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Am 12. März des Jahres 1617 gerät der Nagelschmied Caspar Möller mit Matthes, einem der Mühlenknechte der Schneidmühle, aneinander. Es kommt, wie es kommen muss, der als unerzogen und jähzornig bekannte Knecht beschimpft den ehrbaren Schmied aufs Unflätigste. Dieser wehrt sich und schlägt zu. Zuerst mit der Hand und dann mit dem Beil. Die Streithähne werden getrennt und gehen ihrer Wege. Bis einige Tage später der Knecht plötzlich tot auf seinem Lager aufgefunden wird. War es Mord? Oder Totschlag? Oder auch nichts davon? Caspar jedenfalls flüchtet, da er den Kerker mehr als alles andere fürchtet. Zurück bleiben sein Weib und der kleine Sohn. Elisabeth versucht alles, was ihr möglich ist, die Unschuld ihres Mannes zu beweisen. 1617 ist ein Roman auf der Basis eines realen Kriminalfalles aus dem beschaulichen Seligenthal bei Schmalkalden.
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Seitenzahl: 281
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Am 12. März des Jahres 1617 gerät der Nagelschmied Caspar Möller mit Matthes, einem der Mühlenknechte der Schneidmühle, aneinander.
Es kommt, wie es kommen muss, der als unerzogen und jähzornig bekannte Knecht beschimpft den ehrbaren Schmied aufs Unflätigste. Dieser wehrt sich und schlägt zu.
Zuerst mit der Hand und dann mit dem Beil.
Die Streithähne werden getrennt und gehen ihrer Wege. Bis einige Tage später der Knecht plötzlich tot auf seinem Lager aufgefunden wird. War es Mord? Oder Totschlag? Oder auch nichts davon? Caspar jedenfalls flüchtet, da er den Kerker mehr als alles andere fürchtet. Zurück bleiben sein Weib und der kleine Sohn. Elisabeth versucht alles, was ihr möglich ist, um die Unschuld ihres Mannes zu beweisen.
1617 ist ein Roman auf der Basis eines realen Kriminalfalles aus dem beschaulichen Seligenthal bei Schmalkalden.
Es war einmal
24. Dezember 1616
11. Februar 1617
1. März 1617
12. März 1617
24. März 1617, Karfreitag
26. März 1617, Ostersonntag
30. März 1617
12. April 1617
24. April 1617
5. Mai 1617
10. Mai 1617
18. Mai 1617
1. Juni 1617
8. Juni
12. Juni 1617
19. Juni 1617
21. Juni 1617
1. Juli 1617
Sonntag, der 2. Juli 1617
17. Mai 1620
August 2025
Brennt!
„Vater, erzähl doch bitte nochmal die Geschichte von der Münze. Bitte.“ Lorentz wandte sich zu seiner Mutter um.
„Siehst du, ich kann auch höflich bitten.“ Elisabeths Augen wurden vor Entsetzen groß wie Suppenschalen, während sie sich gleichzeitig ein Kichern verkniff. Hinter dem Kopf ihres Jungen, der nun wieder völlig auf seinen Vater konzentriert war, schüttelte sie entsetzt den Kopf.
Das war nun wahrhaftig kein Thema, dass für Kinder geeignet war. Es setzte ihnen nur Flausen in den Kopf.
Es war schon schlimm genug, dass Lorentz und sein Freund Hans überhaupt davon erfahren hatten.
Caspar hingegen schaute von seiner Arbeit auf und dem Fünfjährigen tief in die erstaunlich blauen Augen.
Deren Farbe blieb für ihn ein Wunder, denn weder Elise noch er hatten ihm diese vererbt. Obwohl der Bub Ähnlichkeiten mit ihnen beiden aufwies, hatten sie doch braune Augen. Die seinen waren dunkler, während Elises eher honigfarben waren. Aber niemand in der Familie schaute aus blauen Augen in die Welt hinaus. Einige Seligenthaler sagten trotzdem, er wäre ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.
Seufzend legte er das Messer beiseite, mit dem er gerade neue Zinken für den großen Rechen schnitzte.
Das Kind würde erfahrungsgemäß keine Ruhe geben, bis er seinen Wunsch erfüllte.
Lorentz zappelte voller Ungeduld auf dem Schoß der Mutter hin und her.
Seit die alte Anna aus der Schneidmühle den Jungs von dem verborgenen Felsspalt und den dort geschehenen Verbrechen berichtet hatte, waren Lorentz und sein Freund Hans schlichtweg besessen davon. Sie sprachen fast täglich darüber, nach ganz sicher zurückgebliebenen Münzen suchen zu wollen. Die Kinder hatten schon gewaltige Pläne geschmiedet, was sie alles mit dem erwarteten Reichtum anstellen wollten, den sie in Kürze zu erbeuten gedachten.
Anfangs hatten Elise und er das alles nur belächelt, aber den Jungen war es bitterernst. Und genau das machte deren Vorhaben so gefährlich. Davon, dass höllisch strenge Strafen auf den Besitz von gefälschten Münzen gab, war da noch die Sache mit der Höhle. Caspar kannte die Gefahren, die davon ausgingen, nur zu gut.
Trotzdem hielt Caspar nichts davon, Lorentz die Erzählung vorzubehalten. Wenn nicht von ihnen, dann würde er es von anderen im Dorf erfahren. Wer wusste schon, was da alles hinzugedichtet und ausgeschmückt wurde.
Außerdem war es sowieso zu spät. Die Jungen waren ja schon Feuer und Flamme.
