“, quäkten ein paar schwarze Oreaden.

„Ach was, wir drücken ihr so viel feuchten Lehm in den Schlund, bis sie platzt“, überboten sie die Trolle.

„Noch besser, wir quetschen ihr Arme und Beine weg und lassen sie dann springen“, protzten die Oreaden.

„Wie sollen sie denn ohne Beine springen, ihr Blödmänner“, stichelten die Trolle.

„Selber Blödmänner“, gifteten die Oreaden zurück. Ein wüster Streit brach aus. Die Trolle packten die Oreaden bündelweise, schüttelten sie, dass ihnen Ohren, Nasen und Zähne wegflogen und schmetterten sie gegen die Hauswand des Niëv’schen Elternhauses. Es klatschte und grunzte, dazwischen vernahm man Fluchen und Schimpfen, und die Oreaden krochen knarzend und kollernd davon, während die Trolle sich die grünen Bäuche vor Lachen hielten. Fay-Alinn schlief zwar währenddessen weiter, doch träumte sie das Geschehen mit, als wäre sie wach dabei. Als sie am Morgen aufwachte, rannte sie barfuß vor die Haustür und sah sich die Hauswand an. Und richtig, da waren so eigenartige Flecken und Schmierspuren wie von Schneckenschleim daran, wovon ihr ganz übel wurde. Schnell schlüpfte sie wieder ins Haus zurück.

Erste Lernschritte

„Damit du dich richtig bei uns einleben kannst, solltest du zuerst unser Reich kennenlernen“, sagte die Königin, „ich werde dich heute ein wenig herumführen und dir alles zeigen.“

„Schaffen wir das denn an einem Tag?“, fragte Niëv.

Die Fee lächelte. „Bei uns rechnet man nicht in Tagen und auch nicht in Tag und Nacht; das habe ich bisher nur für dich so gehalten, bis du dich an unseren Rhythmus hier gewöhnt hast.“

„So habt ihr gar nicht geschlafen?“, fragte Niëv.

Jetzt musste die Königin lachen. „Nein fürwahr, so etwas können nur die Menschen und Tiere tun, die einen festen Leib haben.“

„Aber nachts ist es doch dunkel“, wandte Niëv ein, „was kann man denn da schon machen?“

„Ja, weißt du“, erklärte ihr die Königin, „auf der Erde wechseln sich zwar Tag und Nacht ab, aber auch nur dann, wenn man an einem bestimmten Ort bleibt. Fliegst du mit der Sonne, so wird es nie Nacht, fliegst du aber mit den Sternen, so wird es nie Tag. Doch dabei ist immer Tag und immer Nacht.“

„Ach so“, sagte Niëv, „dann möchte ich es auch so wie ihr halten.“

„Alles zu seiner Zeit“, sagte die Königin, „zuerst musst du dich an dieses neue Leben gewöhnen. Du hast zwar mit unserer Tochter den Leib gewechselt, doch Seele und Geist sind dir geblieben. Lass dir etwas Zeit zum Eingewöhnen.“

Damit flogen sie aus dem Palast und hinaus in die sonnenwarme, goldene Welt, wo herrliche Blumen blühten und die Apfelbäume Knospen, Blüten und Früchte zugleich trugen. Sie flogen über Felder, Wälder und Wiesen, kamen über Länder und Meere, überflogen Berge und Seen und freuten sich am Spiel des Windes mit den Wolken. Irgendwann ließen sie sich auf einer Wiese nieder, auf der vier Kühe grasten.

„Aber das sind ja Hulda, Birke, Ricke und Frieda, unsere Kühe!“, rief Niëv überrascht aus. Sie trat zu den Tieren hin und kraulte sie an der Kehle, und die Kühe machten lange Hälse und schleckten ihr übers Gesicht, und Niëv wurde davon nicht einmal nass.

„Schön, dass du uns besuchen kommst“, sagte Hulda, die Leitkuh und fraß dann weiter.

„Komm, rupf dir auch ein paar Löwenzahnblätter, die sind saugut“, muhte Ricke. Birke konnte gerade nicht sprechen, weil sie rülpste und das Maul zum Wiederkäuen voll hatte.

Frieda stupste sie mit der Nase an und sagte: „Ich mag dich.“

„Die kann ich ja richtig verstehen“, sagte Niëv überrascht.

„Du wirst jetzt immer mehr Wesen verstehen und bald auch sehen lernen.“

„Aber ich sehe doch schon alle“, wandte Niëv ein.

