Ferien an der Ostsee - Winfried Wolf - E-Book

Ferien an der Ostsee E-Book

Winfried Wolf

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Die pensionierte Lehrerin Jana Wilhelm erhält einen Brief, der sie an eine längst vergangene Geschichte erinnert. Ihr Jugendfreund und Kollege Frieder Gunsch möchte sie besuchen und fragt an, ob man sich einmal treffen könne, um über alte Zeiten zu reden. Frieder wollte vor mehr als vierzig Jahren mit einem Fischkutter in den Westen flüchten. Doch seine Fluchtpläne wurden verraten. Mehr als drei Jahre verbrachte er in einem Gefängnis der DDR. Jana und Frieder waren Ende der Sechziger in einem Kinderferienlager als Gruppenleiter eingesetzt. Parallel zu ihrer Geschichte erlebt der zehnjährige Winfried im gleichen Ferienlager zwei Wochen voller Abenteuer. Alle drei, das Kind und die beiden Erwachsenen, haben in dieser Geschichte miteinander zu tun und doch erleben sie alles auf jeweils ganz verschiedene Weise.

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Seitenzahl: 209

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Ferien an der Ostsee

Inhaltsverzeichnis

Das ist vierzig Jahre her5

Hurra, wir fahren nach Glowe!10

Jana22

Frieder25

Die Vorbereitungswoche27

Aus Janas Tagebuch91

Die Kinder kommen97

Schwimmen und Baden109

Schulkreide aus Sassnitz und stinkende Fische119

Kaum Zeit für Persönliches128

Das Neptunfest131

Die Nachtwanderung149

Die Agentenjagd156

Frieders Traum181

Jana entscheidet sich191

Hoher Wellengang vor Kap Arkona196

Abschied und Abreise206

Die Reise nach Strelow212

Das ist vierzig Jahre her

Jana Wilhelm hört es draußen klappern. Der Briefträger hat die Post in den Kasten geworfen. Sie wird gleich nachsehen. Wenn was im Briefkasten liegt, ist es meistens nur Werbung, aber sie sieht sich trotzdem immer alles durch. Sie braucht neue Bezüge für ihre Gartenstühle, vielleicht ist etwas von Aldi dabei. Kaum dass der letzte Schnee weg ist, werden die Gartenfreunde von den Discountern mit Angeboten geradezu überschüttet. Eine neue Heckenschere könnte sie auch gebrauchen. „Oma, deine Schere ist ja ganz stumpf“ hat die Enkelin gesagt, als Janas Tochter Gabi mit der kleinen Christiane letzte Woche zu Besuch kam.

Im Briefkasten steckt ein ganzes Bündel von Prospekten, unter ihnen auch ein Brief ohne Absender. „Auch nur Werbung“, denkt Frau Wilhelm und will den Brief schon in die Papiertonne werfen, aber dann nimmt sie ihn doch mit in die Küche. Sie sieht, dass ihre Anschrift mit der Hand geschrieben wurde, aber von ihrer Freundin Gerlinde kann der Brief nicht sein, ihre Handschrift kennt sie.

Mit einem Messer schlitzt sie den Umschlag auf. Das ist besser als Aufreißen, sie weiß ja nicht, was drinnen ist.

Es ist nur ein Bogen Papier und oben steht „Hallo Jana“. Unterschrieben hat mit den „besten Grüßen“ ein gewisser Frieder. Sie kannte einen Frieder, das ist vielleicht vierzig Jahre her.

Ja, vor mehr als vierzig Jahren war sie Gruppenleiterin in einem Kinderferienlager an der Ostsee und Frieder hatte damals in Glowe, so hieß der Ort, ebenfalls ein Praktikum abgelegt. Auch er wollte Lehrer werden und nach dem ersten Studiensemester war es angezeigt, mit Kindern praktisch zu arbeiten, am besten in einem Ferienlager.

Jana sieht, wie ihre Hände zitterten. Sie legt den Brief wieder auf den Tisch, nimmt sich ein Glas aus dem Küchenschrank und lässt frisches Leitungswasser ins Glas fließen.

Sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört, seit damals. Sie wollte ihm schreiben, ihm alles erklären, aber es war doch nichts zu erklären, oder? Hätte sie schreiben sollen, dass sie sein Handeln verstehen könne?

Ja, heute denkt man anders darüber, da weiß man ja alles besser. Sie geht ans Fenster und ihr Blick geht über die Felder bis hin zum kleinen Kiefernwäldchen auf dem Hügel.

Das Häuschen in Strelow hatten sie sich kurz nach der Wende gekauft. Heinrich war ein Jahr vorher noch zum Oberst befördert worden und sie war Schulleiterin der Clara-Zetkin-Schule in Königswusterhausen. Nach der Wende hatten sie ihr den Postens weggenommen, aber sie war Lehrerin geblieben, man konnte ja nicht alle SED-Mitglieder unter den Lehrern auf einmal entlassen. Seit fünf Jahren war sie pensioniert und seit drei Jahren verwitwet.

Heinrich war bei der Gartenarbeit eines Tages einfach umgefallen. Als sie ihn zum Essen rufen wollte, lag er tot im Garten, einfach so. Für sie allein ist das Haus natürlich zu groß, aber solange ihre Tochter Gabi sie mit ihrer Enkelin besuchen kommt, will sie im Haus bleiben.

Jana Wilhelm stellt ihr Wasserglas in die Spüle und nimmt den Brief wieder in die Hand. „Ich könnte ihn jetzt zerknüllen und einfach in den Mülleimer schmeißen“, denkt sie. „Aber wenn ich ihn wegwerfe ohne ihn gelesen zu haben, bin ich feige und feige war ich nie.“

„Hallo Jana,

ich habe oft an unsere gemeinsame Zeit im Ferienlager an der Ostsee gedacht. Das ist lange her. Vor sechs Jahren hat man mich pensioniert. Da staunst du, nicht wahr? Ja, ich bin doch noch Lehrer geworden, wenn auch mit Verspätung. Nach meinem Freikauf durch die Bundesrepublik ging ich 1974 zu meinem Vetter nach Hamburg. In Hamburg wohne ich bis heute.

In mein geliebtes Erfurt bin ich gleich nach dem Fall der Mauer gefahren, aber dort bleiben wollte ich nicht. 1990 lebten meine Eltern noch in Erfurt. Vater ist vor zwölf Jahren gestorben, Mutter folgte ihm letztes Jahr.

Ich bin glücklich verheiratet und habe zwei Kinder, beide haben ihr Studium schon hinter sich und sind recht erfolgreich in ihrem Beruf.

Wie schnell doch die Zeit vergeht. Du wirst dich jetzt sicherlich fragen, warum ich dir diesen Brief schreibe. Nun, ein Kapitel in meinem Leben ist irgendwie noch nicht zu Ende geschrieben worden und dieses Kapitel hat mit dir zu tun.

Ich habe mir vor einiger Zeit die Mühe gemacht, bei der Stasi-Unterlagen-Behörde Einsicht in meine Akten zu nehmen. Heute weiß ich, dass meine Verhaftung im Ferienlager ganz wesentlich auf deine Angaben bei der Volkspolizei in Sassnitz zurückgeht. Vielleicht hast du damals nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, aber du warst meine Freundin, jedenfalls glaubte ich das. Ich klage dich nicht an, trotzdem will ich mit dir einmal darüber sprechen. Ich möchte verstehen, was damals geschah.

Ich werde nächste Woche am Donnerstag nach Strelow kommen. Wenn du mich nicht sprechen willst, mach einfach nicht auf, wenn ich klingle. Ich ziehe dann wieder ab und lass’ dich in Ruhe.

Wäre aber doch schön, wenn du aufmachst.

Mit besten Grüßen,

Frieder.“

Hurra, wir fahren nach Glowe!

