50 Jahre Lehren und Lernen - Wolfgang Großmann - E-Book

50 Jahre Lehren und Lernen E-Book

Wolfgang Grossmann

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Beschreibung

Geschichten von einem, der dabei war: als Jugendlicher am 17. Juni 1953, als Lehrer und später als Parteisekretär im Schulalltag der DDR, als stellvertretender Direktor und Direktor einer Polytechnischen Oberschule, der Wissenschaft, Leitungstätigkeit und Kontakt zu den Schülern verbinden wollte. Als diese Vorstellungen nicht aufgingen, erfolgte ein 1. Schnitt: Lehroffizier an der OHS der LaSK der NVA in Löbau / Zittau. Hier war der Autor Teil des Übergangsprozesses von der NVA zur Bundeswehr. Danach ergab sich ein 2. Schnitt: Hinwendung zur Sozialpädagogik, Kommunikations- und Verhaltenstraining. Als Dozent an Privatschulen entwickelte der Autor ein Trainingsprogramm zur Jobsuche für jedermann. Als Lehrender in den Bereichen Pädagogik und Psychologie legte er den Fokus auf die didaktische Befähigung seiner Kollegen.

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Wolfgang Großmann

Vom Mitglied der Jungen Gemeinde zum Schulparteisekretär und zum Direktor einer Polytechnischen Oberschule – vom Zivilisten zum Lehroffizier an einer Offiziershochschule – aus den Problemen der Wende zum Dozenten an einer Privatschule.

Wolfgang Großmann

50 Jahre Lehren und Lernen

Von der POS

über die Offizierhochschule

zur Privatschule

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

ISBN 9783957444806

Coverfoto © aboikis - Fotolia.com

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. Kindheit und Jugend (1939-1957)

2. Lehre und Studium (1957-1962)

3. 20 Jahre Schuldienst (1962-1982)

4. Lehroffizier an der Offiziershochschule der Landstreitkräfte der NVA / Übergang von der NVA zur Bundeswehr (1982-1991)

5. Dozent an Privatschulen (1991-2013)

6. Veröffentlichungen

7. Staatsexamensarbeiten / Dissertation / Forschungsberichte

Kennen Sie Leipzig? Die Stadt der Synonyme: die Buchstadt mit der Deutschen Bücherei und der Buchmesse; die Musikstadt als Wirkungsstätte von Bach und Mendelssohn-Bartholdy; die Literaturstadt als Stadt der „Neuberin“ (Haus „Großer Blumberg“), des alten Gottsched und des jungen Goethe; die Handelsstadt: zu DDR-Zeiten „Drehscheibe“ zwischen Ost und West und früher und heute stets in Rivalität zur Residenzstadt Dresden; die Stadt der Völkerschlacht 1813; und last not least: die Stadt der Montagsdemonstrationen. 2015 kommt ein neues Synonym dazu: die 1000-Jährige.

Sie merken schon, ich bin stolz darauf, mit Pleißenwasser „getooft“ (getauft) zu sein.

Der Stadtteil, in dem ich geboren wurde, gehört nicht zu den attraktivsten von Leipzig. Wenn Sie sich vom Ausgang des „Schmuckstückes“ Hauptbahnhof nach links wenden, kommen Sie alsbald in den Leipziger Osten, in der Geschichte der „rote Osten“, also das Zentrum der kleinen Leute. Die Eisenbahnstraße, später Ernst-Thälmann-Straße, heute wieder Eisenbahnstraße ist/war eine Magistrale und Ausfallstraße nach Osten. Heute sagt man, die eine Straßenseite gehöre den Russen, die andere den Türken. Die Probleme sind also nicht weniger geworden, sondern größer. Hier lag das „Kolonial-Waren-Geschäft“, in dem mein Opa und meine Oma, mein Vater und meine Mutter arbeiteten. Damit war ich nach DDR-Verständnis ein Abkömmling des „Kleinbürgertums“, sprich der kleinen Händler und Gewerbetreibenden, von denen man in der „Klassengesellschaft“ ebenso wie von der „Intelligenz“ nie so recht wusste, wie man sie einordnen sollte.

