Ostsee-Krimi: Der Tote vom Timmendorfer Strand
Küstenkrimi - Ostsee Spannung
Mirko Kukuk
Inhalt
Titelseite
Prolog
Kapitel 1: Der Fund
Kapitel 2: Erste Zweifel
Kapitel 3: Die Exzentriker
Kapitel 4: Schatten der Vergangenheit
Kapitel 5: Alibis und Ungereimtheiten
Kapitel 6: Die gestohlene Requisite
Kapitel 7: Finanzieller Druck
Kapitel 8: Ein Tagebuch im Versteck
Kapitel 9: Die Rache des Verlassenen
Kapitel 10: Die dunkle Seite der Kunst
Kapitel 11: Eine toxische Beziehung
Kapitel 12: Der verborgene Zeuge
Kapitel 13: Die Enthüllung des Verrats
Kapitel 14: Die Verstrickung des Erben
Kapitel 15: Die Wahrheit ans Licht
Epilog
Nachwort:
Weitere E-Books/Taschenbücher
Impressum:
Prolog
Die Gischt peitschte an diesem Oktobermorgen gegen das Ufer, kühl und unbarmherzig. Eine dichte Nebelbank kroch vom Meer her ins Land, verschluckte die bunten Lichter des noch schlafenden Timmendorfer Strands und ließ die Silhouetten der aufgebauten Festivalbühnen wie Geisterschiffe wirken. Im Herzen dieser gespenstischen Kulisse, wo nur wenige Stunden zuvor noch ausgelassene Musik und Lachen erklungen waren, lag es: ein flaches, rechteckiges Becken, gefüllt mit eisigem Salzwasser, das die letzten Reste der Nacht schluckte. Und in diesem Becken, reglos, eine Figur. Bekleidet in einem schillernden Kostüm, die Arme theatralisch ausgebreitet, als würde sie noch immer auf den Applaus warten. Doch dies war kein Akt, keine Performance mehr. Die Augen starrten ins Nichts, und eine feine, rote Linie zog sich von seinem Kopf über die bleiche Stirn. Die Stille, die ihn umgab, war schwerer als die Nebelwand, eine Stille, die nur vom Rauschen des Meeres unterbrochen wurde. Es war die Stille des Todes.
Kapitel 1: Der Fund
Das Timmendorfer Strandfestival, ein jährliches Kaleidoskop aus Klängen, Farben und unbändiger Lebensfreude, sollte in diesen Stunden seinen krönenden Abschluss finden. Doch die aufbrandende Morgensonne, die zaghaft über dem Horizont emporstieg und die ersten goldenen Funken auf die noch schlafende Ostsee warf, enthüllte anstelle ausgelassener Vorfreude eine Szene von makabrer Stille. Es war nicht die festliche Atmosphäre, die einem sofort ins Auge sprang, sondern die unheimliche Starre, die sich über einen abgelegenen Abschnitt des Strandes gelegt hatte, unweit der Hauptbühne, die noch die Spuren der vergangenen Nacht trug.
Ein Bühnenarbeiter, ein junger Mann namens Marko, dessen Gesicht noch die Müdigkeit der langen Abbauarbeiten spiegelte, war der Erste, der die Stille durchbrach. Er hatte sich vorgenommen, die letzten Überbleibsel des Kunstprojekts „Echo des Egos“ zu sichern, das am Vorabend seine triumphale Premiere gefeiert hatte. Das Herzstück der Installation war ein flaches, rechteckiges Wasserbecken gewesen, das eigens für die Performance am Strand errichtet worden war. Es maß etwa vier Meter mal drei Meter und war nur knietief, gerade genug, um die Illusion eines ertrinkenden Menschen zu erzeugen, ohne jedoch eine tatsächliche Gefahr darzustellen. Das hatte Julian Voss, der exzentrische Regisseur und Star des Stücks, stets betont. Doch als Marko sich dem Becken näherte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Die Sonne hatte das letzte Aufblitzen des Scheins, der über dem Wasser schwebte, enthüllt, und im nächsten Moment erstarrte Marko.