Du bist vor einer Woche 10 Jahre alt geworden und jetzt sind Ferien, endlich. In deiner Schule wirst du Bubi genannt, so rufen dich auch deine Eltern und von denen haben es deine Schulkameraden. Aber eigentlich heißt du Winfried, doch du magst diesen Namen nicht. Es wäre dir lieber, wenn sie dich Volker rufen würden, das ist dein zweiter Vorname. Aber deine Schwester Daggi lachte nur, als du ihr vorschlugst, dich Volker zu nennen. Das ist ja noch blöder als Winfried, sagte sie nur. Sie findet nur den Harald gut, das ist ihr Schwarm, dabei will der gar nichts von ihr wissen, das hat er mir selbst gesagt. Sie hat sich von ihm sogar ein Bild übers Bett gehängt, das hat sie selber gezeichnet, obwohl sie gar kein Talent zum Zeichnen hat. Sie interessiert sich jetzt nur für Jungs, hat deine Mutter gesagt. Wenn Daggi nicht zu Hause ist, dann ist deine Mutter verrückt vor Sorge und läuft von einem Zimmer zum anderen.

Dein Vater arbeitet in einer Produktions-genossenschaft, dort ist er der Chef. Ein oder zweimal in der Woche trägst du ihm im Aluminiumtopf Aufgewärmtes in seine Werkstatt. Da musst du mit dem Kochgeschirr fast durch die ganze Stadt rennen. Dein Vater hat vor dem Krieg das Schneiderhandwerk gelernt, nach dem Krieg sind deine Eltern nach Thüringen gekommen und dein Vater hat zuerst für die Russen geschneidert, dann hat er selber ein Geschäft aufgemacht und aus dem Geschäft ist dann eine Produktionsgenossenschaft geworden. Man nennt das eine PGH.

Deine Mutter arbeitet zuhause, sie kümmert sich um euch Kinder. Du hast noch zwei Schwestern; die Daggi ist sieben Jahre älter als du und die Christel ist sieben Jahre jünger. Als Daggi hörte, dass du in diesem Sommer an die Ostsee fahren darfst, hat sie gleich gemault: „Mensch, der Bubi darf sich in die Sonne legen und ich muss arbeiten.“

„Alles aussteigen!“, ruft Herr Döring. Auf dem Bahnsteig von Bergen herrscht ein ziemliches Durcheinander. Kinder aus allen Teilen der Republik kommen hier zusammen. So viel Durcheinander und Geschrei gefällt dir gar nicht. Die Gruppenleiter versuchen, die ihnen zugeteilten Kinder um sich zu scharen. „Wir bleiben zusammen“, hatte euch Herr Döring noch im Zug eingeschärft, aber es dauert, bis alle sich mit ihren Rucksäcken und Koffern um ihn versammelt haben. Über euch kreischen die Möwen, du musst dich ducken, wenn sie herunterstürzen und knapp an dir vorbeifliegen. Herr Döring sagt: „Bleibt hier stehen, ich komme gleich wieder.“ Er geht zu den anderen Gruppenleitern, um sich mit ihnen zu besprechen. Wie lange müssen wir jetzt wieder warten bis es weitergeht, denkst du? Fahren wir mit dem Zug weiter nach Sassnitz oder holt uns ein Bus ab?

Das Meer hast du schon gesehen, als der Zug über den Rügendamm auf die Insel fuhr. Hier in Bergen ist von der Ostsee weit und breit nichts zu sehen, nur die Möwen verraten die Nähe des Meeres. Eines von den Berliner Kindern hat den Vögeln Stücke von seinem Brot zugeworfen. Das ist doch blöd! Die Möwen werden jetzt immer dreister. Ein Mädchen weint, gerade hat ihr eine Möwe die Wurstschnitte aus der Hand geschlagen und sich dann in sicherer Entfernung darüber hergemacht.

Endlich hebt Herr Döring die Hand, ihr sollt jetzt zu ihm kommen. Seine Tochter zieht dich hinter sich her wie einen kleinen Jungen, aber du willst nicht, dass dir ein Mädchen die Richtung vorgibt, das macht doch gleich einen schlechten Eindruck bei den anderen Jungs. Der Dieter grinst schon so blöde. Du schulterst deinen Rucksack, Vati hat zu dir gesagt, ein Rucksack sei besser als ein Koffer, er hätte im Krieg auch einen getragen.

