Zwischen den Fronten - Uwe Lehmann-Brauns - E-Book

Zwischen den Fronten E-Book

Uwe Lehmann-Brauns

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Beschreibung

Uwe Lehmann-Brauns hat über Jahrzehnte hinweg die Berliner Politik mitgeprägt. In diesem Buch blickt er zurück auf die erloschene Welt von West-Berlin und auf die DDR. Er berichtet dabei unter anderem von seinem dornigen Weg als »Parteifreund« in der Union, von Stasibegegnungen, seiner jahrzehntelangen Freundschaft zu Wolf Biermann, den Stadtquerelen um Rolf Hochhuth, seiner enttäuschten Liebe zu Russland, seinem Einsatz für die Kultureinrichtungen im ehemaligen Ost-Berlin nach dem Mauerfall und von seinen vielfältigen Begegnungen mit Künstlern und Schriftstellern.

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Seitenzahl: 220

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Uwe Lehmann-Brauns

ZWISCHENDEN FRONTEN

NOTIZEN EINES GRENZGÄNGERSDURCH POLITIK UND KULTUR

BeBra Verlag

Meiner Frau Sabine und meinen Kindern und Enkelkindern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

E-Book im be.bra verlag, 2022

© der Originalausgabe:

be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2022

Asternplatz 3, 12203 Berlin

[email protected]

Lektorat: Matthias Schütt, Schürensöhlen

Umschlaggestaltung: typegerecht berlin

ISBN 978-3-8393-0165-4 (epub)

ISBN 978-3-8148-0264-0 (print)

www.bebraverlag.de

INHALT

Von einem, der auszog …

Die Flucht

Kriegskind

West-Berlin: Szenen, Sprüche, Duftmarken

DDR: Angezogen, abgestoßen

Wegbegleiter, auch ideelle: Von Artur Abraham bis Richard von Weizsäcker

Abgeordneter für Berlin

Kulturexperte

Wolf Biermann – »Kommunist«, Ehrenbürger, unabkömmlich

Rolf Hochhuth in Berlin

Stadtleben, Miniaturen

Persönliches

Zeitgeist

Sehnsuchtsland Russland: Ex oriente rus?

Vladimir Sorokin: Leben mit der Zerstörung

Italien: Große Liebe, zweite Heimat

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Bei der Einweihung des Jürgen-Fuchs-Platzes in Berlin-Dahlem, 2011

VON EINEM, DER AUSZOG …

Ein Stück Leben, Episoden, Porträts, eine Addition von Begegnungen, Beobachtungen, Aphorismen, Niederlagen. Man lernt den Autor nicht als in sich geschlossene Persönlichkeit kennen, sondern in seinen Erinnerungen. Er kann nicht beliebig in die Breite gehen, ist begrenzt durch den jeweiligen Stoff.

Aber spielt das alles überhaupt noch eine Rolle seit dem russischen Überfall auf die Ukraine? Doch, es gibt den vitalen Zynismus, dass das Leben nicht aufhört, auch nicht mit den russischen Kriegsverbrechen. Auch die Fronten meiner Ich-Welt bleiben also erlebt. Die wenigsten habe ich mir ausgesucht, die meisten fand ich vor, nicht allen wollte ich ausweichen. Viele der disparaten, überraschenden Episoden bleiben. Ich wusste 1970 nicht, dass ich in der DDR eine Medizinstudentin treffen, 1972 nach West-Berlin entführen und dort heiraten würde. Ich wusste nicht, dass ich in der Politik vor allem im Konflikt mit meiner eigenen Partei das Gruseln lernen sollte. Die Bekanntschaft mit Rolf Hochhuth Ende der 1990er-Jahre war für mich überraschend, die Freundschaft mit Wolf Biermann hatte ich mir seit den 60er-Jahren gewünscht. Für die Kämpfe in der Politik hoffte ich durch bereichernde Begegnungen entschädigt zu werden, diese Hoffnung trog nicht. Über viele Begegnungen, mit Hauptdarstellern wie Komparsen, erzähle ich deshalb. Entschlossen war ich von Anfang an, über solche Länder zu schreiben, die mir am Herzen lagen, vor allem Russland und Italien. Im Fall Russlands gilt meine Liebe der Literatur, sie bleibt bei aller Abwendung von einem Staat, der seine Zugehörigkeit zur aufgeklärten Welt verloren hat. Im Fall Italiens war es zunächst die altsprachliche Schulbildung. Im Jahr 2000 erhielt ich im Kapitol in Rom den Preis für die deutsch-italienische Zusammenarbeit.

