Zwischen Aufbruch und Randale - Geralf Pochop - E-Book

Zwischen Aufbruch und Randale E-Book

Geralf Pochop

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Beschreibung

Seit dem 9. November 1989 prallten in Deutschland zwei Systeme aufeinander, wie sie unter-schiedlicher kaum sein konnten. Vor allem den Ostdeutschen waren die Regeln der neuen Gesellschaft fremd. Die alte Macht hatte nichts mehr zu sagen, die neue war noch nicht wirklich präsent. Es entstand ein rechtsfreier Raum. Es folgte eine Zeit der Hoffnung, des Aufbruchs und der Kreativität. Jede noch so verrückte Idee konnte in die Realität umgesetzt werden. Alles war möglich. Die Aufbruchstimmung beschränkte sich nicht nur auf gesellschaftliche Veränderungen, Hausbesetzungen, Musik- und Jugendsubkulturen, sondern auch auf Familien- und Freizeitzentren, alternativpädagogische Bildungsprojekte und Initiativen für Umwelt und Naturschutz. Geralf Pochop ("Untergrund war Strategie") berichtet von längst vergangenen Zeiten, welche in dieser Form sicher einzigartig waren. Ein ganzes Land Zwischen Aufbruch und Randale. Zwischen Hoffnung und Resignation. Ein Land, eine Subkultur auf der Suche nach der Zukunft.

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GERALF POCHOP

ZWISCHEN AUFBRUCH UND RANDALE

DER WILDE OSTENIN DEN WIRREN DER NACHWENDEZEIT

Originalausgabe

© 2021 Hirnkost KG

Lahnstraße 25, 12055 Berlin

[email protected]

https://shop.hirnkost.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Mai 2021

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung

[email protected]

E-Books, Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de

Lektorat: Gabriele Vogel

Layout: Conny Agel

ISBN:

PRINT: 978-3-948675-99-8

PDF: 978-3-947380-72-5

EPUB: 978-3-947380-71-8

Dieses Buch gibt es auch als E-Book - bei allen Anbietern und für alle Formate. Unsere Bücher kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de

Geralf und Vincent in der Erlöserkirche in Berlin im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes zum 30-jährigen Mauerfall-Jubiläum. Die „AlösA“ war ein Sammelpunkt der widerständischen Jugendlichen in der DDR. Es fanden in den 80er Jahren hier u. a. Bluesmessen und Punkfestivals statt.

INHALT

Der Autor

Widmung + Danksagung

Vorwort

Ankunft im „Goldenen Westen“

Butterfahrt nach Dänemark

Wie wir dem Sham-69-Sänger Jimmy Pursey begegneten

Das ist unser Haus – Wohnraumbeschaffung in Westberlin

Der Fall der Mauer

Passt bloß auf! Saalepower!

Zeitzeugeninterview: Roman aka Captain Romantic aka Romantikk

Rentner, Punks und windige Verkäufer – Butterfahrt nach Dänemark Teil 2

Krieg in den Städten

Abend in der Stadt – Hausbesetzungen in der Nachwendezeit

Sie wollen nicht verhandeln, sie wollen nur Gewalt – Räumung der Mainzer Straße 1990

Achims schriller Fanclub oder: In Karel Gott we trust!

Rot vor Wut und gelb vom Ei – Bundeskanzler Helmut Kohl 1991 in Halle (Saale)

Warum beim Auftritt der Deutschen Trinker jugend in Freiberg das Auto des KVD-Sängers nicht von Punks demoliert wurde

Zeitzeugeninterview: Steffen Schölzel

„Heldenstadt“ Leipzig in Trümmern

Schlemihl Records – Geschichte eines Kultschallplattenladens

Zeitzeugeninterview: Andreas Höhn aka HöhNIE

Ich war dabei! – Das 3. Dessau Open Air 1993

Zeitzeugeninterview: Jörg Folta

Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Erntepunkfest 1994 in Wegeleben

Zeitzeugeninterview: Denis Falke, Punkname: Gohlik

CHaOS 94 oder das 1. Punkerknacker-Festival in Wurzen

Selbst die Chaostage waren nur ein Vorspiel – 15 Jahre Müllstation in Zobersdorf 1995

Zeitzeugeninterview: Rio aka Rialdo

Ein Ort im Ausnahmezustand: Das Maipunkfest in Wegeleben 1995 oder: Erntepunkfest Teil 2

Zeitzeugeninterview: Daniel Goslar, Punkname: Schamoni

Wie Black Hole Halle beim Zap-Cup ohne großes Fußballtalent einen Pokal gewann

„Sex and Violence“ – Exploited im Sächsischen Freiberg 1995

Zeitzeuginneninterview: Liane Schweiger

Oi! – Punks und Skins united?!

Zeitzeugeninterview: Pierre

Wie es die Doppel-Record-Release-Party zu „Das ist Inzucht – Saalepower II & KVD: Die Bombe“ in die Tagesschau schaffte

Zeitzeuginneninterview: Alex Schlagowski

Wie der Schlachtruf der Hallenser Punks die Wende überlebte – Ausnahmezustand bei Gleichlaufschwankung

Pogo im extremen Klima

Zeitzeuginneninterview: Tanja Trash

Punkerurlaub am schönen blauen Meer – Force Attack

Zeitzeugeninterview: Imre Sonnevend

Punkrockhauptstadt Torgau

Zeitzeugeninterview: Fitze

Zeitzeugennachbetrachtung: Manuel S.

Nachwort

Anhang

DER AUTOR

DDR-Passbild Mitte der 80er

BRD-Passbild in der Wendezeit

Passbild Mitte der 90er Jahre

Geralf Pochop, 1964 geboren und aufgewachsen in Halle (Saale), lernte in der DDR Funkmechaniker, besetzte 1982 zusammen mit Freunden eine Wohneinheit, hatte damals Kontakte zur kirchlichen Subkultur und zur Ostpunkszene und erlebte erstmals die Brutalität der Staatsorgane gegenüber Andersdenkenden am eigenen Körper.

1983 beteiligte er sich an Demonstrationen der unabhängigen DDR-Friedensbewegung und landete in den Verhörzellen des berüchtigten „Roten Ochsen“, dem Gefängnis der Staatssicherheit in Halle (Saale).

In den folgenden Jahren führte er ein Leben als Ostpunk abseits des DDR-Alltags, beteiligte sich an der Organisation von Untergrund-Punkkonzerten, reiste häufig nach Ungarn und erlebte die dortige Subkultur hautnah, arbeitete nach erteiltem Berufsverbot in Hilfsarbeiterjobs als Tellerwäscher, Gasleuchtenwärter, Siebdruckhelfer und Galerieaufsichtskraft.

Den Wehrdienst verweigerte er.

Am 7.10.1987, dem 38. Geburtstag der DDR, wurde er verhaftet und zu sechs Monaten politischer Haft verurteilt. Nach seiner Haftentlassung schrieb er einige Artikel für die Untergrundzeitung mOAning star, unterzeichnete etliche Protesterklärungen und half weiterhin bei der Organisation und Umsetzung subkultureller Musikveranstaltungen in der halleschen Christusgemeinde.

Im Mai 1989 reiste er in die BRD aus, wohnte kurze Zeit in Braunschweig, verhalf seiner Freundin zur Flucht aus der DDR und erlebte den Mauerfall 1989 in Berlin-Kreuzberg.

1991 zog er zurück nach Halle (Saale) und eröffnete zusammen mit einem Freund aus der alten Ostpunkszene den Schallplattenladen Schlemihl-Records, der ab 1996 auch als Label fungierte und LPs mit dem Schwerpunkt DDR-Punk veröffentlichte.

1997 gründete er die Band Gleichlaufschwankung, die aus Altpunks der DDR-Szene bestand.

2001 rief er das Label Saalepower Records ins Leben.

