Tempowahn - Winfried Wolf - E-Book

Tempowahn E-Book

Winfried Wolf

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Beschreibung

Mit dem Begriff "Tempowahn" verbindet man vordergründig Autorennen. Oder man assoziiert damit neue SUV-Modelle und Sportwagen mit 300 und mehr PS. Auch kommen einem die deutschen Autobahnen in den Sinn, auf denen über weite Strecken "Tempofreiheit" herrscht. Der Verkehrsforscher Winfried Wolf findet beim Thema der Beschleunigung noch ganz andere, erstaunliche Zusammenhänge. Solche zwischen Tempowahn und Demokratieabbau, zwischen Geschwindigkeits­fetischismus und Faschismus, zwischen PS-Hochrüstung und Männlichkeitswahn oder zwischen Entschleunigung und Urbanität. Wolf besuchte für seine Recherche die Automessen der Gegenwart. Entgegen allen Bekundungen ist dort für die Hersteller die Geschwindigkeit der neuen Modelle noch immer das wesentlichste Verkaufsargument – der SUV-Boom hält unverändert an. Nach dem aktuellen Befund dringt Wolf ein in die Geschichte der Mobilität als ständig beschleunigte Bewegung von Menschen, wobei diese – von der Eisenbahn über das Automobil bis zum Flugzeug – nicht mit einem Mehr an Kommunikation einherging. Die schlimmste politische Ausformung fand der Geschwindigkeitsfetischismus im Faschismus: Henry Ford, ein begeisterter Anhänger der Nazis, Benito Mussolini und Adolf Hitler setzten auf Temporausch und Autorennen zur Durchsetzung ihrer – durchaus unterschiedlichen – Ziele. Doch auch in den heutigen Gesellschaften ortet der Autor eine fatale Verbindung zwischen Beschleunigung und autoritären Denkmustern. Männer rasten schon immer gerne in den Tod. Winfried Wolf weiß von einer Reihe von Prominenten zu berichten, denen überhöhtes Tempo ein frühes Ende setzte: Vom NS-Helden Bernd Rosemeyer über den Schauspieler James Dean und den Formel-1-Fahrer Jochen Rindt bis zum FPÖ-Führer Jörg Haider. Der Tempowahn ist auch für die Allgemeinheit äußerst schädlich: Rasende Autos und Betonorgien führen zu Stadtzerstörung und Verlust an Urbanität. Tempowahn und Geschwindigkeitsfetischismus, so konstatiert Wolf, müssen endlich der Entschleunigung und der Demokratie weichen.

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Seitenzahl: 314

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Winfried WolfTempowahn

© 2021 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Cover: Gisela Scheubmayr/subgrafik, Foto: © shutterstock

ISBN: 978-3-85371-885-8(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-474-4)

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1: Der Mensch. Die Zeit. Die Uhr
Kapitel 2: Die Industrialisierung als Zeitmaschine
Kapitel 3: Kanäle und Eisenbahnen als Transportrevolutionen der Industrialisierung
Kapitel 4: Die Transportrevolution der Eisenbahnen
Kapitel 5: Der kleine Mann macht Tempo
Kapitel 6: Fordismus und Faschismus
Kapitel 7: Autostrade, Autobahnen, Interstates
Kapitel 8: PS-Wahn – SUV-Boom – Macho-Tempo
Kapitel 9: Die Produzenten des Autowahns
Kapitel 10: Der Flugverkehr – das bislang letzte Kapitel in der Tempowahn-Geschichte
Kapitel 11: Der Preis des Fetischs Geschwindigkeit. Oder: Das Nullsummenspiel beim Zeitgewinn
Kapitel 12: Entschleunigung – der Griff zur Notbremse
Literaturverzeichnis

Über den Autor

Winfried Wolf, geboren 1949 in Horb am Neckar, studierte Politikwissenschaften in Freiburg und Berlin und promovierte in Hannover. Von 1994 bis 2002 war er Mitglied des deutschen Bundestags. Er ist Chefredakteur von „Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie“ und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Im Promedia Verlag sind von ihm u.a. erschienen: „Verkehr. Umwelt. Klima. Die Globalisierung des Tempowahns“ (2. Auflage 2009) und „Mit dem Elektroauto in die Sackgasse“ (aktualisierte Neuauflage 2020).

Vorwort

Als ich das vorliegende Buch plante, war dieses thematisch eher eng angelegt. Im Zentrum sollte der aktuelle Tempowahn stehen, also das, was sich nun vor allem in den Kapiteln 8 und 9 findet. Es waren dann vor allem meine Recherchen hinsichtlich dessen, was ich zu dem Thema bereits einmal teils geschrieben und teils auch selbst erlebt hatte, was zu dem jetzt umgesetzten weit breiteren Themenspektrum führte. In dem 1986, 1987 und 1992 erschienenen Buch „Eisenbahn und Autowahn“ finden sich bereits Abschnitte, die Ivan Illichs Theorie der „gesellschaftlichen Durchschnittsgeschwindigkeit“ aufgreifen. Wobei es dort im Kapitel „Geschwindigkeitsmythos“ noch um Autos geht, „deren Spitzengeschwindigkeiten bis vor zwei Jahrzehnten dem Rennsport vorbehalten waren“. Damit waren jedoch Tempi von „bis zu 200 km/h“ gemeint. Derzeit haben alle drei großen deutschen Autohersteller Modelle mit Spitzengeschwindigkeiten von 300 plus im Angebot. Auch gibt es Autovermieter, die sich auf Pkw mit solchen Spitzengeschwindigkeiten spezialisiert und dabei vor allem junge Männer als potenzielle Kunden (und nicht selten als Mörder respektive als Selbstmörder) im Fokus haben. Das Buch „Verkehr. Umwelt. Klima“, das 2007 und 2009 bei Promedia erschien, hatte bereits den richtungsweisenden Untertitel „Die Globalisierung des Tempowahns“. Und als – erneut bei Promedia – 2020 die dritte Auflage von „Mit dem Elektroauto in die Sackgasse“ erschien, da durfte ich bereits über Elektroautos mit solchen Top-Geschwindigkeiten und „mit 510 PS im Heckmotor, weiteren 263 PS im Frontmotor und einem Leergewicht von 2486 Kilogramm“ berichten. Es geht um das Model X von Tesla, von der EU als „Zero-Emission-Vehicle“ eingestuft.