Dienst an der Stadt verstand ich als Aufgabe, ihr in der Mauerzeit aus dem isolierten, gespaltenen Zustand herauszuhelfen, sich hier einzugraben, nicht abzuhauen. Wegen der »Wurzeln und Brüche«, wie der Schauspieler Ronald Zehrfeld im Hinblick auf seine Ost-Berliner Zeit formuliert (vgl. Tagesspiegel, 7.11.2021). Nach dem Mauerfall wollte ich als Abgeordneter bei der Zusammenfügung der beiden Stadtteile und bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts als Gründungsmitglied des Bürgerbüros zur Aufarbeitung der Folgeschäden der SED-Diktatur mitwirken. Wertemäßig hatte es mich zunächst nicht in die CDU getrieben, die Sozialdemokraten Ernst Reuter und Willy Brandt blieben mir immer nahe. Ich ging davon aus, dass ich nur in einer großen Partei meine Vorstellungen verwirklichen könnte. Da nur eine Partei infrage kam, die an dem Ziel der Wiedervereinigung festhielt, wurde die CDU meine politische Heimat.

Wenn es eine prägende Leistung von mir gibt, dann die Verhinderung voluminöser Bauten auf grünen Wiesen und von zerstörerischen Tunnelbauten. Stadtbild prägende Gebäude zu schützen liegt mir besonders am Herzen. Die Aufstellung der historischen Hardenberg-Leuchte auf dem Kurfürstendamm gelang kurzfristig, ebenso die Umbenennung einer kleinen Dahlemer Straße nach Otto von Simson, die Benennung einer Zehlendorfer Bibliothek nach Gottfried Benn und auch die Rettung eines sogenannten Fürstenhofs aus dem 18. Jahrhundert in Zehlendorfs Mitte. Reformpolitik verstand ich als Impuls, sich mit ideologischen und reaktionären Zeitströmungen auseinanderzusetzen und urbane Substanzen vor Zerstörung zu schützen.

Zweimal scheiterte ich als Kandidat für den Bundestag. 34 Jahre lang war und blieb ich Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, als Kandidat gewann ich jeweils meine Wahlkreise. 2011 wurde ich zum Vizepräsidenten des Stadtparlaments gewählt, im November 2021 vom Berliner Senat zum Stadtältesten ernannt.

Von Anfang an hatte ich die politische Bedeutung von Kultur begriffen. Sie verhalf der Jahrzehnte lang abgeschriebenen Stadt sowohl in Ost- als auch in West-Berlin zu internationalem Renommee. Ich setzte mich nach dem Mauerfall mit Erfolg für den Erhalt von bedrohten Kultureinrichtungen ein: Berliner Ensemble, Friedrichstadt-Palast, Metropol-Theater, Hochschule der Künste in Weißensee, und kämpfte gegen Theaterschließungen. Verhindern konnte ich jedoch weder die Schließung der Staatlichen Bühnen im früheren West-Berlin noch die aktuelle Zerstörung der bestens erhaltenen zwei Bühnen am Kurfürstendamm 2017.

Meine parlamentarische Tätigkeit verschaffte mir die Nähe zu vielen Schriftstellern, Künstlern, Kulturträgern, auch international. Ich erwähne Wolf Biermann, Hans Joachim Schädlich, Günter Kunert, Reiner Kunze, Vladimir Sorokin, Ernest Wichner. Durch mein literarisches Interesse lernte ich die letzte Gefährtin Gottfried Benns kennen, die mir seine Briefe für eine Buchausgabe überließ.

Ich genieße die großen Städte in Europa, ihre Genussangebote. Stadtluft macht glücklich, besonders in dieser auferstandenen Stadt Berlin, usque ad finem.

DIE FLUCHT

Diese Geschichte beginnt 1970. Ich war nach einer gescheiterten ersten Ehe wieder Single, hatte viele Ziele, aber keine Mitte und behielt den Osten im Kopf, auch als Aufgabe und als Heimat. Ich versuchte, den Mauerring um West-Berlin durchlässiger zu machen. Dabei verfügte ich als Rechtsanwalt über eine verhältnismäßig weitreichende Aufenthaltsmöglichkeit in der DDR.

