Heidegeflüster – Tee, Tilda & Tote
Ein Lüneburger-Heide-Krimi: Band 1
Mirko Kukuk
Impressum © 2025 Mirko Kukuk
Mirko KukukKleinfeld 10221149 HamburgUmschlaggestaltung: © Copyright by Mirko
[email protected] Rechte vorbehaltenHerstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
[email protected] Unterstützung bei Text/Bild: GeminiDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Inhalt
Titelseite
Impressum
Vorwort
Prolog
Kapitel 1: Die Ruhe nach dem Sturm
Kapitel 2: Ein griesgrämiger Gast und ein Konflikt
Kapitel 3: Das Finden der Leiche
Kapitel 4: Der neue, überforderte Kommissar
Kapitel 5: Der Tee der Wahrheit
Kapitel 6: Die Witwe und das Erbe
Kapitel 7: Der erste Kreis der Verdächtigen
Kapitel 8: Die Wirtshaus-Rivalität
Kapitel 9: Der Schweigsame Bürgermeister
Kapitel 10: Finns Geheimnis und ein romantischer Red Herring
Kapitel 11: Die mysteriöse Nichte
Kapitel 12: Die erste Drohung
Kapitel 13: Der historische Fluch
Kapitel 14: Das lückenhafte Alibi
Kapitel 15: Die dunkle Seite der Naturliebe
Kapitel 16: Die verschwundene Erbin
Kapitel 17: Tildas Flashback
Kapitel 18: Die Entdeckung der zweiten Zutat
Kapitel 19: Die Verbindung zum Rathaus
Kapitel 20: Der Verrat des Freundes
Kapitel 21: Die Konfrontation am Landgestüt
Kapitel 22: Die Wahrheit über das Dorfgeflüster
Kapitel 23: Ein Geständnis und ein Abschied
Kapitel 24: Der Tee der Versöhnung
Kapitel 25: Heidewinkel atmet auf
Nachwort: Eine Tasse Gemütlichkeit zum Abschied
Anhang: Tildas Teerezepte für zu Hause
1. Tee der Versöhnung (Die sanfte Seele)
2. Tee der Notwendigkeit (Der klare Fokus)
3. Das Personaltableau von Heidewinkel
Weitere E-Books & Taschenbücher:
Entdecke die Vielfalt von Kick & Quest!
Vorwort
Die Lüneburger Heide ist ein Ort der Stille. Sanfte Hügel, violette Blütenmeere, und die Heidschnucken, die beharrlich grasen – alles atmet eine tiefe, fast meditative Ruhe. Wer hierherkommt, sucht Frieden. Das tat auch Tilda. Sie tauschte die grellen Lichter der Großstadtpolizei gegen den sanften Schein ihrer Teestube in Heidewinkel, überzeugt davon, dass die einzige Aufregung in ihrem neuen Leben das richtige Ziehen des Darjeeling sein würde.
Doch die größte Illusion der Heide ist ihre Unschuld. Unter dem dicken Filz alter Traditionen und dem süßlichen Duft von frisch gebrühtem Kräutertee verbergen sich Geschichten, die älter sind als die älteste Eiche im Pietzmoor.
Dies ist die Geschichte von einem griesgrämigen Dorfchronisten namens Klausi, der zu viel wusste, von einer Teetasse, die mehr enthielt als nur Genuss, und von einem Dorf, das beschloss, seine Geheimnisse mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.
Steigen Sie ein, nehmen Sie Platz am Fenster des 'Heideflüsterers', und lassen Sie sich von Tilda einen starken, beruhigenden Earl Grey servieren. Denn in Heidewinkel beginnt die Jagd nach der Wahrheit nicht mit einem Schuss, sondern mit einem leisen, verräterischen Flüstern. Und glauben Sie mir: Es wird nicht Ihr letzter Tee sein.
Prolog
Das sanfte Abendlicht des späten Sommers glitt über die violett verblühenden Felder von Heidewinkel, malte lange Schatten der Kiefern und tauchte das kleine Bauernhaus in einen Schein, der Geborgenheit versprach. Im Inneren knisterte kein Feuer, aber die Luft war warm und dick vom Duft getrockneter Kamille und dem schweren, süßlichen Aroma des Ostfriesentee.
