2 Sylt-Thriller: Todesbrandung auf Sylt & Das Flüstern der Wanderdüne
Doppelte Spannung an der Nordsee
Mirko Kukuk
Impressum © 2025 Mirko Kukuk
Texte: © Copyright by Mirko KukukUmschlaggestaltung: © Copyright by Mirko KukukMirko KukukKleinfeld 10221149
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[email protected] Unterstützung bei Text/Bild: GeminiDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Inhalt
Titelseite
Impressum
Kapitel 1: Ankunft im Paradies – Eine neue Welt
Kapitel 2: Das Verschwinden – Die Ruhe trügt
Kapitel 3: Erste Spuren im Sand – Eine geheimnisvolle Fährte
Kapitel 4: Der alte Bunker und das Flüstern der Vergangenheit – Sylts Geheimnisse
Kapitel 5: Die Wahrheit am Strand – Der Mordfall
Kapitel 6: Ein Netz aus Intrigen – Mertens' dunkles Erbe
Kapitel 7: Schatten der Familie – Geheimnisse im eigenen Haus
Kapitel 8: Verrat und alte Rechnungen – Die Rache der Verzweifelten
Kapitel 9: Gefährliche Nähe – Der Mörder schlägt zurück
Kapitel 10: Der Sturm bricht los – Die Insel wird zur Falle
Kapitel 11: Die finale Konfrontation – Kampf gegen den Sturm und den Mörder
Kapitel 12: Die Enthüllung der Wahrheit – Ein neuer Anfang?
2. Das Flüstern der Wanderdüne
Kapitel 1: Ein stummer Schrei im Wind
Kapitel 2: Die Gezeiten des Todes – Eine Insel im Schock
Kapitel 3: Schatten in der Düne – Das Netz wird enger
Kapitel 4: Im Herzen des Sturms – Die Düne gibt ihr Geheimnis preis
Kapitel 5: Nachbeben und neue Schatten – Sylt im Umbruch
Kapitel 6: Die dunkle Seele der Insel – Alte Geschichten leben auf
Kapitel 7: Echo der Vergangenheit – Die Rückkehr eines Geistes
Kapitel 8: Die Strömung der Erinnerung – Ein Vermächtnis von Sand und Meer
Kapitel 9: Rückkehr in die Schatten – Hamburgs eisiger Griff
Kapitel 10: Das Finale im Schattenreich – Ein Spiel auf Leben und Tod
Kapitel 11: Der Preis der Wahrheit – Ein neuer alter Fall
Kapitel 12: Des Vaters Geheimnis – Ein Vermächtnis aus der Vergangenheit
Kapitel 13: Die letzte Inszenierung – Showdown im Hamburger Hafen
Nachwort:
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Kapitel 1: Ankunft im Paradies – Eine neue Welt
Kommissarin Sarah Brandt atmete tief durch, der Geruch von Salz und einer eigenartigen Mischung aus Fisch und Freiheit füllte ihre Lungen. Hinter ihr lag Hamburg, eine Stadt, die sie einst ihr Zuhause genannt hatte, eine Stadt voller schmerzhafter Erinnerungen und eines Falles, der tiefe Narben hinterlassen hatte. Der Fall des „Elb-Rippers" hatte sie an ihre Grenzen getrieben, hatte ihr gezeigt, wie nah Gut und Böse beieinanderliegen konnten und wie schnell das eigene Leben aus den Fugen geraten konnte. Sie hatte ihn gefasst, ja, aber der Preis war hoch gewesen. Die ständige Konfrontation mit menschlicher Abgründigkeit hatte an ihr genagt, ihren Schlaf geraubt und die Freude an ihrer Arbeit langsam erstickt. Eine Auszeit. Das war es, was sie brauchte. Ein Neuanfang. Und so hatte sie die Versetzung nach Sylt beantragt, eine Insel, die sie nur von Postkarten kannte, ein Ort, der nach Ruhe und Weite versprach. Jetzt, auf der Fähre, die sich langsam den Wellen entgegenstemmte, fragte sie sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. War diese idyllische Vorstellung nur eine Illusion?
