Unter der Insel
Ein Teneriffa-Psychothriller
Mirkio Kukuk
Kapitel 1: Die Ankunft und das Versprechen der Stille
Der Wind war das Erste, was Anna auf Teneriffa wirklich spürte. Nicht der sanfte Hauch eines lauen Sommerabends, sondern ein insistierender, fast flüsternder Zug, der ihr Haar zerzauste und den salzigen Geruch des Atlantiks tief in ihre Lungen trug. Er schien ihr zu folgen, seit sie den Leihwagen am Flughafen in Empfang genommen hatte, ein ständiger Begleiter auf der Fahrt durch die unwirkliche Vulkanlandschaft. Jetzt, als sie vor der hoch aufragenden Glasfassade der Villa stand, die ihr für die nächsten Monate als Zuflucht dienen sollte, war er eine tastende Hand, die sie willkommen hieß oder vielleicht auch warnte.
Die Sonne, die selbst im späten Nachmittag noch gleißend vom azurblauen Himmel brannte, tauchte die moderne Architektur in ein gleißendes Licht. Reinweiße Wände, klare Linien, riesige Glasflächen, die das Meer und den Horizont in das Innere zu ziehen schienen – es war ein architektonisches Meisterwerk, genau wie es die Fotos im Exposé versprochen hatten. Anna, die selbst Architektin war, hatte die Villa wegen ihrer reduzierten Ästhetik und ihrer abgelegenen Lage im Norden der Insel gewählt. Keine Nachbarn in Sichtweite, nur die raue Küste, das tiefe Blau des Ozeans und in der Ferne, majestätisch und doch bedrohlich, der gigantische Schatten des Teide. Hier, so hoffte sie, würde die permanente Anspannung der letzten zehn Jahre endlich von ihr abfallen.
Zehn Jahre. Ein Jahrzehnt, seit ihre jüngere Schwester Laura spurlos verschwunden war. Kein Abschiedsbrief, keine Zeugen, nur ein leeres Zimmer und ein eisiger Hauch von Ungewissheit, der sich seitdem wie ein Schleier über Annas Leben gelegt hatte. Die Polizei hatte den Fall ad acta gelegt, die Familie war zerbrochen, aber Anna trug die Schuld, wie ein unsichtbares, schweres Gewand, jeden Tag mit sich herum. Sie hatte sich in ihre Arbeit gestürzt, in die Präzision von Plänen und Bauzeichnungen, in die Kontrolle über Materialien und Räume, in der vergeblichen Hoffnung, dort eine Ordnung zu finden, die ihrem eigenen Leben so schmerzlich fehlte. Der Auftrag für das nachhaltige Tourismusresort auf den Kanaren war ihre Chance gewesen, diesem permanenten Druck zu entfliehen. Ein Projekt, das ihre ganze Konzentration fordern würde und sie gleichzeitig physisch so weit wie möglich von den schmerzhaften Erinnerungen in Berlin entfernen sollte.
Mit dem schweren Schlüssel in der Hand öffnete sie die massive Holztür. Ein kühler, leicht modriger Geruch empfing sie, der typische Geruch eines lange unbewohnten Hauses in feuchter Meeresluft. Das Innere der Villa war noch beeindruckender als die Außenseite. Ein offener Wohnbereich, der mit raumhohen Fenstern direkt auf eine Terrasse und den Infinity-Pool blickte, der scheinbar nahtlos in den Ozean überging. Der minimalistische Einrichtungsstil, die klaren Linien, die monochromen Farben – es war eine Insel der Stille, eine leere Leinwand, auf die Anna ihr neues Leben malen wollte.
Sie stellte ihre Koffer ab und ließ ihren Blick schweifen. Alles war perfekt. Zu perfekt vielleicht. Eine leichte Leere schien in den großen Räumen zu schweben, ein Echo der Einsamkeit, die sie zu bekämpfen versuchte. Sie ging auf die Terrasse, der Wind umspielte sie stärker, fast aufdringlich. Das Rauschen der Wellen war ein konstantes, hypnotisches Geräusch. Anna atmete tief ein, versuchte die salzige Luft und die Ruhe aufzunehmen. "Hier wird alles anders", flüsterte sie leise zu sich selbst, mehr ein Wunsch als eine Gewissheit.
Die ersten Tage auf Teneriffa waren eine Mischung aus produktiver Arbeit und zaghafter Erkundung. Sie richtete ihr provisorisches Büro am großen Esstisch ein, der einen atemberaubenden Blick auf das Meer bot. Die ersten Skizzen für das Resort entstanden, fließend und organisch, inspiriert von der vulkanischen Landschaft. Nach der Arbeit unternahm sie kleine Spaziergänge entlang der zerklüfteten Küste, sammelte vulkanische Steine, deren raue Oberfläche eine seltsame Beruhigung ausstrahlte. Die wilde Schönheit der Insel war faszinierend: Das tiefblaue Meer, die schwarzen Strände, die surrealen Felsformationen und überall der Duft von Pinien und der salzigen Gischt. Es war ein Ort, der gleichermaßen beruhigend und ehrfurchtgebietend war.
