Zukunfts-Resilienz - Cora Besser-Siegmund - E-Book

Zukunfts-Resilienz E-Book

Cora Besser-Siegmund

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Beschreibung

Gestärkt in die Zukunft blicken Zukunftsängste und das Berührtsein von Negativschlagzeilen belasten immer mehr Menschen. Bei vielen wird eine subjektive Untergangsstimmung nicht allein durch objektive Fakten über globale Krisen, sondern auch durch professionell gesteuerte Medienkampagnen erzeugt und aufrechterhalten. Hier benötigen wir als Gegenmittel das Konzept der Zukunfts-Resilienz für eine selbstwirksame Inszenierung unserer „Welt im Kopf“, um unsere Zukunft kreativ und aktiv gestalten zu können. Das Buch stellt Coaching- und Selbstcoachingmöglichkeiten mit der wingwave-Methode für ein effektives Emotionsmanagement vor, wobei neben den neurobiologischen Grundlagen auch die gezielte Nutzung von ressourcevollen Gehirnaktivitäten eine Rolle spielen. Die Wissenschaftsjournalistin Elke Hartmann-Wolff berichtet über „Doomscrolling“ und über Möglichkeiten, durch bewusstes Medienverhalten für unsere mentale Gesundheit zu sorgen.

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Cora Besser-Siegmund, Harry Siegmund, Lola Siegmund & Elke Hartmann-WolffZukunfts-ResilienzStark werden in Krisenzeiten

Über dieses Buch

Für einen gestärkten Blick in die Zukunft 

Zukunftsängste und das Berührtsein von Negativschlagzeilen belasten immer mehr Menschen. Bei vielen wird eine Untergangsstimmung nicht allein durch objektive Fakten über globale Krisen, sondern auch durch professionell gesteuerte Medienkampagnen erzeugt und aufrechterhalten. Hier benötigen wir als Gegenmittel das Konzept der Zukunfts-Resilienz, um unsere Zukunft kreativ und aktiv gestalten zu können. 

Das Buch stellt Coaching- und Selbstcoachingmöglichkeiten mit der wingwave-Methode für ein effektives Emotionsmanagement vor, wobei neben den neurobiologischen Grundlagen auch die gezielte Nutzung von ressourcevollen Gehirnaktivitäten eine Rolle spielt. Die Wissenschaftsjournalistin Elke Hartmann-Wolff berichtet über „Doomscrolling“ und über Möglichkeiten, durch bewusstes Medienverhalten für unsere mentale Gesundheit zu sorgen.

Cora Besser-Siegmund, Lola & Harry Siegmund haben zahlreiche Coaching-Standardwerke geschrieben und leiten gemeinsam das Besser-Siegmund Institut in Hamburg, wo sie maßgeschneiderte Interventionen für ihre Klienten und Kunden entwickeln. http://www.besser-siegmund.de

Elke Hartmann-Wolff ist Redakteurin beim Magazin „Psychologie Heute“ und wingwave-Coach. Sie blickt auf eine langjährige Erfahrung im Nachrichtenjournalismus zurück.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2023

Covergrafik: © Olena Znak – iStock.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2023

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0505-0

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0506-7 (EPUB), 978-3-7495-0507-4 (PDF).

Zukunfts-ResilienzFuture Resilience

Natürlich interessiert mich die Zukunft – ich will schließlich den Rest meines Lebens darin verbringen!

Mark Twain (1835–1910)

Vorwort

Die Psyche der Menschen beschäftigt sich sowohl mit der Verarbeitung vergangener Erlebnisse als auch mit Ereignissen und Themen, die auf dem Lebensweg in der Zukunft liegen. Das Bedürfnis zu wissen, was die Zukunft mit sich bringt, ist uralt. Orakel gehörten schon immer zum Alltag der Menschen dazu, es gibt die Astrologie, die Prognosen von „Wirtschaftsweisen“ und in der Moderne auch die Idee von „Zeitmaschinen“. Menschen wünschen sich für ihre seelische Balance eine optimale Vorbereitung auf zukünftige Erlebnisse und entwickeln Zukunftsängste, wenn sie nicht so richtig wissen, „was da auf sie zukommt“. Inzwischen ist in der Literatur sogar die Diagnose „praetraumatische Belastungsstörung“ aufgetaucht: Der italienische Schriftsteller Paolo Giordano nutzt diesen Betriff in seinem Werk „Tasmania“, einem Roman über die Zukunft (Giordano, 2023). Zukunftserleben verursacht immer Emotionen. Und für den Umgang mit Emotionen brauchen wir ein wirksames Emotionsmanagement und manchmal auch ein Emotionscoaching – wie beispielsweise die wingwave-Methode.

Seit 2001 gibt es die von uns entwickelte Methode wingwave-Coaching mit inzwischen über 10.000 ausgebildeten Coaches in über 40 Ländern. Sie baut auf der Methode EMDR auf: Eye Movement Desensitization and Reprocessing. EMDR ist inzwischen weltweit als wirksame Traumatherapie bekannt. Hier geht es vor allem darum, Menschen bei der seelischen Bewältigung von belastenden Erlebnissen zu helfen, was dann wiederum die psychische Widerstandsfähigkeit, also die Resilienz, stärkt. Ein Merkmal der EMDR-Therapie ist die „alternierende bilaterale Stimulation – ABS“, die nachweislich die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gehirnbereichen verbessert. Man spricht hier von einer „funktionalen Konnektivität“ des Gehirns. Bei der ABS arbeitet man in den Interventionen mit wachen Augenbewegungen, mit links und rechts abwechselnden Tönen oder auch alternierenden Klopftechniken, genannt „Tapping“.