Die Möwen kreischten über dem Schiff, ihre Rufe scharf und durchdringend, fast wie ein Kommentar zu ihren eigenen Zweifeln. Sarah lehnte sich an die Reling und blickte auf das schäumende Kielwasser. Der Horizont war eine scharfe Linie zwischen dem tiefen Blau des Meeres und dem bleichen Grau des Himmels, der sich über der Nordsee spannte. Die Weite war überwältigend, befreiend und beängstigend zugleich. Sie war es gewohnt, in den engen Gassen Hamburgs zu navigieren, wo jeder Winkel ein Geheimnis barg und die Menschenmassen eine ständige Ablenkung boten. Hier gab es nur das Meer, den Himmel und die leise Ahnung von Land am Horizont, das langsam größer wurde. Sylt. Die Insel, die für Reichtum und Prominenz stand, aber auch für eine raue, ursprüngliche Natur. Wie würde sie sich dort zurechtfinden, sie, die Großstädterin, die plötzlich mit dem Wind und den Gezeiten leben musste?
Die Fähre legte langsam in List an, einem kleinen Hafen am nördlichen Zipfel der Insel. Sarahs kleiner Wagen rollte von Bord, beladen mit allem, was sie für ihr neues Leben brauchte. Wenig war es, sie hatte sich bewusst von Ballast getrennt. Der Wind auf dem Anleger war stärker, trug den Geruch von Tang und Diesel mit sich. Sie folgte den wenigen anderen Autos, die sich ihren Weg durch die schmale Straße bahnten, vorbei an reetgedeckten Häusern und kleinen Fischrestaurants. Die Insel empfing sie mit einer Mischung aus sanfter Schönheit und einer unterschwelligen, unnahbaren Härte. Die Dünen, die sich wie riesige Wellen aus Sand und Gras erhoben, schienen die Geheimnisse der Insel zu bewachen.
Ihre neue Wohnung lag in Westerland, der größten Stadt auf Sylt. Es war keine luxuriöse Villa, wie sie die auf den Hochglanzfotos der Tourismusbroschüren gesehen hatte, sondern eine bescheidene Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Mehrparteienhaus, nur wenige Straßen vom Strand entfernt. Als sie die Tür öffnete, roch es nach alten Teppichen und einem Hauch von Moder, aber das Licht, das durch die Fenster fiel, war hell und klar. Sie stellte ihre Taschen ab und ging direkt zum Fenster. Von hier aus konnte sie das Meer sehen, ein kleines blaues Band zwischen den Dächern. Es war nicht die Weite, die sie auf der Fähre erlebt hatte, aber es war genug, um sie daran zu erinnern, wo sie war. Ein Seufzer entwich ihr. Dies war nun ihr Zuhause. Wenigstens vorerst.
Am nächsten Morgen, nach einer erstaunlich ruhigen Nacht, machte sich Sarah auf den Weg zur Polizeidienststelle. Sie lag in einem unauffälligen Gebäude im Zentrum von Westerland. Als sie eintrat, war es überraschend ruhig. Kein geschäftiges Treiben wie in Hamburg, keine eiligen Schritte, kein Telefonklingeln im Dauerton. Ein junger Kollege, Obermeisterin Lena Voss, mit wachen Augen und einem freundlichen Lächeln, begrüßte sie. „Kommissarin Brandt? Ich bin Lena Voss. Willkommen auf Sylt." Ihre Stimme war warm und einladend. Lena führte sie durch die kleinen Büroräume, die zwar zweckmäßig, aber alles andere als modern waren. "Das ist unser Hauptkommissar, Jan Petersen", stellte sie vor. Jan Petersen, ein stämmiger Mann um die Fünfzig mit wettergegerbtem Gesicht und einem skeptischen Blick, hob den Kopf von seinen Akten. „Brandt. Gut, dass Sie da sind. Wir können jede Hand gebrauchen." Seine Begrüßung war kurz und bündig, aber Sarah spürte, dass unter der rauen Schale eine gewisse Neugier steckte. „Und das ist unser Hajo Jensen", fügte Lena hinzu und deutete auf einen älteren Mann, der über einem Mikroskop brütete. Hajo brummte nur etwas Unverständliches, ohne aufzublicken. Er schien der Typ zu sein, der lieber mit Reagenzgläsern als mit Menschen sprach.