Die Hand, die die Porzellantasse hielt, war ruhig. Sie gehörte jemandem, der Präzision und Routine schätzte. Vorsichtig wurde die Kanne geneigt. Der dampfende, dunkle Aufguss floss in die Tasse, die bereits das kleine, entscheidende Detail enthielt – einen Löffel einer kristallinen Substanz, die Klausi Möller stets als „Geschmacksverstärker des Teufels“ abgetan hatte, sie aber, wie der Gastgeber wusste, in seinem eigenen Schrank hütete. Der Tee würde die Substanz auflösen, sie aktivieren und das vollenden, was schon vor Jahrzehnten hätte geschehen müssen.
Ein leichtes Klopfen, gefolgt von einem ungeduldigen Scharren, unterbrach die Stille.
„Nun komm schon rein, Klausi“, sagte die Stimme, die Wärme und Geduld ausstrahlte, aber in diesem Moment nichts davon fühlte. „Der Tee wartet nicht.“
Klausi Möller, eine stämmige Erscheinung mit einem stets leicht sauren Gesichtsausdruck, polterte herein und warf seine Mütze achtlos auf einen Stuhl. Er war aufgekratzt, fast fiebrig. In seinen Händen hielt er ein schmales, vergilbtes Notizbuch.
„Ich sage dir, diesmal habe ich sie“, schnaufte Klausi, während er den Duft des Tees gierig einsog. „Dieses kleine Kaff, diese ganze verlogene Heile-Welt-Fassade. Das, was 1957 wirklich in der Schmiede passiert ist, war kein Unfall. Es war… nun, das wirst du bald genug erfahren. Ich habe die Namen.“
Die Gastgeberin nickte, ihr Blick ruhte auf den rotbraunen Rändern der Tasse. „Du bist immer so eifrig, Klausi. Setz dich und entspann dich. Du siehst aus, als hättest du schon wieder drei Kilometer durchs Moor gehetzt.“
Klausi ließ sich schwerfällig auf den besten Sessel fallen. „Habe ich auch. Ich musste das Original sehen, bevor Schulze es vernichtet. Dieses Dokument aus dem Archiv… es beweist, dass es eine Vertuschung gab, und es führt direkt zu…“ Er brach ab, grinste selbstgefällig und tätschelte das Notizbuch. „Lass uns einfach sagen, dass sich morgen früh einige Herren im Rathaus wünschen werden, sie hätten nie laufen gelernt.“
Die Teetasse wurde vor ihm platziert, ein kleines Kunstwerk aus Dampf und Duft. „Trink. Du brauchst die Nerven dafür.“
Klausi nahm die Tasse und hielt sie prüfend gegen das Licht. „Schön stark, wie ich es mag. Keine von Tildas Blumenmischungen, hoffe ich.“ Er nahm einen großen, befriedigten Schluck, schloss kurz die Augen, um den Geschmack zu genießen.
„Nein“, antwortete die Stimme, leise und fast liebevoll. „Nur dein Lieblingstee. Die Mischung ist perfekt.“
Klausi nickte bestätigend und setzte die Tasse ab. Er wollte weitersprechen, den triumphierenden Abschluss seiner jahrelangen Recherche verkünden, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Sein zufriedenes Grinsen fror ein. Die Farbe wich jäh aus seinem Gesicht, wich einer gräulichen Tönung, die der Teppich im Flur hatte. Er griff mit beiden Händen an die Brust, seine Augen weiteten sich, suchten panisch den Blick des Gegenübers.
Die Gastgeberin stand auf, bewegte sich langsam. Kein Anflug von Hast, keine Reue in den Augen. Nur eine tiefe, erschöpfte Erleichterung.
„Es war nicht dein Geheimnis, Klausi“, flüsterte die Stimme. „Es war unseres. Und du hast es wieder aufgewühlt.“
Klausi Möller sank tiefer in den Sessel. Die leere Teetasse kippte, rollte auf den Boden und zerbrach nicht.
Die Stille des Heidewinkels legte sich wieder über das Haus. Nun aber war sie nicht mehr nur beruhigend. Sie war endgültig.