Anlass

Mit meinem Freund Dietrich Mahlo besuchte ich im August 1970 unter anderem Stralsund, die alte Hansestadt in Vorpommern. Wir genossen die noch unzerstörte Schönheit der Stadt, die weder für West-Berliner noch Westdeutsche bis 1972 erreichbar war. Wir waren zwei junge neugierige West-Berliner Anwälte, ich in Sachen des großen Bildhauers Ernst Barlach unterwegs. Sein Sohn Nikolaus hatte mich beauftragt, den in Güstrow befindlichen Nachlass zu sichten und seinen Verwalter kennenzulernen. Dieser Auftrag hatte mir eine Aufenthaltsgenehmigung in der DDR verschafft, da mein Verhandlungspartner die Akademie der Künste in Ost-Berlin war. Wir hielten uns ein paar Tage in Güstrow auf, besuchten das dortige Atelierhaus des Künstlers am Heidberg und nahmen Kontakt mit dem über unseren Besuch gar nicht amüsierten Verwalter Schult auf. Der wollte sich nur ungern in die Karten gucken lassen, was gleichwohl gelang.

Das lag irgendwann hinter uns und da mich niemand hindern konnte, auch andere Orte in der Gegend kennenzulernen, kamen wir an einem warmen Julitag in Stralsund an. Wir schlenderten durch die Stadt, bewunderten ihre jahrhundertalten Bauwerke und hätten uns am Abend gerne irgendwo entspannt. Bekannte dort hatten wir nicht. So zog es uns in eine Gaststätte, aus der Tanzmusik erklang. Leider verwehrte man uns den Zutritt, unsere Garderobe war nicht stadtfein genug, wir hatten keine Krawatten umgebunden. Missmutig zogen wir weiter, eine Alternative war nicht zu erkennen. So gelangten wir an eine Milchbar, die geöffnet hatte und die wir, faute de mieux, betraten. Das Lokal gibt es heute noch, es heißt »Milchbar und mehr« und wird von einer Italienerin geführt. Es befindet sich heute wieder am Neuen Markt 13–14, damals Leninplatz, nach wie vor beherrscht von der riesigen, aus dem 14. Jahrhundert stammenden Marienkirche. An einem runden Tisch waren zwei Stühle frei, auf denen wir Platz nahmen, nachdem wir zwei dort sitzende junge Frauen um Erlaubnis gefragt hatten.

Begegnungen

Wir kamen rasch ins Gespräch mit Medizinstudentinnen aus Greifswald, wie sich herausstellte. Gegen Ende des Abends beschlossen wir, weiter Kontakt miteinander zu halten. Die eine von ihnen, wie wir später erfuhren, wollte die DDR verlassen, war auch familiär so geprägt. Die andere, die ich bald häufiger in Ost-Berlin traf, war zurückhaltender. Sie hatte den Einmarsch der Ostblocktruppen in die Tschechoslowakei erlebt und war von der Brutalität des Vorgehens abgestoßen. Sie hatte auch bei Ferienaufenthalten in Ungarn eine freiere Welt als die DDR kennengelernt. So kamen wir in einen intensiven Gedankenaustausch, da mir der Freiheitsverlust in der DDR, die Spaltung und ihre Opfer nicht gleichgültig waren. Nach gut einem Jahr trafen wir uns regelmäßiger, oft im unwirtlichen Ost-Berlin, wo ich gelegentlich ungeduldige Stunden in dem immerhin zugänglichen Operncafé Unter den Linden wartete. Für die Wartezeit dort hatte ich mich mit einem kleinen Band aus dem Insel Verlag bewaffnet – »Späte Gedichte« von Gottfried Benn, auch für den Fall, dass sie nicht kam. Aber sie kam! Wir mussten die Fremdheit Ost-Berlins, in dem wir beide nicht zu Hause waren, überbrücken, um uns aneinander zu gewöhnen. Manches Mal saßen wir auf Friedhöfen, dort war es stiller, heimelig und unbewacht oder wir gingen gelegentlich in das Kino Kosmos oder ins Berliner Ensemble. Ein Bummel Unter den Linden war mangels Angeboten wenig ergiebig. Abends musste ich wegen Ablaufs der Aufenthaltsgenehmigung in den Westteil zurück.