Dort, im Becken, reglos und unnatürlich arrangiert, trieb eine Gestalt. Es war Julian Voss selbst, bekleidet mit dem schillernden, mit Pailletten und Federn besetzten Kostüm, das er in der finalen Szene getragen hatte. Seine Arme waren theatralisch ausgebreitet, als würde er immer noch auf den tosenden Applaus warten, der nie kommen würde. Das Kostüm, das gestern Abend noch unter den Scheinwerfern funkelte, war nun durchnässt, die Pailletten matt und die Federn verklebt. Das Gesicht von Voss, sonst so ausdrucksstark und lebendig, war bleich und starr. Seine Augen starrten ins Nichts, ein leerer Blick, der Marko bis ins Mark erschütterte. Eine feine, rötliche Linie, fast unsichtbar im trüben Wasser, zog sich von seinem Kopf über die bleiche Stirn. Marko sank auf die Knie, das morgendliche Licht spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Augen. Der Geruch von Salzwasser mischte sich mit einem schwachen, metallischen Geruch – Blut.
Ein Schrei, heiser und erschrocken, durchdrang die noch dämmernde Ruhe des Strandes. Marko stürmte, so schnell ihn seine zitternden Beine trugen, zu den wenigen anderen Mitarbeitern, die bereits mit dem Abbau begannen. Wenige Minuten später hallten Sirenen durch die Morgenstille, und Blaulicht schnitt durch den letzten Schleier des Nebels.
Ermittlerin Lara Nowak war die Erste der Kriminalpolizei, die am Tatort eintraf. Ihre Dienstzeit in Timmendorf war noch jung, die Routine der kleinen Küstenstadt noch nicht ganz in ihr Fleisch übergegangen. Sie war vor knapp einem Jahr aus Hamburg versetzt worden, eine junge, ehrgeizige Beamtin mit einem scharfen Verstand und dem unbedingten Willen, sich in einem neuen Umfeld zu beweisen. Der Großstadtdschungel hatte sie geformt, ihre Sinne geschärft für die Nuancen der menschlichen Psyche und die oft verborgenen Abgründe, die sich hinter scheinbar harmlosen Fassaden verbargen. Sie hatte sich auf diesen Fall gefreut, einen Routinefall nach einem bunten Festival. Nun stand sie vor einer Tragödie, die sie mit voller Wucht traf.
Ihr erster Blick galt nicht nur der reglosen Gestalt im Becken, sondern der gesamten Szenerie. Es war eine Inszenierung, daran gab es keinen Zweifel. Voss lag nicht einfach nur im Wasser. Er war arrangiert, seine Pose war eine Spiegelung seiner letzten Bühnenperformance, eine groteske Karikatur seiner eigenen Kunst. Die kalte Präzision, mit der das Opfer platziert worden war, ließ Laras Magengrube sich zusammenziehen. Das hier war kein Unfall.
An ihrer Seite stand Kriminalmeister Fischer, ein Urgestein der Timmendorfer Polizei. Fischer war ein Mann, dessen Pragmatismus oft an Zynismus grenzte, aber dessen Erfahrung unbestreitbar war. Seine grauen Haare und die tiefen Falten um seine Augen erzählten Geschichten von unzähligen Fällen, die er über die Jahre gelöst hatte. Er schielte über den Rand seiner randlosen Brille hinweg auf die Szene. „Ein Unfall, so sieht das nicht aus, Nowak“, murmelte er, seine Stimme rau vom Schlaf und vom Nikotin. „Wer ertrinkt schon in so einem Planschbecken?“
Lara nickte schweigend. Das Becken war maximal knietief, selbst für einen großen Mann wie Voss. Es war unmöglich, hier versehentlich zu ertrinken, es sei denn, man war bewusstlos. Und selbst dann... Die kleine Verletzung am Kopf, die unter dem nassen Haar kaum zu sehen war, aber deutlich genug, um eine rote Spur im Wasser zu hinterlassen, war ein weiteres Indiz. Es war kein Sturz. Es war ein Schlag.