Kapitel 1: Die Ruhe nach dem Sturm
Tildas innere Uhr war eine präzise Maschine, die auch nach Jahren der Entschleunigung in Heidewinkel keinen einzigen Schlag verpasste. Um exakt sechs Uhr dreißig, noch bevor der erste goldene Streifen Sonnenlicht die Spitzen der Kiefern am Waldrand streifte, stand sie auf. Die Morgenroutine war heilig, ein ungeschriebenes Gesetz, das sie sich selbst auferlegt hatte, um die Dämonen ihrer Vergangenheit – die scharfen, kalten Schatten der Kriminalpsychologie in der Großstadt – in Schach zu halten.
Zuerst das Ritual in der Küche: Die Kanne, natürlich aus reinem Bone China, wurde mit kochendem Wasser vorgewärmt. Dann die Auswahl des Tees. Heute war es ein kräftiger, erdiger Pu-Erh aus der Yunnan-Provinz, der Tildas Konzentration schärfte, ohne sie aufzuwühlen. Sie maß die Blätter grammgenau ab. In Tildas Universum gab es keine Zufälle, und schon gar nicht bei der Teezubereitung.
Um sieben Uhr betrat sie den Laden. „Der Heideflüsterer“ – ein Name, den Elke, die Bäckereibesitzerin, für „kitschig, aber gut für Touristen“ hielt – war Tildas Refugium. Es war ein altes Bauernhaus, dessen dicke Mauern die Hektik der Welt draußen ließen. Die Luft im Inneren war eine perfekte Komposition aus den Düften von zwanzig verschiedenen Kräutertees, getrockneter Kamille und dem tiefen, leicht rauchigen Geruch des Holzes, das in den Regalen zu Tausenden von kleinen, bunten Päckchen verarbeitet wurde.
Tilda schaltete das warme, gedämpfte Licht an, das die antiken Holzbalken der Decke hervorhob. Sie ordnete die winzigen Etiketten auf den Gläsern, obwohl sie wusste, dass sie perfekt ausgerichtet waren. Sie genoss die Stille, die nur vom leisen Zischen des Wasserkochers und dem fernen, beruhigenden Läuten der Heidschnuckenglocken unterbrochen wurde. Hier, inmitten der Ruhe und des Dufts, fand sie ihren Anker.
Ihr Blick glitt durch das Fenster. Die Lüneburger Heide entrollte sich draußen in einem schier endlosen Meer aus tiefem Violett und Smaragdgrün, das im Spätsommer seinen Höhepunkt erreichte. Die Morgenfeuchte hing noch als zarter Schleier über den Blüten, aber Tilda wusste, dass die Hitze bald zurückkehren würde. Perfektes Wetter für einen Eistee, aber heute brauchte sie die Wärme des Pu-Erh.
Gerade als Tilda den ersten, meditativen Schluck ihres Tees nahm, brach die Ruhe, wie ein zerbrochenes Stück billiges Porzellan.
Elke.
Elke Krings, Tildas beste Freundin und Besitzerin der „Heidekruste“ auf der anderen Straßenseite, betrat Tildas Laden nicht, sie polterte hinein. Elke war das Gegenteil von Tilda: laut, kurvig, immer in Bewegung und mit einer ansteckenden Energie gesegnet, die selbst die Heidschnucken zur Flucht trieb.
„Guten Morgen, mein Schatz! Und damit meine ich nicht den Pu-Erh, der da so elitär dampft!“ Elke stellte einen Korb mit einem tiefen Seufzer auf Tildas Theke. „Sechs Dutzend Heidesand, frisch aus dem Ofen. Und ja, ich habe wieder ein paar mehr für dich eingepackt. Für die Nerven.“
Der Korb verströmte einen himmlischen Duft nach Butter, Vanille und dem zermahlenen Mürbteig der traditionellen Heidesand-Kekse, die Elke wie keine zweite backte. Es war das eine, unverzichtbare „Heide-Element“, das Tildas Teeladen mit der regionalen Küche versöhnte.
