Zwei Schwestern, ein Leben - Elizabeth Lesser - E-Book

Zwei Schwestern, ein Leben E-Book

Elizabeth Lesser

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Beschreibung

Eine faszinierende und mutige Erinnerung: die Geschichte zweier Schwestern, die die Tiefe ihrer Liebe durch eine Knochenmark-Transplantation erfahren. Als Elizabeth sieht, dass sie die perfekte Spenderin für Maggie ist, stellt sich ihr die Frage nach ehrlicher und authentischer Liebe noch einmal neu. In der Hoffnung, Maggie die beste Chance für eine erfolgreiche Transplantation zu geben, graben die Schwestern tief in das Mark ihrer Beziehung, um den Weg zu bedingungsloser Akzeptanz zu finden. Sie überlassen die Knochenmark-Transplantation den Ärzten, und nehmen sich dem an, was die kleine Schwester "Seelenmark-Transplantation" nennt. Maggies Körper ist letztlich zu schwach, um die Krankheit zu bekämpfen. Als sich die beiden auf das Unvermeidliche vorbereiten, kommen sie sich so nahe wie nie, die gemeinsamen Blutzellen werden zum Symbol der Bindung, die sie für immer teilen werden.

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Seitenzahl: 474

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Zum Buch

Eine faszinierende und mutige Erinnerung: die Geschichte zweier Schwestern, die die Tiefe ihrer Liebe durch eine Knochenmarktransplantation erfahren. Als Elizabeth sieht, dass sie die perfekte Spenderin für Maggie ist, stellt sich ihr die Frage nach ehrlicher und authentischer Liebe noch einmal neu. In der Hoffnung, Maggie die beste Chance für eine erfolgreiche Transplantation zu geben, graben die Schwestern tief in das Mark ihrer Beziehung, um den Weg zu bedingungsloser Akzeptanz zu finden. Sie überlassen die Knochenmarktransplantation den Ärzten und nehmen sich dessen an, was die kleine Schwester »Seelenmarktransplantation« nennt. Maggies Körper ist letztlich zu schwach, um die Krankheit zu bekämpfen. Als sich die beiden auf das Unvermeidliche vorbereiten, kommen sie sich so nahe wie nie, die gemeinsamen Blutzellen werden zum Symbol der Bindung, die sie für immer teilen werden.

Zur Autorin

ELIZABETH LESSERist New York Times-Bestsellerautorin und Mitbegründerin des Omega-Institutes, international anerkannt für seine Workshops und Konferenzen, die sich auf ganzheitliche Gesundheit, Psychologie, Spiritualität, Kreativität und sozialen Wandel konzentrieren. Vor ihrer Arbeit bei Omega war sie Hebamme und Geburtspädagogin. Sie wohnt mit ihrer Familie im Hudson Valley.

Elizabeth Lesser

Zwei Schwestern, ein Leben

Über Liebe, Trauer und das, was im Leben wirklich zählt

Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Brodd

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Marrow. A Love Story« bei Harper Wave, New York.1. Auflage

Deutsche Erstausgabe August 2018

© by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Elizabeth Lesser published by arrangement with HarperWave, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC

Umschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von Hannah Robinson/Harper Collins

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mr · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-20130-2V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für uns,

KaLiMaJo

INHALT

Präludium

Einleitung

ERSTER TEIL DIE MÄDCHEN

Telefonbomben

Die Mädchen

Gegen den Strom

An Bedingungen geknüpfte Wertschätzung

Was die Seele sagt

ZWEITER TEIL DAS MARK DER KNOCHEN

Die Übereinstimmung

Elpis

Blaue Löcher

Mutterzellen

Das Mysterium

Abwehr und Angriff

DRITTER TEIL DAS MARK DES SELBST

Baschert

Revolutionsschwestern

Ganz in unserer Nähe versteckt

Was ist die Seele?

Genius und Juno

Authentizitätsdefizitstörung

Das beglaubigte Handbuch menschlicher Kindererziehung

Das Gesicht meiner Mutter

Anna Karenina zum dritten Mal lesen

VIERTER TEIL DIE TRANSPLANTATION

Der Ort

Wahrheits-Schmerzen

Die Ernte

Sei vorsichtig, wenn dir ein Nackter sein Hemd anbietet

Das Wort

Besonders

Stromaufwärts schwimmen

Chimära

Stärke zu Stärke

Lieber Deepak

Amor Fati

Gleich und gleich, und doch ganz anders

FÜNFTER TEIL DIE TAGE DAZWISCHEN

Pflaumenmus

Weitere Sonnenuntergänge

Wurzeln und Samen

Mutterliebe

Schwestern

Keine voreiligen Schlüsse ziehen

Die perfekte Übereinstimmung

Beten

SECHSTER TEIL VERWILDERTE SAMEN

In Würde sterben

Eine Meditationsstunde am Zentrum für Schädel-Hirn-Traumata

Der Tod meiner Mutter

Manipura

Silvester

Die Art von Vogel, die dir sagt wie

Das Vollenden des Curriculums

Epilog

Danksagung

PRÄLUDIUM

An einem wunderschönen Tag im August, oberhalb des Flathead Lake in Montana, will ich mich gerade auf den Weg zu einer Hochzeit machen, auf der ich das Paar trauen werde. Nicht dass ich das Recht dazu hätte, Menschen zu verheiraten. »Ich bin Schriftstellerin, keine Pastorin«, erinnerte ich meine jungen Freunde, als sie mich darum baten, die Trauung zu vollziehen. Aber das war ihnen egal. Ich kenne beide seit ihrer Kindheit. Unsere Leben sind durch ihre Freundschaft zu meinen Kindern eng ineinander verwoben und dadurch, dass ihre Eltern wiederum zu meinen besten Freunden zählen. Und alle sind wir Teil eines riesigen Freundeskreises, der seit vielen Jahren fest zusammenhält. Um ein weiteres Glied in der Kette dieses Bundes zu feiern, haben wir uns alle hier in Montana getroffen.

Ich stehe in der Einfahrt des Ferienhauses und blicke hinaus auf den riesigen See, der in der Ferne von den zerklüfteten Gipfeln der nördlichen Rocky Mountains begrenzt wird. Während ich auf meinen Mann und unsere Söhne warte, lasse ich auf mich wirken, wie die Sonne im Glacier National Park die Schneefelder zum Strahlen bringt. Ich blicke in den weiten Himmel und über die schier endlos anmutende Wasseroberfläche. Die Landschaft wirkt dramatisch, distanziert – es ist einer dieser Orte, der einer Neuengländerin wie mir den Atem raubt.

Mein Handy klingelt. Ich überlege kurz, ob ich es einfach ausschalten soll. Ich bin im Urlaub. Heute ist ein besonderer Tag. Meine Kinder sind hier, und meine Freunde. Mit wem sollte ich also dringend telefonieren müssen? Ich werfe einen Blick auf die Nummer, der Anruf kommt aus Vermont. Meine Schwester. Und so fängt alles an.

»Liz? Ich bin’s, Maggie.«

»Maggie?«, frage ich. Ihre Stimme klingt tiefer als sonst. Düster. Mein Herz schlägt schneller. Maggies Stimme klingt nie düster. Sie ist einer dieser Menschen, die von Kolibris abstammen. Sie ist zierlich und leicht, und sie lässt sich nie lange genug neben dir nieder, dass du erfahren könntest, was in ihrem Kopf vorgeht. Immer in Bewegung. Hier. Dort. Weg. Wieder da.

»Was ist los?«, frage ich.

»Ich bin krank.« Das ist alles, was sie sagt. Ein Abgrund, der breiter ist als ganz Montana, tut sich vor uns auf. Wir stürzen beide hinein.

»Krank? Wie krank?«

»Krebs«, flüstert sie. »Ich bin sehr krank.«

Jetzt sind es ihre Worte, die mir den Atem rauben. Irgendwann frage ich sie, was passiert ist, und sie erzählt mir eine chaotische Geschichte über seltsame Symptome, die sie zuerst ignoriert hat und irgendwann später als Anzeichen einer bestimmten Krankheit deutete, nur um dann herauszufinden, dass sie zu etwas ganz anderem gehörten. Krebs. Malignes Lymphom. Die Art von Krebs, an der sie bald sterben wird, wenn sie keine Therapie beginnt.

Wenn irgendjemand gerade jetzt keinen Krebs hätte kriegen sollen, dann meine kleine Schwester Maggie. Nachdem sie jahrelang mit dem Jungen von nebenan verheiratet gewesen war, ihrer Highschool-Liebe, dem Mann, der sie geformt hat, ist meine Schwester ziemlich blitzartig Single geworden, ungebunden, auf sich selbst gestellt. Eine Frau, die ein Bilderbuch-Zuhause erschaffen hat, ist von einem Tag auf den anderen obdachlos – mal hütet sie hier das Haus von Freunden, mal dort. Ihre Kinder im College-Alter driften umher wie Planeten, die man von der Schwerkraft entbunden hat. Ist es besser für Maggie, dass unsere Mutter gerade erst und unser Vater bereits vor ein paar Jahren gestorben sind? Dass sie nicht mit den Sorgen der Eltern über ihre Krankheit konfrontiert wird und deren Urteil über das Scheitern ihrer Ehe?