Insofern kann ich beim Thema Tempowahn aus dem Vollen schöpfen. Das gilt auch für die Notwendigkeit der Entschleunigung. In meiner Jugend verfügte ich über ein Kartenspiel mit dem Titel „Rennen und Rekorde“. Abgebildet war unter anderem der Dampfer „Britannia“, der 1840 die Transatlantik-Querung in der Rekordgeschwindigkeit von zwei Wochen bewältigt hatte. Mit an Bord war immer eine Kuh, damit die Passagiere täglich ihre frische Milch trinken konnten. Man mag füglich bezweifeln, dass dabei das Tierwohl in ausreichendem Umfang beachtet wurde; doch für die Passagiere handelte es sich zweifellos um ein entschleunigtes Reisen. Die leistungsstärksten Schiffe in diesem Quartett waren 18 Knoten oder 33 Stundenkilometer schnell. Es ging um das „Blaue Band“; man sprach damals tatsächlich von Transatlantik-Rennen. Anfang der 1990er-Jahre befuhr ich dann – selbst am Ruder stehend – den Llangollan-Canal in Wales, und las abends auf dem narrow boat die Beschreibung darüber, wie der in dieser Region Anfang des 19. Jahrhunderts erstellte exzellente Käse auf tagelangen Kanalschifffahrtstransporten – am Ende auf dem Shropshire Union Canal – reifte, um schließlich auf dem Wochenmarkt der Stadt Chester verkauft zu werden. In meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter entwickelte ich meine Begeisterung für die Nachtzüge. Ich konnte irgendwo in Baden-Württemberg abends eine Veranstaltung abhalten, danach noch ein oder zwei Viertel Gutedel trinken; Hauptsache ich war bis 23.26 Uhr in Karlsruhe oder bis 0.05 Uhr in Mannheim: Der Talgo-Nachtzug brachte mich dann bis Punkt 8 Uhr früh nach Berlin; das Frühstück im Zugrestaurant war wirklich ausgezeichnet.

Doch lesen Sie selbst – die Geschichte von Mensch und Geschwindigkeit, Industrialisierung als Zeitdiktat, Ford und Faschismus, Globalisierung und Corona und den „Griff des in einem (rasenden) Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“, wie Walter Benjamin die notwendige Revolution charakterisierte.

Für Lektorat und intensiven Austausch bedanke ich mich bei Andreas Jacobson.

Winfried Wolf,Michendorf, im März 2021

Kapitel 1: Der Mensch. Die Zeit. Die Uhr

Zu Beginn des anschließenden Winters jedoch kam ein Weib, das in der Stunde der schlimmsten Hitze Wäsche im Fluss wusch, höchst aufgeregt und laut zeternd durch die Hauptstraße gerannt. »Da kommt was Unheimliches«, stieß sie mühsam hervor, »so was wie eine Küche, die ein Dorf hinterdrein schleppt.«

In diesem Augenblick erzitterte das Dorf von weithin hallenden Pfiffen und ungeahntem Zischen. […] Als sie sich von dem betäubenden Pfeifen und Keuchen erholt hatten, liefen alle Einwohner auf die Gassen hinaus und sahen gebannt den blumengeschmückten Zug, der zum ersten Mal mit acht Monaten Verspätung eintraf. Der unschuldige gelbe Zug, der so viele […] Verhängnisse und Sehnsüchte nach Macondo bringen sollte.

Gabriel Garcia Márquez – Hundert Jahre Einsamkeit, 19671

»Weißt du, dass einst Zigeuner zusammen mit Melquíades hierher kamen, um euch das Eis zu zeigen?« – »Natürlich! Das erzählt García Márquez in seinem Roman‹Hundert Jahre Einsamkeit‹« – »Was hältst du davon, was die Zigeuner dieses Mal mitgebracht haben?« – »Wundervoll! Der Traum von García Márquez ist endlich Wirklichkeit geworden.«

Ramon Chao, Ein Zug aus Eis und Feuer, 19942

Wenn ich Ende der 1950er-Jahre nach der Schule – zunächst der Volkschule in Weißenau und dem Humanistischen Gymnasium in Ravensburg, jeweils in Oberschwaben – mit meinen Freunden in den nahe gelegenen Wald zum Spielen ging, pflegte meine Mutter zu sagen, wir müssten zum »Gebetläuten« nach Hause kommen.3 An den Sonntagen gab es eine halbe Stunde vor Beginn des Hochamtes ein eher schlichtes Gebimmel, das in die Kirche rief. Besonders pünktlich war dieses Geläut nicht; um es in Gang zu setzen, musste der Messner jeweils einen guten Kilometer per Fahrrad zur Kirche radeln und dort eigenhändig an einem dicken Hanfseil ziehen, um den Klöppel in Schwung zu bringen – und bei feierlichen Anlässen sogar die große Hosianna-Glocke bewegen. Allerdings gab es bereits eine große Uhr auf dem 45 Meter hohen Turm der Barockkirche. Diese war weithin sichtbar. Man konnte sie auch von zwei der Klassenzimmer der Volksschule aus gut erkennen; wer ausreichend Mut und gute Noten hatte, konnte gegebenenfalls den Lehrer ermahnen, wenn er am Ende der Unterrichtsstunde die Zeit allzu sehr überzog. Es gab ein Zeitgefühl; doch das war eher vage, die Erinnerung an die Zeit erfolgte sporadisch und auf höchst praktischem Weg. Wir waren noch weit entfernt von der Allgegenwart der Zeit im Zeitalter von Handy, DB-Navigator und »getaktetem« Terminkalender.

Jahrtausendelang lebten die Menschen ohne Zeit oder zumindest ohne ein genaueres Zeitgefühl. Ja, es gab schon immer enorm unterschiedliche Zeitgefühle. Wer auf jemanden oder auf ein Ereignis wartet, vermeint, die Zeit bliebe stehen und die Sekunden würden tropfen. Wer ein freudiges Ereignis erlebt, für den vergeht die Zeit »wie im Fluge«. Eine exakte Zeit – ein spezifisches Zeitmaß – lässt sich aus eigener Geisteskraft oder eigenem Empfinden kaum definieren. Studien zeigen: Menschen können die Aufgabe, ohne Uhr nach exakt einer Stunde einen Knopf zu drücken, nicht erfüllen. Ein jeder und eine jede wählt dabei – mit enormen Abweichungen – einen anderen Zeitpunkt.