„Elke“, sagte Tilda, ihre Stimme war ruhig und leicht amüsiert. „Wenn du mir für die Nerven Kekse schenkst, brauche ich bald einen neuen Kleiderschrank.“
Elke fächerte sich mit einer Handbewegung Luft zu. „Ach, komm. Du hast Nerven aus Drahtseilen und eine Figur, um die dich eine 30-Jährige beneidet. Aber du brauchst sie. Erstens: Dein Tee ist zu bitter. Zweitens: Ich habe Neuigkeiten.“
Tilda goss ihrer Freundin eine Tasse des Pu-Erh ein, wissend, dass Elke ihn für viel zu stark halten würde. „Dann fangen wir mit dem weniger bitteren Thema an. Hast du den Bürgermeister Schulze endlich dazu gebracht, in deiner Bäckerei zu frühstücken, statt sich diese Industriebrötchen vom Discounter zu holen?“
Elke winkte ab und nahm einen kleinen, verzerrten Schluck des Tees. „Uff. Schmeckt nach Moor und Wahrheit. Nein, Schulze ist ein hoffnungsloser Fall. Es geht um etwas viel Wichtigeres. Es geht um Renate Dithmar.“
Tilda, deren Aufmerksamkeit nun automatisch einen Zacken schärfer wurde, tat so, als würde sie die Teepackungen im Regal inspizieren. „Renate? Die, die neuerdings immer in lila Sportkleidung durchs Dorf joggt? Was hat sie angestellt? Hat sie das Ortsschild umgerannt?“
„Schlimmer“, flüsterte Elke, lehnte sich über die Theke und ihr breites, gutmütiges Gesicht nahm einen Ausdruck größter Konspiration an. „Die ist jetzt mit Günther Felski zusammen!“
Tilda starrte Elke mit einem Ausdruck an, der irgendwo zwischen Langeweile und stiller Bewunderung für Elkes Dramatik lag. „Günther Felski? Der Günther, der seit dreißig Jahren mit seiner Brigitte verheiratet ist und in seinem Garten kleine Keramikzwerge sammelt?“
„Genau der! Und hier kommt der Klatsch“, Elke senkte ihre Stimme zu einem kaum hörbaren, aber übertrieben aufgeregten Hauchen. „Gestern Abend habe ich Renates Opel vor seiner Garage gesehen. Eine Stunde lang. Und Brigitte war beim Schützenfest in Soltau! Was glaubst du, was da los war?“
Tilda lächelte innerlich. Das war der harmlose Dorftratsch, den sie so sehr schätzte, weil er so weit entfernt von ihrer früheren Realität lag, in der „Was da los war“ die Analyse von Blutspuren und Motivlagen bedeutete.
„Ich glaube, Elke“, sagte Tilda, nahm einen weiteren, genussvollen Schluck Pu-Erh, „dass Renate Dithmar eine Panne hatte. Ihr Opel ist bekannt dafür. Und Günther hat als guter Nachbar ausgeholfen. Vielleicht hat sie ihm einen neuen Zwerg geschenkt.“
Elkes Augen verengten sich. „Tilda. Du warst eine Profilerin. Du bist der schärfste Verstand zwischen Hamburg und Hannover! Du analysierst jedes Teeblatt, weißt, in welchem Jahr die Pflanze geerntet wurde, aber einen Opel vor einer Garage um 22 Uhr kannst du nicht deuten?“
„Doch, kann ich“, erwiderte Tilda ruhig. „Aber das würde voraussetzen, dass ich mein Gehirn mit Unfug belaste, Elke. Und ich habe mir geschworen, mein Gehirn nur noch für die Optimierung des Ziehprozesses von Oolong-Tees zu verwenden. Versuche es bei Hinnerk. Der freut sich über echte Ermittlungsarbeit.“
Hinnerk, der junge, unerfahrene Ortspolizist, war tatsächlich immer offen für jeden Hinweis, sei er noch so lächerlich.
Elke seufzte, aber das Funkeln in ihren Augen war schon fast wieder verschwunden. Sie kannte Tildas Spiel. „Na schön. Du und deine Mauer des Wohlwollens. Aber ich sage dir, die Dithmar macht Ärger. Und jetzt zum zweiten, viel wichtigeren Grund, warum ich so früh hier bin.“
Tilda lehnte sich an die Theke. „Ich bin ganz Ohr.“
Elke nahm ihre Stimme wieder in normale Lautstärke auf, ihre Hände begannen zu gestikulieren. „Es geht um Klausi Möller.“
Tildas Entspannung löste sich in diesem Moment minimal auf, wie eine unaufmerksame Hand, die eine Teetasse fallen lässt. Klausi Möller, der Dorfchronist, war kein harmloser Tratsch. Er war eine tickende Zeitbombe aus Neid und historischen Dokumenten. Er war der Mann, der die Ruhe in Tildas neuem Leben am meisten bedrohte.