Die Buben waren schlichtweg wie trockener Boden, wenn der Regen kam und saugten jedes Wort begierig auf, dass über die Münze erzählt wurde.
Der zwei Jahre ältere Hans hatte sogar letztens einen der Knechte des Schneidmüllers mit einem Stück des legendären Kuchens seiner Großmutter bestochen, damit dieser die Jungen zu dem geheimnisumwitterten Ort führen solle.
Wenn nicht Conrad Hessenmüller, der Sohn des alten Schneidmüllers, durch Zufall Zeuge des Ganzen geworden wäre, hätten sich die Kinder womöglich in größten Schwierigkeiten wiedergefunden.
Caspar sah, wie Elise sich schüttelte, als ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief.
Offenbar dachten sie, wie so oft, dasselbe.
„Lorentz. Du musst mir ganz genau zuhören. Was da in der Münze geschah, war großes Unrecht. Niemand darf einfach so heimlich Geldmünzen prägen. Das dürfen nur die Münzer des Landgrafen. Von den Männern, die es seinerzeit versuchten, leben nicht mehr viele, denn sie wurden fast alle erwischt und von den Richtern zu Schmalkalden verurteilt. Einige wurden sogar bei lebendigem Leibe verbrannt.“
Lorentz kuschelte sich fest in die Arme der Mutter.
„So wie die bösen Hexen? Die müssen doch auch brennen? Waren es etwa Hexer, die das Geld gemacht haben? Davon weiß der Hans bestimmt noch nichts. Das muss ich ihm unbedingt erzählen.“ Elise atmete tief durch. Das wurde ja immer schlimmer.
„Wer behauptet denn so einen Schund? Bei uns brennen keine Hexen. Es gibt nicht mal welche. Glaub nicht alles, was dir so erzählt wird.“ Sie sah zu ihrem Mann.
„Wir müssen wirklich aufpassen, mit wem der Kurze alles so schwatzt, wenn der Tag lang ist.“ Caspar nickte.
„Das hat sowieso bald ein Ende. Zum Frühjahr geht er in die Schule. Dann hat er keine Zeit mehr, sich von den alten Weibern Gruselgeschichten erzählen zu lassen.“
Lorentz verzog das Gesichtchen. Das lief offenbar gar nicht so, wie er es sich ausgemalt hatte.
„Dann erzähl mir wenigstens von dem Drachen.“ Lorentz trat mit den Füßen gegen den Stuhl, auf dem er mit seiner Mutter hockte.
Caspar verdrehte die Augen und legte den zerbrochenen Rechen, in den er den neuen Zinken eigentlich gerade einsetzen wollte, zur Seite.
Darauf ließ er sich gern ein.
Lieber sprach er über den Drachen als sich auf weitere Diskussionen über Verbrennungen und Falschmünzer einzulassen.
Er winkte seinem Sohn zu, damit dieser neben ihn auf die Bank am Ofen kam.
Caspar reichte dem Jungen einen der rotbackigen Äpfel, die Elise früher am Tag in einer Schale auf den Tisch gestellt hatte.
Immerhin war Weihnachten und da konnte man auch einmal freigiebig mit den Vorräten umgehen.
Lorentz biss mit leuchtenden Augen in das saftige Früchtchen, dass erst ganz wenig schrumpelig geworden war und wischte sich mit dem Ärmel den Apfelsaft vom Kinn.
Elise grinste breit, als ihr Sohn einen weiteren Bissen nahm und danach vermutlich endgültig von Kopf bis Fuß klebte.
Mit diesen apfelverseuchten Händchen stupste er seinen Vater an, damit der endlich begann zu berichten. Geduld würde Lorentz noch lernen müssen, wenn er nach Ostern zu Meister Dohl ins Schulhaus ginge. Caspar verdrehte die Augen, was zum Glück nur Elise sah. Lorentz kopierte das Benehmen der Erwachsenen sowieso schon viel zu sehr.
„Das erste Mal kam er, als du noch winzig klein in der Wiege lagst. Du warst nicht größer, als ein neugeborenes Ferkel von Uta.“ Was die Sau war, die im Stall ebenfalls an einigen Äpfeln kaute, die Elise ihr anlässlich der Heiligen Nacht hingeworfen hatte. Lorentz nickte altklug. Er liebte es, die Ferkelchen zu beobachten.
„Wir waren gerade dabei, das Heu einzufahren. Es war dabei so spät geworden, dass die Dämmerung schon beinahe von der Nacht abgelöst wurde. Der Himmel war oben bereits fast schwarz, aber nach dem Horizont zu leuchtete er in den wunderschönsten Farben. Du weißt ja, dass man mit dem Einholen nicht zu lange warten darf, falls es regnet. Und das Heu war gerade wunderbar trocken und duftete nach dem Sommer.“ Lorentz hob das Zeigefingerchen.
„Nur dann hält es bis zum nächsten Frühjahr. Und in stinkigem Heu mag auch kein Kind spielen oder sogar schlafen. Das habt ihr richtig gemacht.“
Caspar unterdrückte das Lachen, dass in ihm aufstieg, und auch Elise kämpfte sichtlich mit sich, als Caspar fortfuhr.