Wir entdeckten schon vor vielen Jahren, dass sich die EMDR-Methode nicht nur für die Verarbeitung von lebens- oder existenzbedrohlichen Traumata eignet. Die ABS wirkt generell auf das emotionale Erleben eines Menschen. Sehr schnell können sich die meisten Personen durch nur wenige Sessions oder auch Selbstcoaching-Übungen bezüglich ihrer behandelten Themen beruhigen, durchatmen, sich leichter und körperlich wohler fühlen oder gar befreit lachen. Daher nennen wir wingwave auch „Emotions-Coaching“. Es geht um das emotionale „Echo“ von Ereignissen „da draußen“, die in der inneren Welt eines Menschen eine Resonanz auslösen, und damit auch um das Thema Resilienz. Der Ansatz eignet sich also auch sehr gut für den Umgang mit Alltagsstress, für Lebensbewältigungsthemen, als Möglichkeit zur Leistungssteigerung und Potenzialentfaltung und für eine emotionale Stabilität im individuellen Zukunftserleben.

Also entwickelten wir den Einsatz von ABS weiter für die Anwendung im täglichen Leben auch von psychisch gesunden Menschen. Es kam noch ein gut beforschter Muskeltest hinzu, mit dem Coach und Coachee schnell durch die Überprüfung der individuellen Muskelkraft testen können, ob sich ein Klient einem Thema „gewachsen“ fühlt, es „verkraften“ kann oder nicht. Es gibt mittlerweile 28 Hochschulstudien zur Wirksamkeit der wingwave-Methode, wobei ein Phänomen uns besonders positiv überraschte: wingwave ist nicht nur ein „Stress-Buster“, sondern weckt und verstärkt positive Emotionen in den Menschen – vor allem hinsichtlich zukünftiger Ereignisse im Leben. In einer der wingwave-Studien wurden Menschen mit Redeangst gecoacht, und sie überwanden nicht nur ihre Angst und unangenehmen Gefühle bei der Erinnerung an „Auftritts-Pannen“, wie beispielsweise eine misslungene Abschlussprüfung. Viele von ihnen fanden es nach einem Emotions-Coaching mit wingwave sogar richtig gut, sich vor andere Menschen hinzustellen und ihnen etwas erzählen zu können. Sie bereiteten sich mit Vorfreude, Begeisterung, Entschlossenheit und Zuversicht auf ihren zukünftigen „Auftritt“ vor – und hatten dabei vom Zeiterleben her das Gefühl, ein schönes Erlebnis vor sich zu haben. Die Leiterin der Studie, die Gesundheitswissenschaftlerin Marie-Luise Dierks, führte sechs Monate nach der Studie nochmals eine Untersuchung mit den Probanden durch – und das Ergebnis der „positiven Emotionen“ hatte sich stabil gehalten (Dierks, 2015).

Seitdem interessiert uns das Thema „Zukunftspsychologie“ ganz besonders. Es geht hier um die Möglichkeit, mit ressourcevollen Gefühlen an die nahe und ferne Zukunft denken zu können. Wir entwickelten weiterführende Interventionen wie beispielsweise „das soziale Zukunftspanorama“. Ohnehin waren wir schon als junge Psychologen vom Ausspruch des berühmten Schriftstellers Mark Twain beeindruckt: „Natürlich interessiert mich die Zukunft – ich will schließlich den Rest meines Lebens darin verbringen!“

In diesem Buch möchten wir uns auf das Thema „resilientes Zukunftserleben“ konzentrieren und den Lesern verschiedene Mentalstrategien, Coaching- und Selbstcoaching-Möglichkeiten für eine aktive Gestaltung des individuellen Lebenswegs und eines motivierenden „Zukunftspanoramas“ vorstellen. Denn subjektiv angenehme und auch energievolle Gefühle beim Denken an die Zukunft zählen mit zu den wichtigsten Resilienzsäulen.

Wir wünschen Ihnen ein ressourcevolles Zukunftserleben und würden uns freuen, wenn dieses Buch dazu gute Inspirationen vermittelt.

Cora Besser-Siegmund, Harry Siegmund, Lola Siegmund & Elke Hartmann-Wolff

1.Einführung: Was ist Zukunfts-Resilienz?

Martin Luther rechnete im Mittelalter zu seinen Lebzeiten (1483–1546) dreimal mit dem bevorstehenden Weltuntergang – auf Englisch „Doomsday“. Trotz dieser Zukunftsszenarien leistete er zeitgleich den Kraftakt, die Bibel in die deutsche Sprache zu übersetzen, um sie für jeden verstehbar und überprüfbar zu machen – auch dieses Anliegen zählte zu seinen Zukunftsideen. Anscheinend war Luther ein resilienter Mensch, der in seinem Leben etwas bewegen wollte – Weltuntergang hin oder her. Man muss allerdings sagen, dass Luther sich den Weltuntergang nicht nur schrecklich, sondern auch positiv ausmalte, denn seiner Auffassung zufolge sollte danach die endgültige Errichtung des Reichs Gottes erfolgen, in dem er auch für sich selbst eher einen guten Platz vermutete. Mit Zukunfts-Resilienz meinen wir die Fähigkeit eines Menschen, die persönliche Zukunft trotz problematischer oder risikoreicher Prognosen nicht „düster“, sondern mit positiven Lichtquellen auf dem Lebensweg Richtung Zukunft wahrzunehmen. Nicht umsonst gibt es Begriffe wie „Hoffnungsschimmer“ oder das „Licht am Horizont“. Wir sprechen angesichts entsprechend heller Bereiche auf dem Lebensweg auch von der „Ressourcen-Timeline“ eines Menschen.