Ich spüre, wie quer über das ganze Land eine Kraft auf mich einwirkt, die tief in meinem Inneren ein Echo findet, das sie noch stärker wirken lässt. Als gäbe es einen Magneten in meinem Körper, der bebend auf die Anziehungskraft meiner Schwester reagiert. Welcher Teil liegt am tiefsten im Inneren des Körpers? Ist es das Blut? Sind es die Knochen? Das Mark der Knochen? Ich weiß noch nicht mal, was genau das ist: das Mark der Knochen. Ich werde es bald erfahren.

EINLEITUNG

Dieses Buch erzählt von einer Liebesgeschichte. Vor allem von der Liebe zwischen zwei Schwestern, aber auch von der Güte, die man sich selbst gegenüber an den Tag legen muss, um einen anderen Menschen aufrichtig zu lieben. Sich selbst lieben, den anderen lieben: zwei Stränge im Geflecht der Liebe. Ich habe diese beiden Stränge in vielen Beziehungen zu einem festen Band verflochten, mal mehr, mal weniger gekonnt. Ich habe es in beide Richtungen vermasselt, indem ich manchmal zu ichbezogen war und manchmal die Märtyrerin spielen wollte. Ich kannte meinen eigenen Wert nicht, und ich wusste den wahren Wert meines Gegenübers nicht zu schätzen. Jemanden auf eine gesunde Art und Weise zu lieben, heißt, die richtige Balance zu finden. Es ist eine Lebensaufgabe. Es ist eine Kunst. Und genau darum geht es in diesem Buch.

Meine Schwester hatte schon einmal Krebs, sie hatte ihn besiegt. Als der Krebs nach sieben Jahren in Remission zurückkehrte, als man uns sagte, dass dieses Mal eine Knochenmarktransplantation ihre einzige Überlebenschance sei, als sich nach den Tests herausstellte, dass mein Knochenmark perfekt mit ihrem Knochenmark übereinstimmt, als wir uns darauf vorbereiteten, körperlich und seelisch, zu geben und zu empfangen, als mir meine Spende entnommen wurde, als sie meine Stammzellen erhielt, die zu ihren Blutzellen wurden, während unserer gemeinsamen Reise durch das Dickicht aus Verzweiflung und Hoffnung, während des besten Jahres ihres gesamten Lebens, wie sie es selbst nannte, als der Krebs zurückkehrte, als sie das Ende vor Augen hatte, als sie starb – während also all das passierte, nahm ich die Stränge meiner selbst in die Hand und flocht sie mit denen meiner Schwester zu einem Band, und endlich machte ich alles richtig. Obwohl »alles richtig machen« viel disziplinierter und endgültiger klingt, als es die Liebe je sein könnte. Wenn es um Liebe geht, gibt es keinen Zehn-Punkte-Plan, »wie man es richtig macht«. Keine mathematische Formel, wann man verletzlich und wann man stark sein soll, wann man abwarten und wann man weitermachen, wann einlenken und wann ein unbarmherziger Krieger sein soll. Liebe ist chaotisch, Liebe ist ein Tanz, Liebe ist ein Wunder. Die Liebe ist außerdem stärker als der Tod, aber ich bin selbst noch dabei, das zu lernen.

An dieser Stelle muss ich hinzufügen, dass es noch einen weiteren Strang gab, den meine unglaublich starke Schwester mitbrachte, um das Band der Liebe zu vervollständigen, und durch den sie mich inspirierte, es ihr gleichzutun. Es ist der verborgene Strang, derjenige, den der Philosoph Friedrich Nietzsche »Amor fati« nannte – Liebe zum Schicksal. Nietzsche beschrieb Amor fati als die Fähigkeit, unser Schicksal nicht einfach nur als gegeben hinzunehmen, sondern es zu lieben. Das ist ziemlich viel verlangt. Denn Mensch sein heißt, mit der Art von Schicksal zu leben, das wundersame wie schreckliche Dinge willkürlich verteilt. Niemand kommt ohne ein gewisses Maß an Verwirrung und Angst, Schmerz und Verlust durchs Leben. Was soll man daran lieben? Trotzdem, wenn man Ja sagt zu Amor fati, wenn man sich darin übt, die Fülle des eigenen Schicksals zu lieben, wenn man den dritten Strang des Liebesbands in die Hand nimmt, dann wird man Fäden aus Vertrauen, Dankbarkeit und Lebenssinn durch das eigene Leben weben. Manch einer wird die Auffassung, das eigene Schicksal zu lieben, als Kapitulation oder Naivität zurückweisen; ich sage, dass es der Weg zur Weisheit ist und der Schlüssel zur Liebe.

Wenn ich über Liebe rede, dann meine ich damit nicht romantische Gefühle. Romantik ist gut. Ich mag sie sehr. Sie ist feurig und macht Spaß. Aber sie macht lediglich einen kleinen Teil der Liebesgeschichte aus. Es ist ein Fehler, den weiten Ozean der Liebe auf eine kleine romantische Flamme zu reduzieren und anschließend alle Energie darauf zu verwenden, diese Flamme davor zu bewahren herunterzubrennen. Durch dieses Verhalten machen wir kurzen Prozess mit den allermeisten unserer Liebesbeziehungen: mit unseren Eltern, Geschwistern, Kindern, Freunden, Kollegen und natürlich mit unseren Partnern, sobald die erste Leidenschaft verflogen ist. Das Streben nach ewiger Romantik wie in einem Märchen ist albern. Stattdessen verleihen wir doch lieber gemeinsam mit einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Leuten einer anderen Art von Liebe Kraft, und zwar unser ganzes Leben lang. Es braucht Mut, auf gesunde Art zu lieben, und es ist Arbeit, wichtige Beziehungen zu erhalten, aber ich verspreche Ihnen, dass es möglich ist. Es ist das, wonach sich unsere Herzen wirklich sehnen.

Während Sie das hier lesen, erinnern Sie sich vielleicht an die abgestumpften oder lädierten oder kaputten Beziehungen in Ihrem eigenen Leben. Vielleicht denken Sie gerade, sie kennt meine Schwester nicht, meinen Bruder, meinen Ex-Partner, mein Kind, meinen Chef, Freund, Partner. Und Sie haben möglicherweise Recht – man kann nicht jede Beziehung heilen oder am Leben erhalten. Manchmal müssen wir Dinge beenden oder den Heilungsprozess aus eigener Kraft vollziehen. Dennoch lautet mein Rat, dass die meisten unserer wichtigen Beziehungen repariert, besänftigt, vertieft werden können. Und ich behaupte, dass die Vertiefung einer einzigen Beziehung viele Wunder bewirken kann – hinsichtlich Ihres Blickwinkels auf andere Menschen, Ihre Arbeit, Ihr Schicksal.

Ich gebe Ihnen diese Ratschläge, weil das Verhältnis zwischen meiner Schwester und mir mit dem vieler Menschen, Paare, Geschwister vergleichbar ist. Wir waren keine perfekten Menschen, wir hatten unsere Eigenarten, die unsere Fähigkeit zu lieben manchmal verstärkten, manchmal behinderten. Wir waren uns in vielem ähnlich, aber dennoch verschieden genug, um keinem Missverständnis aus dem Weg zu gehen, Urteile über uns zu fällen oder uns zurückzuweisen. Manchmal standen wir uns nahe, und manchmal waren wir uns völlig fremd. Und wie die meisten Menschen – und ganz bestimmt die meisten Geschwister – karrten wir säckeweise alte Geschichten, Ressentiments und Dinge, die wir bereuten, mit uns durch die Gegend. Wir schleppten diese Säcke von der Kindheit hinein in unser Erwachsenenleben, hinein in andere Beziehungen, hinein ins Büro, in unsere eigenen Familien. Wir hielten die Geschichten in den Säcken für wahr – Geschichten, die wir über uns gehört und uns gegenseitig erzählt hatten. Wir haben diese Säcke nie ausgepackt und uns gezeigt, was sich darin befand.

Bis wir dazu gezwungen waren.

In den Jahren zwischen der ersten Krebsdiagnose meiner Schwester und dem letzten Rezidiv lebte meine Schwester ein außergewöhnlich erfülltes Leben. Sie erschuf noch einmal ein Zuhause für sich und ihren neuen Mann; sie widmete ihr Leben ganz und gar ihren Kindern, ihrer Arbeit und ihrer Kunst; sie überwand mehrere gravierende gesundheitliche Krisen; und sie lernte, mit der Angst und den Schmerzen umzugehen, denen man als Überlebende einer Krebserkrankung ausgesetzt ist. Ihr Leben stabilisierte sich, genau wie unsere Beziehung und mein eigenes Leben. In dieser Phase tat ich, womit sich viele Autoren die Zeit vertreiben: Ich begann mehrere Bücher zu schreiben, brachte aber keins davon zu Ende. In meinen ersten beiden Büchern hatte ich mein eigenes Leben verarbeitet. Aber ich hatte es satt, über mich selbst zu reden. Also beschloss ich, einen Roman zu schreiben. So konnte ich meine eigene Geschichte (und die der armen Menschen, die das Pech haben, mit mir verwandt zu sein) hinter erfundenen Charakteren verbergen. Aber ein Roman war etwas ganz anderes als das, was ich vorher geschrieben hatte, und es gelang mir nicht, mich bis zum Ende einer Geschichte durchzukämpfen. Ich fing eine Fabel und schließlich eine Essaysammlung an, aber der Funke sprang einfach nicht über.