1. Kindheit und Jugend (1939-1957)

Meine frühesten Erinnerungen gehen zurück auf die Bombennacht vom 4. Dezember 1943. Die Frauen und Kinder eines großen Eckhauses mit 16 Familien drängten sich an den Wänden des Luftschutzkellers zusammen, einige mit Stahlhelm auf dem Kopf, andere als Ersatz mit einem Kochtopf, der mit Bindfaden unter dem Kinn festgehalten wurde. Plötzlich brach die Wand zum Keller des Nebenhauses ein und eine Druck- und Feuerwelle fegte in unseren Keller. Meine Mutter nahm mich auf den Arm und jagte mit mir die Kellertreppe empor. Als wir uns aus dem Haus herausgekämpft hatten, empfing uns Feuer und Qualm, so dass man kaum atmen konnte. Meine Mutter schaffte es bis zur Hausecke, dann versagten ihre Kräfte. Irgendein Uniformierter kam zur Hilfe, nahm mich ihr ab und brachte uns ein paar Häuser weiter zu Bekannten, deren Haus noch heil war.

Diese Bekannten sind für mich wie 2.Eltern geworden, für mich waren sie „Vater“ und „Mutter“; wohl auch deshalb, weil ich insbesondere meiner Mutter und meinem Opa und meiner Oma sehr viel zu verdanken habe. Das Verhältnis zu meinem Vater war nie gut. Wir haben uns dann später an einen „status quo“ gehalten. Die Konsequenzen aus diesem Malus habe ich viel später in den Beziehungen zu meinem eigenen Sohn gespürt.

Männer bringen ihren Söhnen bei (manchmal auch ihren Töchtern – wenn der Sohn fehlt):

• die Art des Händedrucks

• wie man ein Werkzeug führt, Sachen im Haushalt repariert …

• wie man ein Spielgerät bastelt

• wie man Fußball, Handball, Basketball, Volleyball … spielt (Gemeinschaftssportarten!)

• worauf man achtet, wenn man einem weibliches Wesen gegenübertritt (als Kind: Umgang mit Mädchen; als Jugendlicher: Umgang mit Frauen)

• wie man mit Anstrengung und Konzentration (Wille!) etwas erreicht: im körperlichen ebenso wie im psychischen Bereich („starker Mann“ im Sinne von körperlich und/oder psychisch stark)

• worauf man „stolz“ ist (vgl. „Vaterstolz“ im Gegensatz zu „Mutterliebe“)

• wie man sich einordnet, auch unterordnet („Zucht“, Gehorsam, Disziplin)

Summa:

Männer bringen ihren Söhnen bei, wie man sich in der „Männerwelt“ verhält.

Diese „Männerwelt“ ist eine „Statuswelt“; hier gelten sehr stark Hierarchie, Macht und Unabhängigkeit.

Doch zurück zu meiner Kindheit: der Laden war nach der Bombennacht zerstört, die Wohnung nicht mehr bewohnbar – ich bekam davon sehr wenig mit, weil ich mit „Mutter“ in das von Kriegswirren ziemlich unberührte Oppach / Oberlausitz zu Verwandten von „Vater“ zog. Erst als der Krieg in die letzte, entscheidende Phase trat, kehrten wir nach Leipzig zurück.

Von den letzten Kriegswoche in Leipzig blieb haften: Mitten auf unserer Kreuzung, von der 6 Straßen strahlenförmig abgingen, hatte man aus taktischen Irrsinn alte Männer und halbe Kinder postiert. Mit einer MG-Stellung sollten sie die Panzer aus Richtung Torgau aufhalten. Schon deren erste MG-Stöße hinterließen nur Verwundete. Eingeprägt hat sich mir das Bild der Rote-Kreuz-Schwester, die mit der Rot-Kreuz-Fahne auf die Kreuzung lief, um die Verwundeten zu versorgen. Die Amerikaner ließen sie gewähren. Dann demonstrierten sie ihre Macht: Am Fenster unseres kleinen Ladens „fetschten“ Leuchtspurgeschosse die Straße entlang; gottseidank ohne Querschläger.

Noch ein Erlebnis aus der kurzen Besatzungszeit der Amerikaner nach dem 18./ 19.April 1945 blieb haften: Wir lebten damals zu fünft in einer kleinen Stube hinter dem Laden. Zum Schlafen mussten wir ein paar Häuser weiter in den Gastraum einer Gaststätte. Eines Abends hatten wir die Sperrstunde überzogen und wurden ziemlich barsch von einer amerikanischen Patrouille angehalten. Es war mein cleverer Opa, der „mit Händen und Füßen“ erklärte, dass wir nur schlafen gehen wollten. Das breite „Go on!“ war eine Erleichterung für uns.