© iStock.com / clu

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Abbildung 1: Zukunfts-Resilienz: Martin Luther und der „Doomsday“

Der Begriff „Resilienz“ ist heutzutage weitverbreitet. Resilienz meint die psychische Widerstandsfähigkeit eines Menschen und die Flexibilität, auf die Herausforderungen des Lebens und unvorhergesehene Ereignisse mit Ressourcen, Kreativität und einer tragenden emotionalen Balance reagieren zu können. Vielleicht entsteht ein inneres Wanken, aber anstatt umzufallen, pendeln sich resiliente Menschen immer wieder auf ein stabiles inneres Gleichgewicht ein – wie ein Stehaufmännchen. Die Resilienzpsychologie hat „die sieben Säulen der Resilienz“ definiert – und eine davon ist die Fähigkeit eines Menschen zu einer positiven Zukunftsplanung. Der US-amerikanische Psychologieprofessor Jonathan Rottenberg fand beispielsweise mit seinem Team heraus, dass die Aussicht auf eine bessere Zukunft eine sehr wichtige Rolle für die seelische Gesundung eines Menschen spielt – sie ist laut seiner Forschung eine besonders große Hilfe zur Überwindung von Depressionen (Rottenberg, 2019).

Nun haben aber gerade die Ereignisse der letzten Jahre dem Zukunftserleben vieler Menschen arg zugesetzt und so manche positive Vision verdunkelt oder untergehen lassen. Wir wurden von der Pandemie überrascht und teilweise aus der Bahn geworfen, es gibt besorgniserregende Klimaveränderungen, schwere Erdbeben, die Energiekrise, und zum ersten Mal seit 1945 brach auf europäischem Terrain wieder ein Krieg mit internationaler Auswirkung aus. Die Medien berichten ununterbrochen über diese Ereignisse – und das Wort „Untergang“ ist wieder aktuell. Es kursiert der Begriff „Doomscrolling“ – damit meint man das fast zwanghafte, beständige Nachlesen und emotionale Berührtsein von „Untergangsnachrichten“, obwohl es der Psyche des Botschaftsempfängers in diesem intensiven Ausmaß oft nicht guttut. Zusätzlich darf man auch die alltäglichen News des Schreckens nicht vergessen, mit denen die Medien eifrig auf sich aufmerksam machen. Dabei entstehen dann so skurrile Stilblüten wie diese, die uns selbst mit einer Push-Nachricht per E-Mail erreichte:

Abbildung 2: Push-Nachricht vom 06.03.23: Hier will man uns mit den wichtigsten Storys der Woche auf dem Laufenden halten. Das nennt man dann „Best of“.

Viele Journalisten bestätigen uns, dass man als Freiberufler für die Meldung von Katastrophennachrichten wie verheerende Flutwellen, Flugzeugabstürze oder Gewaltverbrechen oft höhere Honorare erhält als für Informationen über positive und ermutigende Ereignisse. Daher möchten wir schon an dieser Stelle erwähnen, dass sich einige Journalisten und Redaktionen diesbezüglich ganz gezielt umgestellt haben. Beispielsweise gibt es von der Wochenzeitung Die Zeit online das Portal und den Newsletter „Gute Nachrichten“ (Gute Nachrichten, 2022), in dem regelmäßig gut recherchierte Informationen über positive Ereignisse auf der Welt publiziert werden. Wir empfehlen, diese Inhalte mindestens wöchentlich aufmerksam zu lesen, damit auch möglichst viele Ideen von positiven Bildern und Zukunftsszenarien vom Gehirn aufgenommen werden, die die Zukunfts-Resilienz stärken.

Im Mittelalter gab es die besten guten Nachrichten für die Zeit nach dem Weltuntergang, nachdem das Reich Gottes endgültig errichtet sein würde und die Menschen dann die Chance hätten, in den Himmel zu kommen – natürlich nur, wenn man auf Erden ein gottesfürchtiges Leben geführt hatte. Ansonsten drohte die ewige Verdammnis – darüber gab es recht schreckliche, von Künstlern angefertigte Bilder, welche die Menschen wahrscheinlich tief beeindruckten. Die mittelalterlichen düsteren Zukunftsideen entstammten religiös motivierten Überlegungen auf Basis des Alten Testaments. Heute wird bei vielen Menschen eine subjektive Untergangsstimmung nicht allein durch objektive Fakten über globale Krisen, sondern auch durch professionell gesteuerte Medienkampagnen mit gezielt platzierten Fotos, Videos und Texten erzeugt. Diese überspringen den Verstand und landen „subcortical“ direkt in unserem Emotions-Gehirn, dem limbischen System, wo sie einen lähmenden Tunnelblick auf die Zukunft und Doomsday-Visionen entstehen lassen.