Das Buch, das ich am dringendsten schreiben wollte, war ein Buch über Wahrhaftigkeit, über die Sehnsucht, authentisch zu sein. Der Grundgedanke war, dass sich hinter dem Geplapper des Geistes und dem Stürmen des Herzens ein wahreres und substanzielles Selbst befindet, ein Wesenskern, eine Seele. Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber das Leben hat mich an den Punkt gebracht, dass ich weiß, dass das strebsame und verunsicherte Ego nicht die ganze Wahrheit darüber aussagt, wer ich bin, oder wer Sie sind. Immer öfter, durch kurze Einblicke während einer Mediation oder eines Gebets, durch ein freundliches Wort oder mutiges Verhalten und manchmal auch nur dadurch, dass ich eine Tasse Kaffee am Morgen trinke oder ein Glas Wein mit Freunden am Abend, fühle ich mich ziemlich plötzlich verbunden mit der Fülle des Daseins, die mich aus meinem Dornröschenschlaf weckt. Es ist, als riefe Gott uns der Reihe nach auf, und ich recke meine Hand in die Höhe und melde mich: »Hier!« Es passiert in den merkwürdigsten Momenten. Ich schiebe gerade den Einkaufswagen durch den Supermarkt oder fahre nach einem langen Arbeitstag nach Hause, wenn plötzlich Gnade herabsinkt und ich befreit bin von der Illusion, dass ich doch nur eine verschrobene, unvollkommene, überforderte Person bin. Stattdessen spüre ich hinter den angenommenen Rollen ein würdevolleres Wesen – eine edle Seele, die vertrauensvoll durch die menschliche Erfahrung gleitet, verbunden mit allem und jedem, wissend um die Herrlichkeit im Herzen der Schöpfung.

Über dieses Selbst wollte ich ein Buch schreiben – das Seelen-Selbst, das authentische Selbst, das wahre Selbst. Ich wollte erforschen, warum wir vergessen, wer wir sind und wie wir uns wieder daran erinnern können. Ich dachte bereits geraume Zeit über dieses Buch nach, mindestens seit meiner Arbeit am Omega Institute, einem Retreat- und Tagungszentrum, das ich 1977 mit Freunden gegründet hatte, als ich Mitte zwanzig war. Durch meine Arbeit hatte ich es mit einem breiten Spektrum von Menschen zu tun – Hundertausende Workshop-Teilnehmer aus der ganzen Welt sowie berühmte Autoren und Künstler, Ärzte und Wissenschaftler, Philosophen und spirituelle Lehrer, die an unser Institut gekommen sind, um Menschen auf ihrem Weg der Heilung und des Wachstums zu helfen. Für mich ist es ein guter Arbeitsplatz, da ich ein dreister Voyeur bin und nie an meiner Bestimmung im Leben gezweifelt habe: der Beobachtung von Menschen. Darüber nachzugrübeln, was hier auf Erden eigentlich los ist und warum es uns so schwerfällt, scheinbar einfache Instruktionen tagtäglich aktiv umzusetzen – Instruktionen wie die Bibelsprüche »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« oder Shakespeares »Dies über alles: sei dir selber treu!«

Nach intensiver Beschäftigung stellt man irgendwann fest, dass die meisten allgemeingültigen Sprichwörter, die uns Menschen seit Jahrhunderten durchs Leben führen, alle die gleichen Gedankenspiele in den Mittelpunkt stellen: Selbstliebe, selbstlos zu geben, sich selbst treu zu sein. Aber diese Richtschnur hat einen Haken: Es wird vorausgesetzt, dass wir wissen, was dieses Selbst ist. Irgendjemand hat vergessen zu erwähnen, wie lange es dauert, den erhellenden Samen im Innersten des eigenen Ich-Seins zu entdecken. Diesem Selbst treu zu sein bedeutet, dass Sie die miesen Ratschläge und unsinnigen Erwartungen der anderen sorgfältig unter die Lupe nehmen sollten. Es setzt voraus, dass Sie Ihren Größenwahn und Ihre Versagensängste durchschauen, Ihr Felix-Krull-Syndrom oder Ihren festen Glauben daran, Ihr ganz spezielles Selbst sei auf einzigartige und schlüssige Weise neurotisch.

Mein Arbeitsleben begann als Hebamme. Ich habe genug Babys auf die Welt geholt, um zu wissen, dass jeder von uns diese Erde im Besitz eines strahlenden, reinen, durch und durch guten Selbst betritt. Das wurde mir jedes Mal bestätigt, wenn ich die Haut eines gerade erst geborenen Babys berührt und in seine Augen gesehen habe. Ich habe sein Selbst gesehen. Ich habe ihr Selbst gesehen. In jedem Baby habe ich ein ganz individuelles Selbst wahrgenommen wie kein anderes je zuvor – eine einzigartige, bedeutungsvolle Mischung aus Biologie, Abstammung, Kultur, begleitet von kosmischen Einflüssen, die wir kaum begreifen können.

Und dann werden wir älter, werden erwachsen und verbringen so viel unserer Zeit damit, uns in der eigenen Haut nicht wohlzufühlen – fast so, als schämten wir uns dafür, Menschen zu sein. Wir entwerten das ursprüngliche Selbst, und wir überdecken es, Schicht für Schicht, auf unserem Lebensweg. Daher wollte ich, dass mein nächstes Buch ein Reiseführer für eine großartige Entdeckungsreise wird. Howard Thurman, Philosoph, Theologe, Pädagoge und Bürgerrechtsaktivist, schrieb: »Jeder von euch trägt etwas in sich, das auf den Klang des wahren Selbst in euch wartet und ihm zuhört. Denn das ist der einzige wahre Lotse, den ihr jemals bekommen werdet.« Was könnte besser sein, als über das Zuhören zu schreiben und darüber, wie man dem einzigen wahren Lotsen folgt, den man je haben wird?

Aber irgendetwas bremste mich, als meine Finger über der Tastatur schwebten. Vielleicht lag es an meinen zwiespältigen Gefühlen gegenüber der Literatur zum Thema »authentisch sein«. Sie ist oft dumpf narzisstisch. Ein Buch darüber, wie man dem Selbst gegenüber treu bleibt, liest sich schnell wie ein Handbuch, das zum Beitritt in eine Ein-Personen-Sekte rät. Wenn Sie versuchen, selbst einmal darüber zu schreiben, werden Sie merken, wie schnell man mitten in einem ewig gültigen Paradox landet: wie die Erkenntnis des Selbst, die Liebe des Selbst und die Wertschätzung des Selbst komplett in die Hose gehen, wenn sie nicht dazu führen, dass man die anderen versteht, respektiert und liebt.

Und dann wäre da noch die schwierige Frage: »Was ist das Selbst?« Ist es nur ein Bündel aus neuralen Impulsen, die kurz aufblitzen und von Fleisch und Schwerkraft zusammengehalten werden? Und wenn dieses Aufblitzen vorbei ist, wird unser Körper dann zu Staub und löst sich unser persönliches Ego in der kosmischen Suppe auf? Oder ist jeder Einzelne von uns substanzieller als das? Sind wir spirituelle Wesen mit einer Erfahrung des Menschseins? Lebt unsere Seele weiter, wenn sie erst einmal befreit ist von den Grenzen des Körpers und des Egos? Und wenn wir, als Menschen, auf unser authentisches Inneres hören, nehmen wir dann wirklich das Lied der ewigen Seele wahr?

Obwohl ich wusste, dass ich diese Fragen niemals endgültig beantworten würde (weil das noch niemand getan hat), wollte ich so tief wie möglich in das Mysterium, das hinter ihnen stand, eintauchen. Vielleicht gibt es auf diese Fragen keine konkreten Antworten, aber die Suche nach ihnen führt uns näher heran an die Art von Leben, nach dem sich jeder von uns sehnt. Ich bin vielleicht nicht in der Lage, die ganz großen Fragen zu beantworten, aber ein paar Dinge weiß ich ganz sicher: Ich weiß, dass Menschen, die von der Würde und der Herzensgüte ihrer wahren Natur gekostet haben, eher in der Lage sind, auch die Würde anderer zu erkennen und zu respektieren. Wenn ich weiß, dass ein authentisches Selbst in mir wohnt, das edel und heilig ist, dann ist es bei Ihnen genauso. Das alles klingt jetzt vielleicht selbstverständlich, aber es ist einer der größten Stolpersteine der Menschheit – dieses Gefühl von »Ich gegen den Rest der Welt«. Statt Seite an Seite zu reisen, sich gegenseitig zu unterstützen, wenn wir hinfallen, und voneinander zu lernen, wenn wir aufstehen, verteidigen wir uns. Wir greifen einander an und versuchen, alles allein zu schaffen. Statt uns gegenseitig in strahlender Wahrhaftigkeit zu feiern, konkurrieren wir miteinander, als gebe es nur eine begrenzte Menge Glanz auf der Welt. Als könne man das eigene strahlende Selbst nur vor dem Hintergrund des herabgesetzten Selbst des Gegenübers sehen.