„Sichern Sie alles, Fischer. Millimetergenau. Jeder Zentimeter dieses Beckens, jeder Sandkorn drumherum“, befahl Lara, ihre Stimme fest, obwohl ihr Inneres noch immer den Schock des Anblicks verarbeitete. „Und lassen Sie das Wasser erst mal, wo es ist. Wir brauchen eine genaue Analyse.“
Die ersten Schaulustigen und Festivalmitarbeiter, die von Markos Schrei angelockt worden waren, versammelten sich in respektvollem Abstand, ihre Gesichter von Schock und Fassungslosigkeit gezeichnet. Viele von ihnen hatten Julian Voss gekannt, einige bewundert, andere vielleicht gefürchtet. Voss war eine Persönlichkeit gewesen, die selten Gleichgültigkeit hervorrief. Er war ein Genie, ein Visionär, aber auch ein Tyrann, der für seine Kunst alles forderte – von sich selbst und von anderen.
Ein uniformierter Kollege meldete sich bei Lara. „Frau Nowak, die Kriminaltechnik ist unterwegs. Und der Notarzt hat den Tod bestätigt. Todeszeitpunkt wird auf zwischen zwei und vier Uhr morgens geschätzt.“
Lara notierte es in ihrem Notizbuch. Zwei bis vier Uhr morgens. Das war die Zeit, in der das Festival langsam zur Ruhe kam, aber noch nicht komplett ausgestorben war. Genug Menschen unterwegs, um etwas zu sehen, aber auch genug Dunkelheit und Verwirrung, um sich unbemerkt zu bewegen.
Sie trat näher an das Becken heran, vermied es jedoch, die Spuren zu kontaminieren. Das Kostüm von Voss schien mit Absicht so angelegt worden zu sein. Es war eine Inszenierung des Todes, eine makabre Weiterführung seiner Kunst. War es eine Botschaft? Eine letzte Performance, die sein Mörder ihm aufzwingen wollte? Oder war es die groteske Handschrift eines Wahnsinnigen, der sich an Voss' exzentrischer Aura berauschte?
Lara spürte, wie der Fall sie packte. Dies würde kein einfacher Unfall sein. Hier am Timmendorfer Strand, einem Ort, der für seine Idylle und seinen sorglosen Charme bekannt war, hatte sich ein Verbrechen ereignet, das eine tiefere, dunklere Seite der menschlichen Natur offenbarte. Sie musste die Wahrheit hinter dieser makabren Vorstellung finden, die Schatten, die sich hinter den bunten Lichtern des Festivals verbargen. Und sie wusste, dass sie dafür tief in die Welt von Julian Voss eintauchen musste – eine Welt, die genauso exzentrisch und undurchsichtig zu sein schien wie der Mann selbst. Ihre Gedanken rasten, während die ersten Sonnenstrahlen endlich die traurige Wahrheit über den Toten vom Ostseestrand vollends enthüllten. Dieser Fall würde sie fordern, wie kein anderer zuvor.
Kapitel 2: Erste Zweifel
Der Tatort glich einer Bühne nach der letzten Vorstellung, doch die Requisite war blutiger Ernst. Während die Spezialisten der Kriminaltechnik mit akribischer Präzision ihre Arbeit aufnahmen, bewegte sich Lara Nowak durch das Areal, ihre Sinne geschärft für jedes Detail. Der Nebel hatte sich nun fast vollständig verzogen, gab den Blick auf den weiten, grauen Himmel frei, doch die Kälte, die er hinterlassen hatte, schien sich in den Knochen festzusetzen. Kriminalmeister Fischer stand an ihrer Seite, seine Hände tief in den Taschen seiner wetterfesten Jacke vergraben, während er die Szene musterte.
„Ertinken in zwei Handbreit Wasser“, brummte Fischer und schüttelte den Kopf. „So was sieht man auch nicht alle Tage. Es sei denn, der Mann war sturzbetrunken. Oder es war Absicht. Und da tippe ich mal auf Letzteres, Nowak. So wie der da liegt.“
Lara stimmte ihm schweigend zu. Die Art und Weise, wie Julian Voss drapiert worden war – die Arme weit ausgebreitet, das Gesicht dem Himmel zugewandt, die kostümierten Beine leicht angewinkelt – war zu theatralisch, zu perfekt, um zufällig zu sein. Es war eine Geste, eine Aussage. Aber welche? Und von wem?