Sabine sieht ein, dass sie dich nicht bei der Hand nehmen kann, wenn man gerade mit seinem Rucksack zu tun hat. Sie hat dich gleich nach Abfahrt des Zuges in Zeulenroda ins Abteil ihres Vaters geholt. Du durftest dann neben ihr sitzen. Immer, wenn der Zug hielt, hat sie das Fenster heruntergezogen, ihren wuscheligen Kopf hinausgestreckt und den Namen der Station laut herausgeschrien. Du denkst, warum schreit die so, man kann doch lesen, wie die Stationen heißen.

Aus falscher Dankbarkeit heraus willst du ihr eines von Mutters Wurstbroten anbieten. Mutter hat sechs Leberwurstbrote in Pergamentpapier eingewickelt und in eine Schachtel aus Aluminium gesteckt. In der gleichen Schachtel hattest du deinem Vater immer sein Pausenbrot in die Arbeit gebracht, wenn er über Mittag nicht heimkommen wollte. Nun bietest du der Sabine eine Schnitte aus dieser Schachtel an, aber sie lacht nur und sagt, dass du dir das für später aufheben solltest. Sabine ist mindestens zwei Jahre älter als du. Du kannst ihre kleinen Brüste unter dem Pullover ahnen.

Mutter hatte dich ganz früh auf den Bahnhof gebracht. Da waren in der Halle schon einige Kinder, aber du kanntest keines von ihnen. Einige standen in Gruppen beieinander, die kannten sich schon. In Gera stiegen weitere Kinder dazu und in Berlin musstet ihr in einen Sonderzug umsteigen. Der Zug war voller Kinder, was für ein Geschrei. Die Sabine hat nur gelacht, der gefiel das. Sie hat immer gefragt, woher die anderen Kinder denn kämen, aber dich hat das genervt, jetzt wolltest du, dass sich Sabine nur um dich kümmert. Du gehörst ja eher zu den stillen und schüchternen Kindern, das sagt jedenfalls deine Mutter, wenn du dich in irgendeine Ecke drückst. Es stimmt schon, manchmal bist du etwas schüchtern, aber wenn es drauf ankommt, kannst du deine Meinung auch vertreten. Du bist nicht umsonst von deinen Klassenkameraden zum Gruppenratsvorsitzenden gewählt worden.

Mutter hatte dir erzählt, die Eltern der anderen Kinder seien alles Lehrer und Lehrerinnen. Darüber hattest du dich zunächst gewundert, denn dein Vater war Schneidermeister, er war sogar Vorsitzender einer PGH. „Vati unterrichtet auch an der Berufsschule“, hatte Mutter aber erklärt. Dein Vater war also nicht nur Handwerker, sondern auch Lehrer. Wie du später erfuhrst, brachte dieser Umstand einige Vorteile mit sich. Als Kind eines Lehrers durftest du in ein Kinderferienlager der Gewerkschaft „Unterricht und Erziehung“ fahren und als Kind eines Mitarbeiters in einer Produktionsgenossenschaft standen dir die Türen einer Ferienwohnung des Betriebes offen.

Es war übrigens nicht das erste Mal, dass du an die Ostsee fahren durftest. Schon oft hatte man dich zur Kur in ein Kinderheim geschickt. Es war erst zwei Jahre her, dass du wegen deines Keuchhustens ein Kindererholungsheim in Wiek auf Rügen besuchen durftest. „Der Junge muss an die See“, hatte Dr. Thilo gesagt. „Die Luft wird seinen Bronchien gut tun“, hatte Mutter zu Vater gesagt. „Das Salz und die frische Luft sollten den schlimmen Husten bezwingen“, hatte Dr. Thilo ergänzt.

Vielleicht hatte dein Vater genau dieses Argument benutzt, als er für dich im Büro der Gewerkschaft den Antrag für ein Kinderferienlager in Glowe abgab. Es kann aber auch sein, dass Herr Albrecht, der erste Sekretär des Zentralkomitees der Stadt Zeulenroda ein gutes Wort für dich einlegte. Er war ein guter Kunde deines Vaters und sein Sohn Harald war nicht nur der Schwarm deiner älteren Schwester Daggi, sondern auch dein bester Freund. Er schenkte dir einen roten Stern zum Anstecken. Und das rote Halstuch der russischen Pioniere hattest du auch von ihm, aber das war kein Geschenk, sondern redlich verdient. Harald hatte dir aus Versehen mit einer Haselnussgerte einen blutenden Striemen quer über die rechte Wange zugefügt. Du solltest zuhause nicht sagen, dass er der Verursacher war. Du versprachst hoch und heilig, ihn nicht zu verpetzen. Dafür bekamst du dann das rote Halstuch, das die Brüder aus dem Osten trugen.

