Dem Schwein ein Denkmal - Winfried Wolf - E-Book

Dem Schwein ein Denkmal E-Book

Winfried Wolf

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Beschreibung

Ein Künstlerpaar kauft sich einen Bauernhof an den Hängen des Schwarzwaldes. Gesa und Hugo Uttentaler arbeiten beide als Bildhauer. Er ist sehr erfolgreich und kann seine Objekte auch im öffentlichen Raum ausstellen. Bald ist er Professor an der Hochschule für Kunst in Karlsruhe. Eines Tages verschwindet Hugo Uttentaler auf ungeklärte Weise. Er wollte nach Paris reisen, ist dort aber nie angekommen.

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Dem Schwein ein Denkmal...

Illustrationen vom Autor

Inhaltsverzeichnis

Dem Schwein ein Denkmal...2

Die Galeristin5

Gesa und Hugo Uttentaler27

Karl Neumaier46

Ein Jahr davor: Das Atelierfest59

Von Schweinen und Menschen75

Sina, Studentin und Liebhaberin101

Oleg, der Sohn114

Sina gibt eine Abschiedsparty125

Helene Stumpf denkt an Weihnachten136

Gesa stellt ihr Projekt vor151

Gesa gibt eine Vermisstenanzeige auf182

Sina und Gesa treffen aufeinander200

Dunkelmänner mit Kapuze216

Die Einweihung des „Schweinedenkmals“221

Helene Stumpf und Thorsten Lehmann235

Polizeiliche Ermittlungen248

Gesa und die Ermittler258

Weitere Besuche281

Kämmerer kommt zum Bürgermeister290

Die Sache wird „psychotisch“293

Epilog300

Die Galeristin

Schon nach wenigen Autominuten befand sie sich in der Postkartenlandschaft des südlichen Schwarzwaldes. Der sonnige Oktobertag ließ die bunten Weinberge aufleuchten, dazwischen das satte Grün der Streuobstwiesen, hoch oben das Dunkelblau der Tannen. Gerlinde hatte das tausendmal gesehen, sie war eine geborene Freiburgerin, aber es war immer wieder schön, in diese Landschaft zwischen Oberrheinebene und Schwarzwald zu kommen. Es könnte der Beginn einer Urlaubsreise sein, dachte sie. Eine Vorfreude und eine unbestimmte Sehnsucht erfüllten sie, wie immer, wenn sie die Stadt verließ und in die Landschaft eintauchte. Als könnte man mit dem Verlassen eines Ortes ein neues Leben beginnen.

Zum Träumen aber blieb heute nicht viel Zeit, die Galeristin Gerlinde Körner hatte Geschäftliches vor. Sie wollte nach Kirchberg, in ein kleines Örtchen zwischen Glottertal und St. Märgen. Dort wohnte und arbeitete Gesa Uttentaler, eine Bildhauerin. Sie könnte mit einigen ihrer Skulpturen schon bald in der Galerie Körner & Christ vertreten sein. Ob es dazu kommt, wird wesentlich von dem Gespräch abhängen, das ich heute mit der Künstlerin führe, dachte die Galeristin Gerlinde Körner.

Es war dringend an der Zeit, das Angebot zur Bildhauerei hin zu erweitern. Laura Christ, ihre Geschäftspartnerin, vertrat die gleiche Meinung. Die Galerie sollte auch einen Shop haben, damit kann man eine Kundschaft ansprechen, die ebenso kunstinteressiert ist wie alle anderen Besucher der Galerie. Aber nicht alle Interessierten können sich einen Gerhard Richter leisten. „Die Museen haben uns das vorgemacht“, sagte Laura, „wir brauchen Kunst zum Mitnehmen.“

Es war gut, Laura am Geschäft zu beteiligen. Vor einem Jahr hatten sie sich zusammengetan, sie, die ehemalige Inhaberin einer Modeboutique und Laura Christ, die ehemalige Studentin der Archäologie. Die Verbindung hatte ein Mann hergestellt, der offiziell bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Laura sah in ihm anfänglich das strahlende Vorbild für ihre Wissenschaft, die Archäologie, und sie, Gerlinde Körner, hatte diesen Mann dann geheiratet. Es stellte sich heraus, dass sie auf einen Betrüger hereingefallen war. Er war ein Mann mit vielen Gesichtern, aber das ist eine andere Geschichte, Gerlinde wollte jetzt nicht daran denken. Sie fuhr durch eine Bilderbuchlandschaft und freute sich auf die Begegnung mit der Künstlerin Gesa Uttentaler.

Vor kurzem hatte sie in einer Kunstzeitschrift von ihr gelesen und in der Badischen Zeitung wies man auf eine Auftragsarbeit hin, die Gesa Uttentaler für die Gemeinde Genzlingen übernommen hatte. Der Ort wollte seinen Schweinezüchtern ein Denkmal errichten und von der Uttentaler erwartete man eine adäquate künstlerische Umsetzung. Der größte Schweinezüchter im Ort wurde mit dem Satz zitiert „Die Kunst wertet uns auf“.

Die Frau hätte vorher mit mir reden sollen, dachte Gerlinde Körner, ich bin mir nicht sicher, ob sie sich mit diesem Projekt wirklich einen Gefallen erweist. Hier kann es sich doch nur um ein Missverständnis handeln, eigentlich ist es eine Posse, aber vielleicht ist es ja auch ganz anders.