„Ich habe auf dem Wagen gestanden und Claus von nebenan hob das letzte Heu des Tages mit der Gabel zu mir herauf, als er am dunklen Teil des Himmels erschien. Es war ein lautes Brüllen, ganz so, als würde der Himmel schreien und ein gewaltiger Sturm aufziehen. Dann kam er. Sein Feueratem erhellte die Wiesen, die Fuhrwerke und den schwarzen Teil der großen Himmelskuppel, als er über das Firmament fuhr. Er war riesig. Sein glühender Schweif überzog den halben Himmel und er spie Brocken flammenden Gesteins auf uns hernieder. Auf der Wiese vom Andreas Peter geriet sogar das Heu in Brand, als eine Flammengarbe von oben herabschoss. Zum Glück fließt ein Bach dort recht dicht vorbei, sodass die Frauen flink einige Eimer mit Wasser füllen und das Feuer löschen konnten.“ Lorentz wandte sich, mit vor Aufregung knallroten Wangen, dem Vater zu.
„Das weiß ich nicht mehr, ihr habt mich bestimmt nicht mit auf der Wiese gehabt, sonst würde ich mich ja daran erinnern können.“ Elise lachte nun doch.
„Schatz, du warst noch viel zu klein, um dich zu erinnern. Aber ich kann dir sagen, ich hatte dich dabei. Du warst in weiche Decken gewickelt und hast alles verschlafen.“
„Niemals hätte ich so etwas tolles verschlafen. Das kann nicht sein, Mama. Aber letztes Jahr kann ich mich noch ganz genau daran erinnern, als er wiederkam. Das war ziemlich toll. Er hat mir einen Bratapfel gemacht, genauso einen Apfel, wie sie dort im Rohr stehen.“ Lorentz deutete auf den Ofen, wo in einer Pfanne drei duftende Äpfel langsam garten.
„Und geleuchtet hat er. Wie die Sonne und aaaallle Sterne zusammen.“ Caspar zog den Kopf gerade noch rechtzeitig zurück, sonst hätte er die kleine Faust seines Sohnes direkt auf die Nase bekommen.
„Soso. Woran du dich alles erinnerst, Kind. Ich bin mir sicher, dass der Drache dir einen Apfel gebraten hat. So sicher, wie die Hütte bei den Hollands abgebrannt ist, als der Drache vorüberflog.“
Das war ein Feuer gewesen. Offenbar nahm der Drache bei jedem Erscheinen ein Gebäude oder eine Wiese mit sich. Vermutlich bereitete es ihm Freude, etwas auflodern und dann zusammenfallen zu sehen.
Oder es waren Opfergaben, denn Drachen gehörten doch ganz gewiss den alten heidnischen Welten an, die schon existierten, lange bevor der Herr Jesus auf die Welt herabgestiegen war.
Zum Glück stand der Schuppen ein wenig abseits und es waren fast nur Weidenruten und getrocknete Kräuter dort drinnen aufbewahrt gewesen.
Die Tante von Stoffel Hollands Frau Marie war nämlich die Kräuterfrau und Hebamme des Dorfes und sammelte alljährlich um Johannis herum die heilenden Pflanzen, um sie im Schatten langsam trocknen zu lassen.
Für die Kinder im Dorf war der Schuppen, den ein echter Drache mit seinem Flammenodem angesteckt hatte, natürlich das Gesprächsthema des restlichen Sommers gewesen.
Caspar musste im Nachhinein noch schmunzeln, als Elise ihm eines schönen Tages berichtet hatte, dass man unter der Dorfjugend munkelte, der Drache habe in die Reste der Hütte ein Ei fallen lassen.
In der nächsten Zeit sollte dort nun, nach der Meinung der Kinder, ein waschechter Drache ausschlüpfen.
Was natürlich erklärte, dass immer irgendein Mädel oder ein Bub dort anzutreffen war, der im Falle eines Schlupfes die anderen blitzschnell zusammentrommeln konnte.
Von Ferne drang das helle Läuten einer Glocke durch das Knistern und Knirschen des Feuers im Ofen in die heimelige Stube herein.
Elise hob Lorentz von Caspars Schoß und griff nach ihrem großen, wollenen Tuch.
„Zieht euch warm an, es ist bitterkalt draußen. Und in der Kirche zieht es sowieso ganz fürchterlich.“ Sie wickelte sich ein und beaufsichtigte dabei Lorentz, der ansonsten ohne warme Sachen rausgestürmt wäre.
Seiner kindlichen Meinung nach waren die dicken Kleidungsstücke völlig überbewertet, denn man konnte sich mit all dem Kram gar nicht richtig bewegen.
Hans würde ganz sicher nicht eingewickelt wie ein Kleinkind draußen sein, was Lorentz einen entscheidenden Nachteil verschaffen würde. Aber das war auch wieder unwichtig, denn immerhin ging es zu nächtlicher Zeit raus in den Winter.
Das war ihm sonst strengstens verboten. Mit dem Einbruch der Nacht hatte er immer im Haus zu sein, seit Hildi, die Magd de Schenkwirtes, einem echten, lebendigen Bären am Dorfrand begegnet war. Wobei Lorentz dieses Verbot dämlich fand.
Sein bester Freund Hans und er würden dem Bären schon Feuer unter dem Hintern machen, wenn er ihnen zu nahekäme.
Sie gingen seitdem nämlich nie ohne ihre Messer, sowie Pfeil und Bogen raus.
Murrend ließ Lorentz sich noch ein weiteres, dickes Tuch um den Hals und den Kopf wickeln. Oh Mann.
Mütter konnten es auch echt übertreiben. Er begann, vor Ungeduld zu zappeln. Das dauerte alles viel zu lange.