Die Königin lächelte wieder. „Dann gib jetzt einmal acht, was gleich passiert“, sagte sie und legte Niëv die Hand aufs Haar. Es gab in ihr so einen Ruck, und plötzlich wimmelte die ganze Welt um sie herum von Wesen, Bewegungen, Farben, Tönen und Stimmen, von Stimmungen, Gefühlen, fremden Gedanken und seltsamen Dingen, die sie nicht einordnen konnte. Sie sah Milliarden und Abermilliarden unbekannter Wesen in allen Größen, manche mit großer Macht ausgestattet, andere schwächer und wieder andere in allen Schattierungen zwischen Hell und Dunkel. Als die Königin ihre Hand zurückzog, waren da wieder nur die bunte Wiese und die vier vertrauten Kühe zu sehen. Ganz anfänglich nahm sie auch ein kleines Gewusel im Grase wahr, sah die Pflanzen der Himbeer- und der Brombeeranlage am Rande der Wiese, den Rhabarber in einem Beet nahebei und das elterliche Haus in der Ferne. Da wurde sie neugierig auf ihre Eltern und ihre Freundin Fay-Alinn.

„Damit solltest du noch warten“, riet die Königin, „denn auch meine Tochter muss sich an die Umstellung erst gewöhnen. Sie würde dich jetzt noch gar nicht wahrnehmen, und auch deine Eltern könnten das nicht.“

„Wie“, fragte Niëv, „wir wären für sie unsichtbar? Aber Fay-Alinn und ich konnten uns doch gut sehen.“

„Nicht von Anfang an“, erinnerte sie die Königin, „sieben Jahre lang war meine Tochter für dich unsichtbar, obwohl sie schon längere Zeit um dich herumstrich.“

„Und warum ging es dann plötzlich doch, als ich sieben wurde?“

„Da hat Skuld eure Schicksalsfäden zum ersten Mal nebeneinander gelegt und verbunden“, sagte die Königin.

„Aber warum hat Skuld das gemacht?“, fragte Niëv.

„Oh, Kind“, lachte die Königin, „jetzt weiß ich, warum eure Menschenmütter manchmal so erschöpft sind.“

Auch Fay-Alinn fand den Anfang ihres neuen Daseins als Menschen-Mädchen ziemlich schwierig. Wenn Niëvs Vater ihr sagte, sie solle im Garten ein bestimmtes Beet richten, so stand sie anfangs hilflos davor und musste erst überlegen, was er wohl gemeint haben mochte. Bat Niëvs Mutter sie, ihr etwas aus dem Keller zu holen, so fiel ihr dies zwar leichter, weil sie ihrem Leib die Führung überlassen konnte und dieser sie zu den gewünschten Gütern wie von selbst hintrug, doch weil sie den neuen Eltern immer alles recht machen wollte, blieb sie bei allen Tätigkeiten etwas angespannt.

„Was ist nur mit unserem Mädchen los?“, fragte der Vater abends die Mutter, als ihre Tochter zu Bett gegangen war.

„Ja“, sagte die Mutter dann, „sie hat sich in letzter Zeit sehr verändert.“

„Sie wird auch immer schöner“, meinte der Vater, „von mir kann sie das nicht haben.“

„Dann hat sie es vielleicht von mir?“, scherzte die Mutter.

Es kam die Zeit, da Niëv ganz allein umherfliegen durfte und ihre Flügel sie immer weiter in die Ferne hinaustrugen. Und irgendwann einmal hatte sie die Idee, dass sie jetzt schon lange genug als Feenprinzessin gelebt hatte, um auch ihre richtigen Eltern und ihre Feenschwester Fay-Alinn ein erstes Mal besuchen zu können. Also flog sie zu der heimatlichen Wiese, ging zum Haus hinüber und läutete die Türglocke. Ihre Mutter öffnete und blickte hinaus. Dann trat sie einen Schritt vor die Tür und schaute nach links und rechts, obwohl Niëv direkt vor ihr stand.

„Komisch“ murmelte die Mutter, „mir war, als ob es geläutet hätte.“ Darauf kehrte sie wieder ins Haus zurück und schloss die Tür.

Niëv schlug die Hände vors Gesicht und versuchte zu weinen, doch auch das ging irgendwie nicht mehr; es kamen keine Tränen. Sie flog zum Garten hinüber. Dort stand Fay-Alinn und jätete das Erdbeerbeet. Als sie sich aufrichtete, ächzte sie leise.