Aber auch ohne das ständige Bombardement mit erschreckenden oder deprimierenden Bildern leiden etliche Menschen unter Zukunftsängsten, wenn sich die Aussichten plötzlich verändern. Ein Leben mit der Ungewissheit fällt vielen schwer. Ab 2020 organisierten wir eine Initiative von ehrenamtlich tätigen wingwave-Coaches zur psychosozialen Unterstützung von Menschen, die „rund um Corona“ beeinträchtigt und gestresst waren. Wir nannten unsere Initiative „Butterfly at Home“, da wir auch per Videocall „vor Ort“ waren, wenn Kinder, Jugendliche und Erwachsene beispielsweise unter „Social Distancing“ litten. Die Coachees füllten nach dem Coaching Fragebögen zu ihren Themen aus. Fast alle gaben an, dass sie unter Ungewissheit litten: Behalte ich meinen Job, wie geht es mit Ausbildung oder Studium weiter, fällt mein Praktikum aus, was wird aus meinem Kind und seinen Schulleistungen? Und natürlich auch: Bleibe ich gesund? Für sie war der wichtigste Wunsch, trotz der unerwarteten Krise wieder mit Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft blicken zu können. Ähnliche Ergebnisse hatten und haben wir auch mit unserem Charity-Coaching für geflüchtete Menschen. Viele bearbeiten in ihren Coachings gar nicht vergangene Erlebnisse, sondern Themen ihrer Zukunft: Wie geht es weiter? Wo wohne ich? Bekommen meine Kinder einen Schulplatz?

Insgesamt benötigen viele Menschen als „Doomsday-Gegenmittel“ das Konzept der Zukunfts-Resilienz für eine selbstwirksame und eigenständige Inszenierung ihrer „Welt im Kopf“, um ihre Zukunft kreativ, mit „eingeschaltetem präfrontalem Cortex“ und ressourcevoller Selbstwirksamkeit aktiv mitgestalten zu können – für sich und ihre Mitmenschen.

1.1 Resilienzforschung: Anfang und Zukunft

Als „Mutter der Resilienzforschung“ zählt die amerikanische Psychologin Emmy Werner. Zusammen mit ihrem Team untersuchte sie von 1955 an über 40 Jahre lang einen kompletten Jahrgang von 698 asiatischen und polynesischen Kindern, die auf der Insel Kauai geboren wurden (Werner & Smith, 2001). „Die starken Kinder von Kauai“ heißt ein Titel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2012, der auf die Forschungen von Emmy Werner eingeht. Warum „starke Kinder“? Ein Drittel von ihnen wuchs mit erheblichen Stressbelastungen auf wie Armut, chronischen sozialen Spannungen in der Familie oder Trennung der Eltern. Eigentlich wäre unter diesen Bedingungen nicht zu erwarten gewesen, dass sich diese Kinder psychisch gesund entwickeln und eines Tages ein seelisch ausgeglichenes, sogar erfolgreiches Leben führen könnten. Aber zur Überraschung des Forscherteams lebte immerhin ein Drittel von ihnen trotz widriger Lebensumstände später als Erwachsene ein zufriedenes Leben mit guten, anhaltenden sozialen Beziehungen und einem soliden beruflichen Werdegang. Die Forscher fanden dann eine Reihe von Faktoren heraus, welche diese „starken“ Kinder in ihrer Lebens- und Lerngeschichte oder auch in der Persönlichkeit gemeinsam hatten.

Später gab es eine Reihe von weiteren Studien zu diesem Thema, und heute ist die Resilienzforschung aus der modernen Psychologie nicht mehr wegzudenken. So gibt es in Deutschland beispielsweise an der Universität Mainz das Leibniz-Institut für Resilienzforschung – abkürzt LIR – mit einem großen Spektrum an Forschungsthemen. Hier spielt auch das Thema „Gehirnforschung“ – das sogenannte Neuroimaging – eine große Rolle. Tatsächlich kann man inzwischen durch Gehirnscans neurobiologische Nachweise für Resilienz erkennen. Beispielsweise untersuchte eine Forschergruppe unter der Leitung des Neurobiologen und Gehirnforschers Raffael Kalisch Gehirnregionen, die – allgemeinverständlich ausgedrückt – für Fehlermeldungen zuständig sind (Kalisch, 2014). Sie regulieren unsere Aufmerksamkeit, wenn etwas Unerwartetes passiert, und managen passende Coping-Strategien für überraschende Erlebnisse, die „die Welt durcheinanderbringen“ – und zwar die Welt im Kopf. Mit Coping meint man einen spontan einsetzenden „Problemlösungsmodus“, wenn Menschen mit Stresserlebnissen konfrontiert werden. Im Deutschen gibt es die schöne Metapher, dass man „den Stier bei den Hörnern“ packt. Coping ist also kein passives Warten, bis der „Sturm vorüber“ ist, sondern meint aktive Denk- und Handlungsstrategien, um der Welt mit ihren Freuden und Problemen kreativ und auch mit Stärke zu begegnen.

Anscheinend sind die besagten im Gehirnscan identifizierten „Fehlermelder-Bereiche“ bei resilienten Menschen – also bei emotionalen Überlebenskünstlern – zwar aktiv, zeigen aber keine Hyperaktivität, wie es bei Personen mit einem nicht so guten Resilienzvermögen der Fall ist. Das ist wohl der Grund dafür, dass resiliente Menschen zwar auch „erschütterbar“ sind, aber dann kreativ, aktiv und zuversichtlich mit Störquellen umgehen können. Sie registrieren zwar die Abweichung von der Erwartung, von den Werten, von der Norm ebenfalls als Stress, können aber ihr Stresserleben in Denk- und Handlungsfähigkeit umsetzen. Sinnigerweise lautet der englische Titel der Forschung von Raffael Kalisch und seinem Team: „Making a mountain out of a molehill“ (etwa „Aus einem Maulwurfshügel einen Berg machen“) (Kalisch, 2014). Im Deutschen entspricht dies der Metapher „Aus einer Mücke einen Elefanten machen“. Dieser Elefanteneffekt tritt anscheinend öfter bei Menschen mit einer permanenten Hyperaktivität im besagten Gehirnbereich auf: Sie fühlen sich oft komplett überwältigt und hilflos, wenn unvorhergesehener Stress auftritt, und verharren dann gelähmt in diesem Zustand.