Aber das ist jetzt schon Geschichte. Du stehst immer noch auf einem zugigen Bahnsteig in Bergen auf der Insel Rügen. Du beobachtest mit Sorge die aggressiven Möwen und versuchst zu verstehen, was Herr Döring zu zwei jungen Leuten sagt, die zu euren Betreuern gehören sollen. Sie sind in Berlin zugestiegen. „Die Kinder gehen in Gruppen. Frieder und Jana, ihr geht mit den Kleinen, Sabine und ich bleiben bei den Größeren.“

Du gehörst also mit deinen zehn Jahren noch zu den Kleinen. Zu deiner Gruppe zählen 14 Kinder. Alle Kinder, die über 12 Jahre alt sind, gehören zur Gruppe der Großen. Die Einteilung gefällt dir nicht, du wärst jetzt doch gerne bei der Sabine geblieben.

Der Frieder trägt eine Brille mit runden Gläsern und hat ganz schmale Lippen, die am Ende ein bisschen nach oben gehen. Du weißt schon jetzt, dass du den Typen nicht leiden kannst. Die blonde Jana hat eine gewisse Ähnlichkeit mit deiner kleineren Schwester Christel. Ihr Pferdeschwanz wippt lustig hin und her, wenn sie den Kopf bewegt. Sie schaut nacheinander allen Kindern ihrer Gruppe ins Gesicht. Sie will sich schon jetzt jeden von uns genau einprägen. Du wirst rot, als sie deinen Namen von der Liste abliest, die ihr der Herr Döring gegeben hat. Sie schaut in die Runde und wartet bis der Junge, der auf den Namen Winfried hört, die Hand hebt. Sie lächelt dich an und du denkst, dass man mit Jana bestimmt gut auskommen kann.

Mit der Bahn geht es jetzt nicht weiter, einige Gruppen rücken bereits ab. Vor dem Bahnhof stehen Busse und Lastwägen mit aufmontierten Sitzbänken auf der Ladefläche. Die Gruppenleiter halten Pappschilder hoch, wir gehören zur Gruppe „Thüringen“, sagt Herr Döring. Wir steigen in einen Bus vom Typ Ikarus. Du kennst diese Marke, einen solchen Bus hatte dir Tante Gretel letzte Weihnachten für deine Modelleisenbahn geschenkt.

Am späten Nachmittag kommt ihr in Glowe an. Der Bus hält an der Hauptstraße in Höhe des Ferienlagers. Du kannst die weiß gestrichenen Baracken und die Fahnenstangen schon sehen. Dieter beschwert sich: „Warum fährt uns die Karre nicht bis vor die Unterkunft, jetzt müssen wir unser Gepäck selber schleppen.“ Über diesen Ausruf kannst du nur den Kopf schütteln. Der Bus würde auf den Sandwegen im Lager sicher steckenbleiben. Viel wichtiger ist doch jetzt die Frage, wo man euch unterbringt. In den Baracken oder in den weißen Zelten, die hinten im Gelände zu sehen sind. Herr Döring scheint Bescheid zu wissen; er steuert mit uns ein Zelt am hinteren Ende des Lagers an. Jana weist auf einen Fahnenmast, an dem ein länglicher Kasten hängt: „Toll, wir haben unseren eigenen Lautsprecher, hier geht alles über Durchsage.“

Wir stellen unser Gepäck zu einem Haufen zusammen. Es wird spannend: Herr Döring geht mit den Gruppenleitern ins Zelt, um mit ihnen die Verteilung der Liegeplätze zu besprechen. Einige Kinder wissen jetzt schon, neben wem sie schlafen wollen. Dieter nimmt dir jede Entscheidung ab. Er hängt sich bei Bernd ein und gibt dir zu verstehen, dass ihr drei nebeneinander euer Lager beziehen solltet. Er fragt, ob du gute Witze erzählen kannst, damit man in der Nacht ein wenig Unterhaltung hat. Du hast nur ein paar wenige Witze auf Lager, das reicht nicht einmal für eine Nacht, aber du stimmst trotzdem zu. Jetzt ist es wichtig, erst einmal einen schönen Platz im Zelt zu bekommen.