Je mehr die Mutter bummelte, umso weniger Zeit blieb ihm und Hans draußen.
Es hatte in den vergangenen Tagen tüchtig geschneit und die Buben hatten bereits ungezählte Schneebälle geworfen.
Die letzte Schlacht hatte mit einem Unentschieden geendet, da Hansens Mutter diesen zum Helfen im Stall ab beordert hatte. Jetzt musste eine Entscheidung herbeigeführt werden.
Da störte so ein bisschen Kälte überhaupt nicht, die Schals und Tücher aber schon.
Gerade, als Lorentz, vor seinen Eltern her flitzend, am Haus der Hollands ankam, warf Hans, der natürlich schon mit seinen Eltern draußen wartete, einen Ball auf einen schneebedeckten Ast des Fliederbaums, der neben der Haustür wuchs.
Der herabstiebende Schnee erwischte Hansens Mutter natürlich voll im Genick.
Woraufhin dessen Vater nun seinerseits einen Schneeball formte und diesen gut gezielt seinem Sohn aufs Hinterteil klatschen ließ.
Aha. So lief der Hase also.
Das war ganz nach Lorentz‘ Geschmack. Er griff flink in den Schnee, formte diesen und warf ebenfalls einen Ball auf seinen Freund, der sich kichernd zur Seite warf um auch seinerseits einen großen Ball zurecht zu kneten.
Die Schneeballschlacht drohte epische Ausmaße anzunehmen, da im Handumdrehen die Knechte und Mägde sowie mehrere Nachbarn aller Altersgruppen ebenfalls ins Kampfgeschehen eingriffen.
Auch Caspar und Elisabeth warfen lachend Schneebälle oder duckten sich weg, um tief anfliegenden Wurfgeschossen auszuweichen.
Lorentz wähnte sich im siebten Himmel.
Das war der allerbeste Abend seines Lebens.
Ganz sicher.
Ein Lauter Pfiff ließ sie alle in der Bewegung erstarren. Fast alle zumindest. Die Männer. Und die Kinder, die es gewohnt waren, auf derartige Warnungen zu reagieren.
„Verflixt.“ Caspars Blick folgte dem Stoffels, seines besten Freundes und Hansens Vaters in Personalunion.
Gleichzeitig ließen die Männer die Hände sinken, was dazu führte, dass die Wurfgeschosse ihrer Ehefrauen sie fast zeitgleich erwischten.
Der gestrenge Schulmeister Dohl kam um die Hausecke gestiefelt und stützte resolut die Hände in die Seiten. Strengen Blickes deutete er wortlos auf die Kirche.
Schuldbewusst schüttelten die Teilnehmer der Schlacht den Schnee aus Umhängen und von Tüchern, die Frauen klaubten kleine Klumpen von den Säumen ihrer Hockmäntel und hoben die kleineren Kinder auf ihre Arme.
Caspar erkannte im selben Augenblick wie Stoffel, welches Glück sie doch gehabt hatten, da der Pfarrer gerade aus dem Pfarrhaus trat, um ebenfalls hinüber zur Kirche zu schreiten.
Wenn der sie dabei erwischt hätte, in der Heiligen Nacht derartige Dummheiten zu machen, dann wäre die Strafpredigt ellenlang geworden. Da war der Lehrer wohl gerade noch rechtzeitig eingeschritten.
Sie mussten Meister Dohl wohl etwas zum Dank schicken, da dieser mit Sicherheit die gefährliche Lage augenblicklich erkannt hatte.
Immerhin war er es gewohnt, die Kinder bei allerlei Unfug zu ertappen. Vor allem sollten sie sich wohl doch endlich wie die Erwachsenen verhalten, die sie waren.
Also, bis auf die Kinder. Aber die wurden gerade von den Frauen mit strengen Blicken bedacht und schwiegen ebenso betreten wie deren Eltern.
Vor allem Stoffel schaute schuldbewusst zu Boden.
Als Schultheiß des Dorfes war er Amtsperson und Würdenträger in einem. An ihm wäre es eigentlich gewesen, die Schneeballschlacht vor der Christmette zu unterbinden.
Wobei Caspar da nicht viel besser war. Als einer der Dorfvorsteher sollte auch er sich zu benehmen wissen.
Aber schön war es doch gewesen, mal wieder so sorglos wie ein Kind Spaß zu haben.
Das Leben war viel zu ernst geworden, seit er die Verantwortung für die Familie trug.
Nach dem frühen Tod der Eltern, die vor nun mehr fast sechs Jahren der Pest zum Opfer gefallen waren, hatte er die Verantwortung für den jüngeren Bruder und die eigene Familie getragen.
Sein älterer Bruder war in den Dienst des Landgrafen getreten und die meiste Zeit unterwegs.
Daher hatten die beiden älteren Brüder gemeinsam beschlossen, dass Caspar den damals vierzehnjährigen Kurt zu sich nehmen, das Erbe der Eltern antreten und die Schmiede samt dem Hof führen sollte.
Der kurze, aber heftige Ausbruch der Seuche hatte viel zu viele Leben im Dorf gekostet.
Es war für ihn bis heute kaum zu glauben, dass ein einzelner, reisender Töpfergeselle das Unglück nach Schmalkalden und ins Umland getragen hatte. Dessen Schmalkalder Meister war eines der ersten Opfer der Krankheit geworden. Damals hatte noch niemand das Ausmaß des Unglückes ermessen können, dass schon bald den gesamten Landstrich erfassen würde.