Ein Fußballtrainer hat uns mal vor vielen Jahren gesagt: „Ich kann meine Mannschaft nicht so programmieren, dass ich sage: ,In der 32. Minute wird der Stürmer X vom gegnerischen Team von rechts kommen.‘ Wenn das nicht passiert, stehen meine Spieler plötzlich ohne Plan da. Ich bereite sie so vor, dass jederzeit von überall eine Überraschung im Spiel kommen kann. Es geht hier nicht um Spielzüge, die wir eingeübt haben. Es geht hier allgemein um Überraschungsfitness, Reaktionsschnelligkeit und Einfallsreichtum – darum, dass die Mannschaft einfach gut drauf ist.“ Das Wort Überraschungsfitness haben wir uns bis heute gemerkt.

Zu den Aufgaben der Resilienzforschung gehört nach wie vor die Fragestellung, inwieweit Resilienz angeboren ist oder durch die Erlebnisprägung und Lerngeschichte eines Menschen entsteht. Kann man übergreifende Metazustände wie „Überraschungsfitness“, Zuversicht, Hoffnung und Entschlossenheit überhaupt trainieren? Wie so oft beim Thema „Veranlagung oder Einfluss von außen“ kann die Psychologieforschung hier keine endgültige Antwort geben. Die Ergebnisse der Resilienzforschung liefern aber auf jeden Fall wertvolle Hinweise für die These, dass Resilienz auch erlernbar ist und durch Therapien und vor allem einen förderlichen Umgang in sozialen Beziehungen – natürlich auch in der Familie – gestärkt werden kann. In ihrem Buch Menschen stärken stellen etwa die Pädagogin Maike Rönnau-Böse und der Psychotherapeut Klaus Fröhlich-Gildhoff einige Studien zur Effektivität von Resilienzförderung vor (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2021). Der schon erwähnte Resilienzforscher Raffael Kalisch weist in seinem Buch Der resiliente Mensch allerdings darauf hin, dass es wissenschaftstheoretisch nicht ganz so einfach ist, Resilienz zu „messen“, da sie stets ein ganz individuelles Erleben des Einzelnen ist (Kalisch R., 2020). Dessen ungeachtet ist der Begriff „Resilienzförderung“ heutzutage vor allem auch in der Pädagogik und Sozialarbeit ein geflügeltes Wort. Es gibt Konzepte, die schon im Kindergarten und in der Schule die Resilienzfähigkeit von Kindern fördern können und sollen, damit sie gestärkt und mit einem positiven Zukunftsentwurf ins Leben gehen können.

1.2 Die sieben Säulen der Resilienz

Bevor wir uns konkret dem Zukunftserleben und auch dem Thema „Doomscrolling“ widmen, wollen wir noch die Faktoren anschauen, die nach den Erkenntnissen jahrelanger Forschung – angefangen mit den „starken Kindern von Kauai“ – das Resilienzvermögen eines Menschen ausmachen. Die Diplom-Psychologin Ursula Nuber hat die „sieben Säulen der Resilienz“ definiert (Nuber, 2019), und viele Resilienzexperten haben dieses Modell übernommen. Wir werden im Buch immer wieder näher auf die einzelnen Säulen eingehen, wenn wir die speziellen Möglichkeiten von Zukunfts-Resilienz aufzeigen – daher stellen wir sie hier nur als Aufzählung vor:

Akzeptanz und Zufriedenheit

Optimismus

Soziale Bindung und Netzwerk

Lösungsorientierung

Verlassen der Opferrolle und Übernahme von Verantwortung

Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, Selbstwirksamkeit

Zukunftsplanung

Die Zukunft ist das Zeitfenster der offenen Möglichkeiten, Vergangenheit und Gegenwart hingegen sind bereits „besiegelt“ und feststehende Tatsachen. Man kann die Zukunft auf sich zukommen lassen oder sich aktiv in sie hineinbewegen und sie mitgestalten. Hierzu benötigen wir einen funktionierenden Colliculus. Dieses wichtige Reaktionszentrum im Mittelhirn beschreiben wir später ausführlich. Jetzt wollen wir mit dem Begriff schon einmal neugierig machen und damit natürlich auch einen Anziehungspunkt fürs Weiterlesen setzen. Denn positive Spannung und Neugier sind ebenfalls wichtige „Zutaten“ für ein ressourcevolles Denken an die Zukunft. Und das später vorgestellte „Colliculus-Coaching“ ist eine Methode der Wahl, trotz Untergangsnachrichten seelisch stark und zuversichtlich zu bleiben.

Für die Resilienzsäule „Lösungsorientierung“ spielen nicht nur psychische Faktoren eine wichtige Rolle. Fachlich und sachlich gut informiert zu sein, ist ebenfalls eine wichtige Voraussetzung für eine konstruktive und an der Realität orientierte Zukunftsgestaltung. Dazu ist es unter anderem wichtig, sich über das Informations-management von Medien zu informieren, um Nachrichten und sogenannte News lösungsorientiert beurteilen und verarbeiten zu können, wozu das nächste Kapitel einen wichtigen Beitrag leistet.