Irgendwann in den nächsten Wochen war unsere Wohnung wieder so zusammengeflickt, dass sie halbwegs bewohnbar war. Vom 3. Stock her bleibt mir unvergessen der Einzug der Russen nach dem 2.Juli 1945. Statt mit Panzern kamen sie mit Panjewagen. Auf den Ruinenfeldern neben unserem Haus biwakten sie mit Feuer, Musik und Tanz. Später – als unsere „Schlaf-Gaststätte“ wieder ein florierendes Gasthaus geworden war – gab es schon immer wieder einmal einige Russen, die dort zu viel tranken. Wurde es zu arg, fuhr ein LKW vor und von der Tür her wurden durch 2 MP’s die „Leblosen“ in hohem Schwung auf den LKW befördert, wo sie ein 3. MP mit dem Kolben „sortierte“. Andererseits haben wir nie erlebt, dass ein Angetrunkener allein gelassen wurde – und wenn er auf dem Trittbrett der Straßenbahn festgehalten wurde, damit er sich nach außen entleeren konnte.

Am 1. Oktober 1945 zog ich mit Schiefertafel und Griffelkasten in die 16.Grundschule ein. Sie hielt mich 18 Jahre fest: 8 Jahre als Schüler und 10 Jahre als Lehrer.

Mein Klassenleiter in der 1. Klasse ist mir in Erinnerung als alter, gütiger Mensch, was ihn aber nicht davon abhielt, uns auch mal eins mit dem Rohrstock „überzuziehen“.

Warum erinnert sich fast jeder Mensch an den/die Klassenleiter/in der 1. Klasse? In unserer Familie erhielten wir einen Einblick dazu, als unsere Tochter die 1. Klasse besuchte. Wir hatten die kluge Idee, für sie eine kleine Schiefertafel in ihrer Spielecke aufzuhängen. Dort war ihr bevorzugter Platz: Sie war die Lehrerin und ihre Puppen die Schüler. Als heimliche „Mäuschen“ bekamen wir alles mit, was sich am Vormittag in der Schule ereignet hatte. Diese Erkenntnis habe ich später in der Lehre der Entwicklungspsychologie immer wieder betont: In der 1. Klasse hat in Erziehungsfragen nur einer das „Sagen“: der Lehrer (vor allem, wenn er gut ist!). Eltern können in diesem Alter ihrer Kinder keinen größeren Fehler machen als dagegen zu opponieren – im schlimmsten Fall vor dem Kind. Der Lehrer ist die „Lichtgestalt“, die dem Kind eine ganz neue Welt eröffnet.

Das verleidet leider einige Lehrerkollegen – insbesondere Frauen – zur Meinung, diese besondere Wirkung halte lange über die 1. Klasse hinaus an. Als stellvertretender Direktor und als Direktor hatte ich immer wieder Diskussionen mit Kollegen, die vorrangig in der 1. Klasse, maximal in der 2. Klasse eingesetzt werden wollten („Glucken-Syndrom“). Sie scheuten sich, den Entwicklungsprozess mitzugehen, zu begleiten, sogar zu forcieren, dass sie die Schüler in der 3. und 4. Klasse immer mehr „von sich weg“ schieben damit das Team die „Bestimmer-Rolle“ einnimmt.

Mit der Schulreform 1946 in der sowjetischen Besatzungszone verschwand der ältere Herr und mit ihm der Rohrstock. Wir bekamen eine junge, anfangs noch unverheiratete Lehrerin, die uns mit ihrem Engagement und mit ihrem Enthusiasmus in den Klasse 2-4 geprägt hat. Sie war es auch, die mir taktvoll über eine peinliche Situation hinweggeholfen hat. Weil ich eine zu große „Tolle“ auf dem Kopf trug, ging mein Vater mit mir zum Frisör und gab ihm die Anweisung „alles runter“. Der Frisör nahm das wörtlich und verpasste mir einen Kahlschlag. Ich schämte mich unendlich vor meinen Mitschülern. Frl. M. nahm das Ganze mit Humor und erlaubte mir (ausnahmsweise!) in den ersten Wochen im Unterricht die Mütze aufzubehalten. Später half mir das vielleicht, als ich am Ende meiner „Lehrer – Zeit“ junge Libyer in Deutsch unterrichtete. Sie standen unter dem Kommando des Militärattachés der libyschen Botschaft in der DDR und der hatte kurzerhand einem „Nicht-Fleißigen“ den Kopf scheren lassen. Und so sollte er als 18-Jähriger vor den Jugendlichen, ganz besonders vor den Mädchen, in einer Berufsschule erscheinen! Meine Erlaubnis zur Mütze entschärfte auch hier die Situation!