Der Wunsch, das authentische Selbst durch die Heilung unserer Beziehungen zu befreien, und damit den Umgang mit unseren Mitmenschen zu verbessern, wurde zu meinem ausschlaggebenden Motor. Ich wollte über Wahrhaftigkeit und die Sehnsucht nach Authentizität schreiben. Denn trotz der vielen wunderbaren technischen Möglichkeiten, die Menschen miteinander verbinden, gibt es immer noch Einsamkeit, so viele Missverständnisse und so viel Entfremdung in der Welt. Beziehungen zu knüpfen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wir wollen verstanden werden, gesehen, akzeptiert, geliebt. Wir wollen uns gegenseitig etwas bedeuten. Wir wollen eine Verbindung herstellen, von Seele zu Seele.

Also tastete ich mich an das Thema heran und versuchte, ein Buch zu gestalten, das Licht werfen könnte auf den Weg, der zu einem authentischen, wahrhaftigen Selbst führt, einem Selbst, das jeder Beschreibung spottet und dennoch darum bittet, entdeckt zu werden. »Man kann nicht unverblümt über die Seele schreiben«, lamentiert Virginia Woolf in ihren Tagebüchern. »Sieht man hin, verschwindet sie.« Und trotzdem will ich hinsehen.

Als ich in der kosmischen Lotterie den Hauptgewinn gezogen und als perfekter HLA-identischer Abgleich für das Knochenmarktransplantat meiner Schwester getestet wurde, tat ich das, was ich oft tue, wenn ich Angst habe: Ich mutierte zum Amateur-Wissenschaftler. Es gefällt mir nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Lieber wappne ich mich mit Wissen, selbst wenn aus diesem Wissen möglicherweise irgendwann eine Art Sand wird, unter dem ich mich begrabe. Aber in diesem Fall ging meine Erforschung von Knochenmark, Stammzellen und den Wundern eines Transplantats weit über das bloße Erwerben von Wissen hinaus. Und das, was meine Schwester und ich erlebten, war viel mehr als nur ein medizinisches Vorgehen.

Ich bekam heraus, dass eine Knochenmark- oder Stammzellentransplantation für den Empfänger gefährlich ist. Noch monatelang nach der Prozedur würde meine Schwester lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt sein. Erstens könnte ihr Körper sich gegen die Stammzellen wehren, die meinem Knochenmark entzogen und in ihren Blutkreislauf eingespeist werden. Zweitens greifen meine Stammzellen, wenn sie sich erst mal im Körper meiner Schwester befinden, möglicherweise ihren neuen Wirt an. Abwehr und Angriff. Beides könnte sie töten. Die Mediziner taten alles dafür, um zu gewährleisten, dass nichts davon passieren würde. Was, wenn Maggie und ich sie dabei unterstützen könnten? Was, wenn wir das Funktionieren des Knochenmarktransplantats den Ärzten überließen und eine andere Art von Transplantation durchführten? Was, wenn wir uns im Mark unserer Seelen begegnen und den Drang überwinden könnten, den anderen ein Leben lang abzuwehren und anzugreifen?

Viele Menschen sagen, es sei mutig von mir gewesen, mich der Knochenmarkgewinnung zu unterziehen. Aber ich sehe das anders – man müsste schon einen jämmerlichen, miesen Charakter haben, um die Chance, einem Geschwister das Leben zu retten, zu verweigern. Sich hingegen emotional vor der eigenen Schwester nackt auszuziehen – das fühlte sich riskant an. Das tiefe Eintauchen in unausgesprochene Vorwürfe, heimliche Schamgefühle, Hinter-dem-Rücken-Lästereien, Schuldzuweisungen und Verurteilungen war nichts, was wir vorher schon mal gemacht hatten. Aber das Leben meiner Schwester stand auf dem Spiel. Und deshalb öffneten wir im Laufe eines Jahres unsere Herzen, manchmal mit der Unterstützung eines Lotsen, aber hauptsächlich auf Spaziergängen und bei einer Tasse Kaffee, manchmal nur wir beide, und manchmal gemeinsam mit unseren anderen beiden Schwestern. Wir ließen die Vergangenheit hinter uns, und wir wanderten gemeinsam an einen Ort der Liebe.

Was ich von diesen beiden Transplantationen – der Knochenmarktransplantation und der Seelenmarktransplantation – gelernt habe, ist, dass sich das Mark der Knochen und das, was ich das Mark der Seele nenne, ziemlich ähnlich sind. Tief im Inneren der Knochen befinden sich Stammzellen, die einen anderen Menschen am Leben erhalten können, vielleicht nicht für immer und ewig, aber für eine gewisse Zeit, und was meine Schwester betraf, für das, was sie selbst als das beste Jahr ihres Lebens bezeichnete.

Tief im Inneren des Selbst befinden sich die Seelenzellen, die bestimmen, wer wir wirklich sind. Suchen Sie nach ihnen in der Tiefe, glauben Sie an sie und schenken Sie sie einem anderen Menschen. So können Sie gegenseitig Ihre Herzen heilen und die Liebe für immer am Leben erhalten.

Und da ist noch etwas, das ich gelernt habe. Warten Sie nicht auf eine Situation, in der es um Leben oder Tod geht, um jemandem das Mark Ihrer selbst zu schenken. Tun Sie’s einfach, tun Sie’s jetzt, denn davon könnte auch unser Menschensein als solches abhängen.

In diesem Buch werden Sie Schnipsel aus dem Tagebuch meiner Schwester entdecken – »Feldnotizen«, wie sie ihre Beobachtungen nannte, aus unterschiedlichen Phasen ihres Lebens. Außer Krankenschwester, Mutter, Landfrau, Bäckerin, Musikerin und Ahornsirup-Produzentin war meine Renaissance-Schwester auch noch Künstlerin und Schriftstellerin. Ihre Kunst entwickelte sich im Laufe der Jahre hin zu ausgefallenen botanischen Stücken und Drucken, die heute in den Häusern vieler Menschen hängen, verteilt über das ganze Land. Ihre Schreibkunst entfaltete sich in Tagebüchern, urkomischen Briefen und E-Mails, in Bilderbüchern für Kinder und einer Autobiographie, von der sie träumte, mit dem Titel Lower Road. Sie war der Meinung, es sei schon genug darüber geschrieben worden, wie man den rechten Weg nach oben beschreitet, deshalb wolle sie etwas darüber schreiben, wie es sei, den rechten Weg auf die harte Tour finden zu müssen, um aufzusteigen. Wo sie wohnte, gab es eine lange unbefestigte Straße, die Lower Road – einspurig schmiegte sie sich an einen Berg und führte in einen Talkessel, in dem sich auf einer Seite ein Sumpfgebiet und Teiche befanden, auf der anderen verrostete Wohnwagen und alte Farmhäuser. Als junge Gemeindeschwester führte sie ihre Arbeit für den Staat Vermont öfters auf diese Lower Road, und Maggies Buch Lower Road sollte ein Bericht werden über ihre Beziehung zu ihren dort ansässigen Patienten: den Teenager-Müttern, den Veteranen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, den Abhängigen, den Gewalttätigen, den Missbrauchten. Den vergessenen Armen auf dem Land, um die sie sich kümmerte, auf ihre ganz eigene Art, hart und doch voller Wärme.

Als Maggies Computer zu ihrem Tagebuch wurde, fing sie an, mir per Mail Einträge zu schicken: Auszüge aus dem ständig umgeschriebenen Lower-Road-Projekt, Notizen aus der Klinik, die sie mittlerweile leitete, lustige Geschichten über Menschen, die sie auf Kunsthandwerk-Ausstellungen getroffen hatte, beschwingtes Geplapper über ihr neues Zuhause, über die Wildheit der Wälder im Frühjahr und den süßen Geruch in dem Gebäude, in dem sie den Sirup herstellte, wenn die Winternächte kalt waren und der Ahornsaft floss. Und als sie krank wurde, erreichten mich ihre Feldnotizen aus der Einsamkeit ihres Krankenhausbettes und von ihrem Platz am Fenster, auf dem sie bei sich zu Hause immer saß. Sie schrieb schnell, in Endlossätzen, sie dachte sich Wörter aus und sprang von einer Zeit in die nächste. Sie verwendete niemals Großbuchstaben, und sie umging jegliche Grammatikregeln. Sie schrieb wie ein Kolibri, einer, der lange genug an einem Fleck blieb, um seine Gedanken zu ordnen und in Worte zu fassen.