Nachdem er seit dem Mauerfall viele Länder Europas und Asiens bereist hatte, begab sich Geralf 2003 für zwei Jahre mit seiner Frau auf eine Bildungs- und Studienreise durch Asien, zog nach seiner Rückkehr nach Torgau und veröffentlichte das Buch von Tanja Trash: Maisbier und Buttertee – Leben und Überleben in China. Er verarbeitete die Eindrücke auch musikalisch auf der Gleichlaufschwankung-LP/CD Ethno Punx und organisierte 2009 eine Europatour für die Pekinger Untergrund-Band Misandao.

Seit seiner Rehabilitierung und Anerkennung als politischer Gefangener der DDR im Jahr 2011 beschäftigt er sich intensiv mit der DDR-Vergangenheit und verbrachte im Rahmen eines Forschungsauftrags viel Zeit in Stasi-Archiven.

Mit seiner Frau und seinen drei Kindern fuhr er 2015 für fast ein Jahr mit einem Wohnbus durch Europa.

2018 veröffentlichte der Verlag Hirnkost KG sein Buch Untergrund war Strategie. Punk in der DDR: Zwischen Rebellion und Repression, das ein Jahr später in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung noch einmal erschien.

Seither ist er häufig gemeinsam mit einem Musiker auf multimedialer Zeitzeugen-Lesetour und in Sachen Zeitzeugenarbeit als Bildungsreferent u. a. für das Koordinierende Zeitzeugenbüro der Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten und der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau unterwegs.

Weitere Informationen unter:

www.untergrund-war-strategie.de

www.facebook.com/PunkinderDDR

www.zwischen-aufbruch-und-randale.jimdosite.com

www.gleichlaufschwankung.de

www.facebook.com/gleichlaufschwankung

www.saalepower-records.de

www.feste-und-rituale.jimdosite.com

Geralf als Sänger bei Gleichlaufschwankung

Der Autor 2017

WIDMUNG + DANKSAGUNG

 

 

Ich widme dieses Buch allen alternativen Projekten, die in den Wirren der Nachwendezeit entstanden.

Besonderer Dank geht an Tanja Trash, die die Idee zum Buch hatte. Des Weiteren danke ich allen Interview-Partner*innen für die Schilderung ihrer Erinnerungen. Besonderer Dank geht an Alüt für die Überarbeitung und Jan Sobe für die Vorlektorierung. Dann möchte ich noch Dirk Wunderlich für die Ergänzung meiner Erinnerungen an unsere Schlemihl-Records-Zeit, Daniela, Uli F., Susi B., Fxxx, Anti, Gnu, Connie, Nicky, Stahn für seine grandiosen Schlapplatten-Label-Tattoos, Steffen Schellhorn und Steffen Könau für Bilder und Zeitungsartikel, Markus S., Marco W., Henrik, Sigi, Oli L., Tilli, Hecht, Tino, André Z., Katrin R., Roi the Oy, Christoph aus Brandenburg, Ray S., Schrammel, Ulrike, allen, die Fotos für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben, Gabi fürs Lektorieren und Conny fürs geduldige Layouten danken.

Für die veröffentlichten Zeitzeug*innen-Interviews gilt: Die Entstehung dieses Werks wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht.

VORWORT

 

 

Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, prallen zwei Systeme aufeinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Zwei verschiedene Welten. Tag und Nacht. Licht und Schatten. Der Osten geprägt durch 40 Jahre DDR-Diktatur und Vormundschaft des sozialistischen totalitären Staates und leere Kaufhallenregale. Der Westen geformt durch Demokratie, Meinungsfreiheit, aber auch durch die kapitalistischen Großkonzerne, den allgegenwärtigen Überfluss in den Warenregalen, Konsumdenken und dem Streben nach immer mehr Geld. Das schaffte innerhalb kürzester Zeit Spannungen.

Die DDR-Subkultur, insbesondere die Punk-, Grufti- und Hausbesetzerszene war in den letzten Jahren des untergehenden Arbeiter- und Bauernstaates schon rasant angewachsen. Nach der Wende explodierte sie zahlenmäßig. Es roch nach Freiheit und Anarchie. Überall wurden Häuser besetzt. Während die normalen Gaststätten ums tägliche Überleben kämpften, öffneten an jeder Ecke neue subkulturelle Szenekneipen, die sich vor Kundschaft kaum retten konnten. Die meisten wurden „schwarz“ betrieben. Für Anmeldungen, Genehmigungen, Steuern oder Gewerbescheine interessierte sich in dieser Zeit niemand. Es gibt Berichte, dass in manchen „Schwarz“-Szeneclubs Geld in solchen Mengen floss, dass es in Müllsäcken eingesammelt wurde. Punkkonzerte gab es nun an Orten, von denen wir früher nur träumten. Punkfestivals wurden organisiert. Leerstehende Fabrikhallen wurden in Konzertstätten und AJZ umfunktioniert. In Kellern und alten Bunkern fanden illegale Techno-Konzerte statt. Es war eine Zeit der Hoffnung, des Aufbruchs und der Kreativität. Jede noch so verrückte Idee konnte in die Realität umgesetzt werden. Alles war möglich. Diese Aufbruchsstimmung beschränkte sich nicht nur auf die Musik- und Jugendkulturszenen, sondern auch auf Familien- und Freizeitzentren, alternativpädagogische Bildungsprojekte und Initiativen für Umwelt und Naturschutz.

Die alte Macht hatte nichts mehr zu sagen. Die Regeln der neuen Gesellschaft waren allen fremd. Die „Volks“-Polizei, die 40 Jahre lang die Interessen der DDR-Diktatur durchgeknüppelt hatte, wurde von niemandem mehr ernst genommen. Sie tauchte kaum noch auf. Es entstand ein rechtsfreier Raum.

Diesen nutzte auch die ebenso rasant anwachsende Naziskin- und Neonaziszene. Brutale Überfälle auf Andersdenkende und Andersaussehende waren an der Tagesordnung. Auch Homosexuelle, Migrant*innen und Menschen mit Behinderungen wurden attackiert. Es entstanden überall im Land No-Go-Areas. Durch diese als Mensch, der nicht ins Raster der Nazis passte, zu laufen war lebensgefährlich. Baseballschlägerjahre! Auch wurden immer wieder besetzte Häuser angegriffen. Oft unter den Augen der anwesenden Polizei. Diese sah sich nur noch als Beobachter. Schutz brauchte in dieser Zeit niemand von den Uniformierten zu erhoffen. Es gab Tote. Ob man wollte oder nicht, es musste der Selbstschutz organisiert werden. Aus „Keine Gewalt“ wurde „Antifa heißt Angriff“. Es wurde aufgerüstet. Nun wurde es in immer mehr Stadtvierteln auch für Nazis gefährlich. Die Gewaltspirale drehte sich. Es war wie im Bürgerkrieg.

Als am 3.10.1990 die Wiedervereinigung Deutschlands gefeiert wurde, war der Großteil der Ex-DDR-Subkultur nicht gerade begeistert. Es gab Gegendemonstrationen. Die Hoffnung auf eine bessere DDR war zerstört. Aus heutiger Perspektive betrachtet war die Wiedervereinigung vermutlich der einzige Weg, der möglich war. Damals hatten die meisten auf ein Land gehofft, das die guten Seiten des sozialistischen Staates und die des Kapitalismus miteinander vereint. Eine gerechte soziale DDR, in der die Menschenrechte respektiert werden. In der die Bevölkerung Mitspracherecht hat. Eine Demokratie ohne Stasi-Terror. Wir wurden ja alle in eine Welt hineingeboren, in der es immer nur zwei deutsche Staaten gab. Dass daraus jemals ein gemeinsames Land werden würde, lag jenseits unserer Vorstellungskraft.