Elise hakte sich bei Caspar unter und drängte ihn über die Schwelle der kleinen Kirche.
Der Innenraum wurde von genügend Talgkerzen erhellt, um einen veritablen Drachen leuchten zu lassen. Wenn man dies mit den Augen der Seligenthaler Kinder sah.
Caspar sah sich um, grüßte alle, an denen er vorbeikam und drängte sich mit Elisabeth und Lorentz im Schlepptau zu dem ihm angestammten Platz durch.
Offenbar waren die Teilnehmer der Schneeballschlacht beinahe die letzten, die zum Gottesdienst erschienen, da der Raum schon gut gefüllt war.
Der Pfarrer, mit dem auch in guten Zeiten schlecht Kirschen essen war, stand inzwischen missmutig vor dem Altar und nickte den Ankommenden mit verkniffener Miene zu. Offenbar hatte er wohl doch Wind vom ungebührlichen Betragen vor dem Haus des Schultheißens bekommen.
Stoffel und Caspar tauschten einige Blicke, ebenso wie deren Gemahlinnen es taten. Sie kannten den Kirchenmann allesamt zu gut.
Vermutlich würden sie bei ihrem nächsten Zusammentreffen außerhalb der Kirche gehörig die Leviten gelesen bekommen, denn die Predigt für die Christnacht hatte er ganz sicher fertig vorbereitet und würde auch nicht davon abweichen. Hoffentlich.
Zumindest hatte er es bei anderen Vorfällen so gehalten.
Aber wie sich nur kurz darauf zeigte, waren sie gar nicht das Problem des guten Mannes. Was es allerdings nicht besser machte, wie Caspar und Stoffel mit nur einem Blick feststellten. Es war nämlich ein anderer Teilnehmer des Gottesdienstes, den der Pfarrer zu jeder Zeit am liebsten nur von hinten sah.
Und dieser hatte augenscheinlich mal wieder den Unmut des Pfarrers auf sich gezogen.
Im Augenblick erdolchte der von Berufs wegen eigentlich friedliebende Kirchenmann seine Nemesis aus dunklen Augen.
Und diese göttliche Strafe wurde verkörpert von Matthes, einem der Mühlenknechte vom Schneidmüller Conrad Hessenmüller.
Der große, muskulöse Bursche, den jeder im Dorf als Unruhestifter kannte, stand mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt da. Wie es aussah, weigerte er sich, seinen ihm durch seinen Stand bestimmten Platz zwischen den anderen Knechten einzunehmen.
Was dem Pfarrer natürlich vollkommen gegen den Strich ging.
„Der Conrad hat ihn gezwungen, am Gottesdienst teilzunehmen. Er ist der Meinung, dass sich zur Christmette alle, die seinem Geschäft angehören, mitsamt der Familie in der Kirche zu erscheinen haben. Matthes muss getobt haben, aber Conrad war unerbittlich, was das betrifft. Die Art, wie der Pfarrer die Andachten hält, passt Matthes nicht, daher hat er sich bis vorhin gewehrt. Conrad ist stinksauer.“ Claus, Caspars direkter Nachbar, Zuhause und auch hier in der Kirche, deutete auf den Schneidmüller, der seinen Knecht ebenfalls beinahe in Grund und Boden starrte.
Da half auch seine in einen dicken Wollschal gewickelte Eheliebste nicht, welche sich vollkommen ungehörig an ihn gelehnt hatte. Das Paar war seit Jahren so sehr ineinander verliebt, dass es einem gestandenen Kerl Zahnweh bereiten konnte, den beiden beim Turteln zuzusehen.
Caspar runzelte die Stirn.
„Was hat er gegen die Gottesdienste? Er hängt doch nicht etwa dem katholischen Glauben an? Seine Eltern schienen doch auf die Art gottesfürchtig zu sein, wie wir auch? Oder ist er ein Ungläubiger?“
Stoffel schüttelte nickend den Kopf, was nun wieder lustig aussah. Claus jedenfalls, lachte leise. Was ihm einen Stoß in die Rippen von seiner eigenen Frau eintrug.
„Die Beiden waren nette Leute, die den rechten Weg nie verlassen haben.
Auch Matthes‘ Bruder ist ein getreuer Kirchgänger, der sogar manchmal oben auf dem Helmershof die Andachten leitet. Aber der Matthes kommt leider nicht nach ihnen. Stell dir vor, er hat vorletzte Nacht beim Wirt recht lautstark behauptet, dass der Herr Lutherus ein wahrhaftiger Scharlatan sei. Und nicht nur der. Alle Gottesdiener seien durch die Bank Lügenbolde. Er hat sich sogar mit dem Heiner von der Eisenhütte geschlagen, als der einwarf, dass auch Matthes ein Geschöpf des Herrn sei.“
Stoffels Marie stieß diesen nun ebenfalls mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete mit dem Kinn nach vorn. Die Männer drehten zeitgleich die Köpfe in die angezeigte Richtung, um nur ja nicht schlecht aufzufallen. Gerade rechtzeitig, denn beinahe hätten sie den Beginn des Gottesdienstes verpasst.
„So lasset uns singen.“ Der Pfarrer stimmte nun mit kräftiger Stimme das Lied an, welches seit Caspar denken konnte, die Mette zur Heiligen Nacht eröffnete.
Die Gemeinde fiel dann auch beim zweiten Ton bereits lautstark ein. Mancher sang etwas schräg, aber niemand konnte sich den Worten und der Melodie entziehen, die zu dieser Nacht gehörte, wie keine andere.