Gesa Uttentaler hatte in der Vergangenheit mit Produkten auf sich aufmerksam gemacht, die in hyperrealistischer Manier auf ironische Weise sowohl menschliche Schwächen als auch Tugenden zur Darstellung brachten. Gerlinde konnte sich nicht vorstellen, dass Gesa Uttentaler für die Bauern ein hyperrealistisches Schwein auf den Sockel stellen wollte.

Gerlinde hatte schon einige ihrer Werke gesehen. Gesa arbeitete in ihrer figurativen Bildhauerei vorwiegend mit Stahl, Bronze und Harz. Ihre Skulpturen waren ähnlich präzise ausgeführt, wie die Arbeiten einer Carole Feuerman, die momentan auch wieder auf der Biennale eindrucksvoll vertreten war. Aus der Werkstatt Feuermans wurden mittlerweile auch einige Galerien in Deutschland mit Kleinplastiken beliefert. Das Geschäft läuft gut, hatte Laura aus Berlin berichtet. Und hier schuf vor den Toren Freiburgs eine Künstlerin ebenso qualitätvolle Werke wie diese Amerikanerin. Unserer Künstlerin fehlt ganz offensichtlich eine Galerie, die das Zeug dazu hat, ihre Werke auf dem Markt entsprechend zu präsentieren, dachte Gerlinde Körner. Das musste man ändern!

Etwa drei Kilometer hinter Glottertal folgte die Galeristin dem Wegweiser nach Kirchberg. Sie bog auf eine schmale Fahrstraße ab, die sich in langen Bögen den Hang hinaufwand. Bald fuhr sie durch das verschlafen wirkende Kirchberg und sah gerade noch rechtzeitig am Ortsrand das blaue Schild mit der Aufschrift „Künstlerhof“. Gesa Uttentaler hatte am Telefon davon gesprochen. Von einer Wiesenkuppe aus konnte die Galeristin den Hof der Uttentalers sehen, ein altes Bauernhaus mit Nebengebäude. In einem Prospekt für Touristen würde stehen: Da sehen Sie einen Zeugen alter Schwarzwälder Baukultur.

Gerlinde Körner stellte den Wagen am Wegrand ab, sie wollte auf das Haus zulaufen. Manchmal muss man die Annäherung verlangsamen, wenn man etwas begreifen will, hatte ihr einmal ein Freund gesagt. Ein solches Haus verdient meinen Respekt, dachte die Galeristin und fand den Gedanken amüsant.

Die Uttentalers hatten den maroden Hof zum „Künstlerhof“ aus- und umgebaut, waren damit aber offensichtlich, wie man an den Gerüststangen, den aufgeschichteten Holzbalken, einem Betonmischer und einigen Baumaterialien sehen konnte, noch nicht fertig. Als Gerlinde auf den Hof zuging, fiel ihr Blick auf einen hohen Bretterzaun, der zwischen den Häusern verlief, ohne eines der Gebäude ganz zu umschließen. Eine unnötige Grenzziehung, dachte Gerlinde Körner, der Zaun ist ein unsinniger Sichtschutz zwischen zwei Gebäuden, die doch zum gleichen Hof gehören. Ich muss die Uttentaler fragen, welchen Zweck dieser Zaun erfüllen soll. Vor dem Haus stand ein roter VW-Polo mit Stuttgarter Kennzeichen.

Ich bin in meiner Werkstatt, hatte Gesa am Telefon gesagt, die Werkstatt befindet sich in der ehemaligen Scheune rechts vom Wohnhaus.

Etwas unschlüssig blieb die Galeristin eine Weile am Zaun stehen und dachte, dass sie jetzt eigentlich zum Wohnhaus gehen sollte, dann aber schlug sie doch den Weg zur Scheune ein.

Das Grün der Wiese wucherte etwas planlos über den gekiesten Weg und Gerlinde fragte sich, warum man hier der Pflege des Rasens so wenig Aufmerksamkeit schenkte. Alle pflegten hier ihren Rasen, fast mehr noch als in der Stadt. Oder gehörte eine gewisse Nachlässigkeit etwa zum Programm eines Künstlerhofs? Gerlinde Körner dachte an Ruttloff Fendt, einen Künstler, den ihre Freundin und Partnerin Laura Christ erst letztes Jahr für die Galerie entdeckt hatte. Der erschloss der Galerie ganz neue Käuferschichten, aber wie der sich kleidete, eine wahre Katastrophe.

Zwischen hohen Gräsern entdeckte sie die blendendweiße Rückenansicht einer nackten Frau aus Stein, daneben lag schon halb zugewachsen ein Arm, der von der Größe her aber nicht zur Figur zu passen schien.

Gerlinde kämmte sich wie immer kurz vor einem Treffen mit den Fingern rasch ihre halblangen dunklen Haare nach hinten und klopfte an die massive Holztür, die in das große Scheunentor eingelassen war. Von drinnen hörte sie Geräusche, aber niemand kam, um die Tür zu öffnen. Sie drückte beherzt die Klinke nieder und trat ins Halbdunkel einer großen Werkhalle.