Ich hatte immer vorgehabt, Maggie dabei zu unterstützen, aus ihren Kolibri-Worten ein Buch zu machen. Sie wollte, dass ich ihr helfe, und deshalb schickte sie mir diesen Wust aus ungeordneten Computerdateien. Wir fingen an, daran zu arbeiten, während sie sich von der Transplantation erholte. Aber als ihre Energie schwand, fragte ich sie, wie sie sich dabei fühlen würde, wenn ich einige ihrer Feldnotizen in das Buch einfügte, das ich gerade schrieb. Ich hatte ihr frühe Auszüge daraus gezeigt, und in ihrer Anerkennung schwang Wehmut mit – ihr Sinn für Humor und auch die Trauer darüber, dass sie nicht mehr da sein würde, um mitzubekommen, wie es ausging. Gemeinsam trafen wir die Entscheidung, einige ihrer Worte in mein Buch aufzunehmen, und deshalb habe ich sie darin verteilt – Maggies Weg zur Wahrheit, der sich immer wieder mit meinem kreuzt.

Erster Teil DIE MÄDCHEN

»Du wirst in deine Familie hineingeboren und deine Familie in dich.«

ELIZABETH BERG

TELEFONBOMBEN

Als ich klein war, konnte man nur über Festnetzanschlüsse miteinander telefonieren. Meistens hatte jeder Haushalt ein Telefon, allerhöchstens zwei – ein Apparat war in der Küche an die Wand geschraubt, ein zweiter stand auf dem Nachttisch im Schlafzimmer der Eltern und wurde so gut wie nie benutzt. Als ich ein Teenager war, bekamen meine Freundinnen einen Apparat in ihr Zimmer gestellt. Sie hießen Prinzessinnen-Telefone und waren fast immer pink, mit Tasten statt Wählscheibe und einer Telefonschnur, die so lang war, dass man herumgehen oder unter der Bettdecke versteckt reden konnte. Das Prinzessinnen-Telefon fand nie Einzug in unser Haus. Meine Schwestern und ich durften kaum das Küchentelefon benutzen. Wozu sollten wir also einen eigenen Anschluss benötigen?

Später waren Telefone dann omnipräsent. Zuerst kamen die schnurlosen Apparate auf den Markt, und dann gab es irgendwann natürlich Handys. Das Handy veränderte alles. Aber vorher veränderte bereits die Tatsache, dass ich Mutter wurde, mein Verhältnis zu Telefonen. Mit Kindern wurde aus diesem harmlosen Apparat eine Zeitbombe. Bei jedem Klingeln machte ich mir Sorgen, und häufig wurden meine Worst-Case-Szenarien wahr: eine blutige Nase, ein gebrochener Arm, eine vermasselte Prüfung. Einer meiner Söhne wurde an der Middleschool suspendiert, weil er einem Mitschüler seine Prüfungsantworten verraten hatte. Während seiner Highschool-Zeit wurde mein anderer Sohn wegen zu schnellen Fahrens von der Polizei angehalten, und der Polizist entdeckte Marihuana in seiner Hosentasche. Ich weiß noch ganz genau, wo ich mich befand, als mich diese Anrufe erreichten.

Dinge, von denen ich gedacht hatte, dass sie niemals passieren würden, bahnten sich ihren Weg durch den Äther und wie kleine Bomben hinein ins Telefon. Klingeling! Mein Vater starb. Klingeling! Ein Kollege kündigt. Klingelingeling! Die Twin Towers ein Trümmerhaufen. Und dann war da diese Telefonbombe meiner Schwester auf der Hochzeit in Montana. An diesem Tag lernte ich ein Verhalten an mir kennen, mit dem viele Menschen bereits auf die Welt kommen und dann in jahrelangen Therapien versuchen, es wieder abzulegen: Ich verschloss die Augen vor der Wahrheit. Einen ganzen Tag lang. Für mich war das ein absolut revolutionäres Verhalten, da ich jemand mit einem unvernünftig großmütigen Herzen bin und man mit all seinen Sorgen immer zu mir kommen kann.

Wie wir alle trage ich mehrere Persönlichkeiten in mir – mein wachsames, rationales Selbst, das in meinem Kopf wohnt, mein wildes emotionales Selbst, das in meinem Herzen untergebracht ist, und ein tieferes Selbst, das manche Menschen Seele nennen. Dieses tiefere Selbst ist immer da, klüger als die Sorge, überragender als die Angst und wach, wenn es darum geht, mit Liebe auf das Leben zu schauen. Aber das rationale Selbst ist ein rechthaberischer Kerl, der regelmäßig die Seele verdrängt. Manchmal trifft das rationale Selbst den Nagel auf den Kopf, aber häufig ist es engstirnig und tyrannisch, und dann führt es mich schnurstracks in eine Sackgasse, in der ich zu viel nachdenke. Mein emotionales Selbst kann wie ein rasender Derwisch völlig außer Kontrolle geraten, und dann sprüht es Funken, begeistert und staunend, wütend und verzweifelt. Immer schön im Kreis herum folge ich also meinem Verstand und meinen Gefühlen. Der menschlichen Erfahrung wohnt etwas Schwindelerregendes inne, wenn wir den Ruhepol inmitten des Herumwirbelns nicht finden.

Der Ruhepol ist da. Immer. Ich weiß es. Ich habe wieder und wieder zu ihm zurückgefunden, selbst in den heftigsten Wirbelstürmen. Manchmal brauche ich etwas länger, aber ich weiß, dass es diesen Ruhepol gibt und dass der Sturm vorüberziehen und die Mitte zum Vorschein kommen wird. Wenn Verstand und Gefühl mich fest im Griff haben und ich zu viel nachdenke und zu viel fühle, wenn ich Angst habe oder mich schäme, wenn ich voreingenommen bin oder paranoid, selbstgerecht oder eifersüchtig, dann weiß ich, wie ich abwarte, wie ich bete, wie ich vertraue. Doch manchmal, wenn da einfach zu viel Lärm in mir ist – wenn meine Gefühle einen Sturm entfesseln oder mein hyperaktiver Verstand wie ein Presslufthammer vor sich hin rattert –, stoppen Geduld und Gebet das Getöse nicht. Dann ist es manchmal hilfreich, sich ein kurzes Time-out des Nichtwahrhabenwollens zu gönnen.

Und genau das tat ich in Montana, nachdem ich diese Telefonbombe von meiner Schwester erhalten hatte. Ich habe mein emotionales Geschöpf weggesperrt, meinen monotonen Verstand abgeschaltet und bin ohne sie auf die Hochzeit gegangen. Ich habe mich unter die Leute gemischt, habe das Zelt, das mitten auf einem Weizenfeld unter dem weiten Himmel aufgebaut worden war, mit vielen Ahs und Ohs gebührend bewundert. Ich habe die Trauung durchgeführt, als hätte ich so etwas schon hunderttausendmal gemacht. Und die ganze Zeit über versenkte ich die Nachricht der Telefonbombe in einer Art Hochsicherheitstrakt. Dann ahmte ich das jahrhundertealte Verhalten von Partybesuchern nach, gönnte mir auf dem Empfang mehrere Drinks, um für Smalltalk bereit zu sein, zu essen und zu tanzen. Nichtwahrhabenwollen! Wo hast du dich bislang in meinem Leben herumgetrieben?

Am nächsten Morgen ließ ich meine Familie zurück und bestieg ein fast leeres Flugzeug. Ich hatte eine ganze Sitzreihe für mich allein – was gut war, denn in dem Augenblick, in dem ich mich anschnallte, öffnete sich mein Herz wieder, ganz von allein. Ich ließ die Gefühle zu und übergab meinem emotionalen Selbst die Zügel. Es legte sofort los.

»Maggie ist zu jung, um zu sterben«, sagte ich innerlich laut weinend zu mir selbst. »Das ist nicht fair!«

»So was wie fair gibt es nicht«, unterbrach mich das rationale Selbst und meldete sich völlig vorhersagbar zurück.

»Trotzdem ist es schrecklich.« Jetzt weinte ich wirklich. »Sie steckt mitten in einer Scheidung, sie hat noch nicht mal ein Zuhause, und ihre Kinder …«

Mein rationales Selbst blieb ungerührt. »So was wie ›schrecklich‹ gibt es auch nicht. Es ist, was es ist.«

Emotionales Selbst und Rationales Selbst machten eine Weile so weiter, bis ich die Nase voll hatte von ihrem Entweder-oder-Geplänkel. Ich schloss die Augen, und erst jetzt fiel mir auf, dass ich meine Schultern bis an die Ohren hochgezogen hatte. Ich ließ sie fallen, lockerte meinen ganzen Körper und machte mich atmend auf die Suche zu meinem Ruhepol, meiner Mitte, bis ich die Stimme meiner Seele hören konnte.