Ein Blick auf seine Elise zeigte ihm, dass die Weihnacht nun auch sie erreicht hatte. Mit leuchtenden Augen hatte sie begonnen zu singen. Ihre klare, hohe Stimme führte, wie sie es immer tat, die Frauen des Dorfes durch die Zeilen der alten Weise.
„Vom Himmel hoch, da komm´ ich her
Ich bring´ euch gute neue Mär
Der guten Mär bring´ ich so viel,
Davon ich singen und sagen will
Euch ist ein Kindlein heut‘ gebor’n
Von einer Jungfrau auserkor’n,
Ein Kindelein, so zart und fein,
Das soll eur‘ Freud‘ und Wonne sein.“
Caspar, der inzwischen Lorentz auf dem Arm hielt, sang die weiteren Strophen nur noch automatisch mit. Was der Stoffel da eben erzählt hatte, ließ ihn nicht los.
Er betrachtete das Schneidmüllerpaar, das natürlich immer noch viel zu dicht beisammenstand, als dass es noch schicklich wäre. Wie konnten es diese lieben Leute mit einem solchen Knecht nur aushalten? Ihn auch noch in die Nähe ihrer kleinen Tochter lassen?
Während der Predigt beobachtete Caspar dann den Matthes. Der junge Mann verzog das Antlitz zu Fratzen, sobald vom Herrn die Rede war und er spuckte gar aus, als das Jesuskindlein in seiner Krippe gefeiert wurde.
Elises Ellenbogen stieß nun, völlig überraschend, auch ihm in die Seite. Autsch.
Warum mussten ihre Weiber auch allesamt so blutrünstig sein? Eben hatte er noch frohlockt, dass nur Claus und Stoffel einen Rüffel ihrer Eheliebsten bekommen hatten, und nun war er selber an der Reihe. Allerdings war er sich keines Fehltrittes bewusst.
„Lorentz ist eingeschlafen. Ziehst du ihm bitte seine Mütze tiefer über die Ohren?“ Und wahrlich.
Während Caspar den Knecht beobachtet hatte, waren seinem Sohn die Augen zugefallen. Und die Strafe war gar keine. Er hatte offenbar nur seine Frau überhört.
Er zog den Kleinen fester an seine Schulter, richtete das Mützchen und atmete durch. Mit der freien Hand tastete er nach dem Ende seines, aus warmen Wollfilz gearbeiteten, Tuchs und legte dieses auch noch um seinen kleinen Jungen. Lorentz war ihr einziges Kind, dass bisher überlebt hatte. Gleich zwei Mägdlein waren ihnen schon im frühen Säuglingsalter verstorben.
Einzig der Lorentz war kräftig genug gewesen, sich am Leben festzuhalten. Daher war er ihr Schatz.
Ihre gemeinsame Hoffnung auf die Zukunft.
Wenn Elise und er auch zu nächtlicher Zeit fleißig daran arbeiteten, ihm noch ein Geschwisterchen zu schenken.
Still betete er zum Herrn, dass er ihnen ein solches Glück ins Haus bringen möge.
Elise lehnte sich ebenso vertrauensvoll gegen ihn, wie die Hessenmüllers standen. Offenbar gingen ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung wie die seinen.
Die Geburt des Heilandes gab ihnen Hoffnung.
Erst, als die Gemeinde das letzte Lied dieser Nacht anstimmte, sah Caspar sich ein weiteres Mal in der Kirche um. Die guten Seligenthaler standen längst nicht mehr so still auf ihren Plätzen wie zuvor, den meisten schien es inzwischen kalt geworden zu sein.
Mehrere Kinder greinten leise vor sich hin, während die Mütter versuchten, diese flüsternd zu beruhigen.
Matthes hatte sein Tuch über die untere Gesichtshälfte gezogen, sodass man nicht erkennen konnte, ob er die Worte des Weihnachtsliedes sang. Vermutlich schwieg der Knecht oder fluchte stumm. Zutrauen würde es Caspar diesem jedenfalls.
Caspar sang, während sein Blick nach wie vor durch den Kirchenraum schweifte, automatisch mit.
Allerdings hatte er sich den vollen Text des Liedes noch nie merken können, darum wollte er gnädig sein und keinen verdammen, der lieber schwieg, als falsche Worte zu singen.
Die erste Strophe schmetterte er noch etwas schief, aber aus vollem Herzen mit.
„In dulci jubilo
nun singet und seid froh
Unsers Herzens Wonne
leit in praesepio
und leuchtet als die Sonne
matris in gremio.
Alpha es et O“
Danach änderte sich die Stimmlage, da außer dem Pfarrer nur die Frauen die anderen beiden Strophen mitsingen konnten. Die Männer summten zwar, aber kamen nicht gegen die hellen Stimmen der Frauen an.
Lorentz erwachte mit einem Seufzer aus seinem Schläfchen.
Der Knirps stimmte augenblicklich ein.
Ohne Fehler.
Da briet doch einer einen Storch.
Caspar starrte auf seinen Sohn hinab.
Elise zuckte singend mit den Schultern. Oha.
Da hatte sie ein Meisterstück vollbracht.
Ihr kleiner Lorentz war augenscheinlich eines der wenigen männlichen Gemeindemitglieder, das den Text beherrschte. Hoffentlich übertrieb sie es nicht und das Kerlchen wollte später einmal ein Kirchenmann werden. Der übernahm hoffentlich mal den Hof und die Nagelschmiede.