Der Westen drang in Form von Bananen, schnellen Autos, schicken Klamotten, tollen Möbeln und mit Geld winkenden Kapitalisten ins Land. Nazikader witterten ihre Chance, zogen in den Osten, rekrutierten und schulten die immer größer werdende Naziszene. Dazu kamen Unmengen windiger Verkäufer. Den Ossis konnten sie alles aufquatschen. Auch alle möglichen Kriminellen witterten ihre große Chance. Vom Bankräuber über Trickbetrüger bis hin zum Immobilienspekulanten: Jeder wollte im Osten das schnelle Geld machen. Die maroden Volkseigenen Betriebe wurden geschlossen und abgewickelt. Aus Industriezentren wurden Arbeitslosenzentren. In Folge kam es zu einer erneuten riesigen Völkerwanderung von Ost nach West. Allein aus Halle (Saale) zogen in der Folgezeit fast 90.000 Personen, also etwa ein Drittel der Einwohner*innen, auf der Suche nach Arbeit oder einem besseren Leben in den Westen.

Ganz anders sah es in der subkulturellen Szene aus. Für Punks und Hausbesetzer*innen waren die Zeiten nach der Wende, wenn man von den Problemen mit den Nazis absieht, geradezu paradiesisch. Das zog auch immer mehr Westpunks in den Osten. Die Ex-DDR-Szene wurde nun mit allerlei unschönen und bis dahin unbekannten Marotten konfrontiert. Sich vor einen Einkaufsmarkt zu setzen und mit „Haste ma ’ne Mark“ fremde Menschen anzubetteln, die als Spießbürger verachtet wurden, war eine davon. So was gab es in der DDR-Punkszene nicht. Dazu waren wir viel zu stolz, Punks zu sein. Doch gerade diese Art Bettelpunks verbreiteten sich immer mehr in allen größeren Städten. Ein weiteres Problem, das in den Osten rüberschwappte, waren Drogen aller Couleur. Nicht nur in der Punkszene, aber leider eben auch dort. Immer mehr unangenehme Menschen nahmen inzwischen das Punkoutfit an. Auch was das Randale-Potential betraf, gab es nun keine Grenzen mehr. Manche Punkfestivals hinterließen komplett verwüstete Dörfer oder Stadtviertel und verzweifelte Veranstalter. Alles schwappte ins Extreme. Ratlosigkeit herrschte.

Grenzenlose Randale-Stimmung und sinnlose Zerstörungswut im rechtsfreien Raum? Erklärungsversuche: Der tägliche Stress mit Spießern. Die tägliche Bedrohung durch Nazis. Der immerwährende Kampf mit ihnen. Oft allein auf weiter Flur. Als einziger im Dorf, in der Kleinstadt oder im von Faschisten beherrschten Stadtviertel. Tägliche Gewalt. Brutale Übergriffe. Unter den Augen der tatenlosen Polizei. Unter den Augen der glotzenden Normalbürger. Und plötzlich sind die Punks in der Überzahl. Zu Tausenden. Das ergab einen nicht aufzuhaltenden Eigenlauf. „Jetzt bekommen die alles zurück. Hier und heute haben wir die Macht. Uns kann keiner was. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Und das zeigen wir allen. Wir erschaffen unsere eigenen Chaostage.“ Leider ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Rücksicht auf natürliche Grenzen. Ohne Rücksicht auf die aus den eigenen Reihen kommenden Veranstalter.

Ein großer Teil der alten DDR-Punks legte in dieser Zeit sein Punkoutfit ab. Sie wollten sich nicht mehr mit dieser Art Punks identifizieren. Ich spreche natürlich nicht von der gesamten Punkszene, sondern nur von einem Teil. Dieser dominierte aber leider eine gewisse Zeit lang das Straßenbild. Für uns „Alte“ hatte das nichts mit Punkrock zu tun. „Wenn Sid Vicious den Punk nicht erfunden hätte, wären die genauso dreckig“, war unser geflügeltes Wort dafür. Umso froher war ich, wenn ich immer wieder auf Enklaven wie zum Beispiel Torgau stieß, in denen die alten Werte des Punk noch hochgehalten wurden. Denn mein Herz schlug und schlägt nach wie vor für Punk. Punk verkörpert für mich Kreativität, Freiheit, Musik, Kunst, Widerstand, DIY und Selbstbestimmung.

In meinem Buch berichte ich von längst vergangenen Zeiten, die in dieser Form sicher einzigartig waren. Ein ganzes Land zwischen Aufbruch und Randale. Zwischen Hoffnung und Resignation. Ein Land, eine Subkultur auf der Suche nach sich selbst und nach der Zukunft.

Die Auswirkungen sind bis heute zu spüren. Viele der damals entstandenen Kneipen, Clubs und AJZ sind inzwischen etabliert. Manche Veranstalter managen heute Großveranstaltungen, die weit über die subkulturelle Szene hinaus wirken. Und vieles, was damals subkulturell war, ist heute Mainstream.

Der zerstörte Palast der Republik in den 1990er Jahren in Berlin

Da sich das Rad der Geschichte immer weiterdreht, gehen manche Erlebnisse und Geschichten weit über die Nachwendezeit hinaus. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, einige Kapitel nicht zeitlich zu begrenzen.

Wie alle Zeitzeugengeschichten spiegelt dieses Buch ganz persönliche, subjektive Erlebnisse, Wahrnehmungen und Erfahrungen wieder. Die hier niedergeschriebenen Erinnerungen sind teilweise über 30 Jahre alt und wurden von mir im Zuge der Wiederaufarbeitung und mithilfe von Zeitzeug*innen und Zeitungsartikeln so realitätsnah wie möglich geschildert. Wie mich die Erfahrung lehrt, haben Menschen über lang zurückliegende Ereignisse verschiedene Erinnerungen abgespeichert.

Die Erinnerungen in diesem Buch sind die meinigen.

Dasselbe gilt für die Zeitzeug*inneninterviews. Ich habe mich entschlossen, diese in keinster Weise zu zensieren. Somit geben die Erinnerungen der befragten Zeitzeug*innen ein autarkes Bild ihrer Sicht wieder und müssen nicht unbedingt mit meinen oder oder den Erinnerungen anderer Zeitzeug*innen konform sein.

Ostpunk: Alüt mit Ratte

ANKUNFT IM „GOLDENEN WESTEN“

„Geralf komm sofort!“ Ausreise-Telegramm

Indentitäts-Bescheinigung zur Ausreise in die BRD

Sektkorken knallten auf dem Bahnhof in Wolfsburg. Ein Freund, der schon 1984 ausgereist war, hielt noch viele Sektflaschen in den Händen. Meine „Fast-Frau“ Antje, die mich beinahe durch eine Scheinehe aus der DDR herausgeheiratet hatte, empfing mich jubelnd. Endlich war ich im Westen angekommen. Der Weg dorthin war steinig. Er führte mich durch viele Verhöre der Staatssicherheit über Umwege als politischer Gefangener in den DDR-Knast. Doch nun hatte ich es geschafft. Ich war gespannt auf das fremde Land, in das schon so viele meiner Freunde ausgereist waren. Bunte Lichter und Werbetafeln mit den bis dahin unzugänglichen Westprodukten empfingen mich in Braunschweig. Was wird mich hier erwarten? Normalerweise kamen alle Abgeschobenen, Freigekauften und Ausgereisten in das Erstaufnahmelager in Gießen. Das lehnte ich aber kategorisch ab. Ich hatte keinen Bock mehr, eingesperrt zu sein. Keinen Bock mehr auf DDR-Bürger. Keinen Bock mehr auf den Osten. In ein Lager wollte ich nicht gehen. So führte mich mein Weg direkt wieder in eine Außenseiterrolle. „Sie müssen in das Aufnahmelager in Gießen“, sagten sie mir auf allen Ämtern, die ich aufsuchen musste, um „richtiger“ BRD-Bürger zu werden. Ich weigerte mich. Und siehe da, es gab eine Möglichkeit. Alle erforderlichen Behördengänge ließen sich auch in Braunschweig erledigen. Es dauerte zwar etwas länger und ich musste viel diskutieren, aber so nach und nach hatte ich alle notwendigen Papiere in der Hand.