„Solche Arbeit ist bestimmt ungewohnt für dich“, sagte Niëv.

„Na ja, es geht so“, antwortete ihr die Freundin und drehte sich um, „bei uns wächst halt alles von selbst. Wie geht es dir?“

„Nicht schlecht“, antwortete Niëv, „aber ich war eben bei Mama, und die hat mich nicht erkannt, hat mich nicht einmal gesehen. Das finde ich so traurig.“

„Und ich?“, rief ihr Fay-Alinn in Erinnerung, „ich kann noch nicht einmal mein Zuhause aufsuchen, und erst recht nicht Mutter und Vater.“

„Wie lange müssen wir eigentlich in diesen vertauschten Rollen leben?“, fragte Niëv.

„Mindestens sieben Jahre“, antwortete Fay-Alinn, „das zumindest hat Fraxos, der König der Meliai gesagt, und der weiß fast alles.“

„Wer sind die Meliai?“, fragte Niëv.

„Grabe doch einmal in meiner Erinnerung“, riet ihr Fay-Alinn, „dann weißt du es.“

„Ach so, ja, ich erinnere mich: Die Meliai sind die Nymphen der Eschen.“

„Siehst du“, sagte Fay-Alinn.

Ein Weilchen schwiegen sie, dann sagte Fay-Alinn: „Du, ich habe solche Angst vor der Zeit nach dem nächsten Wochenende.“

„Warum denn das?“, fragte Niëv.

„Weil dann die Schule losgeht, und so etwas habe ich bisher noch nie gemacht.“

„Ach du, das ist sicher ganz harmlos. Da sitzt du mit 30 Buben und Mädchen in einem Zimmer und merkst dir die Sachen, die eure Lehrerin euch erzählt. Es macht bestimmt sogar Freude.“

„Und wenn ich etwas schon weiß, muss ich’s dann trotzdem lernen?“, fragte Fay-Alinn.

„Ich glaube, dann nicht“, vermutete Niëv, „aber auch diese Frage kann dir deine Lehrerin beantworten.“

„Darf ich die denn einfach so fragen?“

„Klar, dafür ist sie doch da.“

Dann plauderten sie noch eine Weile zusammen und erzählten sich gegenseitig ihre neuesten Erlebnisse. Schließlich sagte Fay-Alinn: „Liebe, ich muss noch ein bisschen jäten, sonst ist dein Vater am Abend enttäuscht von mir. Deine Eltern haben zwar beide bemerkt, dass ich anders als vor unserem Tausch geworden bin; dass ich aber eine Andere bin, ist ihnen entgangen.“ Sie umarmten einander, und dann flog Niëv davon, und Fay-Alinn blickte ihr sehnsüchtig hinterher.

Niëv flog im Goldlicht von Tír na nÓg über Länder und Meere und sah die unendliche Vielfalt der Wesen, die überall lebten und wirkten. Sie war nicht so fröhlich wie sonst, denn ein bisschen sorgte sie sich um Fay-Alinn. Ihre Freundin hatte gar nicht glücklich ausgesehen.

Wie Niëv so dahinglitt, wirkte sie zwar wie eine Elfe oder eine Fee, doch im Gegensatz zu diesen Wesen verfügte sie über eine menschliche Seele und konnte daher eigenständig denken, fühlen und wollen. So kam es, dass sie, statt auf Elfenart dahinzugleiten, über das traurige Gesicht ihrer Freundin nachdachte und vor sich hin träumte. Vielleicht entging ihr dadurch die dunkle Wolke, auf die sie arglos zuflog. In der Anderswelt gibt es kein Verhehlen, denn dunkle Wesen sind von dunklen Wolken umgeben, und umgekehrt: Wo dunkle Wolken sind, weiß man, dass dort dunkle Wesen weilen. In der Wolke, auf die Niëv zu glitt, lauerte ein Pulk schwarzer Napaien, Oreaden und Riesentrolle.

„Da fliegt das Elf-Mensch auf uns zu“, zischte ein Troll, „soll ich sie zerquetschen?“

„Warte noch“, brummte der Obertroll zurück, „wir wissen ja noch nicht einmal, wie mächtig sie ist.“

„Die hat keine Macht“, röhrte ein anderer Troll, „das spürt man doch.“

Die dunklen Oreaden darum herum kicherten hämisch.