Durch Glasfenster an der Decke fiel in breiten Streifen Sonnenlicht in die Mitte des Raumes. Der feine Staub ließ das Ganze wie eine bewusst herbeigeführte Inszenierung aussehen. Wie zur weiteren Dramatisierung hingen von der Decke die schweren Eisenketten zweier Flaschenzüge. Links führte eine Eisentreppe auf eine Galerie, ein Gerippe aus Stahl. Unter der Galerie lagen und hingen Werkstücke aus den verschiedensten Materialien. Auffallend dabei die vielen aufeinandergestapelten Gussformen aus Kunstharz, die man offensichtlich zu Themengruppen geordnet hatte: Da nur Beine, dort Arme, hier Torsen und Köpfe. In einer Abteilung lagen übereinandergeschichtet lauter Hände im Regal, das sah ziemlich bizarr aus. Die weißen Finger zeigten wichtigtuerisch nach allen Seiten hinein in den Raum.

Mitten in der Werkhalle stand im einfallenden Oberlicht eine hochgewachsene Frau mit rosarotem Kopftuch. Sie wirkte wie eine überirdische Erscheinung. Die Frau lehnte an einem großen Bottich, in dem die Halbschale eines Weinfasses zu sehen war. Sie blickte auf, als Gerlinde Körner näher kam und streifte sich, wie es schien, etwas unwillig die Handschuhe ab.

Die Bildhauerin Gesa Uttentaler trug die Kleidung einer Arbeiterin, blaue Hose, blaue Jacke, aber sie hatte sich kontrastreich einen fliederfarbenen Schal um den Hals gebunden. Widerspenstige Haarbüschel zeigten sich am Rande des Kopftuches, sie hatten die Farbe dunklen Brots. Ihr schmales Gesicht mit den fein geschwungenen Lippen hatte etwas Aristokratisches

Sie nahm ein Tuch vom Rand des Bottichs, wischte sich damit die Hände ab und reichte ihrer Besucherin die Hand.

„Ich nehme an, Sie sind Frau Körner? Es war hoffentlich nicht schwer, uns zu finden?“ Gerlinde Körner lachte: „Nein, alles ist gut ausgeschildert. Als alte Freiburgerin ist mir die Gegend ja einigermaßen vertraut, aber ich muss zugeben, in Kirchberg bin ich bisher noch nicht gewesen, das liegt ja doch etwas abseits von der Hauptstraße. Kompliment übrigens, Sie haben einen wunderschöne alten Hof, es war sicher nicht leicht ihn zu finden oder hatten Sie das Glück, ihn zu erben?“

Gesa Uttentaler schüttelte den Kopf: „Nein, wir sind keine geborenen Schwarzwälder, meine Wurzeln väterlicherseits liegen im Ruhrgebiet und mein Mann ist ein waschechter Berliner. Wir haben den Hof vor drei Jahren für uns entdeckt, nachdem mein Mann eine Professorenstelle in Karlsruhe an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung bekommen hat.“

„Ja, ich weiß“, nickte Gerlinde Körner. „Professor Hugo Uttentaler ist in unseren Kreisen natürlich kein Unbekannter. Mir war es leider bisher nicht vergönnt, einen echten „Uttentaler“ in meinen Räumen ausstellen zu dürfen. Arbeitet er denn überhaupt noch, ich meine, ist er noch künstlerisch tätig?“

Gesa zuckte nur mit den Schultern, sie hatte jetzt offensichtlich keine Lust, auf die Arbeiten ihres Mannes einzugehen. Sie hob stattdessen den Arm und zeigte auf eine Tür am hinteren Ende der Werkstatt: „Gehen wir nach hinten, da können wir uns besser unterhalten.“

Doch bevor Gerlinde ihrer Einladung folgte, warf sie ganz demonstrativ noch einen Blick in den großen Bottich, an dem die Uttenaler stand: „Entschuldigen Sie Frau Uttentaler, ich bin von Haus aus neugierig, arbeiten Sie schon an Ihrem Auftrag für die Gemeinde Genzlingen?“ „Ach, hat sich das schon herumgesprochen, naja, es ist nach dem Bericht in der Zeitung ja auch kein Geheimnis mehr. Ich versuche gerade den Leuten ein Stück entgegenzukommen, ein Kompromiss, der mich aber nicht ganz zufriedenstellt. Das ist ja bei Aufträgen für den öffentlichen Raum immer so.

Sie müssen wissen“, fuhr Gesa fort, „die Genzlinger haben drei Einnahmequellen: Touristen, Wein und Schweine. Man bat mich, etwas für die Schweine zu tun.“

Gesa Uttentaler zeigte auf den überdimensionierten Schweinekopf zu ihren Füßen, den Gerlinde Körner erst jetzt mit einem leichten Schauer entdeckte. Sie konnte auf den ersten Blick nicht erkennen, ob es sich dabei um einen echten oder einen künstlichen Kopf handelte. „Damit die Weinbauern auch auf ihre Kosten kommen“, sprach Gesa Uttentaler weiter, „habe ich das Schwein auf ein Weinfass gestellt. Alles ganz bieder, sonst hätte ich den Auftrag nicht bekommen. Was Sie hier als große Schale sehen, ist übrigens die Negativform des Weinfasses, genauer gesagt nur die untere Hälfte davon. Gestern hat die Gießerei die Bronzeteile geliefert. Was oben drauf kommt“, Gesa zeigte auf einige mit Gips ummantelte Schalenelemente aus Kunststoff, „wird mit dem Schwein über eine Armierung verbunden. Ich kann Ihnen draußen die Zeichnungen dazu zeigen. Es ist jetzt ohnehin Zeit für eine Kaffeepause. Trinken Sie Kaffee oder möchten Sie lieber Tee oder Wasser?“