Meine Gesprächspartnerin erzählte mir später, ich hätte bei einem dieser Treffen unter Hinweis auf die Pläne zur Errichtung eines »Palastes der Republik« enthusiastisch ausgerufen: »Den reißen wir als erstes nach der Wiedervereinigung ab und bauen das Schloss wieder auf.« Über den Realitätsgehalt dieser Wunschvorstellung dachte ich gar nicht nach. Es war wohl ein naiver Ausdruck meiner Einheitssehnsucht. Die Stunden mit ihr verrannen rasch, das Kulissenhafte der Stadt hinderte unseren persönlichen Umgang nicht. Eine wunderbare Zeit erlebten wir 1972 zwei Wochen lang im Juni in Weimar – mit dem Entschluss, künftig in West-Berlin zusammenzuleben.

Die Aufgabe

Solche Pläne macht man leichtherzig, wenn man 21 (sie) bzw. 31 ist. Wir wussten, dass ein Ausreiseantrag keinen Erfolg haben würde. Was wir nicht wussten war, welche Folgen es gehabt hätte, ihn zu stellen. Eine Dresdnerin berichtete uns im Sommer 2021 an der Ostsee über ihren Antrag aus den 70er-Jahren:

Der Eingang des Antrags wurde vom Rat des Kreises bestätigt. Danach setzte ein fünf Jahre langer Psychoterror ein in Form von beruflicher Herabstufung – von wissenschaftlicher Mitarbeiterin zur Hilfsarbeiterin, ständiger Druck der Behörden, den Antrag zurückzunehmen, Einbruch in meine Wohnung. Höhepunkt dieser Zersetzungsmaschinerie war die Lockerung von drei Radmuttern an meinem Trabant, die ich während der Fahrt zufällig bemerkte – ein anonymer Mordanschlag. Meine Anzeigen bei der Volkspolizei wurden nicht verfolgt.

Wir waren also gut beraten, keinen Ausreiseantrag zu stellen. Was blieb, war die illegale Flucht, deren Organisation sich allerdings als kompliziert erwies. Die DDR hatte die Mauer gebaut und die innerdeutsche Grenze streng bewachen lassen. Der Weg zu Lande auf eigene Faust war nicht empfehlenswert. Die Grenzanlagen mit verminten Zonen und scharfbewachten Zäunen zu überwinden schien weder Sabine noch mir eine vernünftige Option. Auch die Ostsee zu überqueren, deren DDR-Strände bewacht wurden, war keine Alternative, manche, die es taten, kamen nicht wieder. Falls man uns lebend erwischen würde, bestimmte § 21 StGB DDR unser weiteres Schicksal:

Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert …, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. Auch der Versuch und die Vorbereitung sind strafbar.

Was also tun? Wir wussten auch, dass die Grenzsoldaten den Befehl hatten zu schießen, wenn eine Flucht nicht anders zu verhindern war. Circa 75.000 Fluchtversuche scheiterten, 138 Menschen waren allein an der Berliner Grenze bei Fluchtversuchen erschossen worden. Diese Zahlen kannten wir bei unserer Verabredung 1972 nicht exakt, wohl aber die lauernden Gefahren und das Risiko. Ich begann, mich in West-Berlin auf die Suche nach Fluchtmöglichkeiten zu machen und nahm zu einer Fluchthilfeorganisation in der Kantstraße Kontakt auf. Man traf sich im »Wienerwald«. Es gab kurze Gespräche, ich blieb anonym. Mir war bei all meiner Naivität bewusst, dass man nicht jeder Organisation vertrauen konnte. Viele waren mit Stasi-Spitzeln durchsetzt.

Risiken

Um die Flucht gleichwohl zu wagen, kam Hilfe von meinem Vater, einem praktizierenden Chirurgen in Lichterfelde-West. Einer seiner Patienten betrieb eine Kneipe gegenüber dem US-Headquarter in der Finckensteinallee. Dort verkehrten vorwiegend US-Soldaten, die sich aufgrund des Viermächte-Status in ganz Berlin frei bewegen durften. Allerdings mussten auch sie bei der Ein- und Ausreise nach Ost-Berlin den Checkpoint Charlie passieren, sich gegebenenfalls registrieren und von ihresgleichen kontrollieren lassen. Den amerikanischen Soldaten war bei Verlust ihres Status streng verboten, Flüchtlinge von Ost- nach West-Berlin zu schleusen.