Der Westen faszinierte mich am Anfang. Aber er überforderte mich auch komplett. Alles, was ich 25 Jahre als DDR-Bürger gelernt hatte, galt hier nicht mehr. Damit meine ich nicht die sozialistische Propaganda, sondern meine Lebenserfahrung. Einkaufen wurde zum totalen Stress. Zu einer Grenzerfahrung. Beim Bäcker gab es plötzlich Unmengen verschiedener Sorten Brot und Brötchen. In der DDR gab es immer nur eine Sorte Brötchen und eine Sorte Brot. Und das DDR-weit. Beim Fleischer gab es zigtausend Sorten Wurst und Fleisch. Im Osten gab es fast keine Auswahl. Höchstens wenn man Beziehungen hatte. Fliesen gegen Wurst und Fleisch. „Können Sie meinen Fernseher reparieren? Dann muss ich nicht acht Wochen auf die Reparatur warten.“ Im Gegenzug bekam man dann etwas von der „Bückware“. Also Ware, zu der der Fleischer sich dann unter die Ladentheke bücken musste, um sie heimlich hervorzuholen. In Papier verpackt, sodass niemand sehen konnte, was im Päckchen war. Selbst der bevorzugte Käufer wusste nicht, was er kaufte. Ich war vollkommen überfordert vom riesigen Angebot an Obst, Gemüse und Käse. In der DDR gab es meistens nur eine Sorte Käse und bei Obst oder Gemüse kaufte man das, was vorrätig war, sofern es überhaupt etwas gab. Meistens ging man mit leeren Händen aus dem Laden. Hier wurde ich von der Warenvielfalt fast erschlagen.

Der erste Hamburger im „goldenen Westen“

Als ich den ersten Punk in Braunschweig sah, ging ich freudestrahlend auf ihn zu und sprach ihn an. Da er sehr reserviert reagierte, fragte ich zur Gesprächsauflockerung pro forma nach einem Schluck Bier. Das war in der gesamten DDR die ganz normale, tägliche Kontaktaufnahme der subkulturellen Jugendlichen untereinander. So kam man überall schnell ins Gespräch. Dieser Zusammenhalt war selbstverständlich und überlebensnotwendig in der Diktatur des Proletariats. „Kauf dir dein Bier doch selber!“, lautete die unerwartet unfreundliche Antwort. So etwas hatte ich weder in meiner gesamten Zeit in der DDR-Subkultur noch in der ungarischen oder tschechoslowakischen Szene zu hören bekommen. Mein Interesse daran, diesen, ersten „Westpunk“ kennenzulernen, sank im selben Moment gegen null. „Hier scheinen die Uhren anders zu ticken“, ging es mir durch den Kopf.

Ständig war ich überreizt und fand mich nicht wirklich in der neuen Welt zurecht. Von früher ausgereisten Punks wusste ich, dass so etwas als „Mauerpsychose“ diagnostiziert werden kann. Also ging ich in Braunschweig erst einmal zum Psychiater. Wie schon auf allen Ämtern der Stadt war ich auch in der Arztpraxis der Erste mit solch einem Anliegen. Der Arzt konnte mit mir nichts anfangen und schickte mich nach Hause. Da ich eine Adresse von einem Arzt in Westberlin hatte, der sich auf diese Art Psychose spezialisiert hatte, entschloss ich mich, nach Westberlin zu trampen. Leider lag Westberlin inmitten der DDR. Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder durch dieses verhasste Land fahren zu müssen. „Was, wenn die mich auf der Transitstrecke aus dem Auto zerren?“ In Helmstedt staute sich der Verkehr an der Ostgrenze. Viele Tramper und Tramperinnen sprachen die Autofahrer an und suchten eine Mitfahrgelegenheit. Ich hatte Glück. Zwei Frauen, um die 30 Jahre alt, alternativ aussehend, nahmen mich mit. An der Grenze hatte ich ein sehr ungutes Gefühl, aber die Grenzer ließen uns passieren. Ich hatte ja inzwischen einen westdeutschen Pass, gehörte nun offiziell zwar zum Klassenfeind, aber war als Einzelperson nicht mehr interessant. Froh über die verhältnismäßig unkomplizierte Grenzüberschreitung fuhr ich nun in einem Westauto durch mein altes Heimatland. Doch meine Freude war nicht von langer Dauer. Nicht weil die feindliche Staatsmacht außerhalb des Autos lauerte. Nein, ich musste erkennen, dass ich aufgrund meines Geschlechts zur Zielscheibe wurde. Die beiden Frauen begannen ein Gespräch darüber, ob es im Osten eine Frauenbewegung gebe und klärten mich über Sexismus in der DDR auf. Ich wusste zunächst so gar nicht, was diese beiden Damen von mir wollten. Da ich keine Antworten geben konnte, ob es in der DDR eine Frauenbewegung gab oder nicht, fingen sie an, mich zu beschimpfen. „Warum haben diese beiden Frauen mich überhaupt mitgenommen?“, ging es mir durch den Kopf. Sie erinnerten mich mehr und mehr an die besoffenen Proletarier-Frauenkollektive, die sich jedes Jahr am 8. März, dem Internationalen Frauentag, gemeinschaftlich während der Arbeitszeit in den DDR-Produktionsstätten volllaufen ließen und jeden, der vorbeikam, mit vulgären Sprüchen belästigten. Oh, wie ich den 8. März in der DDR hasste. Doch hier im Auto saßen keine vollgesoffenen Proletinnen untersten Niveaus. In der DDR hätte ich die zwei Frauen aufgrund ihrer Optik eher in die alternative kirchliche Friedensbewegung eingeordnet. Am liebsten wäre ich ausgestiegen, aber das war mitten auf der Transitstrecke nicht möglich. Eingesperrt in einem Westauto auf der DDR-Autobahn. Na danke. Die beiden Damen im Auto meckerten immer noch auf mich ein. Weil ich ihnen keine Antwort auf ihre Fragen geben konnte, fühlten sie sich immer mehr in ihrer Meinung bestätigt. Alle Männer seien Sexisten. Sonst würde ich ja von den unterdrückten Frauen in der DDR etwas wissen. Da sie mich inzwischen nur noch anbrüllten, war ich froh, als endlich die Grenze zu Westberlin in Sichtweite war. Die Kontrolle durch den Grenzbeamten nahm ich gar nicht mehr wirklich wahr. Sobald wir die Grenze passiert hatten, flüchtete ich aus dem Auto. Ich verstand den Westen und die darin lebende Bevölkerung immer weniger. Der Westberliner Psychologe allerdings verstand mich. „Sie haben eine Mauerpsychose“, sagte er und schrieb mich drei Monate krank. Damit ich erst mal im Westen ankommen konnte.

1989 beim Bizarre-Festival auf der Loreley

BUTTERFAHRT NACH DÄNEMARK

 

Im August 1989 gelang meiner Freundin Daniela, damals gerade mal 17 Jahre jung, mithilfe von Freunden aus der ungarischen Subkultur die abenteuerliche Flucht nach Österreich. Nun versuchten wir, gemeinsam in Braunschweig in dieser neuen fremden Welt klarzukommen. Doch wir verstanden das hiesige Denken nicht und genauso ging es den Braunschweigern mit uns wohl auch.