Die erste Dienstbesprechung war ungewohnt unspektakulär. Kleinkriminalität, ein paar Einbrüche in Ferienhäuser, ein verlorener Hund. Sarah fühlte sich fast unterfordert, nachdem sie jahrelang in Hamburg mit Mord und Totschlag zu tun gehabt hatte. Doch Jan Petersen nutzte die Gelegenheit, um ihr die Besonderheiten des Insellebens näherzubringen. „Hier ticken die Uhren anders, Frau Brandt. Wir kennen uns hier alle. Jeder weiß, was der andere tut. Und das hat seine Vor- und Nachteile." Er sprach von der engen Gemeinschaft, aber auch von den Schattenseiten der Idylle, von Neid und Gier, die sich hinter den Fassaden des Reichtums verbergen konnten. „Und die Touristen bringen auch so manches Problem mit sich. Aber im Großen und Ganzen ist es ruhig hier. Gott sei Dank."
Sarah nickte, nahm alles auf. Sie spürte, dass Jan Petersen sie testete, ihr Wissen und ihre Anpassungsfähigkeit auf die Probe stellte. Sie erzählte kurz von ihrer Erfahrung in Hamburg, hielt sich aber bewusst zurück, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie halte sich für etwas Besseres. Sie war hier, um zu lernen, um sich neu zu orientieren.
Am Nachmittag, nach der Besprechung, entschloss sich Sarah zu einem ersten Spaziergang. Sie brauchte die frische Luft, die Weite, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie zog ihre winddichte Jacke an und machte sich auf den Weg zum Strand. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht, trug feinen Sand mit sich, der wie winzige Nadeln auf ihrer Haut prickelte. Die Nordsee zeigte sich von ihrer rauen Seite, die Wellen schlugen mit Vehemenz an den Strand, zogen sich dann mit einem lauten Zischen zurück. Das Rauschen war ohrenbetäubend, ein wildes, ungezähmtes Lied, das alle anderen Geräusche übertönte.
Sie ging barfuß am Wasser entlang, ließ die kalten Wellen ihre Füße umspülen. Die Weite des Strandes war beeindruckend, menschenleer bis auf ein paar vereinzelte Gestalten in der Ferne, die sich gegen den Wind stemmten. Hier konnte sie atmen. Hier konnte sie denken, ohne von den Geräuschen der Stadt abgelenkt zu werden. Die Isolation, die sie anfangs gefürchtet hatte, begann sich in eine Art von Ruhe zu verwandeln. Eine Einsamkeit, die nicht bedrückend war, sondern befreiend. Sie konnte ihre eigenen Gedanken hören, klar und deutlich.
Sie dachte an den Elb-Ripper-Fall zurück, an die dunkelsten Ecken der menschlichen Seele, die sie dort gesehen hatte. Würde Sylt ihr eine Pause gönnen? Würde sie hier einfach nur Akten wälzen und Diebstähle aufklären, oder lauerten auch hier Abgründe, versteckt hinter den reetgedeckten Dächern und den luxuriösen Villen? Jan Petersens Worte hallten in ihrem Kopf wider: „Jeder weiß, was der andere tut." Das klang nach einer kleinen, abgeschlossenen Welt, in der Geheimnisse nur schwer zu verbergen waren. Oder vielleicht gerade deshalb umso tiefer vergraben wurden.
Während sie so dahin ging, spürte sie eine seltsame Spannung in der Luft, fast so, als ob die Insel selbst eine Geschichte erzählen wollte, die unter ihrer Oberfläche brodelte. Es war nur ein flüchtiges Gefühl, ein leises Echo in ihrem Inneren. Eine junge Frau kam ihr entgegen, den Blick starr auf den Sand gerichtet. Sie wirkte blass und verweint. Ihr Handy klingelte, und Sarah hörte Bruchstücke des Gesprächs, etwas von einem „Verschwinden" und „Angst". Die Frau schien nicht zu bemerken, dass sie nicht allein war, so in ihre eigene Welt versunken. Sarah zögerte kurz, ob sie sie ansprechen sollte, doch die Frau bog plötzlich ab und verschwand in den Dünen, ihre Silhouette verschluckt vom grauen Himmel.