Das gesellschaftliche Leben erforderte jahrtausendelang kein genaues Zeitmaß. Und somit gab es keine sprachliche Ausformung für »Zeit« – beziehungsweise der Zeitbegriff wurde in anderer Weise ausgelegt. Das »pantarhei (πάνταῥεῖ) – alles fließt« des Heraklit setzt den Zeitfluss mit dem Bett eines Stromes gleich. Dabei ging es ihm nicht in erster Linie um Zeit. Schon gar nicht um konkrete Zeitpunkte. Im Gegenteil: Hektik und Tempo sind dem Bild vom Flussbett fremd. Inzwischen ist vom Zeitstrahl die Rede. Im alten Ägypten soll es kein Wort gegeben haben, das so abstrakt und umfassend ist wie unser Begriff Zeit – wohl aber viele Worte, die sich auf die Zeit von etwas und für etwas beziehen und so viel wie »Augenblick«, »Moment« bedeuten und damit »auf einen bestimmten Zeitpunkt eines Ereignisses […] hinweisen, an dem sich dieses am charakteristischsten entfaltet.« Es habe, so Erhard Oeser, eine »grundlegende Spaltung des Zeitbegriffs« gegeben: »Die alten Ägypter hatten zwar schon das Bewusstsein von einer das eigene subjektive Zeiterleben und die eigene Lebenszeit übersteigenden Zeit. Aber diese ›Zeit‹ fiel bei ihnen mit der ewigen Zeitfülle zusammen, außerhalb derer nicht gedacht werden kann und die mythologisch durch den ›Uruboros‹, das Symbol der sich in den Schwanz beißenden Schlange, dargestellt wurde.«4

Es waren staatsähnliche Strukturen, der Handel, Transport und Verkehr und nicht zuletzt Kriege, die ein möglichst genaues Zeitmaß und eine höchstmögliche Geschwindigkeit diktierten. Die Übermittlung eines wichtigen Ereignisses konnte kriegsentscheidend sein. Deswegen war die Geschwindigkeit von Boten – und die gesicherte Übertragung – von strategischer Wichtigkeit. Im Jahr 490 vor Christus galt es den Sieg Athens über die Perser in der Schlacht von Marathon im knapp 40 Kilometer entfernten Athen zu vermelden. Ein Bote soll die Strecke ohne anzuhalten in voller Kampfausrüstung zurückgelegt und in Athen den Sieg verkündet haben, um dann tot zusammenzubrechen. Es dürfte sich um eine Legende handeln. Gesichert ist die Erkenntnis, dass es im antiken Griechenland ein System laufender Boten gab, die in einem relativ festen Zeitmaß Nachrichten überbrachten. Die 240 Kilometer weite Entfernung Athen–Sparta soll ein solcher Hemerodromos in einem Tag zurückgelegt haben.

Tausend Jahre später wird in der »Memminger Chronik« über eine systematisierte Nachrichtenübertragung auf Basis von Taxi’schen Posten wie folgt berichtet: »1490 […] In diesem Jahr fiengen die Posten an bestellet zu werden/ auß Befelch Maximiliani I. deß Königs von Oesterreich biß in die Niderland/ und biß nacher Rom. Es lag allweg 5 Meil wegs ein Post von der anderen. Einer war zu Kempten/ einer zu Bleß 3 Stund unter Memmingen/ einer an der Bruck zu Elchingen/ und also fortan/ einer musste alle Stund eine Meil/ das ist zwei Stund weit reiten/ oder es ward ihm am Lohn abgezogen/ und mussten sie reiten Tag und Nacht. Also kam offt in 5 Tagen ein Brieff von hier biß nacher Rom.«5

Die übliche Tagesleistung dieser Taxi’schen Posten lag im Inland bei 120 Kilometern. Auf europäischer Ebene musste das Habsburger Reich in ein Zeitmaß gebracht werden. Dabei wurde die Leistung bewusst niedriger angesetzt, um ein realistisches Maß als Dauerzustand aufrechterhalten zu können und damit ein festes Zeitmaß zu erreichen. In einem 1505 geschlossenen Vertrag zwischen Philipp und Franz von Taxis wurden die folgenden Zeitmaße vereinbart: Brüssel–Paris 44 Stunden im Sommer und 54 Stunden im Winter; Brüssel–Innsbruck fünfeinhalb Tage bzw. sechseinhalb Tage; Brüssel–Granada 15 beziehungsweise 18 Tage.

Die Fähigkeit, aus Zeitgewinn, Zeitkontrolle und einem Briefmonopol ein Geschäft zu machen, verschaffte der Adelsfamilie der Thurn und Taxis einen enormen Reichtum, weswegen der Milliardär Albert von Thurn und Taxis heute zu den hundert reichsten Deutschen zählt. Und während sich die Thurn-und-Taxis-Pferde-Posten mit Tempo 20 Stundenkilometern bewegten, bevorzugt seine Durchlaucht heute die zehn- bis fünfzehnfache Geschwindigkeit: Der Mann fährt Autorennen. Immerhin auf dafür vorgesehenen und für den öffentlichen Verkehr nicht geöffneten Bahnen. Seine Mutter, die Fürstin Gloria von Thurn und Taxis: »Es macht schon wahnsinnig viel Spaß auch mal sehr schnell, mit Tempo 300, über die Autobahn zu fahren. […] Man kann hin und wieder nachts schon mal versuchen, die magische Grenze zu knacken. […] Der Blick klebt dabei auf der Straße. Das ist natürlich schon ein Erlebnis.«6

Doch zurück in entschleunigtere Zeiten und zum Läuten der Glocken. Dies war im gesamten Mittelalter und bis in die Zeit der Indus­triellen Revolution hinein das übliche Zeitmaß. Andernorts – so in den Tuchdistrikten und in den Gebieten mit Töpferei in England – wurde das Horn eingesetzt, um frühmorgens die Leute zu wecken. Zwar gab es erste mechanische Uhren bereits im 14. Jahrhundert; es handelte sich jedoch in der Regel um Turmuhren, die im öffentlichen Raum die Zeit verkündeten. Mitte des 17. Jahrhunderts verbreiteten sich die Standuhr und erste Taschenuhren. Genauigkeit in der Zeitmessung war noch kaum ein Thema – auch weil nicht im gesellschaftlichen und Arbeitsleben notwendig. Es war dann nicht zufällig die Schifffahrt, in der mechanische Zeitmesser mit präzisem Uhrwerk zum Einsatz gelangten. John Harison, ein Uhrmacher und ehemaliger Schreiner aus Barton-on-Humber (Lincolnshire), perfektionierte 1730 eine Schiffsuhr, von der er sagte, diese »dahin gebracht (zu haben), dass sie genauer geht, als man sich vorstellen kann, wenn man an die große Zahl von Sekunden denkt, die ein Monat hat, und während deren sie um nicht mehr als eine Sekunde abweicht. […] Ich bin mir sicher, dass ich es noch auf die Genauigkeit von 2 oder 3 Sekunden pro Jahr bringen kann.«7

Im ausgehenden 17. Jahrhundert und das gesamte 18. Jahrhundert hindurch war die englische Uhrmacherkunst in Europa hinsichtlich Technik, Präzision und modischer Ausgestaltung führend. Ihre Basis war zunächst eine rein handwerkliche; das Uhrmacherhandwerk ging aus dem Schmiedehandwerk hervor. Im 18. Jahrhundert wurde daraus jedoch ein ansehnlicher Industriezweig, in dem einige Tausend Menschen auf halbindustrieller Ebene arbeiteten: Es gab eine Arbeitsteilung mit vorfabrizierten Zulieferungen aus großen Fabriken. Für 1796 wird als Produktion der englischen Uhrmacher die Zahl von 191.678 Taschenuhren genannt. Ein großer Teil der Uhren ging in den Export.8 Anfang des 19. Jahrhunderts erwuchs dem englischen Uhrenhandwerk eine kontinentale Konkurrenz insbesondere in Form französischer und Schweizer Uhrenhersteller.