„Ich habe ihn gestern Abend am Gasthof gesehen“, fuhr Elke fort, ohne Tildas subtile Anspannung zu bemerken. „Er hat Frau Krummbiegel vor versammelter Mannschaft fertiggemacht. Nicht wegen des Essens, sondern wegen ihrer Baugenehmigung von 1998. Er hat irgendetwas von ‚Schiebereien‘ und ‚unerlaubter Heidebebauung‘ gemurmelt. Er war wie ein aufgescheuchter Maikäfer, völlig außer sich.“
Tilda atmete langsam aus. „Er war also in seinem Element. Was ist daran neu?“
„Das Neue ist: Er drohte, dass sein ‚großes Dokument‘ morgen früh an die Öffentlichkeit geht. Er sagte, er hätte Beweise, die das halbe Dorf in den Ruin treiben könnten. Er hat alle im Gasthof angeschrien. Und dann, als er ging…“ Elke zögerte, was Tilda selten bei ihr erlebte. „Er hat dir einen Blick zugeworfen. Ein ganz fieses Grinsen. Er hat etwas gemurmelt wie: ‚Mal sehen, wer dann noch Tee trinkt.‘“
Tildas Augen verengten sich minimal, ihre professionelle Seite kehrte zurück. Ein direkter Angriff. Klausi spielte nicht nur mit Bauerntratsch, er zielte auf Tilda persönlich. Das musste mit der geplanten Erweiterung ihres Ladens zusammenhängen, die sie beim Rathaus eingereicht hatte. Klausi hatte behauptet, der historische Eintrag des Gebäudes verbiete jede bauliche Veränderung.
„Er ist ein griesgrämiger Klatsch-Riese mit einem Minderwertigkeitskomplex“, fasste Tilda zusammen. „Er braucht Aufmerksamkeit, Elke. Mehr nicht. Und mein Tee wird immer getrunken, egal, was er für Zettelchen schwingt.“
„Mag sein“, sagte Elke, während sie den leeren Korb packte. „Aber pass auf. Er ist eine Schlange im Heidekraut. Und morgen ist die große Gemeinderatssitzung. Entweder er blamiert sich bis auf die Knochen, oder er reißt dich mit in den Sumpf.“
Elke verabschiedete sich mit einem schnellen Drücken. „Bis später, Tilda. Und sei vorsichtig. Und trink deinen Tee. Er ist bitter, aber er hält dich wach.“
Nachdem die Tür hinter Elke ins Schloss gefallen war und die Ruhe wiederhergestellt war, nahm Tilda die leere Teetasse in die Hand. Sie spürte noch immer das Echo von Elkes Aufregung und die unbestreitbare Drohung von Klausi.
Tilda wusste, dass Klausi nicht nur ein Klatschmaul war. Er war ein Sammler von Wahrheit. Und die Wahrheit, das wusste Tilda aus ihrer Zeit bei der Polizei, hatte die unangenehme Angewohnheit, die schönsten Fassaden einzureißen. Sie blickte auf das violette Meer der Heide. Der Sturm hatte sich jahrelang im Süden von ihr ferngehalten. Nun roch es, ganz leise, nach Regen. Und nach Gefahr.
Kapitel 2: Ein griesgrämiger Gast und ein Konflikt
Der Vormittag hatte sich in Tildas Teestube wie ein sanft ziehender Aufguss entfaltet. Die Sonne stand hoch über den Kiefern und goss goldenes Licht durch die Sprossenfenster, wo es auf den polierten Holztischen tanzte. Der Laden war nur spärlich gefüllt, was Tilda liebte. Am Fenstertisch saßen die Zwillinge Heike und Gitte, zwei notorische, aber liebenswerte Klatschtanten, die ihren wöchentlichen „Lavendel-Lapsang“-Termin hatten und eifrig über die angebliche Panne von Renate Dithmar diskutierten. Neben ihnen las der ehemalige Förster Hans Lücken ruhig eine Zeitung, nur unterbrochen vom gelegentlichen, zufriedenen Schnauben über Tildas frisch aufgebrühten, starken Ceylon-Tee.