In den bunten Westzeitungen, die es hier überall gab, strahlte uns eine Annonce an: „Butterfahrt nach Dänemark nur 19,99 DM.“ Dazu wurden allerlei Gratis-Geschenke angepriesen. Gepökeltes Eisbein, Wurstbüchsen, eingeschweißte Wurst- und Fleischwaren, eine Handnähmaschine und vieles mehr. Na wenn das nicht eine Chance war, superbillig nach Dänemark zu kommen! Dort wohnte die Olsenbande. Egon Olsen, Benny und Kjield. Dieses grandiose Gaunertrio, das damals die Lachmuskeln aller Kinogänger strapazierte. Die Olsenbande lief überall in der DDR rauf und runter. Doch Dänemark lag damals wie alle Länder des kapitalistischen Auslands in unerreichbarem, verbotenem Gebiet. Wir schauten erst einmal auf einer Westlandkarte nach, wo dieses Dänemark überhaupt liegt. In der Annonce stand ja Transport per Bus und Boot. Es musste also irgendwo am Meer liegen. Unser Vorschlag, zusammen diesen Dänemark-Ausflug zu machen, stieß bei unseren Braunschweiger Bekannten nur auf verständnisloses Kopfschütteln. Wir fragten noch eine Freundin, die auch gerade aus der DDR ausgereist war, die sofort zusagte. Sie fieberte genauso aufgeregt wie wir der Reise nach Dänemark entgegen. An der Bushaltestelle saßen nur sehr alte Omas und Opas. Nicht nur sie, auch die Butterfahrtreiseleiter musterten uns ausgiebig. Drei Jugendliche mit knallbunten Haaren zählten wohl nicht zu ihrem üblichen Kundenkreis. Egal. Wir stiegen ein und saßen nun im vollen Bus Richtung Norden. Volle Pulle dröhnten die angesagtesten Songs der Volksmusik- und Schlagerszene die ganze Fahrt lang in unsere Ohren. Im Bus war eine heitere Stimmung. Die alten Leute sangen und klatschten lautstark mit. Auf der Fähre wehte ein starker Wind. Wir sahen das erste Mal im Leben die raue Nordsee und betraten erstmalig ein fremdes westliches Land und lauschten der fremden Sprache, die sich recht lustig anhörte. Da wir die Olsenbande bestimmt nicht treffen würden, reichte uns das schon. Aber in der Annonce stand ja, es gäbe auch noch allerlei schöne preiswerte Dinge zu kaufen. Der Bus fuhr also von der Fähre, sammelte uns wieder ein und stoppte dann irgendwo im Niemandsland. Dort stand ein Haus. Die Türen wurden aufgeschlossen und alle liefen hinein. Wir drei wurden unauffällig zur Seite gewunken. Dann sagte uns der Reise- oder besser der Verkaufsleiter, dass er uns so einschätzt, dass wir sicherlich kein Interesse an den Waren haben würden, die dort verkauft werden. Aber wir sollen uns ruhig verhalten und nicht stören. Im Gegenzug bekämen wir eine Flasche Rotwein, die wir während der Verkaufsveranstaltung trinken dürfen. Wenn sie alle ist, sollten wir uns melden, dann bekämen wir eine neue. Wir sollten einfach nur nicht stören. Da wir ja nicht mal wussten, was uns hier überhaupt erwartet, willigten wir ein und freuten uns auf den Gratis-West-Rotwein. Wir nahmen an unserem Tisch Platz und gaben beim Hinsetzen noch zum Besten, dass wir frisch aus der Ostzone kämen. Das war wohl ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Die Türen wurden verschlossen und schon ging es los. Erst bekamen alle die versprochenen Geschenke. Dann wurde eine Lammfell- und Lama-Decke nach der anderen präsentiert. Scheuermittel und schweineteure Kochtöpfe. Da aber die Rentner keine Lust verspürten, die völlig überteuerten Waren zu kaufen, wurde immer mal wieder auf uns verwiesen. „Die armen Brüder und Schwestern in der Ostzone würden sich freuen, so etwas Schönes kaufen zu können.“ Alle Köpfe drehten sich nach uns um. Mitleidige Blicke wurden uns zugeworfen. „Und ihr verschmäht dieses schöne Warenangebot“, fuhr der Verkäufer fort. Immer wieder wurde auf die Kosten für die schöne Butterfahrt, die Freigetränke und die Geschenke hingewiesen. „Das bezahlt sich doch nicht von alleine!“ Unsere erste Rotweinflasche war inzwischen leer. Leicht angeschwipst forderten wir eine neue. Der Veranstalter brachte diese eilig. Wir öffneten sie und schauten weiter der surrealen West-Verkaufsshow zu. Das war für uns wie Westfernsehen, nur eben live. Da immer noch niemand etwas kaufen wollte, wurde nun der „Schwede“ herangeholt. Dieser war ein blonder, hochgewachsener muskulöser Typ, der extrem gewalttätig aussah und den man in einen Anzug gepfercht hatte. „Geizig! Geizig!“, brüllte er die alten Leute an. Dazu stülpte er das Innere seiner Hosentaschen nach außen und ging auf jede Oma und jeden Opa persönlich zu. „Geizig! Geizig!“, schrie er jeden Einzelnen an und schaute dabei so finster drein, dass wir uns wirklich wie in einem B-Movie-Thriller fühlten. Der Bösewicht war live vor Ort. Nun bekamen die Ersten Angst und kauften einige von den überteuerten Scheuermitteln. Ich befürchtete, dass er gleich dem ersten Rentner eine reinhaut. Hinter ihm wurden wieder die extrem teuren Lamm- und Lama-Decken präsentiert. Doch keiner wollte sie kaufen. „Geizig! Geizig!“, schrie tobend der „Schwede“. So nach und nach kaufte fast jeder außer uns eine Flasche Scheuermittel, um seine Ruhe zu haben. Eine Oma, die schon seit einiger Zeit Röchelgeräusche von sich gab, meldete sich. Sie fragte, ob sie etwas sagen dürfe. „Nein! Erst wird gekauft!“ Eine weitere Oma meldete sich und sagte schüchtern, dass die alte Frau Blutdruckprobleme hätte. Sie müsste an die frische Luft. „Nein, erst wird gekauft!“ „Geizig! Geizig!“, schrie der Schwede dazwischen. Als die alte Dame nach Luft hechelte und kurz vorm Kollabieren war, durfte sie endlich von ihrer Freundin herausgebracht werden. Auch der „Schwede“ und der Verkäufer standen kurz vorm Herzinfarkt. Knallrot im Gesicht, stinksauer darüber, dass niemand etwas Teureres kaufte als die überteuerten Scheuermittel, gaben sie schließlich auf und beendeten die Veranstaltung. Für uns war das ganz großes Kino. Wir hatten Gänsehaut und waren inzwischen schon mächtig beschwipst. Die Türen wurden aufgeschlossen und die Rentnerreisegruppe lief eingeschüchtert zum Bus. Wir torkelten hinterher. Beladen mit noch einer Flasche Wein und den Gratis-Geschenken. Gepökeltes Eisbein, Wurstbüchsen, eingeschweißte Wurst- und Fleischwaren, eine Handnähmaschine und noch viel mehr. Mit Bus und Fähre ging es zurück nach Braunschweig.

Daniela und Geralf im Sommer 1989 in Ungarn im Keleti pályaudvar — der Gedanke an Flucht keimt auf.