Meine damalige Klassenleiterin, Frl. M., war auch großzügig in der Auslegung des Lehrplanes. Denn die Lehre der „deutschen Schrift“ (Sütterlin) stand bestimmt nicht drin! Ihrem Unterricht verdanke ich es, dass ich Sütterlin heute zumindest noch lesen kann. Das half mir während meines Geschichtsstudiums beim Lesen alter Akten und erleichterte mir den Umgang mit schriftlichen Unterlagen meines Vaters, der sich erst allmählich von der Sütterlin-Schrift zu einem Mischmasch von Sütterlin und lateinischer Schrift bewegte.

In den rauen Nachkriegsjahren hielt sich unsere Familie eher schlecht als recht mit dem kleinen Milch- und Lebensmittelladen über Wasser. „Spiritus rector“ war mein Opa. Er hatte sich – vom Lande kommend – den nunmehr zerstörten Laden aus eigener Kraft aufgebaut. Er sorgte dafür, dass keiner von uns hungerte. Für mich war immer etwas da, was mit Milch zusammenhing: Milch, Quark, Käse. Sie gehören noch heute zu meinen Lieblingsspeisen. Als mein Opa 1950 starb, war das für mich ein tiefer persönliche Einschnitt und das „Aus“ für den Laden „auf Raten“. Eine kaufmännische berufliche Zukunft war deshalb für mich nie ein Thema.

Angesichts der ca. 15 Familien im Haus war die Zahl von 15-20 Kindern nicht ungewöhnlich. So viele passten aber nicht auf den Hof, zumal der Hof betoniert, oft voll Wäsche oder blockiert war durch Gegenstände aus den Läden im Erdgeschoß. Das größte Problem für uns Kinder war ein sehr strenger Hausmeister, der stets bei einem gewissen Lärmpegel einschritt. Aus dieser Situation entwickelte sich eine altersheterogene Spielgruppe, wie man sie heute wohl kaum mehr findet. Unter dem Kommando von 2 älteren Mädchen (15-16 Jahre) fanden sich vom Kleinkind bis zum Jugendlichen etwa 15 Heranwachsende zusammen und zogen mit Kinderwagen und Essen und Trinken in einen nahegelegenen kleinen Park, den Volksgarten. Selbst wir 3 „halbwüchsigen“ Jungen von ca. 8 Jahren waren nur manchmal „aufmüpfig“, meist aber froh, wenn einer von uns beim Familienspiel im Volksgarten die „Vaterrolle“ übernehmen durfte. Nach einigen Stunden kam die ganze Truppe dann wohlbehalten wieder in unserem großen Eckhaus an.

Im Herbst bestimmte die Herbstmesse das Bild der Stadt. Parallel interessierten wir uns als Kinder für den „Tauchschen“1. Wir verkleideten uns, vorwiegend als Trapper oder Indianer und dann begannen die meist nur angedeuteten Auseinandersetzungen Straße gegen Straße, beispielsweise Graßdorfer Straße gegen Edlichstraße. Das ging solange, bis der Ruf ertönte: „Es geht gegen (den benachbarten Stadtteil) Schönefeld!“. Dann sammelte sich die ganze Meute aus verschiedenen Straßen auf den zwei Brücken der Verbindungsstraße zu Schönefeld. Zwischen diesen beiden Brücken ging es ständig hin und her mit „Vorstößen“ und „Rückzügen“. Selten kam es dabei zu echten Keilereien. Die Leidtragenden waren meist die anliegenden Gartenbesitzer, die regelmäßig nach dem „Tauchschen“ einige zweckentfremdete Zaunlatten ersetzen mussten.

In den Klassen 7 und 8 bekamen wir einen neuen Klassenleiter: Herrn F. als Deutsch- und Geschichtslehrer. Er hat – für mich zunächst völlig unbewusst – meinen Berufswunsch „Deutsch- und Geschichtslehrer“ beeinflusst. Mich beeindruckte sein Wissen, seine Ruhe und Ausgeglichenheit und sein Gerechtigkeitssinn. Leider war er gesundheitlich nicht in der Lage, mit uns große Ausflüge und Wanderungen zu unternehmen. Dafür passte haargenau der Klassenleiter unserer Parallelklasse, Herr M. In seinem Unterricht ging es immer locker zu und die Wanderfahrten und Badeausflüge mit ihm und seiner Familie waren für uns in diesem Alter genau das Richtige. Er hatte nämlich keine Probleme damit, zusätzlich zu seiner Klasse auch die Interessierten aus unserer Klasse zu betreuen. So wirkten vor allem 2 Lehrer auf mich: einer für das Abenteuerliche und das Leben im Team und einer für das Wissen und die Sinnfindung.