Herr Döring nimmt die grobe Verteilung vor: „Die großen Kinder sind dort drüben!“ Er weist auf das Nachbarzelt. „Die kleinen bleiben hier, die Mädchen auf der linken Seite, die Jungen rechts. Der Platz vorne rechts bleibt leer. Und jetzt rein mit euch, jeder sucht sich seinen Schlafplatz selber.

Dir wäre eine geregelte Zuweisung lieber gewesen, du willst dich nicht um einen Schlafplatz prügeln müssen. Dieter hat aber gleich die drei Schlafstellen am Ende der Reihe in Beschlag genommen. Durch einen kühnen Schwung seines Campingbeutels reserviert er für sich das vorletzte Bett in der Reihe „Winfried, du kannst das letzte Bett haben“, sagt er. Das passt dir gut, das letzte Bett in der Reihe bietet viel Platz für deine Sachen.

Eines der Kinder muss auf die Toilette, eine erste Gelegenheit, das Lager kennenzulernen. Jana führt die Mädchen an und Frieder kümmert sich um die Jungs. Der gemeinsame Dusch- und Waschraum für euch Jungen befindet sich in der Baracke, die euch am nächsten liegt. „Warmes Wasser gibt es hier nicht“, grinst Frieder. Du hast diese klammen Waschräume mit dem eisigen Wasser schon in einem Ferienlager im Harz kennengelernt. Hier herrscht diese spezielle Kälte, die aus dem Verzicht auf alles Schöne herrührt, aber es ist nicht schlimm, zuhause war es in der Waschküche im Keller auch nicht schöner und zu Betrachtungen über die Schönheit von Waschräumen verliert bei gemeinschaftlicher Benutzung jetzt keines der Kinder ein unnötiges Wort. Empfindlicher reagierst du schon auf den Geruch von vergammelten Abwaschlappen im Speisesaal, der sich im Hauptgebäude befindet. Aber noch scheint die Sonne und die Fenster sind weit geöffnet.

Im Hauptgebäude befinden sich auch die Gemeinschaftsräume. „Hier treffen wir uns, wenn es mal länger regnen sollte“, sagt Frieder. Er zeigt auf die Spielkartons im Regal. „Unser Ferienlager gehört der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung. Es trägt den Namen von Hermann Duncker. Wisst ihr, wer das ist?“ Wir schütteln den Kopf, sind aber auch nicht besonders interessiert. Frieder lacht: „Das würde mich jetzt an eurer Stelle auch nicht interessieren. Vielleicht erzähle ich es euch erst, wenn es mal stark regnet.“

Auf der Lagerstraße treffen wir wieder auf Jana und ihre Mädchengruppe. Du siehst, wie Jana den Frieder anstrahlt. Die beiden scheinen sich offensichtlich ganz gut zu verstehen.

„Um sechs sind wir zum Essen dran“, sagt sie. „Hast du deinen Jungs schon gesagt, dass wir immer zusammen gehen?“ Das hat Frieder nicht getan, er hat uns auch nicht gesagt, wann wir morgens in den Waschraum gehen sollen. Du denkst, dass Jana eure Gruppenleiterin sein sollte. Sie kennt sich hier besser aus; an ihrer Seite würdest du dich wohler fühlen. Der Frieder ist ein lustiger Kerl, aber er nimmt seine Sache nicht ernst, er nimmt vor allem dich nicht ernst.

Jana

Ohne voneinander zu wissen, saßen sie im gleichen Zug, dessen letzte Station Sassnitz war. Hier stand ein Lastwagen mit aufmontierten Sitzbänken auf der Ladefläche bereit. Er brachte die künftigen Gruppenleiter nach Glowe.