„Der Notarzt hat die Kopfverletzung als nicht lebensbedrohlich eingestuft, Fischer“, sagte Lara, ihre Stimme leise, fast nachdenklich. „Ein Schlag, der ihn vielleicht betäubt, aber nicht direkt getötet hat. Wenn er ertränkt wurde, dann war der Schlag nur Mittel zum Zweck. Und er muss danach ins Becken gelegt worden sein.“
„Oder ins Becken gestoßen“, erwiderte Fischer. „Dann hätte er sich nicht wehren können.“
Lara schloss die Augen und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Die Dunkelheit der frühen Morgenstunden, das Rauschen des Meeres, das Geräusch der letzten Festivalbesucher, die sich auf den Heimweg machten. Plötzlich ein Schlag, ein Sturz ins eisige Wasser. Dann die bewusste Entscheidung des Täters, Voss unter Wasser zu drücken, bis er keine Luft mehr bekam. Eine grausame, intime Art zu töten.
„Das Becken ist so klein, Fischer“, fuhr Lara fort, ihre Gedanken laut aussprechend. „Der Täter musste ganz nah dran sein. Er musste ihn festhalten. Das ist kein Täter, der aus der Ferne agiert hat. Das ist jemand, der einen persönlichen Bezug zu Voss hatte. Jemand, der ihm nahe war.“
Fischer nickte langsam. „Oder jemand, der Voss so sehr gehasst hat, dass er ihn leiden sehen wollte. Die Art des Todes spricht Bände, Nowak. Das ist kein schneller, unpersönlicher Tod.“
Das Team der Spurensicherung, unter der Leitung der jungen, konzentrierten Kriminaltechnikerin Dr. Lena Mertens, hatte begonnen, den Bereich um das Becken abzusichern. Sie markierten winzige Fußabdrücke im nassen Sand, sammelten Faserspuren und fotografierten jeden Millimeter des Tatortes. Lara beobachtete sie genau. Jedes Detail zählte.
„Wir müssen das Wasser abpumpen und chemisch analysieren lassen“, sagte Lara zu Fischer. „Und wir brauchen eine Autopsie, die jedes Detail der Todesursache klärt. War es wirklich Ertrinken? Oder gab es andere Faktoren? Wurden ihm Drogen verabreicht?“
Fischer zückte sein Notizbuch. „Ist schon alles angeleiert, Nowak. Aber die ersten Ergebnisse brauchen ihre Zeit.“ Er sah sich um. „Und wir müssen die Umgebung großflächig absuchen. Nicht, dass der Täter irgendwas weggeworfen hat. Und alle Kameras in der Umgebung abfragen. Festivalgelände, Hotels, Promenaden. Überall da, wo man in der Nacht umherirren konnte.“
Die Nachricht vom Tod Julian Voss' hatte sich wie ein Lauffeuer über das Festivalgelände verbreitet. Eine gespenstische Stille legte sich über die Bereiche, die vor Stunden noch von Musik und Lachen erfüllt waren. Lara sah, wie sich immer mehr Menschen in der Ferne versammelten, Neugier und Entsetzen in ihren Gesichtern. Die Sensationsgier war groß, aber auch die Trauer, wenn man Voss gekannt oder seine Kunst bewundert hatte.
Lara Nowak kannte Voss nur aus den Medien. Ein Genie, das die Theaterwelt spaltete. Ein Visionär, der Grenzen sprengte. Und ein Kontroverser, der polarisierte. Seine Stücke waren oft provokant, manchmal verstörend, aber niemals langweilig. Und genau das machte diesen Fall so komplex. Jeder, der Voss kannte, hatte eine Meinung über ihn. Und einige dieser Meinungen waren sicherlich nicht wohlwollend.
„Ich möchte, dass wir sofort mit den Befragungen der Theatergruppe beginnen“, ordnete Lara an. „Die waren die Letzten, die mit ihm gearbeitet haben. Sie kennen ihn am besten. Und sie sind die Ersten, die uns ein Alibi liefern müssen.“
Fischer nickte. „Die sind alle in den Hotels hier am Strand untergebracht. Ich kümmere mich darum, dass sie zusammengetrieben werden. Wir nehmen sie mit aufs Revier.“