Butterfahrt nach Dänemark — Geralf und Daniela

Wieder angekommen in unserer WG, in die wir gerade eingezogen waren, packten wir alles Essbare in den Gemeinschaftskühlschrank, der vor lauter gepökelten Eisbeinen und Wurst und Fleischwaren aller Art fast aus den Nähten platzte. Als unsere Mitbewohner nach Hause kamen, wollten wir gleich mit ihnen zusammen unsere Speisen essen. Doch sie waren vor uns am Kühlschrank. Es folgte ein Entsetzensschrei. Was denn das für fürchterliche Sachen in ihrem Kühlschrank wären. Das müsste sofort alles raus. Sofort! Wir waren verwirrt. Das schöne Westessen. Warum sollte es raus? Wir mussten wieder dazulernen. In der BRD gab es Menschen, die als Vegetarier lebten. So etwas kannten wir aus der DDR nicht. Wie sollte man sich denn bitteschön von Weißkraut und Rotkraut, welches das einzige Gemüse war, das es in der DDR immer gab, ernähren? Auch Obst gab es ja so gut wie nicht zu kaufen. Wir verstanden die Welt nicht mehr. Nicht dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass es im Westen möglich war, sich vegetarisch zu ernähren, bei diesem riesigen Warenangebot. Uns verwunderte, dass nicht toleriert wurde, dass wir unser Fleisch im Gemeinschaftskühlschrank lagerten. Nach langer Diskussion gaben wir auf. Wir nahmen die gepökelten Eisbeine und alle Wurst- und Fleischwaren aus dem Kühlschrank und versuchten, sie zu essen. Das meiste davon war fürchterlich und die gepökelten Eisbeine schmeckten wie gesalzenes Leder. Essen konnte man das auf die Schnelle nicht. Lagern konnte man das Fleisch ohne Kühlschrank aber auch nicht. So wurden wir zum ersten Mal Teil der westlichen Wegwerfgesellschaft und schmissen alles in den Mülleimer.

Nach der Flucht: „Große Freiheit“ 1989

Sturm auf der Fähre nach Dänemark

Die Fähre nach England bei Calais

WIE WIR DEM SHAM-69-SÄNGER JIMMY PURSEY BEGEGNETEN

 

Begierig danach, fremde Länder kennenzulernen, begannen wir auf der Landkarte auszukundschaften, wo die auf DDR-Landkarten nur grau dargestellten Staaten lagen. Rot waren alle Länder des sozialistischen Weltsystems. Grau der Rest. Grau und ohne viel Beschriftungen. Als nächstes wollten wir nach Frankreich. Französischer Punkrock lief in der Ostpunkszene rauf und runter. Ludwig von 88 und Bérurier Noir fehlten bei keiner Party. Auch kannten wir alle Filme mit Louis de Funès. Diese liefen jeden Sommer in den Zeltkinos am Ostseestrand. Das waren genug Gründe, dieses Land zu besuchen. Doch wo lag das besagte Frankreich? Zu DDR-Zeiten waren der Mond, Kolumbien, Kenia, USA, Indien oder Frankreich in etwa dasselbe für uns. Alles unerreichbar. In der Schule lernten wir praktisch nichts über die grauen Gebiete. Nur dass dort die Menschen arm sind und von den Kapitalisten ausgebeutet werden. Und dass die Kinder außerhalb des sozialistischen Staatensystems fast alle hungerten.

Zu unserem Erstaunen grenzte Frankreich direkt an die BRD. Wir schnappten unsere Schlafsäcke und stellten uns an die Autobahn. Den Daumen hoch und schon saßen wir in einem teuren Westgefährt. Der Fahrer stellte seinen Tempomat auf 220 km/h. Ununterbrochen bremste das Fahrzeug ab. Nur den Anschnallgurten war es zu verdanken, dass wir nicht durch das Auto flogen. Er schimpfte wie ein Rohrspatz auf die Autofahrer, die es wagten, nur 120–180 km/h auf der Überholspur zu fahren. „Dich zeige ich an, du Arschloch! Wer hat dir denn das Autofahren beigebracht?“ Währenddessen schrieb er sich einhändig die Nummernschilder besagter Wagen auf. Uns wurde angst und bange! An einer Raststätte irgendwo im tiefsten Westen ließ er uns schließlich raus. Uns war kotzübel. Während wir nach Luft schnappten, kam ein bunter Kleinbus auf die Raststätte gefahren. Aus ihm stiegen einige Punks. Wir gingen sofort auf einen zu und fragten, ob sie uns mitnehmen könnten. Der nette ältere Punk antwortete irgendwas auf Englisch. Diese Sprache war für Ostdeutsche genauso fremd wie Chinesisch. In der DDR war Russisch das Sprach-Pflichtfach. Der Punk nuschelte irgendetwas und wir filterten die Namen Sham 69 und Jimmy Pursey aus dem Kauderwelsch heraus. „Ah, ihr fahrt zum Sham-69-Konzert. Könnt ihr uns mitnehmen?“, fragten wir. „No, we are Sham 69. I’m Jimmy Pursey“, antwortete er. Wir verstanden nichts, waren uns aber sicher, dass diese Punks mit ihrem Kleinbus zu einem Sham-69-Konzert fahren würden. Wir erklärten, dass wir frisch aus der DDR kamen. Das verstand einer der englischen Punks und horchte interessiert auf. Nach weiteren zehn Minuten des Erklärungsversuchs bezüglich ihrer Identität ging der ältere Punk zum Kleinbus. Er kam mit zwei Sham-69-T-Shirts in der Hand zurück. Dann drückte er uns lächelnd die Kleidungsstücke in die Hand und zeigte auf sich: „I’m Jimmy Pursey.“ Dann wies er auf die restlichen Punks aus dem Kleinbus. „We are Sham 69.“ Nun verstanden wir es. Wir standen vor der Kultband Sham 69 aus England. Wahnsinn! Anfang der 80er hatte ich die ersten Songs von Sham 69 bei der John-Peel-Session im britischen Radio mitgeschnitten. Nun standen wir vor dieser Band. Der Kleinbus war voll. Aber Jimmy Pursey lud uns nach England ein. Zu einem Festival, auf dem sie spielten. Er schrieb eine Adresse auf. Wir könnten bei ihm wohnen. Der Bus fuhr weiter und wir blieben zurück mit unseren Sham-69-T-Shirts in der Hand und neuen Plänen im Kopf. Wir fahren nach Großbritannien! Zu unserem ersten britischen Punkfestival und zu Jimmy Pursey. Wahnsinn! Wo liegt denn eigentlich England? Wir fanden heraus, dass es gleich an Frankreich grenzt. Na klar. Der französische Freibeuter Robert Surcouf, der „Tiger der sieben Meere“, hatte in meiner Kindheit in der Fernsehserie Das Wappen von Saint Malo ja immer auf hoher See mit den Engländern gekämpft.

Frankreich 1989

Am Strand in Calais

Geralf 1989 mit Jimmy Purseys Sham-69-T-Shirt

Wir trampten nach Calais. Dort gab es eine neue Hürde. Das Meer versperrte den direkten Weg nach Großbritannien. Aber von hier fuhr eine Fähre. Wir waren unserem Ziel verdammt nah. Doch die Fährtickets waren für uns unerschwinglich. Unser Geld reichte einfach nicht. Wir schliefen mehrere Nächte in Calais am Strand und hofften auf irgendeine glückliche Fügung. Doch es fügte sich nichts. Unser Geld reichte nicht. Traurig gaben wir auf und trampten irgendwann zurück nach Braunschweig. Aber wenigstens hatten wir Frankreich gesehen. Und wir hatten Schätze im Gepäck. Zwei Sham-69-T-Shirts und die Adresse von Jimmy Pursey.

DAS IST UNSER HAUS – WOHNRAUMBESCHAFFUNG IN WESTBERLIN

 

Da wir das Leben in Braunschweig nach kürzester Zeit satthatten, planten wir nach Westberlin zu ziehen. Dort lebten inzwischen Hunderte Ex-DDR-Punks. Eine riesige Ostsubkultur-Gemeinde. Als minderjährige, 17-jährige Republikflüchtige und deren Fluchthelfer durften wir nicht die Transitstrecke durch die DDR benutzen. Wir wären sofort verhaftet worden. Somit gab es nur eine Möglichkeit, die Mauerstadt zu erreichen. Wir mussten fliegen. Als wir in Westberlin aus dem Flugzeug stiegen, hatten wir keinen blassen Schimmer, wo wir wohnen könnten. Aber auch hier halfen sich die vielen Exil-DDR-Punks untereinander. Anmelden konnten wir uns beim AG-Mauerstein-Akteur Igor und seiner Frau Jeanette, die dort inzwischen eine Wohnung besaßen. Laut Einwohnermeldeamt wohnten dort inzwischen Unmengen von ausgereisten DDR-Bürgern. Susi B. aus Halle (Saale) bezog gerade eine winzige Wohnung in Moabit. Dort konnten wir für kurze Zeit zwischen Farbdosen und sonstigen Malerutensilien unterkommen. Doch wo wollten wir danach wohnen? Da sahen wir in den Nachrichten einen Bericht über eine gerade vollzogene Hausbesetzung in Westberlin. Die Hochhäuser des Schwesternwohnheims des Rudolf-Virchow-Universitätsklinikums in der Sylter Straße. Die Besetzer sagten in der Sendung, es wäre noch viel Platz für weitere Besetzer. Mucksmäuschenstill hörten wir ihnen zu und dann war uns sofort klar: Das ist es!