Für Frieder Gunsch war es das erste Mal, dass er an einer Ferienaktion der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung teilnahm. Jana Urban dagegen hatte bereits Erfahrungen im Umgang mit Kindern sammeln können, als sie noch vor ihrem Abitur mit einer Gruppe von zehn- bis 12jährigen Kindern, deren Eltern im Volkseigenen Betrieb ihres Vaters arbeiteten, ihre Ferien im Thüringer Wald verbringen durfte. Dann hatte sie den Bescheid vom Institut für Lehrerbildung in Potsdam erhalten. Alle, die jetzt mit ihr auf der Ladefläche des Lastwagens saßen und über eine holperige und mit vielen Schlaglöchern versehene Straße auf die Halbinsel Jasmund fuhren, hatten ähnliche Motive. Alle wollten sie Lehrer werden und jetzt das Angebot der Gewerkschaft nutzen, über ein Ferienlager ein außerschulisches Praktikum zu absolvieren.

In einer Woche würden die Sommerferien beginnen, eine Woche hatten sie also Zeit, sich auf ihre Aufgaben als Gruppenleiter vorzubereiten. Jana freute sich sehr auf Glowe. Als Zehnjährige war sie schon in einem Pionierlager an der Ostsee gewesen. Das Lager befand sich am Rande von Göhren und gehörte zu den zentralen Pionierlagern der DDR. Sie durfte an die Ostsee fahren, weil man sie für ihre guten schulischen und gesellschaftlichen Leistungen auszeichnen wollte. Das Lager war nach dem KPD Politiker Etkar André benannt und bot Platz für rund 800 Kinder. Die Zeit im Lager zählte Jana schon jetzt zu den besten ihres Lebens. Fast jeden Tag gab es Ausflüge. Nach Stralsund ins Meeresmuseum, nach Sassnitz ins Fischereikombinat, nach Stubbenkammer und auf den Königsstuhl. Es gab ein Neptunfest und fast jeden Tag ging es zum Baden. Vater hatte gesagt, dass sie nie wieder so billig Urlaub machen könne. Die Eltern mussten unfassbare zwei Mark am Tag bezahlen, inklusive Hin- und Rückfahrt mit der Deutschen Reichsbahn. Es war eine unbeschwert schöne Zeit.

Das Ferienlager in Glowe war nach dem Politiker und Gewerkschaftsfunktionär Herman Duncker benannt worden. Bis 1960 war Duncker, wie Jana gelesen hatte, Direktor der Gewerkschaftshochschule „Fritz Heckert“ in Bernau bei Berlin gewesen. Das zu wissen, konnte vielleicht einmal von Vorteil sein.

Als sie mit den anderen auf dem Bahnhofsvorplatz auf ihr Transportfahrzeug wartete, hatten sie sich einander vorgestellt. Der junge Mann, der ihr jetzt auf dem Lastwagen gegenüber saß, hieß Frieder und kam aus Erfurt. Er hatte ziemlich lange Haare, ein Gammler, hätte ihr Vater gesagt. Ihm haftete eine linkische Schüchternheit an, aber das machte ihn gleichzeitig sympathisch. Die anderen Männer in ihrer Gruppe waren ihr etwas zu laut. Alles Schwätzer, hatte sie gedacht, als sie unfreiwillig an ihrer Unterhaltung teilnehmen musste. Sie schienen ihre Rolle als Betreuer nicht allzu ernst zu nehmen, sie sprachen immer nur von den Mädels, die sie hier an der Ostsee vernaschen wollten.

Frieder

Eigentlich wollte er weder „Staatsfunktionär“ noch „politischer Erzieher“ in einem Ferienlager der Einheitsgewerkschaft werden. Aber gerade weil er kaum Aussichten hatte, sich nach der Schule zum Lehrer ausbilden zu lassen, war ihm dieses „trotzdem“ und „gerade deshalb“ wichtig.