Der Wirt dieser Gastwirtschaft kam mit der Nachricht zu meinem Vater, er habe einen Soldaten gefunden, der zur Fluchthilfe bereit wäre. Ich verabredete mich mit »Kent«, der für die Aktion 10.000 DM verlangte. Ich schlug ihm Tag und Stunde des Fluchttags vor und dass er sich, um die Örtlichkeit zu erkunden, vorher den Tierpark ansehen sollte. Treffen wollten wir uns mit ihm abends auf dem Parkplatz des Tierparks um 20 Uhr. Mit Sabine hatte ich mich vormittags in Ost-Berlin verabredet und traf sie dort, mit einem Einkaufsbeutel und einer Umhängetasche, langsamen Schrittes an einer Hauptstraße. Für sie stand eine Menge auf dem Spiel. Im Fall des Misslingens Relegation von der Universität Greifswald, Bruch mit dem Elternhaus, Gefängnis – eine düstere Perspektive. Was ihr damals durch den Kopf ging, als sie sich einverstanden erklärte, weiß ich nicht. Die Gefahr war ihr bewusst.

Vorbereitung

Wortlos begannen wir, uns auf die abendliche Aktion einzustellen. Mich beruhigte etwas, dass ich auf dem Parkplatz den roten Chevrolet von Kent, wie verabredet, stehen sah. Ob er die Verabredung zuverlässig einhalten würde, wusste ich nicht, aber hoffte es.

Was jetzt anfangen mit den acht Stunden bis zum Treffpunkt um 20.00 Uhr? Ost-Berlin war eine ungastliche, halbtote, im November feuchtkalte, überwachte Stadt. Wir fuhren ziellos mit meinem Auto durch die leeren sonntäglichen Straßen und landeten schließlich in Treptow. In dem dortigen Park entdeckten wir das musikalisch beschallte halbleere Restaurant/Café Zenner, in dem wir uns niederließen. Wie ich heute weiß, war es 1954 wiedereröffnet worden in einem mich abstoßenden Neoklassizismus im Stalin-Stil, der heute von modernen Investoren geschätzt wird. Aber Geschmacksfragen erörterten wir damals nicht, wir hätten noch hässlichere Etablissements akzeptiert, wenn man uns eine sichere Durchquerung der Sektorengrenze zugesichert hätte. Während der Warterei fragten wir uns, wie viele Jahre in Bautzen ich und wie viele Jahre in Hoheneck meine spätere Frau erhalten würden, sollte es schiefgehen. Wir befürchteten je zwei bis drei Jahre Gefängnis.

Das allein wäre schlimm gewesen. Was uns weiter blühen würde, ahnten wir nicht. Kurze Zeit nach uns flog die Flucht eines anderen Paares im Kofferraum auf. Auch diese Flüchtlinge, ein Mann aus West-Berlin, eine Frau aus dem Osten, hatten primär keine politischen Gründe, sondern wollten einfach zusammenleben, ein vergleichbarer Fall. Nach ihrer Entdeckung wurde die Frau im Kofferraum von den Fotografen der Stasi fotografiert. Dann begann ein Verhör und der Abtransport in das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen, natürlich waren beide getrennt worden. Bei den Verhören äußerten sie sich geschickt, der Mann: Er halte zwar den Sozialismus für eine gute Sache, sei aber gegen die Reisebeschränkungen. Das heißt, er schimpfte nicht, vermutlich hätten wir eine ähnliche Diskussionsstrategie angewandt. Sie mussten lange auf den Prozess warten. Er wurde zu 5, sie zu 4 1/2 Jahren verurteilt. Beide wurden dann mit dem Gefängniszug, getrennt voneinander, in das Stasi-Gefängnis Bautzen II eingeliefert, begleitet von Polizisten mit umgehängter Kalaschnikow und Hunden. Die Haftbedingungen beschrieben sie als hart, das Essen als schlecht, Vitamine habe es nicht gegeben. Erst nach 1 1/2 Jahren durften sie sich für eine halbe Stunde sehen. Nach 3 1/2 Jahren wurden sie überraschend entlassen und in den Westteil abgeschoben (vgl. Tagesspiegel, 7.8.2021, sowie die Ausstellung in der Gedenkstätte Bautzen).

Jailhouse Rock

Zurück zu uns: Als unbestellte Begleitmusik vernahmen wir in dem Restaurant in voller Lautstärke den Jailhouse Rock von Elvis Presley. Weit mehr beschäftigte uns die Frage, ob der GI überhaupt und ob er pünktlich kommen würde und wenn, ob eskortiert oder sonstwie beobachtet. Würde der Parkplatz frei sein, auf dem wir uns verabredet hatten?