Elise betrat die Stube der Werners mit ihrem großen, sorgfältig geflochtenen, Korb aus geschälter Weide unter dem Arm. Nach der nassen Kälte draußen war es hier drinnen himmlisch.
Na gut, es war besser.
Zumindest nicht nass und kalt.
Die alte Wernerin hatte den Ofen so gut angefeuert, dass die anwesenden Frauen sogar die allgegenwärtigen Kopftücher abgezogen hatten. Warme, wenn auch recht stickige, Luft drang in Elises Lungen, es roch nach Wolle und einem würzigen Kräutersud.
In dem, von einigen blakenden Lichtern und dem Ofenfeuer erleuchteten Raum, saßen vier Frauen, welche allesamt die Wolle des letzten Sommers zu Garn versponnen.
Auch Elisabeth trug einen Armvoll der bereits ordentlich ausgekämmten Wolle ihrer fünf Schafe bei sich, um diese weiterzuverarbeiten.
Den größten Teil hatten sie aber beiseite getan, um daraus Filz zu machen. Caspar brauchte einen neuen, wetterfesten Umhang und einen ebensolchen Hut.
Die Wolle, die sie zum Verspinnen mitgebracht hatte, sollte hingegen zu Strümpfen und anderen Kleidungsstücken werden.
Während Katharina, des Hessenmüllers Weib, genau wie ihre Schwiegermutter Anna eine Handspindel nutzte, drehte Marie, die wohlgerundete Gattin des Stoffel Holland, mit verkniffener Miene am Rad ihres neuen Spinnrads.
Dieses Ding war, seit Stoffel es einem reisenden Handelsmann, der gebrauchten Krempel auf dem Wagen hatte, abgekauft hatte, Teil des gutmütigen Spottes unter den Frauen.
Sicher war es nie verkehrt, sich Gerätschaften anzuschauen und aus zu probieren, die einem den Alltag erleichtern konnten. Aber nicht immer waren die Erfindungen auch gut zu händeln. Und Stoffel hatte Marie mit dem Rad zwar eine große Freude gemacht, aber mehr eben auch nicht.
Das Garn, dass Marie darauf herstellte, war bestenfalls als unregelmäßig und unsauber versponnen zu bezeichnen.
Mit den althergebrachten Handspindeln waren die Frauen viel flinker und ihr Garn sah auch wie gutes Garn aus. Es ließ sich gut verweben und es ergaben sich weder komische Knubbel noch Löcher im Tuch.
Das Rad hingegen, ließ den Faden eindeutig schneller entstehen, aber dieser riss häufig und dann musste sie jedes Mal stoppen und den entstandenen Schaden reparieren.
Allabendlich behauptete sie, dass sie nur noch ein wenig üben müsse, um die anderen Weiber dann locker zu überbieten. Zumindest, was die Garnmenge betraf, die sie an einem Abend aus der Wolle spannen.
Vielleicht stimmte es ja, aber Elise konnte es sich für sich selber nicht vorstellen, mit einer Hand zu kurbeln und der anderen das Garn gleichmäßig aus dem Vlies zu zupfen.
Aber wer war sie schon, sich ein Urteil zu erlauben, was diese neumodische Art des Spinnens betraf.
Sie setzte sich neben der alten Anna auf die Bank und holte ihre eigene Spindel aus dem Korb.
Als sich diese fröhlich auf dem Boden drehte, nahmen die Frauen ihr Gespräch, dass Elises Ankunft unterbrochen hatte, wieder auf.
„Hat Conrad ihn, so wie er ist, wieder an die Säge gestellt?“
„Oh ja. Ihr wisst doch, dass die anderen Knechte das Fieber erwischt haben, dass gerade rum geht. Die husten sich die Seelen aus dem Leib. Und nachdem der Matthes sich so hat verledern lassen, kann er sich nicht auch noch aufs Lager legen und glauben, dass ich ihn versorge. Der soll mal schön schuften.“ Oha. Elise hob die Augenbrauen.
Davon hatte Caspar ihr noch gar nichts erzählt.
„Was hat Matthes denn schon wieder ausgefressen?“
Denn, dass der Knecht der Hessenmüllers an seinem Unglück selber Schuld zeichnete, war Elisabeth vollkommen klar. Der Kerl brachte sich noch schneller in Schwierigkeiten, als Marie der Faden riss.
Katharina schnaubte, während ihre Schwiegermutter die Wolle sinken ließ.
Deren Spindel trudelte auf dem Boden, kollerte weg und spannte einen kunstvoll fein gesponnenen Faden quer durch die Stube.
Anna ignorierte das allerdings komplett, was dafürsprach, dass sie sich wirklich über den Knecht aufregte.
„Er ist doch glatt zu seinem Bruder hoch in die Struth marschiert und hat, während dieser mit seiner Familie im Holz war, die Speisekammer ausgeräumt. Alle Kornsäcke hat er von oben bis unten aufgeschlitzt und die gesamte Milch verschüttet. Nicht ein Stück Wurst war mehr da und sogar die Karotten hat er aus dem Sand geholt und alle einzeln durchgebrochen. Nur, weil dieser ihn nicht mehr des Sonntags zum Mittagsmahl sehen will.“
„Weißt du,“ Katharina legte nun ihr Vlies auch ab und sah Elise an. Die nächste Spindel machte sich daraufhin selbstständig und kreuzte den Faden der anderen.