Es war nur eine kurze Begegnung, ein flüchtiger Moment am Rande ihres neuen Lebens, aber er hinterließ einen eigenartigen Nachgeschmack. Sylt war vielleicht nicht das ruhige Paradies, das sie sich erhofft hatte. Die raue See, der unerbittliche Wind – sie schienen eine Vorahnung zu sein, ein Flüstern, das ihr sagte, dass auch hier, unter der scheinbaren Idylle, die Schatten lauerten. Und Sarah, die Kommissarin, spürte, wie sich ein alter Instinkt in ihr regte, ein Gefühl der Unruhe, das sie nur zu gut kannte. Der Ruf der Ermittlung, leise, aber unverkennbar. Sie war hierhergekommen, um dem zu entfliehen, aber vielleicht hatte das Schicksal andere Pläne. Sie blickte auf das endlose Meer und wusste, dass ihr neuer Dienst auf Sylt nicht so ereignislos sein würde, wie sie gehofft hatte.
Kapitel 2: Das Verschwinden – Die Ruhe trügt
Der nächste Morgen brach an, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen die Dunstschleier über den Dünen von Kampen vertrieben hatten. Sarah saß gerade bei einer Tasse viel zu starken Filterkaffees im Büro, als das Telefon klingelte. Lena Voss nahm ab, ihre Stimme klar und geschäftsmäßig. Sarah hörte nur Bruchstücke, Worte wie „verschwunden“ und „Villa Kampen“, aber es reichte, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Lena legte auf und drehte sich zu ihr um, ein Anflug von Besorgnis in ihren Augen. „Das war Frau Mertens, Kommissarin. Ihr Mann ist weg. Dr. Klaus Mertens. Er ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.“
Der Name Klaus Mertens löste bei Sarah ein sofortiges Gefühl des Unbehagens aus. Sie hatte seinen Namen schon in Hamburg gehört, in Verbindung mit dubiosen Wirtschaftsskandalen und undurchsichtigen Geschäften. Ein Anwalt, dessen Ruf ihm oft vorausgeeilt war, nicht immer zum Guten. „Dr. Mertens? Der Wirtschaftsanwalt?“, fragte Sarah. Lena nickte. „Der eine und einzige. Wohnt in einer dieser Protzvillen in Kampen. Seine Frau klingt… merkwürdig. Nicht panisch, eher… irritiert.“
Zehn Minuten später saßen Sarah und Jan Petersen im Dienstwagen auf dem Weg nach Kampen. Der Himmel war immer noch bedeckt, und der Wind zerrte an den letzten Nebelschwaden. Kampen. Schon die Fahrt dorthin war eine Offenbarung. Vorbei an beschaulichen Reetdächern und kleinen Künstlerateliers erhoben sich plötzlich architektonische Meisterwerke aus Glas und Beton, umgeben von gepflegten Gärten, die selbst dem rauen Inselklima trotzten. Die Villa Mertens war das Paradebeispiel dafür. Ein glänzender Kubus, umrahmt von perfekt geschnittenen Büschen und einem makellosen Kiesweg, der zu einer massiven Holztür führte. Alles schrie nach Reichtum, nach Abgeschiedenheit, nach einer Welt, die Sarah bis dahin nur aus Magazinen kannte.
„Und das soll ein Paradies sein?“, murmelte Jan Petersen neben ihr, sein Blick auf die protzige Fassade gerichtet. „Manchmal frage ich mich, ob das ganze Geld die Leute nicht verrückt macht.“ Sarah sagte nichts, aber sie verstand, was er meinte. Der Kontrast zu ihrer eigenen bescheidenen Wohnung war frappierend.