Die beiden Frauen suchten sich einen Weg zwischen Werktischen, Farbtöpfen und Eimern voller Harz zur Tür am hinteren Ende der Halle. Gesa Uttentaler drehte sich um: „Mein Schwein bekommt sogar rosafarbenen Marmorstaub beigemischt.“ Sie zeigte auf einige Säcke, die Gerlinde ohne Gesas Erklärung für Zementsäcke gehalten hätte. „So eine Sau zeigt ja doch viel Fleisch.“

Mit einem Blick auf die herumstehenden Geräte und Maschinen, deren Funktion Gerlinde nur zum Teil einzuschätzen wusste, sagte sie zu Gesa gewandt: „Sie sind ja richtig gut ausgestattet!“ Eigentlich hätte sie sagen wollen: ‚Das ist ja ein irres Durcheinander hier, unter einer Bildhauerwerkstatt hätte ich mir etwas anderes vorgestellt.’ Aber Gesas Antwort rückte alles zurecht: „Ja, bei uns geht vieles durcheinander. Als ich noch mit meinem Mann unter einem Dach arbeitete, hatten wir den hehren Vorsatz, alles streng voneinander zu trennen. Hier die Metallwerkstatt, dort die Abteilung für Keramik, da die Kunststoffwerkstatt und nebenan die Gips- und Formwerkstatt, Abteilungen wie man sie auch an der Hochschule findet. Bei uns ist aber alles im Laufe der Zeit durcheinander geraten. Sie sehen es ja selber: Das Schneidegerät für Styropor steht neben dem Absaugtisch und beim Brennofen liegt das Abgussmaterial für meine neuen Skulpturen. Nur unser Maschinenpark für die Metallbearbeitung ist noch einigermaßen beieinander geblieben, in der Abteilung haben wir auch die meisten Steckdosen.“ Arbeitet Ihr Mann auch noch in der Werkstatt?“, fragte Gerlinde Körner in der Hoffnung, doch noch eine Gelegenheit zu finden, den Professor ins Spiel zu bringen. „Nein, die Arbeit an der Hochschule lässt ihm kaum noch Zeit, er hat, wenn ich so sagen darf, seine Interessen in letzter Zeit etwas verlagern müssen.“

Gesa schob die Hängetür an der hinteren Stirnseite der Werkhalle auf. Links davon befand sich eine weitere Tür mit der Aufschrift „Dunkelkammer“. „Sie fotografieren auch?“, fragt Gerlinde Körner. „Nicht mehr, der Raum ist kein Labor mehr, nur noch Rumpelkammer. Aber kommen sie, folgen Sie mir in den bewohnbaren Teil unserer Scheune.“

Gesa schaute ihre Besucherin an und kommentierte deren neugierige Blicke mit den Worten: „Man braucht für seine körperlichen und seelischen Gelüste mitunter einen Rückzugsort, hier haben wir eine kleine Küche und für die Bequemlichkeit sorgt ein Sofa.“ Sie wies auf eine gemütliche Sitzgruppe und eine lederne Couch, die offenbar des Öfteren für ein kleines Nickerchen genutzt wurde, das verriet die Decke und das plattgedrückte Kissen darauf. „Kommen Sie, setzen wir uns. Hatten Sie sich für Kaffee entschieden?“

Gesa entging nicht, wie sich Gerlinde neugierig im Raum umsah. „Ja, da hinten gibt es einen Zugang zu Bad und Toilette und die Holztreppe führt zu zwei ausgebauten Wohnräumen unterm Dach.“ Gesa lachte: „Die Scheune ist nicht nur zum Arbeiten da.“

Gesa holte zwei Tassen aus einem Schränkchen, gab Kaffeepulver hinein und schüttete heißes Wasser dazu. Gerlinde Körner wartete, bis Gesa alles auf den Tisch gestellt hatte. Jetzt war es an der Zeit, auf den Zweck ihres Besuches zu kommen.