„er weigert sich immer noch, wieder in die Kirche zur Andacht zu gehen. Allerdings war er offenbar zwischendrin dort, denn er hat den großen Ziegenbock aus unserem Stall in die Kirche gesperrt. Was das Biest dort hätte anstellen können, kannst du dir bestimmt vorstellen.“
Ach herrje. Elise blieb die Luft weg. Der Bubi war ein echtes Prachtvieh. Und störrisch wie zehn Esel.
„Zum Glück haben einige Jungen ihn dabei beobachtet und sind wie die Blitze beim Sommergewitter zur Mühle gerannt. Mein Conrad konnte den Bock zurückholen, bevor der viel Schaden angerichtet hat. Der Pfarrer war trotzdem stinksauer. Auch wenn nicht zu viel kaputt gegangen ist, hat der Bubi doch ein Gewand vom Pfarrer, dass am Haken hinter dem Altar hing, zerrissen.
Und Matthes‘ Bruder hat ihm danach eben verboten, des Sonntags nach Hause zu kommen.“
„Und aus Rache hat er dann eben in der Vorratskammer gewütet.“ Elise schüttelte es innerlich.
Wenn auch das Saatgut verdorben war, dann stand es für die Familie nicht gut.
Und Lebensmittel waren derzeit recht teuer, wenn man davon zukaufen musste. Also, eigentlich waren sie unverschämt teuer. Elise konnte ein Lied davon singen.
Als sie letztens Caspar in die Stadt begleitet hatte und die Zeit nutzen wollte, auf dem Markt einiges einzukaufen, war ihr schlicht die Spucke weggeblieben.
Noch vor Ort hatte sie dem Herrgott gedankt, dass bei ihnen einige Hühner im Stall gackerten und sogar eine Sau im Heu wühlte. Der armen Familie standen schwere Zeiten bevor, wenn die Geschichte so stimmte.
Die betagte Osanna Werner, die ihren Platz gleich neben dem Herdfeuer hatte, griff nach einem Krug, der auf dem Ofen bereitstand und goss den Frauen heißes, gewürztes Honigwasser in tönerne Becher.
Ihr eigenes Spinnzeug lag unangetastet neben ihr.
Die Gicht bereitete ihr zu dieser Jahreszeit immer gehörige Schmerzen und es war daher schon ein Wunder, dass sie den Krug nicht fallen ließ. Anna nahm ihren Becher und trank genüsslich einen Schluck.
„Matthes kam jedenfalls ziemlich lädiert aus Struth zurück. Conrad vermutet, dass er die Faust und auch noch die Peitsche vom Ochsengespann zu spüren bekommen hat. So sieht sein Rücken zumindest aus.“ Katharina nickte bestätigend.
„Ich habe es verbunden, so gut es ging. Aber ihr kennt den unwirschen Kerl ja. Er hat die guten Leinentücher gleich wieder herabgerissen und dann mich beschimpft.
Daraufhin hat Conrad nun seinerseits die Geduld verloren und ihm auch noch eine übergezogen. Normalerweise hätten wir ihn aus der Schneidmühle gejagt, aber er ist unser kräftigster Knecht. Conrad sagt, wir müssen ihn behalten, bis er einen neuen Lehrling anstellen kann. Wir haben allerdings einige Beutel mit Getreide hoch zu seinem Bruder geschickt, damit die Familie wenigstens Brei machen kann und nicht hungrig zu Bett gehen muss. Die Nachbarn haben wohl auch etwas gegeben, aber man musste ihnen versprechen, dass Matthes vorerst wirklich nicht mehr heimkommen dürfe. Den Wert der Körner muss er nun zusätzlich abarbeiten, das hat Conrad mir geschworen.“
Osanna schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht, was mit der Jugend los ist. So viel Unfug im Kopf und solche Gewalt, die aus ihnen ausbricht. Das gab es früher nicht.“
„Das hat deine Mutter bestimmt auch schon gesagt, Osanna. Und aus uns ist doch auch etwas geworden.“ Anna, die nur wenig jünger als ihre Gastgeberin war, deutete mit ihrem Wollflies in der Faust auf die alte Freundin.
Elise schmunzelte. Es war doch immer dasselbe, wenn sich mehrere Generationen in den Spinnstuben trafen.
Die Älteren jammerten über den Verfall der Jugend und die Jungen behaupteten, dass es doch gar nicht so schlimm sei.
Oder anders herum. Wie auch immer.
„Die Hildi vom Wirt ist schwanger.“ Marie wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen, wusste doch jede der Anwesenden, dass die vollbusige Schankmagd mit dem rostroten Haar nicht verheiratet war.
„Sie will nicht verraten, wer der Vater ist.“ Elise sah von ihrer Arbeit auf. Das sah der selbstbewussten Frau ähnlich.
„Bestimmt hat sie bei einem durchreisenden Handelsmann gelegen und gehofft, er würde sie dann mit sich nehmen. Hildi hat noch nie einen Hehl daraus gemacht, dass es ihr hier im Dorf zu eng ist. Sie will etwas von der Welt sehen.“
„Tja, jetzt sitzt sie hier fest. Mit einem Kind nimmt sie ganz sicher keiner mit.“
„Der Hannes von Kleinschmalkalden hat ihr zur Messe am Heiligen Abend doch schöne Augen gemacht. Vielleicht heiratet er sie vor der Geburt. Dann ist das Mäuschen wenigstens kein Balg.“
„Na das möchte ich sehen. Dem sein Vater ist doch der Pfarrer da oben. Das lässt der mit Sicherheit nicht zu.“