Ein gutes halbes Jahrhundert lang waren Taschenuhren ein Luxusgut der Reichen. Der Durchschnittspreis lag so hoch, dass die ständig ablesbare Zeit das Privileg von Adel, Meistern, Fabrikherren und Händlern blieb. Ende des 18. Jahrhunderts wurde aus Luxus Mode und mit der Mode in zunehmender Weise ein Massenprodukt:

Unter den neuen Bedürfnissen, die der Industriekapitalismus nun zur Förderung der eigenen Entwicklung weckte, war das kleine Instrument, das den neuen Rhythmus des industriellen Lebens regulierte, relativ dringlich. Eine Wand- oder Taschenuhr war nicht nur nützlich, sie verlieh auch Prestige, und so werden nicht wenige für ihren Erwerb die letzten Ersparnisse geopfert haben. [...] Selbst Arbeiter mochten ein bis zweimal in ihrem Leben unerwartet zu Geld kommen und dafür eine Uhr erstehen: für den Wehrsold, einen Ernteverdienst oder den Jahreslohn eines Dieners. In manchen Teilen des Landes wurden Uhrenclubs (clock and watch clubs) zu gemeinschaftlichem Ratenkauf gegründet. Die Taschenuhr war die Sparkasse des kleinen Mannes, in schlechten Zeiten konnte sie verkauft oder verpfändet werden. [...] Wann immer eine Gruppe von Arbeitern ihren Lebensstandard zu erhöhen vermochte, gehört der Erwerb von Uhren zum ersten, das die Beobachter vermerken. Nach Radcliffes bekanntem Bericht über das goldene Zeitalter der Handwerker in Lancashire in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatte jeder Weber »eine Uhr in der Tasche« und jedes Haus war »wohl ausgestattet mit einer Wanduhr in einem eleganten Mahagoni- oder sonstigen modischen Gehäuse«.9

Und wie kam die Uhrenindustrie in die Schweiz? Wohl durch puren Zufall. Der 1685 geborene und 1741 verstorbene Daniel JeanRichard, ursprünglich von Beruf ein Schlosser, gilt als Gründer der Branche. Ihm soll ein Pferdehändler nach vorübergehendem Aufenthalt im Ausland im Jahr 1679 eine in London gefertigte Taschenuhr gebracht haben, die »in Unordnung gekommen« war. JeanRichard tat das, was man noch vor einigen Jahrzehnten den Chinesen nachsagte: Er zerlegte die Uhr, reparierte sie wohl auch; doch sie diente ihm vor allem als Vorlage für die Entwicklung eigener Uhren. Anfang des 18. Jahrhunderts begründete er im Schweizer Kanton Neuenburg die Uhrenindustrie, die sich bald zum bedeutendsten Wirtschaftszweig des Landes entwickelte. Begünstigt wurde dies durch den Zuzug von Uhrmachern, die nach der Aufhebung eines Ediktes 1685 aus Frankreich aus religiösen Gründen vertrieben wurden und Zuflucht im protestantischen Genf gefunden hatten.

Wer sich heute im Vallée de Joux, dem Zentrum der feinen Schweizer Uhrmacherei, wundern sollte, warum die meisten Fenster älterer Häuser nach Norden gerichtet sind, bekommt als Antwort: der präzisen Uhrmacherei wegen. »Das Spiel von Licht und Schatten, hervorgerufen durch den Lauf der Sonne, würde die Arbeit der Uhrmacher mehr behindern als fördern. Nordlicht hingegen zeichnet sich durch seine Gleichmäßigkeit aus.«10

Offensichtlich sind die Menschen erst seit einer relativ geringen Zeitspanne Zeit-Menschen. In der überwältigend langen Periode vor dem Zeit-Zeitalter spielte Zeit im engeren Sinn, getaktet nach Stunden, geschweige denn nach Minuten, im menschlichen Sein keine größere Rolle. Entsprechend des Fehlens von Zeit als Begleiter im gesellschaftlichen Leben beziehungsweise der geringen Bedeutung von Zeit für die Menschen waren die Zeitmess-Vorstellungen und Chronometer entwickelt. In den Worten von Norbert Elias: »Es wäre nicht sehr schwer zu zeigen, wie auf dem Wege, sagen wir, von Wasser-, Sonnen- und Sanduhren zu den Kirchturmruhren und von dort im Lauf der Jahrhunderte zu den individualisierten, am einzelnen Menschen haftenden Armbanduhren« – die heutigen Smartphone-Zeitgeber nicht zu vergessen – »das Abstimmen des Verhaltens und Empfindens der einzelnen Menschen auf die sozial eingerichtete ›Zeit‹ differenzierter und selbstverständlicher wird. Genügte es früher einmal den sozialen Erfordernissen, wenn Glocken die Gläubigen […] zum Gebet riefen, so entsprach es auf einer weiteren Stufe den sozialen Erfordernissen, wenn öffentliche Uhren die Stunden anzeigten, und auf noch weiteren Stufen der Gesellschaftsentwicklung schließlich auch noch die Minuten und sogar die Sekunden.«11

1 Gabriel García Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit, Original 1967, hier nach deutsche Ausgabe Köln 1970, S. 260.

2 Ramon Chao, Ein Zug aus Eis und Feuer. Mit Mano Negra durch Kolumbien, Hamburg 2008 (Original Paris 1994. Der Rockmusiker Manu Chao durchquerte mit seiner damaligen Band La Mano Negra in einem aus Schrotteilen zusammengeschmiedeten Zug mit einer Gruppe französischer und kolumbianischer Künstler (»Zigeuner«) das ländliche Kolumbien, teilweise auf längst nicht mehr befahrenen Gleisen. Sein Vater Ramon Chao dokumentierte die zeitlose Reise.

3 Das Gebetläuten (auch Gebetsläuten oder – in anderen katholischen Regionen – Angelusläuten) fand regelmäßig abends, meist um 18 Uhr statt. Es war, wenn ich mich korrekt erinnere, ein einfaches Läuten, ein mehrfacher Schlag des Klöppels gegen die Glocke, also ohne ein Schwingen der Glocke.

4 Erhard Oeser, Zeitpfeil und Zeithorizonte, in: Zeit-Räume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume. Herausgegeben von Martin Bergelt und Hortensia Völckers, Wien 1991, S. 171.