„Wer zum Verein der Jungen Gemeinde gehört, braucht sich erst gar nicht zu bewerben“, hatte sein Freund Werner zu ihm gesagt. Immerhin hatten sie ihn zum Besuch der Abiturstufe zugelassen, was ja eine positive Einstellung zum Arbeiter und Bauernstaat voraussetzte. Seine Eltern bestanden auf der Konfirmation, aber er sah keinen Widerspruch zwischen Bibelstunde und FDJ-Treffen. Seine Teilnahme an der Jugendweihe sahen weder seine Eltern noch er als Problem an.

Als Geschichtslehrer muss man aber in die SED eintreten, hatte sein Vater eingewandt, als er ihm sagte, dass er nach seinem Wehrdienst Lehrer werden wolle.

Das waren alles keine guten Voraussetzungen, aber seine Eignung war seltsamerweise nie hinterfragt worden. Vielleicht lag es daran, dass Vater und Mutter in einer LPG arbeiteten und er das Kind von „Arbeitern und Bauern“ war. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er sich für die „bewaffneten Organe“ bewarb, eine Entscheidung, die er ganz spontan traf, als seine Freundin Christa nichts mehr von ihm wissen wollte. Diese Entscheidung konnte er sich bis heute nicht erklären, denn am Militärischen war er nie wirklich interessiert gewesen.

Diese Jana gefiel ihm. Rotblonde Haare und Sommersprossen. Sie erinnerte ihn an seine Schulfreundin Heike. Die wurde von allen „Feuerlocke“ genannt. Vielleicht hatte man auch Jana wegen ihrer Sommersprossen und der roten Haare gehänselt, aber er fand es lustig. Sie war anders, schien irgendwie für sich zu sein, beteiligte sich kaum am Geschnatter der anderen Gänse. Sie war nicht das erste Mal in einem Ferienlager, das hatte sie in der Vorstellungsrunde auf dem Bahnhofsvorplatz durchblicken lassen. Sie trug ihr blaues FDJ-Hemd. Er wäre nie auf die Idee gekommen, so plakativ für seine Überzeugungen aufzutreten. Andererseits wusste er, dass die meisten Blauhemden keine richtige Überzeugung hatten, die passten sich nur an, weil sie gut damit fuhren.

Die Vorbereitungswoche

Frau Beetge begrüßt sie mit „Freundschaft“, dem Gruß der Freien Deutschen Jugend. Sobald die Leiterin des Ferienlagers zu sprechen anfängt, ist Frieder klar, dass es zu Reibereien kommen wird. „Wem die eigentliche Arbeit mit Kindern nicht liegt und wer das bisher so noch nicht erfahren hat, der tut es spätestens hier in Glowe“, sagt Frau Beetge. „Hier trennt sich ein erstes Mal die sprichwörtliche Spreu vom Weizen“, fährt sie fort und blickt mit einem schiefen Lächeln auf die Praktikanten.

Frieder schaut zu Jana rüber, aber die verzieht keine Miene. Frau Beetge ist mit ihren Mahnungen, die wahrlich keine pädagogischen Aufmunterungen sind, noch nicht am Ende. Ihr Lächeln verlagert sich jetzt auf die anderes Seite ihres Mundes: „Ich will auch gleich einen Irrtum ausräumen: Die Tätigkeit eines Gruppenleiters im Ferienlager ist in keinem Fall als bloßes Beschäftigen und Beaufsichtigen von Kindern zu verstehen. Und vergessen Sie nicht, Ihrer Arbeit hier liegt eine studienbegleitende pädagogische Aufgabe zugrunde.“

Frieder weiß, was sie damit andeuten will. Das Praktikum ist mit einer schriftlichen Analyse-Arbeit verbunden. Die Arbeit muss im Anschluss an das Ferienlager-Praktikum in der Pädagogischen Hochschule zur Bewertung eingereicht werden.

Das Programm der Vorbereitungswoche hängt am Eingang zum Gemeinschaftsraum aus. Über dem Zettel sieht man das Bild des Genossen Duncker.

„Geweckt wird jeden Tag um 6.00 Uhr, wir beginnen mit Frühsport unter meiner Leitung“, verkündet Frau Beetge. Beifälliges Grinsen in der Runde. „Anschließend Morgentoilette, dann Frühstück!“