Und da war sie und sagte mir die Wahrheit: »Hab Vertrauen«, sprach meine Seele. »Du wirst sehen – deine Schwester wird daran wachsen. Sie wird über sich selbst hinauswachsen. Genau wie du. Du wirst trauern, und du wirst lernen, du wirst toben, und du wirst dir Sorgen machen, aber während der ganzen Zeit wirst du tiefer und tiefer in die Wahrheit hineinwachsen, wer du wirklich bist. Du wirst diesen Weg beschreiten, Maggie wird ihn beschreiten. Alle, die sich mit ihr auf die Reise begeben, werden auf diesem Weg, den ihre Seele gewählt hat, überraschende Reichtümer ans Licht bringen.« Wenn die Seele spricht, wird nicht gestritten. Alle anderen halten den Mund und hören zu. Die wichtigeren Worte glänzen in der Stille. Dort wird offenbart, was getan werden muss. Verstand und Herz nehmen sich an die Hand und geloben zusammenzuarbeiten.

Während des restlichen Fluges ruhte ich mich in dem seltenen Frieden aus, den die Seele mit sich bringt. Es war, als würde ich mit Treibstoff betankt, für die lange Reise, die vor mir lag. Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde. Ich wusste nicht, wie lange die Reise dauern würde, die ich gerade antrat. Ich wusste nicht, dass ich den ganzen Weg hinein in das eigentliche Mark meiner Knochen geführt werden würde, ja, sogar noch tiefer hinein in das heilige Mark meines wahren Selbst. Ich wusste nur, dass ich darum beten wollte, dass die Seele mein Führer sein möge.

Am darauffolgenden Tag, auf der Fahrt von meinem Zuhause in New York zu meiner Schwester in Vermont, übernahmen Angst und Trauer wieder das Ruder. Mein Herz war von Trauer erfüllt. Und nicht nur wegen Maggie. Nicht nur wegen der furchterregenden Behandlungen, die sie würde durchlaufen müssen, und des ungewissen Ausgangs. Nicht nur wegen der vielen Dinge, die niemals wieder so sein würden wie vorher. Mein Herz litt auch für uns – für unsere Familie, für unsere Geschichte, für die, die wir immer gewesen waren und von denen ich törichterweise erwartet hatte, dass wir sie für immer sein würden. »Die Mädchen«, klagte wimmernd mein Herz und klammerte sich an meine drei Schwestern, an meine Kindheit, an meinen angestammten Platz auf dieser Welt. Laut weinend sprach ich die Worte aus: »Die vier Mädchen.«

»Ach, hör auf«, schnauzte mein Verstand mich an und klang dabei fast wie meine Mutter.

DIE MÄDCHEN

Ich wurde in eine Familie von Mädchen hineingeboren, als zweite von vier Töchtern. Jeder kannte meine Schwestern und mich als »die Mädchen«. Oder einfach nur »Mädchen«, wie in »Mädchen! Abendessen ist fertig!« Diesen Satz schmetterte meine Mutter tausendmal in den Jahren der Erziehung von vier Töchtern. Genau wie den: »MÄDCHEN. Hört auf, euch zu zanken, oder es setzt was!« Dafür war mein Vater berühmt, wenn er uns »Prügel« androhte, während wir mal wieder endlos lange im Auto von New York nach Vermont unterwegs waren. Der Beruf meines Vaters als Werbefachmann, der für die Ski-Branche arbeitete, führte ihn – und deshalb auch uns – den ganzen Winter über aus seinem Büro in New York City in die Berge Vermonts. Warum meine Eltern darauf bestanden, jedes Wochenende alle vier Mädchen mitzunehmen, verstehe ich bis heute nicht, aber sobald es Freitagnachmittag war, zwängten wir uns unter Protest brav in den Kombi für die vierstündige Fahrt gen Norden – um die Fensterplätze kämpfend, verfroren, müde und gelangweilt –, bis wir endlich aneinander gelehnt einschliefen.

Trotz der vielen Drohungen stand mein Vater in all den Jahren, in denen er »den Mädchen« zahlenmäßig unterlegen und von ihnen genervt war, nur ein einziges Mal kurz davor, eine von uns wirklich zu schlagen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was genau ihn in Versuchung brachte, seine Drohung wahr zu machen. Ich erinnere mich nur noch, genau wie meine Schwestern, an die folgende Szene: Ich hatte irgendetwas getan, das meinen Vater veranlasst, mich die Treppe in unserem Haus hinaufzujagen, und mit der Handtasche meiner Mutter in der Hand, die er durch die Luft schwingt, hinter mir herzurasen. Meine Schwestern verfolgen uns lachend. Meine Mutter steht am Fuß der Treppe und ruft hilflos: »Mädchen! Mädchen!« Als mein Vater mich endlich einholt, ist seine Wut verraucht. Er lässt die Tasche auf den Boden fallen und hebt beide Arme, und dann, während er irgendetwas von »den Mädchen« vor sich hin brummelt, stapft er die Treppe wieder hinunter und flüchtet sich nach draußen.

Ein Vorteil von Geschwistern ist, dass jedem einzelnen Kind der Druck genommen wird, allen Erwartungen der Eltern gerecht zu werden. Ein einziges Kind kann das alles kaum erfüllen – wohlerzogen und mutig zu sein, eine Leseratte und Sportskanone, hilfsbereit und erfolgsorientiert. Deshalb springen Geschwister füreinander ein. Aber es gibt auch einen Nachteil. Ohne vorherige Einverständniserklärung wird jedem Geschwisterkind eine Rolle zugewiesen, die einen für das ganze Leben brandmarken kann. Zeigt man Neigungen in eine bestimmte Richtung, so wird daraus etwas, das man immer sein muss. Dieses Kind ist die Heilige, dieses hier die Rebellin. Diese wird es weit bringen, diese bleibt, wo sie ist. Manchmal dauert es das ganze Leben, die engen Grenzen einer besiegelten Familien-Identität zu sprengen.

In meiner Familie lief es ganz gewiss so ab. Wo eine von uns dünn und sportlich war (meine ältere Schwester), war die andere (ich) pummelig und introvertiert. Wo die eine sehr gut in der Schule war (ich), brachte die andere schlechte Noten nach Hause (noch mal die ältere Schwester). Wo die eine sich gegen die Autorität unseres Vaters erhob (ich), verhielten sich meine jüngeren Schwestern stiller, mit der Bestimmung, allen zu gefallen und den Frieden zu bewahren. Also fanden wir uns in diese Rollen ein, indem wir Geschichten voneinander hörten und übereinander erzählten, wir drückten uns gegenseitig Stempel auf und schleppten diese Markenzeichen für den Rest unseres Lebens mit uns herum.

Wir wurden stets daran erinnert – lautstark oder angedeutet –, welche Rolle wir auf der Bühne unserer Familie zu spielen hatten. Meine Mutter hätte mir nie erlaubt, Ballettstunden zu nehmen, weil ich nicht so »motorisch geschickt« war wie meine Schwestern. Zwei von ihnen brachte sie in der Ballettschule für Kleinkinder am Ende der Straße vorbei, in der sie von einem Teenager unterrichtet wurden. Mir erklärte sie, ich könne da nicht mitmachen, da mein Körper für den Balletttanz »anatomisch fehlerhaft« sei, aber das solle mich nicht stören, denn ich sei dafür klug. Sie stellte meine ältere Schwester für ihr schlechtes Verhalten in der Schule an den Pranger, während sie noch mit ihr zusammen über meine X-Beine kicherte und darüber, wie ich im Badeanzug aussah. Maggie, meine jüngere Schwester, war »die Gute« – das brave Mädchen, diejenige, auf die sich meine Mutter verlassen konnte. Und unsere schüchterne jüngste Schwester war Daddys Liebling, überrollt von ihren großen Schwestern, ist sie für immer die Kleine.

Wie im Pantheon der Götter und Göttinnen in der griechischen Mythologie nehmen Geschwister archetypische Rollen an – Rollen, die unsere Wahrnehmung von uns selbst erstarren lassen, lange nach Ende der Kindheit. In unserem Pantheon war ich die rechthaberische Anstifterin – sie nannten mich »die Prinzessin«. Irgendwie setzte ich mir in den Kopf, gerade als kleines Mädchen, die Macht meines Vaters in Frage stellen zu müssen. Ich fand es unerhört, dass mein Vater in einer Familie aus lauter Frauen den Ton angeben durfte. Ich fragte mich, warum sich meine Mutter ihm fügte, obwohl sie scharfsinniger wirkte und ganz sicher genauso gebildet und weltläufig war wie er. Aber es waren eben die 50er- und 60er-Jahre, und obwohl meine Mutter das College mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, legte mein Vater die Wertvorstellungen der Familie fest und bestimmte, wie wir unsere Zeit verbrachten. War er zu Hause, setzte er durch, worüber und worüber nicht geredet wurde.