5 Zitiert bei Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis: Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen, München – Zürich 1990, S. 26.

6 Fürstin Flott, Interview mit Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, in: PS Welt – Die Zukunft der Mobilität, Das Automagazin der Welt am Sonntag, September 2017.

7 Zitiert bei Edward P. Thomson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Derselbe, Plebe­ische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, ausgewählt und eingeleitet von Dieter Groh, Frankfurt/M.–Berlin–Wien 1980, S. 41.

8 Edward P. Thomson, a. a. O., S. 42.

9 Ebenda, S. 44.

10 Gisbert L. Brunner, Das war hier schon immer so. Im Vallée de Joux, dem Mekka der feinen Uhrmacherei, in: Süddeutsche Zeitung vom 26. Oktober 1993.

11 Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt/Main 1988, S. 80.

Kapitel 2: Die Industrialisierung als Zeitmaschine

Seitdem unsere Zeit einem Einheitsmaß unterworfen ist und des Tages Goldbarren zu Stunden gemünzt wird, wissen die Fleißigen aller Berufe jede Minute zu ihrem Vorteil zu nutzen. Wer aber seine Zeit sorglos vertändelt, ist in Wahrheit ein Geldverschwender.

Benjamin Franklin, Autobiographie, 179012

Jetzt waren die Londoner Zifferblätter weiß. Viele Uhren hatten Sekundenzähler wie vorher nur die Schiffschronometer. Uhren und Menschen waren genauer geworden. John [Franklin] hätte das gut geheißen, wenn daraus mehr Ruhe und Gemessenheit entstanden wäre. Stattdessen beobachtete er überall nur Zeitknappheit und Eile. Oder wollte nur für ihn, John, niemand mehr seine Zeit opfern? Nein, es musste eine allgemeine Mode sein. Der Griff zur Uhrkette war häufiger geworden als der zum Hut. Man hörte kaum Flüche, der Ausruf »Keine Zeit« war an ihre Stelle getreten.

Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, über London im Jahr 182113

Die regelmäßige Wiederkehr der Jahreszeiten, erfasst unter anderem in hochwissenschaftlichen Kalendern, spielte in vielen Kulturen eine wichtige Rolle, auch wenn der Alltag der Menschen eher grob als Abfolge von Tag und Nacht, von Sonne und Mond bestimmt war. In der Landwirtschaft gaben oft die Tiere ihre spezifischen Zeitsignale; der Hahnenschrei kündigte den Sonnenaufgang an und spätestens mit dem Brüllen der Milchkühe mussten dieselben gemolken werden. Am Abend musste das Vieh in den Stall getrieben werden. Das klösterliche Leben und die Seefahrt waren an Zeiten ausgerichtet; im Kloster waren es Rituale, auf einem Schiff die überlebensnotwendige Technik.

Die Zeit als Maß für verausgabte Arbeit gab es seit Jahrhunderten. Karl Marx beschreibt gut, wie er selbst noch den Übergang der mittelalterlich-handwerklichen Arbeit mit der ursprünglichen Zeitbestimmung als Wert aller Arbeit erlebte:

Dem Bauer des Mittelalters war also die für die Herstellung der von ihm eingetauschten Gegenstände erforderliche Arbeitszeit ziemlich genau bekannt. Der Schmied, der Wagner des Dorfs arbeiteten ja unter seinen Augen; ebenso der Schneider und Schuhmacher, der noch zu meiner Jugendzeit bei unsern rheinischen Bauern der Reihe nach einkehrte und die selbstgefertigten Stoffe zu Kleidern und Schuhen verarbeitete. Der Bauer sowohl wie die Leute, von denen er kaufte, waren selbst Arbeiter, die ausgetauschten Artikel waren die eigenen Produkte, eines jeden. [...] Wie also können sie diese ihre Produkte mit denen andrer arbeitenden Produzenten austauschen anders als im Verhältnis der darauf verwandten Arbeitszeit? [...] Dem Bauer (sind nicht nur) die Arbeitsbedingungen des Handwerkers bekannt, sondern dem Handwerker auch die des Bauern. Denn er ist selbst noch ein Stück Bauer, er hat nicht nur Küchen- und Obstgarten, sondern auch sehr oft ein Stückchen Feld, eine oder zwei Kühe, Schweine, Federvieh usw.14

Es konnte da durchaus sein, dass ein Handwerker, der geschickter, erfahrener, schneller, kunstfertiger war als der Durchschnitt, mehr oder bessere Produkte in derselben Zeit herstellen, und damit auf die Dauer vielleicht wohlhabender als andere werden konnte. Doch es stand ihm auch frei, sich stattdessen mehr Freizeit, mehr Muße zu gönnen oder einer anderen, mehr erfüllenden Art der Beschäftigung nachzugehen. Es gab keinen, der ihm den Takt vorgab. Mit der ursprünglichen Akkumulation und der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln kam die große Veränderung. Die mittellosen Arbeiterkräfte wurden damit vollständig dem Zeitdiktat der Maschinen – und damit letzten Endes der Produktionsmittelbesitzer – unterworfen, weil sie an den Fabrikbesitzer nichts anderes mehr als ihre Arbeitskraft verkaufen konnten. Mit dieser Veränderung des Arbeitsprozesses erhält die Zeit eine völlig neue Bedeutung. Nun geht es um die Unterwerfung unter das Zeitdiktat, ja unter eine Zeitmaschine. Es lässt sich belegen, dass die Bedeutung der Zeit – der Arbeitszeit und nicht zuletzt des Zeitdiktats – in dem Maß zunimmt, wie sich die Industrielle Revolution herausbildet und der Arbeitsprozess als Teil derselben synchronisiert und nach Zeit getaktet wird.

In Großbritannien bis Ende des 18. Jahrhunderts und im übrigen Europa bis Mitte des 19. Jahrhunderts überwogen die handwerkliche Arbeit und die Heimarbeit. Es gab kleine Werkstätten ohne weitergehende Arbeitsteilung. Und es gab flächendeckend eine enge Verbindung von einfacher Manufaktur und Handwerk einerseits und landwirtschaftlichen Tätigkeiten und bäuerlichem Leben andererseits. Und dies oft in ein und derselben Person beziehungsweise Familie.