2. Nachrichtenflut und Doomscrolling – der Datenhighway in unser Gehirn

Von Elke Hartmann-Wolff, Wissenschaftsjournalistin

Gänzlich unscheinbar wirken die bedruckten Blätter aus dem 16. Jahrhundert, dabei stellen sie eine Erfindung dar, die fortan unsere Vorstellung von der Wirklichkeit maßgeblich bestimmen sollte. Im Jahr 1502 tauchte zum ersten Mal das Wort „Zeytung“ als Überschrift auf einem Druckwerk auf, es bedeutete in jenen Tagen so viel wie „Nachricht“ oder „Botschaft“; schon bald wurde es zu einem Gattungsbegriff. Die Zeitung wurde zum ersten Massenmedium und läutete damit eine beispiellose Erfolgsgeschichte ein.

Anfangs lasen fliegende Händler der weitgehend analphabetischen Bevölkerung die Nachrichten auf Marktplätzen vor. Auf die Schlagzeile „Newezeytung von orient und auffgange“ etwa folgte ein Bericht über den Eroberungskrieg der Franzosen auf Lesbos. Man kann sich vorstellen, wie der sprachkundige Händler die versammelten Bürger mit seinen Schilderungen von apokalyptischen Ereignissen wie Kriegen, Hungersnöten, Naturkatastrophen und Seuchen in seinen Bann schlug.

Etwa 500 Jahre später tragen wir die Apokalypse in der Hosentasche mit uns herum. Rasch mittels Geheimzahl oder Gesichtserkennung das Smartphone entsperrt, einige wenige Fingerbewegungen auf dem Bildschirm, und schon spielen sich die dramatischen Ereignisse nicht länger in den entferntesten Winkeln unseres Planeten ab, sondern in den subkortikalen Windungen unseres Gehirns.

Seit der Einführung des Internets können wir uns rund um die Uhr und nahezu in Echtzeit über das Geschehen in der Welt informieren. Mit der Erfindung des Smartphones zudem an jedem Ort. Wir haben die Wahl aus einem schier unendlichen Angebot. Die Macher sind sowohl professionelle Medienunternehmer als auch mehr oder minder professionelle Amateure. Mitunter lässt sich schwer ausmachen, woher der „Content“, wie Inhalte heutzutage genannt werden, von Websites, Social-Media-Plattformen wie Twitter, Instagram, TikTok, Facebook oder Messenger-Apps wie Signal oder Telegram stammt. Wer fürchtet, auch nur eine Schlagzeile zu verpassen, aktiviert einfach die Benachrichtigungen und bekommt diese mit einem Warnton automatisch auf den Bildschirm geschickt. Die sozialen Medien sind zudem bewusst darauf angelegt, unser Belohnungssystem im Gehirn zu aktivieren. Erhält einer unserer Beiträge ein Like, wird das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet.1

Der digitale Strom an Informationen wird nicht nur immer breiter, er fließt auch immer schneller und reißt nie ab – aber immer häufiger die Nutzerinnen und Nutzer mit sich. Das noch recht junge psychologische Phänomen trägt den Namen „Doomscrolling“. Der Kunstbegriff setzt sich aus den englischen Wörtern „doom“, was so viel wie „Untergang“ und „Verderben“ bedeutet, und „scrolling“, der Verschiebung des Bildschirms, zusammen. „Doomscrolling oder auch Doomsurfing wird definiert als die übermäßige Zeitspanne, die Menschen der Aufnahme von dystopischen Nachrichten widmen.“ Daraus entwickele sich eine „manchmal suchtähnliche Tendenz, weiterhin durch schlechte Nachrichten zu surfen oder zu scrollen, auch wenn diese Nachrichten traurig, entmutigend oder deprimierend sind“.2

Unser Gehirn ist eine Prognosemaschine, durch die wir erfahren, wo uns Gefahr droht oder Belohnung in Form von Nahrung, sicherer Behausung oder Sex erwartet. Daraus hat sich ein evolutionsbiologisches Programm entwickelt, dem wir uns nicht entziehen können. Sein Fachbegriff lautet Negativitäts-Bias. Der Psychologe Roy Baumeister bringt diesen Verzerrungseffekt mit „Schlecht ist besser als gut“ auf den Punkt: „Organismen, die sich besser auf schlimme Dinge einstellen, dürften eine Bedrohung mit größerer Wahrscheinlichkeit überleben und somit ihre Gene weitergeben.“3

Beim Doomscrolling wendet sich dieser tief verankerte Trieb gegen uns. Auch wenn der Begriff erst seit dem Jahr 2018 im Internet kursiert und dann mit dem Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 in den Alltagswortschatz übergegangen ist, gehen Psychologen, Neurowissenschaftlerinnen und Medienforschende schon länger der Frage nach, welche Folgen der exzessive Medienkonsum nach sich ziehen kann. Mehrere internationale Studien konnten bereits einen negativen Einfluss von Doomscrolling auf unsere mentale und körperliche Gesundheit nachweisen.

Ein britisches Forscherteam kam zu dem Schluss: Die ausufernde Informationssuche „reflektiert die psychische Gesundheit der Nutzenden und beeinflusst sie gleichermaßen“, dadurch entstehe eine „Rückkopplungsschleife, die psychische Probleme verstärken und hervorrufen“ kann.4

Doch damit nicht genug. Doomscrolling beeinflusst zudem unsere Wahrnehmung. Der Medienforscher Bryan McLaughlin hat in einer repräsentativen Untersuchung herausgefunden, dass Menschen mit ausuferndem Nachrichtenkonsum „die Welt als ein dunkler, gefährlicher Ort erscheint“. Die Betroffenen verfielen dabei in eine Endzeitstimmung, in der sie alles Positive gar nicht mehr wahrnehmen können, mit gravierenden Folgen für das Wohlbefinden.5

Was geschieht dabei? Um zu begreifen, welche Mechanismen hier wirken, muss man verstehen, wie unser Gehirn mit der modernen Nachrichtenwelt interagiert. Nur die wenigsten Journalisten mögen wissen, was der Negativitäts-Bias bewirkt, dennoch haben die meisten von ihnen das Prinzip „bad is stronger than good“ verinnerlicht. Die Eröffnung eines Kindergartens? – eine Randnotiz. Ein Zugunglück? – Top News!