Die Tatsache, dass wir vier kleine Mädchen waren, hielt meinen Vater nicht davon ab, uns in seine draufgängerischen Freizeitaktivitäten mit einzubeziehen. Die meisten waren inspiriert von Militärzeit in der 10. US-Gebirgsdivision – den Skijägern. Es lag nicht daran, dass er fand, Mädchen sollten die gleichen Möglichkeiten haben wie Jungen. Vielmehr schien er gar nicht wahrzunehmen, dass wir Mädchen waren. Oder vielleicht zog er es auch nur vor, sich der Tatsache zu verweigern, dass seine Nachkommen allesamt weiblich waren. Natürlich wurden wir auch nie gefragt, ob wir seinem Regiment beitreten wollten. Davon wurde schlichtweg ausgegangen.

Rückblickend bin ich meinem Vater dankbar, dass er uns die Trecks hinauf auf New Hampshires Mount Washington geschleppt hat, mit unseren schweren Abfahrtskiern auf dem Rücken, und dass er auf den kilometerlangen mühseligen Marsch bestanden hat, damit wir eine Stelle am Strand von Long Island finden, an der wir von den Rettungsschwimmern unbeobachtet in der gefährlichen Brandung schwimmen konnten. Niemals hörten wir, dass wir wegen unseres Geschlechts etwas nicht tun könnten. Doch alle, einschließlich meiner Mutter, wurden verspottet, wenn wir uns »wie Mädchen« benahmen. Oberflächliche Gespräche, Klatsch und Tratsch, sich Sorgen machen, Müßiggang, Eitelkeit – für meinen Vater waren das Zeichen weiblicher Schwäche, und wenn wir uns so verhielten, riskierten wir, von ihm verachtet und verhöhnt zu werden. Meine Mutter verinnerlichte den offiziellen Kurs unserer Familie und setzte ihn durch: Arbeite hart, sei stark, bleib in Bewegung.

Meine Eltern waren typische Amerikaner der sogenannten »Greatest Generation«: geprägt von der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre und dem Zweiten Weltkrieg. Robuste, bescheidene und pflichtbewusste, in der Zivilgesellschaft verankerte Menschen, die sich selten beschwerten. Zu ihrer Zeit war Selbstreflexion Zeitverschwendung und Psychotherapie etwas für Verrückte. Und Eltern sein? Man zog Kinder groß, mehr nicht. Man bekam Kinder, ernährte sie und kleidete sie ein, schickte sie in die Schule, sorgte dafür, dass sie im Haushalt halfen, und das war’s dann auch schon. Klar, manche Eltern schickten ihre Kinder zum Baseball-, Softball- oder zum Klavierunterricht, aber meistens ließen sie sie in Ruhe. Wir spielten draußen in der Nachbarschaft, ohne Aufsicht von Erwachsenen, Helme oder Sonnencreme. Meine Mutter half uns selten bei den Hausaufgaben, obwohl ihr als Englischlehrerin an einer Highschool Bildung äußerst wichtig war. Es war unsere Aufgabe, in der Schule zu glänzen, nicht ihre.

Meine Schwestern und ich verbrachten den Großteil unserer Kindheit zusammen, mehr als andere Geschwister. Wir wetteiferten nicht so sehr um die Anerkennung unserer Eltern, sondern um gegenseitige Bestätigung. Wir spielten regelmäßig und erfinderisch miteinander, aber wir lieferten uns auch konfliktreiche Konkurrenzkämpfe. Während wir zu Frauen heranwuchsen, drifteten wir in mancherlei Hinsicht auseinander und blieben in anderen Bereichen eng verbunden. Doch dicht unter der Oberfläche, unerforscht und unausgesprochen, lagen immer jene Rollen, die wir innerhalb der Familie angenommen hatten, jene Geschichten, die man uns erzählt hatte und die wir glaubten, jene Schlussfolgerungen, die wir übereinander und über uns selbst gezogen hatten.

GEGEN DEN STROM

Meine Eltern waren sozial denkende Intellektuelle, für die Religion auf der Evolutionsleiter zweitrangig war. Am untersten Ende dieser Leiter befanden sich einzellige Amöben, dann kamen Dinosaurier, dann abergläubische Höhlenmenschen, dann abergläubische Religionsanhänger, dann die Renaissance und Galileo und die Ursprünge der Wissenschaft. Alles, was klug und vorwärtsgerichtet war, stand ganz oben. So lautete der Lauf der Geschichte, wie ihn unsere Mutter uns lehrte, die an die Religion während ihrer Jugend noch immer eine besonders bitter schmeckende Erinnerung hatte. Sie kam aus einer tiefgläubigen Familie, Anhänger der Christian Science, die streng nach den biblischen Texten lebten, vor allem nach jenen, in denen es hieß, der Körper sei eine Illusion und Krankheit ein Zeichen von »mentalem Irrtum«. Nach Auslegung der Christian-Science-Glaubenslehre wurde man, wenn man eifrig betete, von allen Krankheiten geheilt, sogar vom Tod. Schenkte man also körperlichen Schmerzen Glauben oder ging, Gott bewahre, zum Arzt, so machte man sich zum Abtrünnigen des Glaubens. Selbst als meine Mutter und ihre Brüder schwer krank wurden, selbst als andere Glaubensmitglieder an einer ähnlichen Erkrankung wie ihrer starben, verweigerten meine Großeltern jegliche ärztliche Versorgung. Sobald meine Mutter irgendein Anzeichen von Schwäche zeigte – körperlich oder seelisch –, wurde sie aufgefordert, »die Wahrheit zu erkennen«, das Codewort im Christian Science für »sich zusammenzureißen«.

Meine Mutter sagte sich mit Mitte zwanzig von ihrem Glauben los, aber die Scham darüber, einen Körper zu besitzen, und das Unbehagen, für ihn sorgen zu müssen, überwand sie nie. Obwohl sie die Christian-Science-Glaubenslehre ihren Töchtern gegenüber nie offen propagierte, wiederholte sie manchmal dennoch einige ihrer abgedroschenen Sätze, vor allem, wenn wir krank waren. »Der Geist regiert«, ein Zitat aus dem Lehrbuch Wissenschaft und Gesundheit, das von den Anhängern des Christian Science verehrt wurde. Wir hatten keine Idee, was »der Geist regiert« wirklich bedeutete, aber wir saugten die Interpretation unserer Mutter förmlich in uns auf: Dein Körper ist eine Erfindung deiner geistigen Vorstellungskraft, wenn du also über Schmerzen oder Krankheit klagst, bist du ein Hypochonder.

Mein Großvater blieb bis zu seinem Tod mit Ende neunzig ein praktizierender Christian-Science-Anhänger. Während meiner Kindheit war er sehr präsent, und in meiner Erinnerung sitzt er immer in demselben Ohrensessel in unserem Wohnzimmer. Seine Pfeife liegt in einem Aschenbecher auf einem kleinen Tisch, und er liest zum gefühlt siebentausendsten Mal in Wissenschaft und Gesundheit. Ich besitze immer noch seine Ausgabe, in der nahezu jeder Satz hervorgehoben oder unterstrichen ist und sich am Rand fast jeder Seite ein Kommentar befindet. Meine Mutter machte sich über die Frömmigkeit meines Großvaters lustig, aber ich sah in ihm einen seelenverwandten Suchenden, obwohl mir als Kind noch das Vokabular fehlte, mich mit ihm auseinanderzusetzen und die offensichtlichen Fragen zu stellen. Erst als ich auf dem College war, ein paar Jahre vor seinem Tod, begann ich, mich mit meinem Großvater über spirituelle Fragen auszutauschen. Deshalb besitze ich seine zerfledderte Ausgabe von Wissenschaft und Gesundheit. Er schenkte sie mir, nachdem ich den Mut aufgebracht hatte, ihm Fragen zu einem quälenden Widerspruch zu stellen, der mir in seinem Weltbild aufgefallen war.

»Wenn der Körper eine Illusion ist«, fragte ich ihn, »warum isst du dann?«

Seine Antwort war das Buch. Er reichte es mir mit einem angedeuteten Lächeln. Mittlerweile kenne ich dieses Lächeln aus vielen Gesprächen, die ich mit anderen religiösen Menschen geführt habe, die die Bibel wörtlich nehmen. Es ist ein Lächeln zwischen Herablassung und Sorge. Es besagt: »Alle deine Fragen werden in diesem Buch beantwortet werden, mein Kind.« Aber es beinhaltet auch eine Bitte: »Kratze nicht zu tief an der Oberfläche. Entwirre nicht die Fäden, sonst fällt das ganze Ding in sich zusammen.«

Mein Vater kam aus einer ebenso tiefgläubigen jüdischen Familie. Er wurde dazu gezwungen, an den Gottesdiensten teilzunehmen, koscher zu essen und die Gebete auswendig zu lernen. Aber der Glaube setzte sich nicht fest. Nach seiner Bar Mizwa stampfte er mit dem Fuß auf, und bis er auf die Highschool kam, war er von allen religiösen Pflichten befreit. Ich habe ihn nicht als jüdisch wahrgenommen, genauso wenig wie meine Mutter als Anhängerin der Christian Science. Eher waren meine Eltern mit dem gleichen Eifer unreligiös, wie ihre Eltern fromm gewesen waren.