Während Gesa Zucker in ihren Kaffee rührte, begann Gerlinde Körner zu sprechen. Sie erzählte von ihrer Galerie und ließ dabei nicht unerwähnt, dass ihr Hauptgeschäft nicht in Freiburg, sondern in Berlin laufe, Freiburg aber aus alter Verbundenheit ihr besonders am Herzen läge. Sie sagte, dass es ihr sehr entgegenkomme, dass Gesa Uttentaler die Galerie Körner & Christ bereits kenne und offensichtlich großes Interesse daran habe, bald auch zum Kreis derjenigen Künstler zu gehören, denen die Galerie eine Plattform geben könne. Sie betonte, dass sie schon immer mit großem Interesse die Arbeiten Gesa Uttentalers begleitet habe. Jetzt, da sie für einige Monate in Freiburg die Geschäfte der Galerie führe, möchte sie die Gelegenheit nutzen, einige Künstler im süddeutschen Raum anzusprechen, die gut ins Profil der Galerie passen würden. Zusammen mit ihrer Partnerin Laura Christ wolle sie sich künftig etwas breiter aufstellen und dem bestehenden Angebot eine bildhauerische Komponente hinzufügen. Sie könne sich gut vorstellen, einige Kleinplastiken Gesas über die Galerie auf den Markt zu bringen, wobei man dabei durchaus auch an ganze Serien denke könne, was sich ja beim Abgussverfahren geradezu anböte. Erst kürzlich habe sie in einer Galerie in Venedig die kleinen Ausgaben von Carole Feuermans Großplastiken gesehen. So etwas würden auch Leute kaufen können, die keine Millionäre seien. Diesen Markt müsse man jetzt bedienen. Mit einem Damian Hirst könne man sich da natürlich nicht vergleichen, der habe mit seinen Barbie-Frauen, die gegen den weißen Hai kämpfen, natürlich auch seine potenten Abnehmer, aber das sei eine andere Liga.

„Wussten Sie“, fragte Gerlinde Körner, „dass Hirst vor zehn Jahren bei einer einzigen Auktion 111Millionen Dollar eingenommen hat? Dass in Venedig ist ja, Biennale hin oder her, eine reine Verkaufsausstellung. Dort muss jeder Besucher 18 Euro Eintritt berappen, wenn er die Figuren vom Hirst im Grassi oder in der Punta della Dogana anschauen will.“

„Ja, das ist wirklich eine andere Liga“ erwiderte Gesa mit einem versonnenen Lächeln im Gesicht. „Bei dem Hirst sind sämtliche Objekte jeweils in dreifacher Ausfertigung vorrätig, die kaufen ihm tatsächlich alles weg.“

„Das ist doch der Punkt, Frau Uttentaler!“, unterbrach Gerlinde Körner ganz aufgeregt. „Ihre Arbeiten stehen, was die Qualität der Ausführung angeht, dem Hirst in nichts nach, aber, verzeihen Sie, wenn ich das jetzt so sage, bei Ihnen fehlt die Show-Schau, zumindest fehlt Ihnen eine Galerie an Ihrer Seite, die genau das macht, was viele Künstler nicht so gut können, nämlich verkaufen.“

Das war ein Vorstoß ohne verniedlichende Schnörkel und Gesa Uttentaler war nicht die Frau, die sich dabei vor den Kopf gestoßen fühlte. Sie wusste selbst ganz genau, wie sehr es darauf ankam, einer Sache das richtige Format zu geben. Ohne Format ließ sich nichts verkaufen. Ihr Mann Hugo hatte es im Gegensatz zu ihr immer gut verstanden, aus seiner Kunst eine Inszenierung zu machen, oft war es allerdings eine Selbstinszenierung. Die eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen, das gehörte bei ihm immer zum Ritual. Sie hatte in ihrer Naivität lange geglaubt, dass es ausreichen würde, nur gut zu sein, aber das war ein Irrtum. Die Körner sah das schon richtig, zur Kunst gehörte auch die Show.

„Ich nehme an, dass Sie die Arbeiten von Carole Feuerman kennen“, sagte Gerlinde Körner. Gesa sah die bemalten Bronzeskulpturen vor sich, die an Berninis Marmorskulpturen erinnerten. Mit welcher Sorgfalt und Intensität diese Figuren bearbeitet wurden. Sogar die Fußsohlen zeigten sich natürlich faltig, die Haut war gegerbt und mit auffallend realistischen Wassertropfen bedeckt.

„Also diese nassen Badeanzugfrauen lösen bei mir sofort gute Laune aus“, sagte Gerlinde Körner. „Bei Ihren Skulpturen Frau Uttentaler geht es doch auch um diese Hyperrealität. Kennen Sie übrigens die Arbeiten von Sam Jinks? Auf der letzten Biennale habe ich seine „alte Frau mit dem Baby“ im Arm gesehen, das hat mich ehrlich gesagt ziemlich berührt. Aber das ist ja sozusagen die dunklere Seite der Medaille. Gleich neben dem Palazzo Grassi ist die Kirche S. Samuele, die ist eigentlich immer verschlossen und selten für Biennaleausstellungen geöffnet. Nachdem ich den Hirst gebührend bewundert habe, bin ich in diese Kirche gegangen. Da zeigt ein gewisser Evan Penny seine Werke. Hier wird an zwei überlebensgroßen Männerporträts wirklich beispielhaft das Konzept der Hyperrealität dargestellt, das geht bis zum letzten Pickel. Das sind absolut perfekte Arbeiten, die noch dazu in der verdunkelten Kirche hervorragend präsentiert werden. Sein Sujet sind ja keine jungen Frauen, sondern leidende und tote männliche Körper.“

„Wir können uns gerne ein paar meiner Arbeiten anschauen“, sagt Gesa Uttentaler, ohne weiter auf die Ausführungen ihrer Besucherin einzugehen. „Kommen Sie, in der Werkstatt finden sich genügend Beispiele. Ich kann Ihnen ja für die Galerie eine Liste möglicher Produkte zusammenstellen. “

Die beiden Frauen konnten sich schnell einigen. Schon bald würde Gesa Uttentaler in der Galerie Körner & Christ präsenter sein als jemals zuvor du auch in Berlin sollten einige ihrer Objekte angeboten werden. Gerlinde Körner war sehr zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Fahrt nach Kirchberg.