Frau Mertens, eine hochgewachsene Frau mit perfekt sitzendem Blazer und einer unbewegten Mimik, empfing sie an der Tür. Ihr Haar saß makellos, kein Fältchen verriet die angebliche Sorge um ihren verschwundenen Mann. „Kommissarin Brandt, Hauptkommissar Petersen. Treten Sie ein.“ Ihre Stimme war kühl, distanziert, fast gelangweilt. Es war, als würde sie eine unliebsame Pflicht erfüllen, anstatt nach ihrem vermissten Ehemann zu suchen. Sarah spürte sofort eine Abneigung gegen diese Frau, ihre unnatürliche Ruhe, die nicht zu der Situation passte.
Das Innere der Villa war genauso makellos und unpersönlich wie das Äußere. Modernste Kunst an den Wänden, Designermöbel, ein Wohnzimmer so groß, dass es locker Sarahs ganze Wohnung hätte fassen können. Überall spiegelnde Oberflächen, die das fahle Morgenlicht reflektierten. Nichts schien verrückt oder unordentlich zu sein. „Mein Mann ist gestern Abend gegen zehn Uhr gegangen“, begann Frau Mertens, ihre Augen huschten über die polierten Oberflächen. „Er hatte noch einen späten Termin. Ich bin dann ins Bett gegangen. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, war er nicht da.“
„Hat er Ihnen gesagt, wohin er geht? Mit wem er sich trifft?“, fragte Sarah, während sie sich im Raum umsah. Ihre Augen suchten nach irgendetwas, das nicht an seinen Platz gehörte. Frau Mertens zögerte einen Moment. „Nein. Er hat das selten getan. Er war sehr diskret, was seine Geschäfte anging. Er ist einfach… gegangen.“ „Einfach gegangen? Ohne ein Wort?“, hakte Jan Petersen nach, seine Stimme klang ungläubig. „Das kam vor“, erwiderte Frau Mertens, ihre Stimme immer noch monoton. „Er war ein vielbeschäftigter Mann.“
Sarah ignorierte die steife Fassade der Frau und begann, den Raum genauer zu inspizieren. Auf dem Glastisch im Wohnzimmer stand ein halbvolles Glas Rotwein, ein teurer Tropfen, wenn Sarah sich nicht irrte. Daneben lag eine aktuelle Ausgabe des Handelsblatts, noch aufgeschlagen bei einem Artikel über Immobilieninvestitionen an der Küste. Die Nachttischlampe im Schlafzimmer war eingeschaltet, als hätte Mertens sie im Eifer des Aufbruchs vergessen. Kleine, aber entscheidende Details, die auf ein plötzliches Verlassen der Villa hindeuteten, nicht auf einen geplanten Abschied. Es gab keine Kampfspuren, keine Anzeichen von Gewalt, keine aufgebrochenen Türen oder Fenster. Nichts, was auf einen gewaltsamen Übergriff hindeutete.
„Er muss sehr plötzlich aufgebrochen sein“, bemerkte Sarah. „Das Glas, die Lampe…“ Frau Mertens zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“ Ihre Gleichgültigkeit war frappierend. Jan Petersen hatte inzwischen Mertens' Handy auf dem Küchentisch gefunden. Es lag neben einer leeren Kaffeetasse. Er hob es auf und schaltete es ein. „Keine verpassten Anrufe, keine neuen Nachrichten“, murmelte er. „Moment mal… doch. Eine.“
Er zeigte Sarah den Bildschirm. Eine kurze Textnachricht, eine Zahlenkombination, gefolgt von einem einzelnen Buchstaben. Ein Datum? Ein Code? „Das sieht nicht nach einer normalen Nachricht aus“, sagte Sarah. „Kein Absender, nur diese Ziffernfolge und ein ‚X‘.“ Die Nachricht war eindeutig, aber ihr Inhalt verschlüsselt. Sie weckte sofort Sarahs Misstrauen. War dies ein Treffpunkt? Eine Drohung? Ein geheimer Hinweis? Die Distanz von Frau Mertens, die unerklärlichen Details im Haus und nun diese mysteriöse Nachricht – alles passte nicht zusammen.