Die schreckliche Nachricht löst eine ähnliche Reaktion aus wie der Säbelzahntiger, der im Blickfeld unserer Vorfahren aufgetaucht ist. Sie triggert unsere interne Alarmanlage, ein Hirnareal namens Amygdala. Sie ist Teil unseres limbischen Systems und in der Lage, uns binnen Sekunden in den Notfallmodus zu versetzen. Dabei unterscheiden die subkortikalen Areale nicht zwischen virtuellen Bildern und der Wirklichkeit, beides löst eine unwillkürliche neurophysiologische Reaktion aus.

Forschende konnten diesen Mechanismus in einem breit angelegten Experiment in 17 Ländern nachweisen. Dabei wurden die Versuchspersonen jeweils in zwei Gruppen eingeteilt, eine Gruppe sah Videos mit Nachrichten über Lottogewinner, die andere Gruppe wiederum Aufnahmen von grausamen Kriegshandlungen. Die Wissenschaftler hatten vorab Sensoren an den Körpern der Probanden angebracht, um die elektrische Leitfähigkeit der Haut und die Varianz der Herzfrequenz während der Vorführung zu messen. Während bei den Versuchspersonen in der Lotto-Gruppe beide Parameter gleich blieben, zeigten die Teilnehmer der Kriegsbilder-Gruppe physiologische Reaktionen. So erhöhte sich die Leitfähigkeit der Haut, zudem stieg die Herzfrequenz, beide Parameter sind Indikatoren für eine Stressreaktion.6

Das Experiment beweist: Negative Nachrichten lösen eine komplexe Reaktion aus, bei der Botenstoffe wie Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet werden. Blitzschnell sind alle Sinne geschärft. Wir sind bereit, um unser Leben zu kämpfen. Flight or fight, flüchten oder fliehen. Ist die Gefahr vorüber, fährt der Körper wieder herunter. Doch diese Entwarnung findet bei Menschen, die ständig nach der nächsten katastrophalen Nachricht Ausschau halten, nicht mehr statt.

Der klinische Psychologe Loren Soeiro vermutet, dass vor allem bei außergewöhnlichen und neuartigen Bedrohungen die Amygdala zu schnell und leicht aktiviert und „das dadurch ausgelöste hyperaufmerksame Verhalten zum Zwang wird“. Die Betroffenen, so Soeiro, befänden sich deshalb in einem Zustand der permanenten Anspannung. In der Hoffnung, mehr Nachrichten würden ihnen neues Wissen verschaffen, das ihnen dabei helfen kann, zur Ruhe zu kommen, griffen sie noch häufiger zum Smartphone. Fatalerweise würden die Gestressten jedoch nur noch mit weiteren Hiobs-Botschaften überflutet.7

„Gefangen in einer gefährlichen Welt: Problematischer Nachrichtenkonsum und sein Einfluss auf das psychische und körperliche Wohlbefinden“ lautet der Titel einer groß angelegten Studie der Universität von Texas. Auch Studienleiter Bryan McLaughlin ist der Auffassung, Klimawandel, politische Konflikte und Pandemien lösten bei manchen Menschen einen ständigen Alarmzustand aus, der dann zu einer entgleisten Informationssuche führe. Bei rund 17 Prozent der Teilnehmenden wurde ein „hochproblematischer Nachrichtenkonsum“ festgestellt, sie gelten per Definition als „Doomscroller“. Die Kriterien hierfür: Die Betroffenen checken die Nachrichten mit wenig Kontrolle über ihr Verhalten; sie können sich schwer vom Bildschirm lösen. Gelingt es ihnen doch, kreisen ihre Gedanken danach lange um sie. Die Medienjunkies verloren jede Lebenslust und Lebensfreude. Drei von vier Befragten, die der Gruppe der Doomscroller zugerechnet wurden, berichteten zudem über Ängste, depressive Verstimmungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Magenschmerzen.

Anstelle auf bewährte Bewältigungsstrategien wie etwa Sport, Aufenthalte in der Natur, zwischenmenschliche Kontakte oder Entspannungstechniken zurückzugreifen, versuchten die Betroffenen, ihre Anspannung zu mindern, indem sie noch intensiver Nachrichten konsumierten. Die Forscher sehen darin eine „fehlangepasste Bewältigungsstrategie“. Fatalerweise glaubten die derart Gestressten, die Updates würden den Spannungszustand auflösen, was letztlich zu einem „obsessiven Verhalten“ führte, bei dem rund um die Uhr Nachrichten gecheckt wurden. Nicht wenige Doomscroller landeten so in einem „Teufelskreis“.8

Zum gleichen Ergebnis gelangten Wissenschaftler von der Universität von Florida, die Anwender von „Newsfeeds“ untersuchten. Nutzer können dabei eine Funktion aktivieren, die ständig aktuelle Nachrichten zu ausgewählten Themen auf das Smartphone schickt. Die Auswertung der Studie ergab, dass dies in hohem Maße zu einem „dysfunktionalen Verhalten“ führte, mit immer intensiverer Fokussierung auf schlechte Nachrichten. Das ständige Aufblinken von beunruhigenden Meldungen, so die Wissenschaftler, führe zu einem „negativen Gefühlserleben“ und einer sinkenden Lebensqualität.9