„Der und spüren …“, sagte eine Oreade und verzog das ohnehin schon schiefe Gesicht. Der Troll fuhr blitzschnell herum und packte die Oreade am Ohr. Die zappelte und biss ihn in den Finger, worauf er sie wütend zur Erde hinabschleuderte. Als sie dort ankam, schlüpfte sie flugs in eine Felsspalte und verschwand. Der Troll schüttelte den gebissenen Finger, und die Oreaden und Napaien grinsten, zwinkerten sich zu und vermieden es, ihn anzusehen.

Inzwischen hatte Niëv die dunkle Wolke erreicht, die von Zephyros in aller Unschuld ausgesandt, von vier schwarzen Rudras jedoch, den missratenen Söhnen des Marut, gekapert worden war. Als sich die trüben Wolkenschleier um Niëv legten, schrak sie auf, drehte sich augenblicklich um und glitt zurück, woher sie gekommen war. Auf diese Wendung waren die Rudras nicht gefasst gewesen, sie schossen von vier Seiten heulend aufeinander zu, und weil Niëv sich nicht mehr im Zentrum ihres Angriffs befand, prallten sie dort aufeinander, drangen kreischend ineinander ein und durcheinander und rissen sich gegenseitig in Stücke, was äußerst unangenehm war. Jaulend drehten sie sich im Kreise um sich selbst, erzeugten dabei eine schwarze Windhose, deren Rüssel bis zur Erde hinab reichte und von dort Gras, Zweige, Wasser, Steine und Hausdächer wegsaugte und in die Wolke emporriss, wo die Teile dann in wildem Tanz durcheinanderwirbelten, wodurch wiederum die Scharen der schwarzen Napaien, Oreaden und Riesentrolle unter Beschuss gerieten. Deshalb flohen sie schreiend aus der Wolke, worauf diese merklich heller wurde, und Nephele, die Wolkengöttin aufatmete, weil sie das Gesindel los war, das sich in ihrem Herrschaftsbereich breitgemacht hatte.

„Der kleinen Elfe sei Dank“, sagte Nephele, „ich will sie daheim aufsuchen und kennenlernen.“ Sie sandte ein paar Zirren an den obersten Himmel, die Niëv ausfindig machen sollten, und flog dann selbst in einer weißen Kumuluswolke dem Schloss der Leimoniaden zu.

Erste Angriffe

Der erste Schultag war gekommen. Fay-Alinn hatte von Mama und Papa eine Schultüte mit Honigplätzchen und ein farbiges Tüchlein geschenkt bekommen und trug Tüte und Ranzen nun stolz und zugleich etwas beklommen bis vor das Schulhaus. 20 andere Kinder ihres Alters waren dort schon versammelt. Deren Eltern standen in Grüppchen beieinander, plauderten und waren ebenfalls ein bisschen aufgeregt.

Ein kleines Mädchen lief weinend zu seiner Mutter und wollte nicht mehr von ihrer Hand weggehen. Fay-Alinns große Schönheit bescherte ihr sogleich die Aufmerksamkeit der Erwachsenen.

Die Lehrerin, Frau Iahra Dschirwil, war unterdessen mit einer großen Schülerin zusammen aus dem Schulhaus getreten und sprach mit ein paar Kindern, die ganz aufgeregt waren, weil eines von ihnen sein neues Geldtäschchen verloren hatte. Die Lehrerin bat die Kinder, sich vor dem Schulhaus in drei Reihen aufzustellen, damit sie ein Klassenfoto von ihnen knipsen könne.

Das kleine Mädchen, das noch immer weinend an der Hand der Mutter hing und sich nicht von ihr trennen wollte, fing an zu schreien, als seine Mutter Anstalten machte, es zu den anderen Kindern zu bringen. Fay-Alinn trat plötzlich aus der Kinderschar hervor und ging zu dem weinenden Mädchen hin. Sie nahm es an der Hand, und die Kleine folgte ihr sofort und ohne weitere Tränen. Erstaunt betrachteten Lehrerin und Eltern die kleine Fay-Alinn, die ihre neue Klassenkameradin an der Hand hielt und ihr aufmunternd zulächelte.

„Hier wächst anscheinend meine pädagogische Nachfolgerin heran“, sagte Frau Dschirwil und lachte zu den Eltern hinüber.

Fay-Alinn sprach leise mit dem Mädchen neben sich: „Kommst du auch von den Leimoniaden oder bist du eine Napaie?“

„Ich bin eine Napaie und heiße Glenna. Und wie heißt du?“

„Fay-Alinn. Ich komme aus dem Königshaus der Leimoniaden.“

„Dann bist du eine Fee?“, fragte Glenna.