Sie befragten noch kurz die Haushälterin, die gerade in der Küche arbeitete. Eine ältere, schüchterne Frau namens Frau Petersen (keine Verwandtschaft zu Jan), die seit über zwanzig Jahren für die Mertens gearbeitet hatte. Sie wirkte nervös, blickte immer wieder zu Frau Mertens hinüber, als ob sie Angst hätte, etwas Falsches zu sagen. Sie hatte Mertens zuletzt gegen Abend gesehen, als er noch telefoniert hatte. Das Gespräch sei kurz gewesen, aber sie habe gehört, wie er „Treffen“ und „dringend“ gesagt habe. Mehr wusste sie angeblich nicht. Ihre Augen sprachen jedoch Bände.
Als sie die Villa verließen, spürte Sarah, wie der Fall eine Eigendynamik entwickelte, die über eine einfache Vermisstenanzeige hinausging. Dr. Mertens war nicht einfach nur verschwunden. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und diese mysteriöse Nachricht auf seinem Handy war der erste Faden, den sie entwirren musste, um das Netz aus Lügen und Geheimnissen zu durchblicken, das sich um Klaus Mertens spannte. Sylt, so schien es, würde ihr doch nicht die erhoffte Ruhe gönnen.
Kapitel 3: Erste Spuren im Sand – Eine geheimnisvolle Fährte
Zurück auf der Polizeidienststelle in Westerland breitete sich der Fall Mertens wie ein Ölteppich aus, der sich über die scheinbare Ruhe der Insel legte. Sarah und Jan Petersen besprachen die ersten Eindrücke aus der Villa. „Keine Spuren eines Kampfes, nichts aufgebrochen“, wiederholte Jan und strich sich über den Stoppelbart. „Aber diese Nachricht… und die Frau Mertens, die so seltsam kühl war. Das passt alles nicht zusammen.“ Sarah nickte. „Genau das. Es war zu sauber. Fast so, als hätte jemand versucht, den Anschein eines normalen Verschwindens zu wahren.“
Sie entschieden sich für eine akribische Durchsuchung der Villa, diesmal mit dem gesamten Team. Lena Voss und Hajo Jensen stießen dazu, bewaffnet mit Spurensicherungskoffern und dem scharfen Blick für das Unsichtbare. Während Jan sich um die Befragung der Nachbarn kümmerte – eine meist fruchtlose Angelegenheit in Kampen, wo Diskretion oft über alles ging –, konzentrierten sich Sarah, Lena und Hajo auf das Innere der Villa.
Hajo, der sonst so wortkarge Kriminaltechniker, entpuppte sich als stiller Meister seines Fachs. Mit Argusaugen untersuchte er jeden Winkel, jede Oberfläche. „Hier, Kommissarin“, murmelte er plötzlich und deutete auf eine fast unsichtbare Schliere auf dem polierten Holzboden im Flur, die nur unter speziellem Licht zu erkennen war. „Ein leichter Abrieb. Nicht von einem Schuh. Eher… als wäre etwas Schweres, Glattes darübergezogen worden.“ Es war keine Kampfspur, aber es war eine Irregularität, die Sarahs Aufmerksamkeit weckte. Dann fand Lena im Büro von Mertens eine winzige Menge feiner Sandkörner auf dem persischen Teppich, die dort nicht hingehörten. Es war Strand- oder Dünensand, feiner und heller als der Sand, der von normalen Straßenschuhen hereingetragen würde. „Er muss also am Strand oder in den Dünen gewesen sein, kurz bevor er verschwunden ist“, schloss Lena messerscharf.
Während Hajo und Lena sich um die physischen Spuren kümmerten, tauchte Sarah tiefer in Mertens' digitale Welt ein. Sie saßen in seinem hochmodernen Büro, umgeben von Technik, die den Kontrast zur rustikalen Inselwelt nur noch verstärkte. Lena begann, Mertens' Computer und sein Handy auszulesen. „Er war ziemlich paranoid, was seine Sicherheit angeht“, stellte Lena fest, während sie Passwörter knackte. „Verschlüsselte Ordner, anonyme E-Mail-Accounts…“ Doch Lena war hartnäckig. Nach einer Stunde grummelte sie zufrieden. „Bingo. Er hatte eine zweite E-Mail-Adresse, nur für bestimmte Kontakte. Und die SMS, die Sie gefunden haben? Die ist von dort gesendet worden.“