Gesa brachte ihre Besucherin bis an die Tür und verabschiedete sich herzlich von der Galeristin aus Freiburg. Sie blieb im Türrahmen stehen und sah ihr nach, dabei warf sie einen prüfenden Blick zum Wohnhaus hinüber. Der rote Polo stand noch immer vor dem Haus.

Als Gerlinde auf der Höhe des alten Bauernhauses war, kam ihr eine rotblonde Frau entgegen. Es sah so aus, als ob sie auf Gerlinde gewartet hätte. „Wollten Sie zum Professor?“, fragte sie und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte sie an: „Der ist nicht da, Herr Uttentaler ist auf Studienreise. Wenn Sie was von ihm wollen, können Sie es auch mir sagen.“

Gerlinde Körner blickte etwas irritiert auf die Frau, die sich so demonstrativ interessiert zeigte und schüttelte den Kopf. „Nein, ich war bei seiner Frau, sie hat mir gar nicht erzählt, dass ihr Mann unterwegs ist. Ich habe sie aber auch nicht danach gefragt.“

Die junge Frau stemmte die Hände in die Hüften: „Was wollten Sie denn von der Frau Uttentaler?“ Das klang jetzt fast etwas unverschämt und Gerlinde Körner dachte, die Kleine vergreift sich im Ton, was bildete sich diese Person ein, wer ist überhaupt diese Frau. Etwas gereizt sagte sie: „Ich glaube nicht, dass Sie das was angeht oder sind Sie ein Mitglied der Familie?“ Die junge Frau verzog spöttisch den Mund: „Welche Familie?“ Dann drehte sie sich um und lief zurück zum Haus. Dort wartete sie an der Tür, bis Gerlinde ihr Auto, das auf der Kuppe des Hügels stand, erreicht hatte.

Ja, das lief ganz gut, dachte Gerlinde Körner, als sie wieder im Auto saß und im Rückspiegel das Ortsschild von Kirchberg sah. Zu einem Vertrag war es noch nicht gekommen, aber Gesa Uttentaler wollte schon eine Liste möglicher Objekte für die Galerie zusammenstellen. Der kleine Mann, der den Elefanten hochstemmte sollte auf jeden Fall dabei sein. Auch hatte Gerlinde den Eindruck, dass die Künstlerin gegen eine Serienfertigung in begrenzter Stückzahl nichts einzuwenden hatte, im Gegenteil, sie war ganz offensichtlich froh, in ihr eine Galeristin gefunden zu haben, die ihr eine gewisse Marktpräsenz bieten konnte.

Eigentlich eine ganz nette Frau, diese Uttentaler, mal nicht so der schwierige Typ, versteht sich irgendwie auch mehr als Handwerkerin und weniger als Künstlerin. Was sie sagte, wirkte irgendwie geerdet und machte sie sympathisch.

Aber diese Blonde, die kam ja wie ein Schachterlteufel aus dem Haus. War das die Putzfrau? Naja, so sah sie eigentlich nicht aus, eher der Typ Studentin, die schon vor jedem eigenen Verdienst von ihrer Bedeutung überzeugt ist. Ja klar, das könnte eine Studentin gewesen sein, vielleicht eine Hilfskraft des Professors, aber wie die sich über dessen Frau hinweggesetzt hat, die tat ja gerade so als ob sie die Termine des Professors besser kennt als die eigene Ehefrau. Was den Ehemann betraf, war die ja irgendwie sehr zurückhaltend, brachte ihren Mann kaum ins Spiel. Kann gut sein, dass die auch nicht weiß, wo der sich gerade herumtreibt. Wäre natürlich schön gewesen, wenn sie auch Hugo Uttentaler angetroffen hätte, man brauchte immer mal einen Laudator, der den richtigen Ton fand. Gerlinde dachte an Oppelmann, der hatte in der letzten „Nacht der Berliner Galerien“ ihren Neuzugang, den Fendt, vorgestellt, eine Katastrophe der Mann, hat aber einen Lehrstuhl an der Kunsthochschule.

Ob die Uttentaler auch in der Scheune wohnt? Sah irgendwie danach aus. Die oberen Räume hat sie mir ja nicht gezeigt, da war bestimmt auch ein Schlafzimmer dabei. Über das Wohnhaus hat sie gar nichts gesagt, das war schon irgendwie komisch. Und dieser hohe Zaun, sehr merkwürdig. Fanden bei den Uttentalers nicht des Öfteren diese legendären Atelierfeste statt?