Tilda selbst stand hinter der Theke und verpackte sorgfältig eine neue Kreation: eine Mischung aus grünem Sencha mit getrockneten Cranberrys und einem Hauch von Ingwer – ihr Versuch, traditionelle Teekultur mit einem modernen, belebenden Twist zu versehen. Das sanfte Knistern des Pergamentpapiers und das Klirren der Teedosen waren die perfekte Geräuschkulisse für ihren Frieden.
Doch Klausi Möller hatte eine geradezu unheimliche Fähigkeit, jeden friedlichen Moment in ein ohrenbetäubendes Chaos zu verwandeln.
Die Tür flog nicht auf, sie wurde aufgerissen, als hätte sie Klausi persönlich beleidigt. Die Glocke über dem Eingang, die Tilda so sorgfältig geölt hatte, dass sie normalerweise nur leise klimperte, schepperte wie ein Alarm.
Klausi Möller, eine massige Erscheinung in grobem Tweed, polterte herein. Er trug seinen unvermeidlichen Groll wie eine unpassende Winterjacke im Spätsommer. Sein Gesicht war gerötet, und seine Augen fixierten Tilda mit der unbewegten, aggressiven Starrheit eines Heidschnuckenbocks kurz vor der Brunft.
„Tilda!“, donnerte er, seine Stimme war viel zu laut für den kleinen Raum. „Ich muss Sie sprechen! Und nein, ich brauche keinen Ihrer aromatisierten Blumensträuße.“
Die Zwillinge Heike und Gitte erstarrten in ihrer Lavendelwolke, ihre Köpfe drehten sich synchron zu Tilda. Hans Lücken ließ seine Zeitung leicht sinken, blickte kurz über den Rand, bevor er sich sofort wieder hinter den Seiten versteckte, um bloß nicht in Klausis Schusslinie zu geraten. Die kleine Gemeinschaft bereitete sich innerlich auf den Sturm vor.
Tilda blickte nicht einmal von ihrem Sencha ab. Sie beendete das Falten des Pergamentbeutels mit perfekter Präzision, befestigte das kleine, handgeschriebene Etikett und hob dann erst den Kopf.
„Guten Tag, Klausi“, sagte Tilda mit einer Wärme, die Klausi nur noch wütender machte. „Schön, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben. Ich schlage vor, Sie nehmen einen Platz und beruhigen sich mit einer Tasse Schwarztee. Assam, kräftig, ohne Aromazusätze. Oder haben Sie es heute lieber mit einem Kamillensud?“
„Ich brauche keine Ihrer Beruhigungsmittel!“, wetterte Klausi und marschierte zur Theke, seine schweren Schuhe trampelten auf den alten Dielen. „Ich brauche eine Erklärung! Was fällt Ihnen ein, Ihre geplanten ‚Wellness-Ecken‘ im Anbau zu bewerben, wenn Sie genau wissen, dass dieses Gebäude im historischen Kataster als reines Bauernhaus geführt wird?“
Tilda stützte die Hände auf die Theke, ihr Ausdruck war jetzt neutral, fast akademisch – derselbe Blick, den sie früher ihren schwierigsten Befragten widmete. „Ich weiß, dass Sie sich für Geschichte interessieren, Klausi. Aber das Kataster stammt von 1922. Seitdem gab es drei Eigentümerwechsel und eine Neueinstufung durch die Gemeinde. Ich habe alle Genehmigungen, um mein Geschäft auszuweiten, solange die Fassade unberührt bleibt.“
„Genehmigungen! Papperlapapp!“, Klausi wedelte mit einer knittrigen Hand vor Tildas Nase herum. „Die Gemeinde knickt nur ein, weil Sie diese... diese modernen Touristenmischungen verkaufen! Sie verfälschen den Geist von Heidewinkel mit Ihrem Darjeeling und Ihren Jasminblüten! Wir trinken hier Ostfriesentee, stark wie die See und schwarz wie die Nacht! Keine Blümchen! Und dieses Haus ist historisch!“