Doch mit der hereinbrechenden Nacht schlichen sich die ersten Zweifel ein. In der absoluten Stille der Villa, die nur vom konstanten Rauschen des Meeres unterbrochen wurde, schien jeder kleine Laut verstärkt. Das Knarren des Holzes, ein leises Klopfen, das sie dem Wind zuschrieb, der an den Fenstern spielte. Sie begann, sich dabei zu ertappen, wie sie in die Dunkelheit lauschte, ihren Atem anhielt, um sicherzugehen, dass sie nicht getäuscht wurde. War es die Nachwirkung der Anspannung, die sie aus Berlin mitgebracht hatte? Die Müdigkeit nach der Reise und dem Versuch, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen?
Eines Abends, als sie gerade eine Präsentation vorbereitete, hörte sie deutlich ein Geräusch aus dem ungenutzten Obergeschoss – ein leises Schaben, als würde etwas über den Holzboden gezogen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie hielt inne, lauschte angespannt. Nichts. Nur das Meer. Sie versuchte sich einzureden, dass es der Wind war, der etwas verschoben hatte, ein lose sitzendes Fenster. Doch eine Kälte breitete sich in ihr aus, die nichts mit der kühlen Nachtluft zu tun hatte. Sie schloss ihren Laptop und ging ins Bett, ließ die Rollläden herunter und zog die Vorhänge zu, als könnte sie die Dunkelheit und die unsichtbaren Laute damit aussperren.
Der Schlaf kam nicht leicht. Die Geräusche schienen sich in ihrem Kopf zu verstärken, mischten sich mit den Fragmenten ihrer Alpträume, die sie seit Lauras Verschwinden verfolgten. Bilder von einem leeren Strand, einer verschwundenen Spur im Sand. Doch diesmal schien es, als würde der Sand Teneriffas sein – schwarz und vulkanisch. Sie wachte mit einem trockenen Mund und dem Gefühl auf, nicht allein gewesen zu sein, selbst wenn die Villa noch so leer schien. Das Versprechen der Stille, das sie auf dieser Insel gesucht hatte, schien plötzlich brüchig. Und der Wind, der durch die Palmen raschelte, klang plötzlich nicht mehr wie ein Willkommen, sondern wie ein leises, insistierendes Flüstern.
Kapitel 2: Schatten im Paradies
Die Morgensonne drang ungehindert durch die hohen Glasfronten, warf lange, scharfe Schatten über den polierten Betonboden der Villa. Sie sollte wärmen, sollte Annas Schlaf vertreiben und den Schrecken der Nacht auflösen, doch heute Morgen gelang ihr das nicht. Eine bleierne Müdigkeit lag auf ihr, ein direktes Resultat der unruhigen Stunden, in denen sie jeden kleinsten Laut registriert, jedes Knarren des Holzes überinterpretiert hatte. Sie rieb sich die Augen, stand auf und ging zum Fenster. Das Meer lag ruhig da, ein tiefes, unschuldiges Blau. Nichts deutete auf die unheimlichen Vorgänge der Nacht hin.
Anna zwang sich, den Gedanken beiseite zu schieben. Es musste die Erschöpfung sein, die Nachwirkungen des Stresses aus Berlin. Die ungewohnte Umgebung, die Stille – sie war es einfach nicht mehr gewohnt, so isoliert zu sein. Sie brauchte Ablenkung, Struktur. Ihr Architekturprojekt wartete.
Doch die Ablenkung war von kurzer Dauer. Als sie ihren Laptop aufklappte, versuchte sie, sich mit dem WLAN zu verbinden. Keine Chance. Das Symbol blieb grau, der Router zeigte kein Lebenszeichen. Sie überprüfte die Kabel, steckte neu ein, versuchte es immer wieder, aber nichts half. Frustration stieg in ihr auf. Ohne Internet war sie von der Außenwelt abgeschnitten, konnte keine Referenzen herunterladen, keine E-Mails verschicken. Ein seltsames Gefühl der Isolation überkam sie, das weit über die reine Arbeitsbehinderung hinausging. Es war, als würde eine unsichtbare Hand sie von der Welt abkapseln.
Auch ihr Handyempfang war eine Katastrophe. Manchmal hatte sie einen Balken, dann wieder nichts. Nachrichten verschwanden im Äther, Anrufe brachen ab. Sie versuchte, Freunde und Familie in Deutschland zu erreichen, ihnen zu versichern, dass alles in Ordnung war, doch die Verbindungen waren so schlecht, dass die Gespräche stockten und sie sich schließlich aufgab. Die Insel schien sie festzuhalten, sie einzulullen in ihre eigene, einsame Welt.
Während des Tages, wenn das gleißende Licht des Tages alles auszuleuchten schien, waren die beunruhigenden Gedanken leichter zu verdrängen. Sie arbeitete verbissen an ihren Entwürfen, verlor sich in Skizzen und technischen Details. Doch immer wieder schlich sich dieses merkwürdige Gefühl ein, dass etwas nicht stimmte.