Endlich waren die langen Stunden des Wartens zu Ende und wir fuhren gegen halb acht mit meinem Pkw auf den Parkplatz am Tierpark. Der war frei, zu unserer Erleichterung, wir waren die einzigen. Durch die Büsche konnten wir auf den Verkehr der Hauptstraße sehen.

Checkpoint Charlie

Punkt 20 Uhr fuhr, wie wir durch das Geäst wahrnahmen, eine rote Chevrolet-Limousine gemächlich die Hauptstraße entlang, bog, unbegleitet, auf unseren Parkplatz ein, der Fahrer öffnete den Kofferraum. Gesprochen wurde nicht. Das Mädchen kletterte mit ihrem Handgepäck hinein, duckte sich, der Fahrer warf seinen Militärmantel über sie, schloss den Kofferraum und fuhr weiter. Die Prozedur hatte eine Minute gedauert, das Warten darauf viele Stunden. Ich folgte mit meinem Fahrzeug, obwohl ich einen anderen Sektorenübergang benutzen musste. Der Amerikaner passierte unbeobachtet den Checkpoint Charlie auf der östlichen russischen Seite. Aufgrund alliierter Verabredung durften US-Fahrzeuge in der DDR weder von Russen noch von DDR-Grenzsoldaten kontrolliert werden. Wie er erzählte, wurde er aber von einem US-Offizier aufgefordert, den Kofferraum zu öffnen. Dem entzog sich Kent mit der Ausrede, wegen eines Unfalls sei der Kofferraum derzeit leider nicht zu öffnen. Mit dem uns übermittelten Satz der Wache »good for you« wurde er in den freien Teil Berlins gewinkt. Kurz darauf trafen wir uns in einem anderen Leben.

Nachspiel

Es ging jetzt um die Behandlung der Fluchtnachricht. Wir waren in Sorge. Wie würde die DDR reagieren, was hatten die Eltern in der DDR zu befürchten?

Die Nachricht gelangte mit einem von uns über Schweden – dort lebte meine Schwester – abgesandten Brief an die nichts ahnenden Eltern der Studentin und damit an die Stasi. Ihre Eltern erlebten jetzt die oft beschriebene Sippenhaft. Obwohl ihre 21 Jahre alte Tochter volljährig war und längst einen Wohnsitz am anderen Ende der DDR hatte, wurden die Eltern gemobbt. Der Vater, ein Ingenieur, beruflich herabgestuft, im Betriebsbus setzte sich niemand mehr neben ihn. Man verlangte von ihm, dass er sich von seiner Tochter löse. Ein ukrainischer Ingenieur, mit dem er befreundet war, äußerte Verständnis dafür, dass er diese Forderung ablehnte. Ein Protestbrief an Honecker half wenig. Die Eltern hatten die Tochter verloren. Traurige Jahre begannen für sie, der Vater starb einige Jahre danach, ohne seine Tochter je wiedergesehen zu haben.

In West-Berlin wollte die Stasi der Sache auf den Grund gehen und wissen, wie die Flucht stattgefunden hatte. Das hätte sie in Marienfelde, der städtischen Einrichtung für Flüchtlinge erfahren können. Wir mussten die Geflüchtete dort anmelden, sie wollte ja Berlinerin werden.

Wir fuhren also nach Marienfelde, betraten das Gebäude und suchten den zuständigen Beamten auf, der nur an einer Frage interessiert war: Wie sind Sie geflohen? Ich erklärte ihm barsch und eindeutig, dass ihn das nichts anginge. Wir nähmen keine materiellen Hilfen in Anspruch. Heute wissen wir, dass »Marienfelde«, obwohl West-Berlin, von der Stasi unterwandert war.

Die Stadt war kein souveränes Bundesland, politisch und wirtschaftlich damals ein Anhängsel der Bundesrepublik und stand unter alliierter Verwaltung der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Deren Vertreter, jedes Land einzeln, mussten über die Flucht informiert werden. Angst ging dieser Informationspflicht unsererseits nicht voraus, das Bewusstsein, Teil der freien Welt zu sein, schuf persönliche Sicherheit.