Wenn meine Eltern an irgendeinem heiligen Text klebten, dann war es der New Yorker, und wenn sie irgendetwas verehrten, dann die Dreifaltigkeit aus freier Natur, sozialer Gerechtigkeit und Literatur. Meine Mutter war Englischlehrerin. Sie las uns griechische Mythen und amerikanische Gedichte vor und nahm Grammatik unglaublich ernst. Mein Vater war ein Naturfreund und – völlig unpassend – Werber auf der Madison Avenue. Jeden Morgen fuhr er mit dem Zug von der immer noch bewaldeten Nordküste Long Islands nach New York City, wo er Werbetexte und kurze Jingles schrieb. Jeden Abend kam er wieder nach Hause und unterzog seine Arbeit vor versammelter Mannschaft am Esstisch dem Familien-Test.

In der Zwischenzeit wurde ich mit einer tiefsitzenden, schmerzlichen spirituellen Sehnsucht geboren. Seit ich mich erinnern kann – ich war vielleicht vier oder fünf – lag ich nachts wach, und mein Herz klopfte zu dem ohrenbetäubenden Lärm der großen Fragen: Wo komme ich her? Was soll das Ganze hier? Wohin gehen wir, wenn wir sterben? Das Hausmittel meiner Mutter für meine existenziellen Sorgen bestand darin, mir Einblicke in die Werke von Jean Paul Sartre und Virginia Woolf anzubieten. Oder sie zitierte Charles Darwin oder Dr. King, eine Methode, mich in eine andere Richtung zu lenken – weg von der Selbstbeobachtung und hin zur Wissenschaft oder sozialem Handeln.

Mein Vater hatte nichts außer Ungeduld übrig für alles, was den Beigeschmack von In-sich-gehen und Erforschen der Seele hatte. Egal, was einen schmerzte, seine Antwort darauf lautete, man solle nach draußen gehen und in den Wäldern umherstreifen. Trotz der Tatsache, dass er in Brooklyn auf die Welt kam, wir auf Long Island lebten und er in Manhattan arbeitete, war er tief in seinem Herzen entschlossen, in die Heimat seiner Seele, in sein persönliches Jerusalem zurückzukehren: den Staat Vermont.

Wenn ich an die Zeit und den Ort meiner Kindheit zurückdenke – die 1950er- und 1960er-Jahre in einer amerikanischen Vorstadt –, und wenn ich dann an meine Eltern denke, dann muss ich lachen. Während die meisten Erwachsenen versuchten, Ward und June Cleaver nachzueifern, einem Ehepaar aus einer Fernsehkomödie, strebten meine Eltern eher Richtung Henry David Thoreau und Rosa Parks, der Schriftstellerikone und der berühmtesten schwarzen Bürgerrechtlerin. Sie waren vielleicht nicht die herzlichsten und verfügbarsten Eltern, aber ich war stolz darauf, ihr Kind zu sein, obwohl ich spürte, dass in ihrem übergreifenden Weltbild irgendetwas fehlte. Ich wusste nicht genau, was, aber ich war entschlossen, es herauszufinden. Ich war ein mystisch veranlagtes Kind, herrenlos umhertreibend in einer Familie aus Zynikern – eine Suchende in einem Boot ohne Riemen. Ich trottete den Nachbarn hinterher zum katholischen Gottesdienst und kaufte mir heimlich Gospel-Schallplatten. Nach der Ermordung von Präsident Kennedy und Dr. King pinnte ich ihre Fotos an die Wand in meinem Zimmer und schickte ihnen im Schutz der Dunkelheit meine Gebete.

Wann immer ich betete, legte ich eine Hand auf mein Herz und atmete in eine Stelle hinein, die sich wie ein klaffendes Loch anfühlte. Wenn es mir gelang, lange genug dort zu verweilen, füllte sich das Loch langsam, es fühlte sich an, als würde Wasser in einer Quelle aufsteigen. Dann breitete sich kurzzeitig ein Gefühl von Frieden in mir aus, ein Bezwingen des Drangs, Fragen zu stellen. Gleichzeitig war da noch ein anderer verwirrender Eindruck: Ich empfand das Aufsteigen des Wassers als etwas Romantisches. Mir fehlten die Worte, um dieses Gefühl zu beschreiben, und ich hatte niemanden, den ich hätte fragen können, da Gefühlsduselei bei uns zu Hause einem Verbrechen gleichkam.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich den Satz »Gott ist Liebe« zum ersten Mal hörte. Ich war noch in der Grundschule. Meine Mutter verfolgte ihr abendliches Ritual: das Abendessen zubereiten und dabei im Radio die Nachrichten hören. Meine Schwestern und ich saßen am Küchentisch und machten Hausaufgaben. Dann kam die Meldung, dass heute der Jahrestag des legendären Ostersonntag-Konzerts der berühmten afroamerikanischen Opernsängerin Marian Anderson war. Meine Mutter hörte andächtig zu. Am Ende schaltete sie das Radio aus und erzählte uns die Geschichte von Marian Anderson in demselben ehrfürchtigen Ton, in dem Anhänger über die Gleichnisse ihres Glaubens berichten. »Versteht ihr Mädchen, was Ostern bedeutet?«, fragte sie uns, sehr wohl wissend, dass dem nicht so war, da wir keinerlei religiöse Erziehung genossen hatten. »Die wahre Bedeutung«, sagte sie, »hat nichts mit Eiern oder Hasen zu tun. Die wahre Bedeutung ist die, dass Gott Liebe ist.« Und dann erzählte sie uns, wie die konservative Frauenvereinigung Töchter der Amerikanischen Revolution sich geweigert hätten, Marian Anderson für ein Konzert in der Constitution Hall in Washington, DC, zu buchen, weil sie Afroamerikanerin war. Daraufhin trat die First Lady Eleanor Roosevelt – die Göttin meiner unreligiösen Mutter – aus der DAR aus und organisierte ein Open-Air Konzert am Ostersonntag 1939, das auf den Stufen des Lincoln Memorials stattfinden sollte.

»Die Sonne schien«, fuhr meine Mutter fort, »und fünfundsiebzigtausend Menschen jeder Hautfarbe kamen zusammen, um eine der weltbesten Künstlerinnen ›America‹ singen zu hören. Darum geht es an Ostern – um die Wiederauferstehung der Liebe. Wenn ihr euch gefragt habt, was manche Leute mit ›Gott ist Liebe‹ meinen, dann wisst ihr es jetzt.«

»Gott ist Liebe?«, fragte ich meine Mutter. »Aber das finde ich auch!« Meine Schwestern verdrehten die Augen.

»Nun ja, manche sagen das so«, antwortete meine Mutter leicht verärgert.

»Wer? Wer sagt, dass Gott Liebe ist?«, hakte ich nach, denn plötzlich erkannte ich in diesen Worten das Gefühl wieder, das ich beim Beten hatte.

»Leute, die in die Kirche gehen. Aber sie reden nur so daher. Sie sind wie Papageien«, sagte meine Mutter. »Sie lassen ihren Worten keine Taten folgen.«

»Aber vielleicht empfinden sie so beim Beten«, entgegnete ich. Meine Mutter warf mir einen eigenartigen Blick zu und schaltete das Radio wieder ein, womit sie deutlich machte, dass dieses Thema keine weitere Aufmerksamkeit verdiente. Doch es war zu spät. Meine Faszination war geweckt. Es schien, als wäre ich nicht allein mit meinen Herzklopfen verursachenden Gebeten, die die Quelle meines Herzens ansteigen und mich Liebe fühlen ließen. Andere Menschen hatten dasselbe gefühlt und redeten wahrscheinlich irgendwo darüber.

Als ich in die Pubertät kam, träumte ich öfters vom Kirchgang als von einem Date. Mit meiner besten Freundin nahm ich weiterhin an Gottesdiensten teil. Ich schaffte es irgendwie bis in den Beichtstuhl, ich kniete vor dem Altar, ich schmeckte vom Leib und Blut Christi, was sich für mich so anfühlte, als sei mir schwindelig vor Liebe. Als ich eines Mittwochnachmittags mit einem Aschekreuz auf der Stirn nach Hause kam, war meine Mutter entsetzt. Meine Schwestern krümmten sich vor Lachen auf dem Boden.

Nach dem berühmt-berüchtigten Aschermittwochsvorfall machte meine Mutter einen Riesenwirbel daraus, mir die Titelseite der April-Ausgabe des Time Magazine von 1966 unter die Nase zu reiben. Ich war dreizehn. Das Titelbild war schwarz. Darauf befanden sich in schreiend roter Schrift drei Worte: »ISTGOTTTOT?«

»Siehst du?«, meinte meine Mutter.

Ich war beunruhigt, ließ mich aber nicht beirren. Ich ging in die Bibliothek und lieh mir Bücher von Autoren wie Thomas Merton aus, einem katholischen Mönch, dessen Autobiografie Der Berg der sieben Stufen