Fay-Alinn nickte.

Unterdessen waren mithilfe der großen Schülerin alle Kinder der neuen 1. Klasse in drei Reihen hintereinander aufgestellt worden, die kleineren vorn, die größeren hinten. Frau Dschirwil machte ein paar Fotos und bat dann die Eltern, sich zu ihren Kindern dazuzustellen.

Während dieser Umstellung fragte Glenna: „Wie kommt es, dass du wie ein Mensch aussiehst?“

„Ich habe das Mensch-Werden als Gabe in die Wiege gelegt bekommen“, antwortete Fay-Alinn, „und du?“

„Ich muss eine Aufgabe erfüllen“, antwortete Glenna.

„Welche Aufgabe?“, fragte Fay-Alinn.

„Darüber darf ich nicht sprechen“, antwortete Glenna, „verzeih mir.“

Frau Dschirwil machte noch ein paar Bilder von den Eltern mit ihren Kindern zusammen, dann verabschiedete sie sich von den Eltern und nahm die Kinder mit ins Schulhaus.

Ein Junge in der Schar fiel Fay-Alinn auf. Er schielte. Auf seinem

Namensschildchen am Pullover stand Clach Banawudschach. Sobald Fay-Alinn ihn nicht mehr voll, sondern aus den Augenwinkeln anblickte, war Clach von einer trüben Wolke umgeben. Sie wies Glenna darauf hin, und Glenna sah kurz zu Clach hinüber.

„Oh je, eine von den grauen Oreaden“, stellte sie fest.

„Aber zum Glück ohne große Kraft“, ergänzte Fay-Alinn.

„Die anderen hier sind alles Menschen“, stellte Glenna fest, „nur meine Mutter ist eine Napaie.“

Eine kleine Mädchengruppe kam zu Fay-Alinn und Glenna herüber. Eines der Mädchen sagte zu Fay-Alinn: „Hallo, ich bin Lara. Wir fünf wollten dich fragen, ob du mit uns befreundet sein möchtest.“

„Gern“, antwortete Fay-Alinn, „aber nur, wenn Glenna auch unsere Freundin ist.“

„Gut“, sagte Lara, „dann stelle ich euch mal meine vier Freundinnen hier vor. In der Reihenfolge von links nach rechts sind das: Annabella,

Rosalinde, Birke und Stella. Und wie heißt du?“

„Fay-Alinn“, antwortete diese.

„Was machen deine Eltern?“, fragte Rosalinde.

„Sie pflegen die Erde“, antwortete Fay-Alinn.

„Toll! Ich wollte, meine Eltern täten das auch“, sagte Annabella, „was haben sie denn für einen Beruf?“

„Oh, sie sind Gärtner, Bauern, Waldwirte und Imker“, gab Fay-Alinn Auskunft, „und eure Eltern, was machen die?“

„Meine sind Lehrer“, erzählte Lara.

„Meine Eltern haben einen Laden, wo du ganz viel kaufen kannst“, sagte Birke.

„Mein Vater ist Architekt und Mama ist Hausfrau“, antwortete Rosalinde.

„Meine Mama ist Mädchen für alles“, sagte Stella, „Papa ist tot.“

„Meine Eltern sind Musiker“, sagte Annabella.“

„Und was spielen sie für Instrumente?“, fragte Glenna.

„Mama spielt Geige, Bratsche, Cello und Kontrabass; und Papa alle Flöten, dazu einige alte Holzblasinstrumente und Dudelsack.“

Fay-Alinn wandte sich an Glenna. „Das hier ist Glenna“, stellte sie die Napaie den anderen vor, „was machen denn deine Eltern, Glenna?“

„Mama ist Kräuterfrau und Papa war Baumwart. Den habe ich aber nicht mehr kennengelernt.“

„Jetzt sind wir eine richtige Mädchenbande“, sagte Lara begeistert, „wir könnten uns ‚Die Wilden Sieben’ nennen. Dann gehen wir zusammen auf Abenteuer und entdecken neue Länder.“

Die anderen nickten beeindruckt.

„So“, sagte die Lehrerin und klatschte kurz in die Hände, „jetzt sucht sich jedes Kind einen Sitzplatz aus, und dann schauen wir mal, ob alle mit ihrem Platz zufrieden sind.“