Als der Lichtkegel der Sonne aus der Mitte der Werkstatt verschwunden und an den Wänden bis unters Dach heraufgekrochen war, schaltete Gesa die Deckenlampen an, verließ die Scheune und ging bis zum Bretterzaun. Sinas roter Polo stand nicht mehr vorm Haus. Hugos neue Flamme war offenbar zurück nach Karlsruhe gefahren. Gesa sperrte die Eingangstür des Wohnhauses auf und stieg die Treppe in den ersten Stock hoch. Hugos Zimmer war unverschlossen. In der unteren Schublade seines Schreibtisches lag der Schlüssel für den alten Ford Taunus P5. Sie verließ das Haus wieder, sperrte hinter sich ab, ging vor bis zum Zaun und lief dann zum hinteren Ende der Scheune. Hier hatte Hugo neben ihrem alten Peugeot seinen Oldtimer, ein himmelblaues Cabrio, Baujahr 1966, untergestellt. Gesa zog die staubige Decke vom Blech und setzte sich in den Wagen. Beim dritten Versuch sprang der Taunus an, die Benzinuhr zeigte einen halbvollen Tank. Sie ließ das Auto eine Weile laufen und holte den großen Steinbohrer aus der Werkstatt. In zwei oder drei Tagen wollte Hugo auf den Hof kommen. Gestern hatte sie von ihm eine SMS erhalten, bis dahin musste alles erledigt sein.

Gesa und Hugo Uttentaler

Ursprünglich sollte ja aus der maroden Hofstelle bei Kirchberg ein Künstlerhof mit Werkstatt, Galerie und Begegnungsstätte werden, alles unter einem Dach, das war die Idee der beiden Uttentalers.

Hugo Uttentaler hatte seine künstlerische Laufbahn an der Stuttgarter Kunstakademie bei Herbert Neufer und Rudolf Hofreiter begonnen. Ende der sechziger Jahre fing er an, vorwiegend mit Eisen zu arbeiten. Es entstanden Reliefs und Objekte aus Vollmaterial.

Von 1969 bis 1974 studierte er in Berlin, später leitete er an der Hochschule die dortige Metallwerkstatt. Er wurde Meisterschüler bei Prof. Shinki Tachiri. Zu seinem Thema wurde der Mensch mit seinen Schwierigkeiten und Ängsten mit sich und seiner Umwelt. Ein Thema, das mit den polaren Begriffen Aggression und Verteidigung, Körper und Psyche, Verletzung und Verletzlichkeit umrissen werden kann.

Dabei konzentrierte sich Hugo Uttentaler in seinen figürlichen Plastiken besonders auf den Kopf des Menschen, dem Sitz aller Widersprüche. Ein neuer Werkstoff kam zum Eisen hinzu, das Leder. Er ritzte, schnitt und verbrannte es, so dass die malträtierte Haut seiner Objekte die Erfahrung und das Erlittene wie eine Tätowierung trug. Mit diesen gegensätzlichen Werkstoffen, dem weichen, biegsamen und verletzlichen Leder und dem kalten, spröden und technischem Eisen, konnte er die Polarität von Aggression und Angst, von Wehrhaftigkeit und Schutzlosigkeit, von Angriff und Verletzbarkeit besonders deutlich zum Ausdruck bringen. Werkzeuge, landwirtschaftliche Geräte und eiserne Behälter, die er auf ländlichen Schrottplätzen fand, wurden in seinen behelmten Köpfen zu Pfeilen, Raketen und Torpedos und sollten den inneren Krieg symbolisieren.

In der Kunstszene galt Hugo Uttentaler bald als ein tiefgründiger, philosophisch denkender Mensch, dessen zurückhaltende Wesensart ihn für alles Marktschreierische untauglich machte.

Als in den 68-er Jahren überall in der Gesellschaft von der physischen Gewalt die Rede war, beschäftigte ihn vor allem die Gewalt im psychischen Bereich. Mit seiner Arbeit „Kopf mit Nagel“ demonstrierte er eindringlich, dass zerstörerische Handlungen vor allem unseren zersetzenden Gedanken entspringen. Er wollte damit deutlich machen, dass Aggression und Gewalt immer von innen heraus kommen. Seine Arbeit „Großer Kopf“ erinnert an eine Maschine. Zwar sind noch Vorrichtungen für die Beweglichkeit vorhanden, doch sie sind still gelegt und scheinbar nicht mehr in der Lage, sich selbst in Bewegung zu setzen. Der Mensch, so die Botschaft, ist ein manipuliertes Wesen, fremdbestimmt und jeglicher Individualität beraubt. Er stellt sich als reiner Funktionsträger ohne innere Beteiligung in einen ihm fremden Dienst.

In Berlin lernte Hugo Uttentaler 1975 an der Hochschule dann Gesa Baierlein kennen, eine Studentin, die auch seine Metallwerkstatt besuchte. Auf einem Studentenfest der Fachschaft Bildende Kunst saßen sie mehr als drei Stunden nebeneinander, unterhielten sich prächtig, vergaßen bald ihre laute Umgebung und waren ganz unter sich. Doch dann musste Gesa gehen, weil sie den einzigen Schlüssel für ihre WG in Charlottenburg besaß.

Als sich Hugo Uttentaler zu ihr setzte, sie kannte ihn ja schon von der Werkstatt her, dachte sie: Gut, dass es nicht so ein junger Typ ist, mit dem man nicht reden kann. Er wird nicht versuchen, mich ins Bett zu kriegen. Hier habe ich die Situation unter Kontrolle. Hugo war nicht der Typ Mann, den Gesa auf Anhieb attraktiv fand, aber sie fühlte sich doch in gewisser Weise zu ihm hingezogen, es war so, als träfe sie in ihm einen Seelenpartner.