So gingen die damals für ankommende Flüchtlinge obligatorischen Besuche bei den drei westlichen Alliierten rasch vorbei. Druck übten sie nicht aus. Den Fluchtweg erfuhren sie nicht, mit Nachfragen hielten sie sich zurück.

Die Stasi war mit dem Ergebnis unseres Besuchs in Marienfelde nicht zufrieden. Sie wollten erfahren, auf welche Weise und von wem die Flucht organisiert und begleitet worden war. So erschienen bald darauf zwei Männer in meinem Anwaltsbüro am Kurfürstendamm, in meiner Abwesenheit, unter dem Vorwand, Postleitungen zu überprüfen. Das kam meinen Sekretärinnen verdächtig vor und sie verbaten sich weitere Recherchen. Am folgenden Tag sahen sie einen der Besucher wieder vor dem Büro und informierten mich. Ich rannte die Treppen hinunter, auf den Mann zu und schrie ihn aufgeregt an, was er in meinem Büro zu suchen hätte. Ich sah mich nach Polizeibeamten um, aber als ich mich wieder umdrehte, war der Mann verschwunden. Die Agenten hatten nicht nur die Quälerei von Menschen, Einbrüche und andere Verbrechen gelernt, sondern auch, sich blitzartig unsichtbar zu machen. In unserem Fall nutzten sie darüber hinaus das Netz, dass sie über West-Berlin geworfen hatten.

Dass meine Frau geflohen war und bei mir wohnte, erfuhr die Stasi vermutlich von einem älteren, als reaktionär geltenden CDU-Mann aus Zehlendorf, dessen Sohn zu meinem politischen Freundeskreis gehörte. Der hatte wohl, von der Verstrickung seines Vaters nichts ahnend, zu Hause erzählt, dass sein Freund mit einer aus der DDR geflüchteten Studentin zusammenlebte. Nun konnte die Stasi das Resultat abhaken, nicht aber die Prozedur und den Fluchtweg, die wir bis zum Mauerfall vor jedem geheim hielten. Vier Jahre lang vermied ich Reisen in und durch die DDR aus Furcht, wegen Fluchthilfe verhaftet zu werden. Meine Frau fuhr erst 1982 nach einer Amnestie wieder »rüber«.

Unsere Behörden erwiesen sich als verständnisvoll und hilfsbereit. So konnte Sabine ihr Medizinstudium fortsetzen. Ihre neuen Kommilitoninnen allerdings, meist aus Westdeutschland stammend, so verständnisvoll sie sich gegenüber dem »ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden« äußerten, buchten weiter ihre Ferienflüge über ihn hinweg nach Griechenland. Den Sozialismus, inklusive DDR, sparten sie aus, sie schätzten ihn nur von weitem. In Bezug auf die Junge Union rieten sie ihr zur Vorsicht. Die sei so reaktionär, dass sie aufpassen müsse, um nicht in West-Berlin vom Regen in die Traufe zu gelangen. Noch Jahre später hieß es in diesen Kreisen, man müsse Sacharow einen Kopf kürzer machen. Für mich als Parteigänger der Union galten die Studenten der juristischen und der medizinischen Fakultät eher als gemäßigt, im Unterschied zu denen, die am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität studierten und den Sozialismus in irgendeiner Spielart inhaliert hatten. Im Unterschied zu ihnen wussten wir über die DDR Bescheid und mussten später dieses Bild nicht korrigieren.

KRIEGSKIND

Die Flucht 1972 nach West-Berlin war nicht die erste, die ich mitmachte. Es gingen ihr vier weitere voraus, und zwar 1943 nach Brandenburg, 1944/45 von dort in die Prignitz, 1946 nach Schleswig-Holstein, 1946 nach Berlin (West). Ich war ein Kriegskind.

Der Reihe nach: 1943 hatten sich meine Eltern entschlossen, aus dem Feuersturm der bombardierten Stadt Berlin zu flüchten, und zwar nach Schönewalde in Brandenburg, Kreis Schweinitz. Dort kamen wir bei einem entfernten Verwandten unter, der eine Schlachterei betrieb. Ich konnte dort zusehen, wie Kühe betäubt und dann getötet wurden, desgleichen Schweine, die durch panische Schreie ahnten, was ihnen bevorstand. Ich wurde in der Dorfschule eingeschult und erhielt eine Schiefertafel, auf der ich mit quietschendem Griffel die Buchstaben auftrug, die der Lehrer uns bezeichnete. Am liebsten schrieb ich das ›f‹.