Das besetzte Haus in der Sylter Straße

Am nächsten Tag nahmen wir unser spärliches Hab und Gut, das in zwei kleine Rucksäcke passte, und suchten diese Gebäude auf. Es kribbelte im Bauch. Sieben Jahre nach meiner stillen Besetzung in Halle (Saale) stand ich nun kurz davor, Hausbesetzer in Westberlin zu werden. Und das nicht still und heimlich wie im Osten üblich, um nicht aufzufallen, sondern laut. Mit Transparenten und viel Tamtam. Alle Balkons waren zu Spruchbändern umfunktioniert worden. Auf ihnen wurde mehr bezahlbarer Wohnraum gefordert. Auch alle möglichen politischen Ziele waren dort zu lesen. Das interessierte uns damals nicht. Wir suchten einfach nur einen Platz zum Wohnen. Und das mit viel Kontakt zur Subkultur. Hier waren wir richtig. Es traf noch ein weiterer Ex-DDR-Punk aus Eisenach ein. Etliche Wohnungen im Hochhaus standen noch leer. Wir besetzten eine ganze Etage. Ich glaube, es war die fünfte. Das war nun die Etage der Ostler.

Wir bleiben drin!

Während wir nur wohnen und Spaß haben wollten, hatten die Westberliner Besetzer etwas Größeres vor Augen. Sie hatten vielerlei politische Ziele und hielten ununterbrochen Versammlungen ab. Diese nannten sie Plenum. So was kannten wir aus der DDR-Subkultur überhaupt nicht. Es wurde diskutiert und diskutiert und diskutiert. Ab und zu wurde über etwas abgestimmt und dann wieder diskutiert. Wir verstanden kaum ein Wort. Wir verstanden auch nicht, dass sich alle hier vom Staat so extrem eingeengt fühlten. Für uns war es, im Gegensatz zum Leben in der DDR, die totale Freiheit. Ein Hochhaus zu besetzen, Transparente mit Sprüchen drauf, für jeden lesbar, anzubringen. Das alles hätte in der DDR unweigerlich zu langjährigen Haftstrafen für alle Beteiligten geführt. Wir Ostler versuchten, auf den Plena immer wieder unsere, ganz andere, Sichtweise rüberzubringen. Aber keiner verstand uns. Wir waren für die Westberliner Hausbesetzer irgendwie Ost-Exoten, die keine Ahnung von der Welt hatten. Ostdeutsch und Westdeutsch waren hier zwei total verschiedene Sprachen. Nach und nach zogen wir uns von den zahlreichen Plenumstreffen zurück und genossen unsere neu gewonnene Freiheit. Massig Wohnraum in einem besetzten Hochhaus in Westberlin. Was wollten wir mehr?!

Nach der Räumung

Doch das neue Wohnraumglück währte nicht lange. Mitten in der Nacht wurden wir von unseren Mitbewohnern unsanft geweckt. „Die Bullen kommen! Sie räumen! Wir müssen uns wehren! Wir müssen das Haus bis zuletzt verteidigen!“ Wir schauten schlaftrunken aus dem Fenster. Unzählige Polizisten in voller Montur mit Helm, Gummiknüppel und Schutzkleidung hatten das Haus umstellt. Wasserwerfer und sogar ein Räumpanzer standen bereit. Ein Stechen durchzuckte meinen Magen. Das sieht nicht gut aus. Einen Kampf konnten wir angesichts dieser Übermacht nicht gewinnen. Die Besetzer legten die Fahrstühle still. Das Treppenhaus wurde von unten bis zur sechsten Etage verbarrikadiert. Die Polizei versuchte daraufhin, in das total verrammelte Haus mithilfe von Gewalt einzudringen. Die Besetzer fingen an, Gegenstände aus den oberen Etagen auf die Polizeibeamten zu werfen. Ich bekam mehr und mehr Angst. Inzwischen flogen auch Einrichtungsgegenstände, Schränke und Kühlschränke aus den Fenstern. Die Polizei versuchte, die verbarrikadierte Tür mit dem Räumpanzer einzudrücken. Wir Ostler waren vollkommen überfordert mit dieser krassen Form der Gewalt. Das war wie im Krieg! Mit den Gewalterfahrungen der DDR-Volkspolizei gegen Andersdenkende im Hinterkopf hatte ich nur noch einen einzigen Gedanken: „Wenn die Polizei hier reinkommt, schlagen die uns tot!“ Es gelang ihnen, ins Haus einzudringen. Stundenlang versuchten sie, von Etage zu Etage bis zu uns Besetzern vorzudringen. Die Barrikaden und Wurfgeschosse konnten das Ganze nur verzögern, nicht aber aufhalten.

Es war inzwischen schon Mittag und unten vor dem Haus hatten sich etwa 1.000 Befürworter der Besetzung zu einer Unterstützerdemonstration versammelt. Nun hatte die Polizei an zwei Fronten zu kämpfen. Immer mehr Polizei-Verstärkung traf ein. Auch die Demonstranten wurden immer mehr und immer aggressiver. Wir hatten uns inzwischen in das oberste Stockwerk zurückgezogen. Wir hörten die Polizei, die mit schwerem Räumgerät Treppenstufe für Treppenstufe erkämpfte und immer näher kam. Wir hatten fürchterliche Angst. Ich fühlte mich wie in einer Hinrichtungszelle. Auch in dieser Situation gab es ein weiteres Plenum. Es wurde beschlossen, dass alle auf das Dach steigen. Dort sollten wir eine Menschenkette um den Rand des Daches bilden. Alle sollten sich anfassen und der Polizei drohen, dass wir gemeinsam in den Tod springen, wenn die Räumung nicht sofort beendet würde. Das war zu viel. Wir drei Ostdeutschen legten Veto ein. Egal, was die anderen machten, wir würden nicht mit auf das Dach klettern und unser Leben aufs Spiel setzen. Wir waren froh, im Westen gelandet zu sein. Dafür hatten wir lange gekämpft. Wir kannten das Leben in einer Diktatur. Wir waren froh über die Möglichkeiten, die uns der Westen bot. Da springen wir doch nicht vom Hochhaus, um als Märtyrer zu sterben. Ob es nun in unseren Augen gerecht oder ungerecht war, dass das Haus geräumt wurde, spielte in diesem Moment keine Rolle. Die Westberliner Besetzer versuchten, uns zu überzeugen, dass wir doch zusammenhalten müssten. Und das ginge nur, wenn wir alle auf das Dach klettern würden. Wir drei Ostler weigerten uns beharrlich. Man hielt uns nun zwar für komplett verrückt, feige und unsolidarisch, aber da mussten wir durch. Wir wollten sehen, was uns das neue Leben in der unbekannten Gesellschaft noch bringt und nicht auf das Dach klettern und gemeinschaftlich runterspringen. Selbst wenn das nur als Drohung geplant war. Sobald einer die Nerven verliert, stolpert, fällt oder springt, fallen alle hinterher.