Sie redeten ganz fachlich über Kunst und die Verbindung der Materialien Kunststoff, Metall und Holz, ein Thema, das Gesa damals ganz besonders interessierte. Als sie ihm sagte, dass sie gehen müsse, weil sonst eine Kommilitonin nicht in die Wohnung könne, schrieb er mit einem Kugelschreiber drei Worte auf ihren Unterarm: Ich will dich. Das brachte Gesa gehörig durcheinander und entsprach ganz und gar nicht ihren Absichten. Andererseits konnte sie diese drei Wörter nicht einfach ignorieren. Sie konnte diesem Uttentaler unmöglich aus dem Weg gehen und jetzt den Studienort zu wechseln, wäre lächerlich gewesen. Also entschloss sie sich, ihr Liebesleben mit der Arbeit zu verbinden.

1975 kauften sich Hugo Uttentaler und Gesa Baierlein einen ehemaligen Bauernhof bei Kirchberg im Breisgau. Dort wollten sie nach ihrer Berliner Zeit gemeinsam in der umgebauten Scheune arbeiteten. Hugos Eltern hatten ihrem Sohn ein ordentliches Erbe hinterlassen, es war ausreichend Geld für den Ausbau der maroden Hofstelle vorhanden. Doch fürs Erste blieb Berlin ihr erster Wohnsitz. Gesa studierte und Hugo arbeitete als Assistent in der Metallwerkstatt der Hochschule. Dann überwarf sich Hugo mit seinem Professor und wollte nur noch weg.

Was seine Arbeiten betraf, blieb Hugo bei seinem eingeschworenen Thema, der Gewalt in unseren Köpfen. Mit seinem „Stürzenden Mann“ demonstrierte er 1978 die Selbstüberschätzung des Menschen, die ihn fallen und scheitern lässt. In seinen Zeichnungen aber wies er darauf hin, dass der Mensch immer auch die Wahl hat, sich entweder als Opfer zu sehen und zu resignieren oder sich zu neuen Ufern aufzuschwingen und weiterzuentwickeln.

Während Hugo sich schon erfolgreich an Ausschreibungen für Kunst im öffentlichen Raum beteiligte, experimentierte Gesa lange, mit welchen Formen und Materialien sie arbeiten wollte.

In Coburg, Bayreuth, Augsburg und Regensburg wurden damals neue Fachhochschulen und Universitäten gebaut. In Augsburg konnte Hugo eines seiner Modelle zu einem guten Preis verkaufen. Ein Auftrag für Gesa war noch nicht dabei. Die Werkstatt, die Hugo und Gesa nun gemeinsam auf ihrem Bauernhof nutzten, lag weit draußen auf dem Land. Um Brötchen für das Frühstück zu holen, musste man mehrere Kilometer bis zum nächsten Bäcker zurücklegen.

Hat sich Gesa von ihrem erfolgreichen Freund damals inspirieren lassen? Sie konnte viel bei ihm abschauen und nicht selten holte sie seinen Rat ein, aber schon in ihren frühen Arbeiten zeigte sich auch ihre Eigenständigkeit. Sie arbeitete anfänglich viel mit Plexiglas, das war damals en vogue. Konvexe, konkave Verzerrungen und die Linsenwirkungen des Glases faszinierten sie. Gesa probierte einige Materialkombinationen aus, bei der Fassung mit Metall suchte sie in der Werkstatt Hugos Rat.

Nach der Plexiglasphase entstanden erste Arbeiten ganz aus Metall, Kleinplastiken in Bronze, messinggeschweißt, das alles konnte Gesa unter Hugos Anleitung noch in der Berliner Metallwerkstatt umsetzen. Gesa wollte zuerst die Eigenschaften der Materialien kennenlernen und ihnen dann erst eine Form geben, die ihnen adäquat war. Heraus kamen Zusammensetzungen, ein Ineinander von Positiv-Negativ-Formen, wobei die Einzelteile stets den Bezug zum Ganzen behielten.

Am fernen Bauernhaus am Rande des Schwarzwalds wurde in den Sommerwochen schon gebaut, als beide noch in Berlin waren. Vielleicht war es dem Umbau des Hauses geschuldet, dass nun Holz und Gips vorübergehend zu den bevorzugten Materialien von Gesas künstlerischem Schaffen wurden.

In ihrer Entwicklung gab es viele Sprünge und Umorientierungen. Im Urlaub sammelte sie Strandgut am Meer, mit den Fundstücken entstanden sog. Objektkästen. Sie griff alte Formen wieder auf und schuf aus Gips vegetative Objekte, die in Kästen aus Holz eingepasst wurden. Aus den Holzbalken, die beim Umbau des Bauernhauses herausgenommen wurden, entstanden schlanke Figuren mit einem Sockel aus Metall.

Ähnlichkeiten mit Hugos Arbeiten gab es nicht. Er beschäftigte sich jetzt fast ausschließlich mit Köpfen, riesige Köpfe waren das, mit eisernen Bandagen umwickelt. Er hatte auch nach seinem Weggang aus Berlin seine guten Kontakte nicht abreißen lassen. 1983 erhielt er den Kunstpreis der Stadt Ulm, 1988 folgte der Schwäbische Kunstpreis. An den Hochschulen in Regensburg und Karlsruhe wurden von ihm die großen Skulpturen „Von innen nach außen“ und „Sturzflug“ aufgestellt. Die Aufträge spülten ordentlich Geld in die Kasse.