Ich begann mich einzuleben und lernte mancherlei, z. B. dass Neugeborene vom Klapperstorch gebracht werden; am Tag der Geburt meines Bruders waren Störche über das Haus geflogen. Ferner wurde mir durch einen Anschnauzer der Apothekerin 1944 beigebracht, dass man beim Betreten eines Geschäftes nicht »Guten Tag« grüßen solle, sondern »Heil Hitler« zu sagen habe. Nichtsahnend kam ich eines Tages aus der Schule nach Hause, als vor dem Haus ein LKW stand und wir, meine Mutter und ihre drei Kinder, aufgefordert wurden, die notwendigsten Sachen sofort zusammenzuraffen. Wir mussten den Lkw besteigen und los ging die Fahrt, wohin auch immer. Mein Vater hatte, was wir nicht wissen konnten, veranlasst, uns aus Schönewalde Richtung Westen abzuziehen, weil er zu Recht davon ausging, dass das Dorf bald in russische Hände fallen würde. Wir hockten nun auf dem LKW und landeten nachts in Wittenberge, Prignitz. Begrüßt wurden wir durch Flakbeschuss der Amerikaner. Den Lkw konnten wir nicht zusammen, sondern nur in Etappen einzeln verlassen. In Wittenberge blieben wir zwei bis drei Tage.

Es ging bald weiter nach Karstädt, wo ich das Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkriegs beobachten konnte. Britische Jäger beschossen die auf der Reichsstraße 5 Richtung Hamburg flüchtenden Menschen. Ich lernte, dass es zweckmäßig sei, den Schüssen dadurch zu entgehen, dass man sich flach auf den Boden warf oder in ein ausgehobenes Loch sprang, falls es leer war. Wir hatten Glück und blieben unverletzt und erreichten bald darauf Itzehoe in Schleswig-Holstein.

Der Krieg war gerade zu Ende gegangen. Wir wurden von den dortigen Kleinstädtern als unerwünschte Flüchtlinge behandelt, fanden aber in Westermoor, einem Dorf mit hundert Einwohnern, eine bescheidene Unterkunft und eine freundliche Wirtin. Wir erhielten ein Zimmer, in dem wir drei Kinder inklusive Mutter unterkamen. Auch hier schlugen wir bald Wurzeln. Ich lernte Plattdeutsch und den Unterschied zwischen Marsch und Geest, ging mit den anderen Flüchtlingskindern in die dortige Zwergschule, fuhr mit dem Erntewagen in die Felder, besuchte das Ringreiten der Bauernjugend und gewöhnte mich an das Leben im Dorf. Noch heute fühle ich mich wohl in Dörfern. Die permanente Umzieherei hielt ich als Kind für eine unausweichliche Normalität.

Anderthalb Jahre später entschied mein Vater, das Dorf zu verlassen. Er hatte weder in der Region noch in Hamburg eine berufliche Möglichkeit als Arzt gefunden und beschloss, zurück nach Berlin zu gehen. Ein origineller Beschluss: Millionen Deutsche flüchteten damals von Ost nach West, wir in die Gegenrichtung.

Dieser Schritt musste organisiert werden. Denn er führte über die russisch bewachte Grenze der künftigen DDR. An einem späten Nachmittag war es so weit. Meine Eltern, wir zwei Kinder mit Säugling und Hund mussten ein Feld überqueren, um zur Grenze zu gelangen. Der Hund war bald verschwunden, kam allerdings zurück. Wir hatten mehrere Gehöfte zu passieren, dann wurde es dunkel. Geduckt und so geräuschlos wie möglich durchschlichen wir das Terrain und bemerkten plötzlich einen russischen Soldaten. Wir erstarrten, wurden aber zum Glück von ihm nicht wahrgenommen. Unser Ziel war der Bahnhof in Salzwedel. Tatsächlich erreichten wir den in der Nacht. Mein Vater führte uns zu einem dort stehenden Personenzug. So geräuschlos wie möglich kletterten wir in einen leeren Wagen und verbrachten in ihm die Nacht. Am frühen Morgen verspürten wir einen sanften Ruck. Der Zug war in Richtung Berlin angefahren. Gegen Abend landeten wir tatsächlich in Lichterfelde und freuten uns, zu Hause zu sein. Berlin hatte ich bei allem Hin und Her nie vergessen.