Wir beschlossen, uns in dem Raum, in dem wir saßen, einzuschließen. Bis die Polizei uns räumt. Wir bekamen noch Anweisungen, wie wir uns besonders schwer machen können, wenn sie uns raustragen, und wie man die Fingerabdrücke bei der erkennungsdienstlichen Behandlung verwischt. Die Polizei kam immer näher. Wir sangen gemeinschaftlich Ton-Steine-Scherben-Lieder: „Das ist unser Haus …“ Doch der Kampf war schon lange entschieden. Polternd schlugen sie mit schwerem Räumgerät an die letzte verbliebene Tür, „… uns kriegt ihr hier nicht raus …“. Mit einem lauten Knall zerbrach die Tür in 1.000 Stücke. In voller Panzerung drang die Polizei in unser letztes Rückzugsgebiet ein. Wir hatten uns alle gegenseitig eingehakt. Die wütenden Beamten gingen nicht gerade zimperlich mit uns um. Einer nach dem anderen wurde aus dem Raum getragen. Ängstlich saß ich im Polizeiwagen und erwartete nun U-Haft und einen Gerichtsprozess. Doch nach nur einer Stunde war ich wieder frei. Nicht mal die Finderabdrücke hatte man mir abgenommen. Es gab auch Besetzer, die länger verhört wurden, aber nach ein paar Stunden waren alle wieder frei. Die Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs wurden alle nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Der Westen tickte wirklich anders!

Daniela und Geralf mit Hausbesetzertranspi

Grenzüberschreitung — Der wilde Osten stürmt den Westen (Fotomontage)

DER FALL DER MAUER

 

Kurz vor unserer „Übersiedlung“ nach Westberlin trampten Daniela und ich im Herbst 1989 nach Venedig. Wir wollten noch einmal in den Süden, ins Warme. Uns war bewusst, dass, erst einmal in der Mauerstadt angekommen, Reisen für uns nicht mehr möglich sein würden. Die Transitstrecken durch die DDR durfte ich als Fluchthelfer nicht mehr befahren, Daniela als Republikflüchtige sowieso nicht. Also machten wir uns ein letztes Mal von Braunschweig aus auf den Weg.

Dass der Brennerpass auf unserer Reiseroute lag, wussten wir vorher nicht. In 1370 Metern Höhe verbrachten wir unsere erste Nacht im Freien. Es herrschten Minusgrade und wir froren, aber im Dunkeln konnten wir nicht weitertrampen. Am nächsten Tag nahm uns dann ein Alt-Hippie mit. Die ganze Zeit über fuhr er nie schneller als 50 km/h. Und er fluchte über jeden einzelnen, der ihn überholte. Und es überholten alle!

Als wir in Venedig ankamen, lernten wir einen Punk kennen. Wir fragten ihn nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Er lud uns zu sich ein. Es gibt also doch Zusammenhalt im Westen. Vor einem Bankgebäude deutete er an, dass wir unser Ziel erreicht hätten. Verwundert sahen Daniela und ich uns an. Wir verstanden nur Bahnhof. Er zeigte auf einen Lüftungsschacht, aus dem warme Luft kam. Dann holte er aus einem Versteck einen keimigen Schlafsack hervor und legte sich damit an das Schachtgitter. Nun verstanden wir. Er war obdachlos und bot uns an, in seiner Nähe zu schlafen. So was kannten wir Ex-Ossis nicht. In der DDR lebten alle Punks und andere Aussteiger entweder in still besetzten Wohnungen bzw. Häusern oder noch bei ihren Eltern. Manche hatten auch legale Wohnungen, die sie über die verschiedensten Tricks ergattert hatten, denn auf normalem Weg war es ausgeschlossen, an eine Wohnung zu kommen. Zehn Jahre und mehr dauerten die Wartezeiten. Wer bei seinen Eltern rauswollte, wurde von anderen Punks aufgenommen, bis er selbst eine Bleibe fand. Obdachlosigkeit gab es in der subkulturellen Szene damals nicht. Wir waren geschockt, und wenig begeistert suchten wir uns eine eigene Schlafstätte unter freiem Himmel.

Venedig war für uns sehr exotisch. Die Bauten, die Kanäle mit den Gondeln und der überfüllte Markusplatz. Abgelegen vom Touristenrummel fanden wir die verfallenen Gassen, die in dem ungewöhnlichen Grusel-Thriller Wenn die Gondeln Trauer tragen und Klaus Kinskis Nosferatu in Venedig als Filmkulisse dienten.

An einem Zeitungsladen sahen wir plötzlich Leipzig und Halle (Saale) auf dem Titelblatt. Was da stand, war für uns nicht verständlich, aber die Bilder sprachen für sich. Riesige demonstrierende Menschenmassen mit Plakaten in den Händen, auf denen Reformen und Demokratie gefordert wurden. Wir konnten es kaum glauben. In einer Kneipe lief ein Fernseher. Auch dort dieselben Bilder. In der DDR brodelte es. Und besonders in Leipzig und Halle (Saale). Auch wenn wir nichts verstanden, erkannten wir die Orte sofort, an denen sich diese Ereignisse abspielten.

Geralf auf dem Markusplatz in Venedig

Am Schauplatz des Films „Wenn die Gondeln Trauer tragen“

Oktober 1989 — Trampen nach Venedig

Als wir wieder zurück in Westberlin waren, verfolgten wir jede Meldung über die Montagsdemonstrationen, über die Reformbewegung, über die Massenausreisen. „Wenn es jetzt so in der DDR zugeht, werden die bald Waffen einsetzen. Die Reformbewegung wird blutig niedergeschlagen. Wie in Peking“, dachte ich damals. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4.6.1989 verurteilte fast die ganze Welt die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung. Nur wenige Länder, darunter die DDR und die Sozialistische Republik Rumänien mit ihrem Diktator Nicolae Ceauşescu, gratulierten China. Das Politbüro der SED entwarf eine Resolution, in der die DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der „konterrevolutionären Unruhen“ bekannt gab.

Die Nachricht an die DDR-Bevölkerung war klar. Wenn es hier zu einer ähnlichen Demokratie-Massenbewegung kommt, wird diese mit Gewalt niedergeschlagen.

Seit der Flucht Danielas waren wir auch im Westen auf der Hut vor der Staatssicherheit. Und auch auf der Hut vor den BRD-Beamten. Daniela war minderjährige Republikflüchtige, ich ihr Fluchthelfer. Auf einem Amt hatte man mir erklärt, dass geflüchtete Jugendliche unter 18 Jahren wieder in die DDR abgeschoben werden. Also haben wir einfach das Geburtsdatum von Daniela geändert, sodass sie offiziell volljährig war. Doch wir waren trotzdem vorsichtig und meldeten sie nirgendwo an.

Wir hatten solch eine Angst, dass die Staatssicherheit herausbekommt, wo wir uns aufhielten, dass wir falsche Spuren legten. Ein Telegramm aus Amsterdam: „Wir wohnen jetzt hier. Uns geht es gut. Liebe Grüße…“. Eine Postkarte aus Venedig: „Leben jetzt in Italien…“. Solche Mitteilungen schickten wir aus dem Ausland an unsere Verwandten. Wohlwissend: Die Staatssicherheit liest mit. Der DDR-Geheimdienst sollte nicht herausfinden, wo wir uns wirklich aufhielten. Wir hatten paranoide Angst davor, dass Daniela entführt und zurück in den Osten gebracht werden könnte. Dass diese Gefahr real war, erkannte ich später, als ich die Graphic Novel Todesstreifen: Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989 der beiden Hallenser Dirk Mecklenbeck und Raik Adam las. Selbige, auch in der Hallenser Subkultur großgeworden, wurden von der Stasi verfolgt und waren schließlich nach Westberlin ausgereist. In der Graphic Novel schildern sie ihre Aktionen mit Transparenten und Molotowcocktail-Anschlägen gegen die verhasste Mauer. Ein Fakt bescherte mir besondere Gänsehaut: Sie wurden tatsächlich von einem eingeschleusten IM der Staatssicherheit in Westberlin beobachtet und ausspioniert.