Auch wenn die Psychologen, Neurologen und Medienwissenschaftler noch nicht genau wissen, welche Rolle etwa genetische Faktoren oder die Neigung zu psychischen Erkrankungen spielen, damit jemand überhaupt zum Doomscroller wird, sind einige Risikofaktoren schon bekannt. Männer sind weitaus häufiger von dem Problem betroffen als Frauen. Jüngere Menschen zeigen öfter ein entgleistes Mediennutzungsverhalten als ältere. Ein Mangel an Schlaf kann sowohl eine Ursache als auch eine Wirkung sein.10

Die Gehirnforschung kann uns dabei helfen, unser irrationales und mitunter selbstschädigendes Medienverhalten besser zu verstehen. Der Psychologe und Neurowissenschaftler Stefan Kölsch hat sein gesamtes Berufsleben der Erforschung des Unterbewusstseins gewidmet. Blitzschnell erkennt es Gefahren und Belohnungen, lange bevor wir uns ihrer bewusst werden. Doch dabei unterlaufen ihm auch „Gefühlsfehler“. Kölsch spricht von der „dunklen Seite des Gehirns“, die dafür verantwortlich ist, dass wir uns beispielsweise in negativen Gedankenschleifen verlieren, ruinöse Fehleinschätzungen treffen oder Verzerrungen der Wahrnehmung erliegen. Dazu zählt auch die Verlustaversion, Kölsch nennt sie „Verlust-Frust“. Sie bewirkt: Was der Mensch einmal besitzt, will er behalten.

Sie ist in jedem von uns angelegt und bezieht sich nicht nur auf Gegenstände, sondern auch auf unsere Überzeugungen. „Wenn wir uns erst einmal eine Meinung über etwas gebildet haben oder eine Erklärung für etwas gefunden haben, nehmen wir unterbewusst vorzugsweise Dinge wahr, welche diese Meinung oder diese Erklärung bestätigen.“ Informationen oder gar Beweise, die unseren einmal gefassten Überzeugungen widersprechen, ignoriert oder lehnt das Unterbewusstsein einfach ab.11

Das Konzept des Bestätigungsfehlers (Confirmation Bias) kann uns im Weiteren dabei helfen zu verstehen, weshalb der überbordende Konsum von bad news dazu führen kann, dass wir die Welt nur noch als Hort des Grauens wahrnehmen. Dann nehmen wir weitestgehend nur noch jene Informationen auf, die unsere Erwartungen erfüllen. Gute Nachrichten, wie beispielsweise die seit Jahren steigende Lebenserwartung weltweit, passen nicht in dieses Raster und werden daher von unserem Unterbewusstsein einfach ignoriert.12

Für den Neurowissenschaftler Stefan Kölsch steht fest, dass der Journalismus ganz bewusst auf die Schwachstellen unseres Unterbewusstseins abzielt und diese gezielt instrumentalisiert: „Medien heizen oft mit emotionalen Nachrichten auf.“13

„If it bleeds, it leads“ lautet ein Slogan der Nachrichtenbranche, der an Zynismus nicht zu überbieten ist. Wörtlich übersetzt bedeutet er, „Wenn Blut fließt, steht es an der Spitze“ und meint, je brutaler eine Nachricht (wirkt), desto größer ist ihr Aufmerksamkeitswert und damit der Quoten- oder Verkaufserfolg.

Die evolutionären Mechanismen unseres Gehirns zu stimulieren, ist nicht mehr exklusiv den Menschen, die in der Medienbranche arbeiten, vorbehalten. Auch Maschinen sind längst in der Lage, unser limbisches System zu hacken. Wer auf sozialen Medien wie Instagram oder Facebook Videos und Posts zu aktuellen Krisen und Katastrophen sieht, bekommt im Anschluss gleich mehr davon vorgeschlagen. Suchmaschinen wie beispielsweise Google erfassen das Verhalten der Nutzer, erkennen darin Muster und empfehlen uns entsprechende Inhalte. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari schreibt in seinem Buch Homo Deus über die Allmacht der Algorithmen: „Sie werden uns besser kennen als wir selbst.“14

Und dennoch sind wir den medialen Mechanismen und Manipulationen nicht gänzlich ausgeliefert. Als Journalistin, die jahrzehntelang für renommierte Nachrichtenmedien gearbeitet hat, steht für mich der Wert einer freien Presse- und Medienlandschaft außerfrage. Deshalb halte ich eine Rundumverurteilung für wenig hilfreich. Wie aber können wir informiert bleiben, ohne in die beschriebene Abwärtsspirale zu geraten?

Ein erster Schritt besteht darin, zu verstehen, weshalb die schlechten Nachrichten eine solche Sogkraft auf unsere tief liegenden Strukturen ausüben. Vereinfacht gesagt, reagieren wir auf negative Informationen wesentlich stärker als auf positive. Zudem stufen wir negative Inhalte im Vergleich zu neutralen oder positiven Meldungen als glaubwürdiger ein. Wir sollten jedoch nicht vergessen: Die Nachrichten bilden keinesfalls die Wirklichkeit ab, sondern geben sie, einem Jahrmarktspiegel gleich, verzerrt wieder. Zudem werden die ausgewählten Themen und Ereignisse mit allen Mitteln der Kunst dramatisiert: Reißerische Schlagzeilen, die Darstellung von Opfern, Verletzten und Schäden zielen direkt auf unser limbisches System ab. Je greller, drastischer und emotionaler die mediale Darbietung, desto mehr Emotionen werden hervorgerufen.