Die Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent waren weit rückständiger als diejenigen in England oder auch in Nordamerika. Beispielsweise gab es in ganz Preußen Anfang des 19. Jahrhunderts gerade mal »24.643 massive Häuser von insgesamt 1.454.475 Häusern oder Feuerstellen«, wobei man die große Zahl der zuletzt genannten »Häuser« dann eher mit »Hütten« übersetzen muss.15 Selbst in den Städten überwogen ärmliche Häuser oder Hütten: »Weimar war zu Goethes späterer Zeit erst ein Städtchen mit 8000 Einwohnern, die in 800 Häusern lebten. Die Häuser waren also klein; sie beherbergten höchstens zwei Familien. Einige Häuser waren noch mit Stroh abgedeckt, die meisten mit Schindeln.«16

Selbst in England lebte Anfang des 19. Jahrhunderts die große Mehrheit der Bevölkerung noch auf dem Land; in Deutschland war das ein halbes Jahrhundert später noch der Fall. Und dort, wo es in England zu diesem Zeitpunkt handwerkliche und gewerbliche, also industrielle Arbeit gab, war diese oft noch mit Landwirtschaft verbunden.

Edward P. Thompson schreibt, dass in Großbritannien viele Menschen »in den frühen Entwicklungsstadien von Gewerbe und Bergwerk mehrere Tätigkeiten gleichzeitig ausführten: Zinngießer aus Cornwall gingen zugleich der Pilchardfischerei nach, Bleibergleute im Norden bestellten einen kleinen Acker, Dorfhandwerker waren sowohl als Maurer als auch als Fuhrhandwerker oder Schreiner tätig; Heimarbeiter verließen zur Erntezeit ihre Arbeit; Kleinbauern aus dem Penninschen Gebirge webten nebenbei.«17

Vergleichbares berichtet Werner Sombart über die Verhältnisse in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts: »Auch dort, wo die wirtschaftliche Tätigkeit schon berufsmäßig für andere ausgeübt wird, also in den für Austausch produzierenden Wirtschaften, finden wir eine viel geringere Differenzierung als etwa heute. [Ende des 19. Jahrhunderts; W. W.] So begegnet uns häufig der Fall […], dass die Handwerker in den kleinen und mittleren Orten nebenbei Landwirtschaft treiben, was freilich heute auch noch häufig (vorkommt). […] So waren beispielsweise die Schiffsleute fast durchgängig kleine Landwirte, die nur im Sommer auf See gingen, wie es der damals ja allein herrschenden Segelschifffahrt entsprach. Aber auch die Berg- und Hüttenarbeiter und die Arbeiter in den Fabriken waren vielfach solche Zwitter von Landwirt und Lohnarbeiter, die oft nur einen Teil des Jahres sich ihrem gewerblichen Berufe widmeten.« Der Autor führt dann eine exakte Statistik für den Landkreis Solingen und die dort lebenden »9718 Familien« auf, in der diese Angaben dahingehend konkretisiert werden, dass in dieser jungen Industriestadt um das Jahr 1835 herum noch gut zwei Drittel der Familien über eine direkte Verbindung zum Land verfügten.18

Diese Art Mischung von Landarbeit und Gewerbe, also die Möglichkeit der jungen Industriearbeiterschaft auf die eigene landwirtschaftliche Tätigkeit und die damit verbundene Subsistenzwirtschaft zurückzugreifen, bot dieser neuen Gesellschaftsschicht vielfach Schutz vor Unternehmerwillkür. Der Zugriff auf die Ware Arbeitskraft war eingeschränkt. Oft war die Arbeitskraft auch noch knapp und das Bauernlegen noch nicht weit genug für die Schaffung einer industriellen Arbeiterschaft – neben einer »Reserve« an Arbeitslosen – entwickelt. Thompson zitiert umfänglich Klagen der Kapitalistenklasse über freche Jung- und Halbproletarier, die sich dem Diktat des Kapitals entzogen, die erfreulich viel bummelten und sich ganze zusätzliche freie Tage herausnahmen:

Auch der blaue Montag wurde ganz allgemein, von wenigen Gewerbezweigen abgesehen, gefeiert: bei Schustern, Schneidern, Kohlearbeitern, Druckern, Töpfern, Webern, Strumpfwirkern, Messerschmieden und in allen kleineren Handwerken. Trotz Vollbeschäftigung in vielen Londoner Gewerben während der Napoleonischen Kriege [1800 bis 1814; W. W.) klagte ein Augenzeuge: »Dem blauen Montag, der in dieser großen Stadt sehr streng eingehalten wird, […] folgt meist noch ein blauer Dienstag.«19

Diese für die ärmeren Schichten und für die arbeitenden Klassen akzeptablen Verhältnisse konnten solange Bestand haben, wie die objektiven Verhältnisse, darunter die zur Anwendung kommenden Arbeitstechniken, und die darauf aufbauenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, dies zuließen. Die tiefgreifenden Veränderungen wurden dann vor allem mit der Erfindung und Einführung moderner Maschinerie bewirkt. Das war auf dem Gebiet der Anfang des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Weberei und späteren Textilindustrie die Spinnmaschine (»spinning mule«), die 1785 in England erfunden und dort ab Anfang des 19. Jahrhunderts in großem Umfang eingesetzt wurde. Fast zeitgleich erfand James Watt die Dampfmaschine (1764); auch sie gelangte in England Anfang des 19. Jahrhunderts massenhaft zum Einsatz, nicht zuletzt zum Antrieb von Spinnmaschinen. Friedrich Engels bilanzierte in seiner berühmten Schrift »Lage der arbeitenden Klasse in England«: »Mit diesen beiden Erfindungen, die seitdem noch jedes Jahr verbessert wurden, war der Sieg der Maschinenarbeit über die Handarbeit in den Hauptzweigen der englischen Industrie entschieden, und die ganze Geschichte dieser letzteren berichtet von nun an nur, wie die Handarbeiter aus einer Position nach der anderen durch die Maschinen vertrieben wurden.«20 Der Sieg der Maschinerie über die Handarbeit war begleitet von vielfältigem Widerstand; Engels schreibt: »Es vergeht keine Woche, ja, fast kein Tag, wo nicht hier oder dort ein Strike vorkommt – bald wegen Lohnkürzung, bald wegen verweigerter Lohnerhöhung, […] bald wegen neuer Maschinerie.«21 In Deutschland mündet die Einführung der neuen Technik 1844 im Aufstand der Weber, von dem Heinrich Heine berichtete: »Im düsteren Auge keine Träne/ Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:/ Deutschland, wir weben dein Leichentuch,/ Wir weben hinein den dreifachen Fluch –/ Wir weben, wir weben!«22

Mit dem Einzug der Maschinerie und der Unterwerfung der Arbeitskräfte unter dieselbe wurde das Zeitdiktat objektiv notwendig – und, bedingt durch die Trennung eines wachsenden Teils der jungen Arbeiterklasse vom Land und von einer Subsistenzwirtschaft – möglich. Die Zeitsouveränität, die es zuvor für größere Teile der arbeitenden Bevölkerung gegeben hatte, war weggefegt. Und dies nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Arbeitstag selbst im Besonderen. Dazu Auszüge aus drei zeitgenössischen Berichten.

(1) Ich war in der Fabrik von Mr. Braid. Dort arbeiteten wir im Sommer, solange wir sehen konnten, und ich könnte nicht sagen, um wie viel Uhr wir aufhörten. Nur der Meister und sein Sohn hatten eine Uhr, wir dagegen kannten die genaue Tageszeit nicht. Einer der Männer besaß eine Uhr. [...] Sie wurde ihm weggenommen und dem Meister in Verwahrung gegeben, weil er den anderen die Uhrzeit gesagt hatte.

(2) In Wirklichkeit hatten wir keine regelmäßige Arbeitszeit: Meister und Betriebsleiter machten mit uns, was sie wollten. Die Uhren in der Fabrik wurden oft morgens vor- und abends nachgestellt und anstatt Instrumente der Zeitmessung zu sein, wurden sie zum Deckmantel des Betrugs und der Unterdrückung. Obwohl dies unter den Arbeitern bekannt war, wagten sie nicht, etwas zu sagen; jeder scheute sich, eine Uhr zu tragen, denn es war nicht ungewöhnlich, dass einer entlassen wurde, der sich anmaßte, zu viel von Uhren zu verstehen.

(3) Jeder Fabrikant möchte so schnell wie möglich ein feiner Herr werden. Daher nehmen sie uns weg, was sie können. So läutet die Glocke zum Weggehen ½ Minute zu spät, aber zwei Minuten zu früh müssen die Arbeiter wieder da sein. Gewöhnlich waren die Uhren so eingerichtet, dass der Minutenzeiger, wenn er den Schwerpunkt überschritt, gleich 3 Minuten fiel und ihnen statt 30 Minuten nur 27 Minuten ließ.23

Jetzt ist es soweit: Die Arbeitszeit wird zum Maß aller Dinge. Und dabei nicht die individuell verausgabte Arbeitszeit, sondern diejenige, die im Durchschnitt der gesellschaftlichen Arbeit für die Herstellung eines spezifischen Produktes verausgabt wird. Dabei spielt wiederum diejenige Fertigung die entscheidende Rolle, in der die modernste Technik eingesetzt wird. Diese wird zum Schrittmacher und Taktgeber. Dem Grundgesetz der arbeitsteiligen kapitalistischen Produktion entspricht zugleich die Entindividualisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch der Wert des Menschen bemisst sich, so Karl Marx, nunmehr nach der Arbeitszeit, die er aufzubringen imstande ist:

Wird das Quantum der Arbeit an sich, ohne Rücksicht auf die Qualität, als Wertmesser genommen, so setzt dies voraus, daß die einfache Arbeit der Angelpunkt der Industrie geworden ist. Sie setzt voraus, daß die Arbeiten durch die Unterordnung des Menschen unter die Maschine oder die äußerste Arbeitsteilung gleichgemacht sind, daß die Menschen gegenüber der Arbeit verschwinden, daß das Pendel der Uhr der genaue Messer für das Verhältnis der Leistungen zweier Arbeiter geworden, wie er es für die Schnelligkeit zweier Lokomotiven ist. So muß es nicht mehr heißen, daß eine Arbeitsstunde eines Menschen gleichkommt der Stunde eines andern Menschen, sondern daß vielmehr ein Mensch während einer Stunde soviel wert ist wie ein anderer Mensch während einer Stunde. Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit. Es handelt sich nicht mehr um die Qualität. Die Quantität allein entscheidet alles. Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag; aber diese Gleichmachung der Arbeit ist […] ein Ergebnis der modernen Industrie. In der mit Maschinen arbeitenden Fabrik unterscheidet sich die Arbeit des einen Arbeiters fast in nichts mehr von der Arbeit eines anderen Arbeiters. Die Arbeiter können sich voneinander nur unterscheiden durch das Quantum von Zeit, welches sie bei der Arbeit aufwenden.24

Und welche Auswirkungen auf das Verhältnis Mensch und Uhr hat eine Entschleunigung, wie wir sie 2020 mit den vielfachen Lockdowns und der enormen Steigerung von Homeoffice, was ja auch bedeutet, dass »das Pendel der Uhr« nicht mehr »der genaue Messer« für das Arbeitsverhältnis ist, erlebten? Unter der Überschrift »Uhrenhersteller drehen am Rad« berichtete dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass die Schweizer Uhrenproduktion im Jahr 2020 um dramatische 20 Prozent einbrach; die Exporte gingen gar um 22 Prozent zurück. Beim Branchenprimus Swatch – zu dem die Edelmarken Omega, Breguet, Blancpain, Longines, Glashütte Original und Tissot gehören – ist der Umsatz sogar um 32 Prozent eingebrochen. Er reduzierte sich damit dreimal stärker als das Bruttoinlandsprodukt, das um rund 10 Prozent rückläufig war. Ein Swatch-Firmensprecher betonte jedoch, man blicke aus zwei Gründen zuversichtlich in die Zukunft: Erstens, weil auch für Europa und für die Schweiz 2021 ein Wirtschaftswachstum erwartet werde. Und zweitens, weil sich der wichtigste Exportmarkt, China, bereits seit geraumer Zeit wieder in einem neuen Boom befinde. Macht die Wirtschaft auf Geschwindigkeit, sind Uhren wieder verstärkt gefragt; dies trifft auch auf solche Chronometer zu, die eher der Wertanlage und dem individuellen Prestige denn der Zeitmessung dienen.25

12 Zitiert nach: Edward P. Thomson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, a. a. O., S. 58.

13 Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1987, S. 266.

14 MEW 25, Seite 907f.

15 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts – Eine Einführung in die Nationalökonomie, Berlin, 7. Auflage 1927, S. 14.

16 Ebenda.

17 Edward P. Thompson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, a. a. O., S. 45.

18 Werner Sombart, a. a. O., S. 33. Dort heißt es: »Damals [im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts«; W. W.] lebten [im Landkreis Solingen; W. W.] von 9718 Familien von der Landwirtschaft allein 3055 [Familien], von Handel, Krämerei, Wirtschaft, Handwerk im einzelnen 1763 [Familien], von Tagelohn 1599, davon in Verbindung mit Ackerbau 933 (also beinahe zwei Drittel!), von mehreren solcher Gewerbe ohne Landbau 347, von solcher Verbindung mit Landbau 2167.« (Die Addition ergibt nicht exakt die angegebene Gesamtzahl der Familien; es dürfte entweder Überschneidungen geben, wenn die 933 Familien, die »vom Tagelohn« leben, die jedoch »in Verbindung mit Ackerbau« aufgeführt werden, als Teil der Gesamtzahl gemeint sind, oder es fehlt eine kleinere Gruppe). Klar ist jedoch, dass selbst in Solingen in den 1830er-Jahren, also in einem Kreis mit relativ entwickelter, wenn auch junger Industrie, weniger als 30 Prozent keine Verbindung zur Landwirtschaft aufwiesen.

19 Edward P. Thomson, a. a. O., S. 46.

20 Friedrich Engels, Lage der arbeitenden Klasse in England, erstmals erschienen 1845, MEW, 2, S. 242.

21 Ebenda, S. 441.

22 Heinrich Heine, Die schlesischen Weber, Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, München 1997, Band 4, S. 455.

23 Zitiert bei: Edward P. Thomson, a. a. O., S. 54f.

24 Karl Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, S. 85.

25Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Januar 2021. 95 Prozent (!) der Schweizer Uhrenfertigung gehen in den Export. 2020 lag der Wert dieser Exporte bei 17 Milliarden Franken.

Kapitel 3: Kanäle und Eisenbahnen als Transportrevolutionen der Industrialisierung

Ein Drahtseil führte von der Vormaststange zu der hundert Meter voraus auf dem Treidelpfad einher stampfenden Maultierkette, und mit gründlichem Schlagen und Fluchen gelang es dem Trupp der Treiber, drei bis vier Kilometer in der Stunde […] aus den Maultieren herauszuholen. Der Neckar ist von jeher als Schifffahrtsweg benutzt worden […] aber nun, da dieser Dampfschlepper mit einer kleinen Besatzung und ein paar Scheffeln Kohle neun Kähne in einer Stunde weiter den Fluss hinaufziehen kann als dreißig Männer und dreißig Maultiere in zwei, glaubt man allgemein, dass die altmodische Treidelindustrie auf dem Sterbebett liegt.

Mark Twain, Bummel durch Europa – Den Fluß hinunter – Heidelberg 187826

Am Morgen des 11. Juni 1859 verabschiedete sich Joanna Franks in Runcorn Terrace von Mrs. Russell. Sie wollte auf dem Wasserweg von Liverpool nach Preston Brook fahren, dem nördlichen Endpunkt des Trent-and-Mersey-Canal, der acht Jahre zuvor eröffnet worden war. Von hier aus nahm sie eines der Express- oder »fliegenden Boote« von Pickford & Co. Der Fahrpreis von 16 Shilling und 11 Pennies war erheblich billiger als der Preis für eine Fahrkarte Liverpool-London mit der Eisenbahn.

Colin Dexter, Mord am Oxford-Kanal, 198927

Das Rad wurde im vierten, möglicherweise sogar im fünften Jahrtausend vor Christus erfunden. Die Domestizierung von Wildpferden zu Hauspferden fand ungefähr zum gleichen Zeitpunkt statt. Das erste nachweisbare Schiff wird auf 6500 vor Christus datiert; erste Segelschiffe gab es spätestens 1000 vor Christus. Seither und bis ins 17. Jahrhundert gab es keine grundlegenden Verbesserungen der Verkehrstechniken mehr, auch wenn es zu bedeutenden Verfeinerungen und Optimierungen kam. Damit bewegten sich die Menschen über fünf bis sechs Jahrtausende hinweg mit vergleichbar geringen Geschwindigkeiten, gewissermaßen mit Bodenhaftung: zu Fuß, mit einem Ochsenkarren, zu Pferde, mit einem von einem Pferd gezogenen Streitwagen, mit Schiffen mit Ruderern beziehungsweise mit Schiffen mit Segeln. Verwandte Transportarten wie der Marsch mit Elefanten über die Alpen im Zweiten Punischen Krieg im Jahr 218 vor Christus nicht zu vergessen.

Der Zeitaufwand spielte bei diesen Formen von Mobilität eine enorme Rolle; der Widerstand des Raums, der örtlichen Gegebenheiten mit den Tälern, Hügeln, Bergen, Flüssen, Furten, Brücken, ergänzt um die Widrigkeiten der Jahreszeiten und des Wetters, waren bestimmend. Das änderte sich mit der Industrialisierung. Im Rahmen der Industriellen Revolution gab es zwei Transportrevolutionen – diejenige des Kanalbaus und diejenige der Eisenbahnen. Der Bau von Kanälen mit seinem Schwerpunkt im 17. Jahrhundert war der Frühzeit der Industrialisierung angemessen. Relativiert wurde dabei bereits die Erdverbundenheit; das Tempo freilich blieb angemessen und entsprach dort, wo getreidelt wurde, einem gemäßigten Schritt. Das erinnert an die enge Verbindung, die damals noch zwischen Manufaktur und früher Industrie einerseits und Landwirtschaft und Landarbeit andererseits bestand. Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich das Geschehen mit den Eisenbahnen, mit denen das Tempo im Verkehr sprunghaft gesteigert wurde. Heinrich Heine stellte fest, dass mit den Eisenbahnen »die Elementarbegriffe von Zeit und Raum […] schwankend geworden (sind)«.28 Das bezog sich gewissermaßen auf die »gefühlte Raum- und Zeitlosigkeit«. In Wirklichkeit bleiben Raum und Zeit feste Bezugsgrößen. Allerdings sind die neuen, schnellen Gangarten mit einer Bewusstlosigkeit hinsichtlich der Zeit und mit einer Rücksichtslosigkeit gegenüber Natur und Klima verbunden.

Boote und Schiffe auf Flüssen – das gab es seit Jahrtausenden. Optimierungen dieser Transportart in Form von Stauungen und kurzen Durchstichen zwischen Seen und Flüssen ebenfalls. Ägyptische Pharaonen haben vermutlich schon im zweiten Jahrtausend vor Christus eine Verbindung vom Nil zum Roten Meer graben lassen. Gesichert scheint ein solcher Kanalbau um die Zeit 600 vor Christus zu sein. Doch ein System kommunizierender Kanäle und schiffbarer Flüsse entstand in Europa und im Mittelmeerraum erst im späten Mittelalter und am Beginn der Industrialisierung. Dabei hat es in anderen Kulturen und auf anderen Kontinenten ein vergleichbares Kanalzeitalter gegeben – so in Thailand, wo im 16. Jahrhundert ein mehr als 2000 Kilometer langes Kanalnetz (als Klong oder Khlong bezeichnet) geschaffen wurde.

Beim europäischen Kanalbau für eine ausgedehnte Binnenschifffahrt handelt es sich um die größten Investitionen, die bis zu diesem Zeitpunkt in der menschlichen Geschichte in dieser Region getätigt wurden. Es waren – genau wie ein halbes Jahrhundert später bei den Eisenbahnen – säkulare Investitionen, Investitionen mit einer Beständigkeit von hunderten Jahren. Sie veränderten die Landschaft für immer. Die Zehntausenden Menschen, die sie schufen, waren dabei oft kaserniert; vielfach waren es Arbeitskräfte aus dem Ausland, in England vor allem solche aus Irland.