Das spiegelt sich auch in der persönlichen Freizeitgestaltung wider: intensive sportliche Betätigung oder spezielle Hobbys waren nie „mein Ding“, ich brauchte vor allem Bücher. Das Wochenende oder Feiertage wurden ausgestaltet mit einem Stapel Bücher, die ich mir aus der Leihbücherei holte: Wild-West-Romane (siehe „Billy Jenkins“!), Krimis und „Zukunfts“-Romane. In meiner Vorstellung nahm ich an der Handlung selbst teil, schärfte mein Lesevermögen und meine Ausdrucksfähigkeit.

Der Gerechtigkeitssinn von Herrn F. bewies sich in einer Situation: Ich gehörte zu den 3 Rabauken in der Klasse, die für viele Streiche verantwortlich waren, denen aber auch manches voreilig „in die Schuhe“ geschoben wurde. Um uns zu bestrafen und gleichzeitig Ordnung zu schaffen, wurden wir 3 Rabauken 4 Wochen strafversetzt: je einer in die Mädchenklasse und einer in die parallele Jungenklasse (der hat sich am meisten geärgert!). Die 4 Wochen in der Mädchenklasse im 7.Schuljahr waren die erfolgreichsten im ganzen Jahr. Nachdem ich die erste Scheu abgelegt hatte, bekam ich hier meine besten Noten, weil ich mich angestrengt habe und weil ich nach „Mädchen-Maßstab“ beurteilt wurde. Unvergessen bleibt mir ein Geschichtsreferat. Vorher gab es Kirschwein, weil ein Mädchen Geburtstag hatte; danach habe ich noch nie so flüssig wie vorher geredet. Leider waren die 4 Wochen bald vorbei; aber Herr F. hatte die Übeltäter gefunden, die sich hinter unserem Rücken versteckt hatten.

Mit dem Beginn des Konfirmandenunterrichts lernte ich das Leben in der „Jungen Gemeinde“ kennen und fühlte mich dort geborgen. Das hatte vor allem etwas zu tun mit der charismatischen Gestalt des Pfarrers K. an der Lukas-Kirche in Leipzig-Volkmarsdorf2.

Über ihn heißt es in den Unterlagen der Abteilung V der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig, „er habe die Pionier- und FDJ-Arbeit an der 16. und 18. Grundschule vollkommen zerschlagen“3. Das ist sicher überzogen, aber das, was in der „Jungen Gemeinde“ geschah, war wesentlich attraktiver, weil kinder- und jugendgerecht. In dem damals äußerlich recht unattraktiven Gemeindehaus in der Juliusstraße fanden wir uns 1x in der Woche zu einem Nachmittag zusammen. Am Beginn stand immer eine Wild-West-Geschichte, von Pfarrer K mitreisend erzählt. Im Mittelpunkt der Geschichten stand Christian Ritter(!), ergänzt durch den „Haudrauf“ Bobby. Durch mein Wild-West-Schmökern bekam ich bald mit, dass die Geschichten „entlehnt“ waren bei Billy Jenkins4. Nach den Geschichten folgten Wettspiele zwischen den Gruppen – so recht nach dem Geschmack von Jugendlichen, die sich beweisen wollen. Absolute Höhepunkte waren Zusammenkünfte mit anderen „Junge Gemeinden“ aus Leipzig und Umgebung in und um das Rüstzeithaus Sehlis. Hier fanden wir all das, was ich viel später in meiner Dissertation zur Traditionspflege zum Ritual hervorgehoben habe: gemeinsame Bewegungen, Klänge (Glocken!), Farben, Musik – eine geballte Ladung von Emotionalität, die unweigerlich besonders beim „sinnsuchenden“ Jugendlichen ihre Wirkung hinterlässt. Mit stolzgeschwellter Brust wurden wir nach dem „Kond-Kreis“ (Konfirmanden-Kreis) in den „großen Kreis“ aufgenommen. Jetzt durften wir auch Pfarrer K. nach dem „großen Kreis“ nach Hause begleiten.

Mit meiner Schulzeit in der EOS kamen dann andere Einflüsse zum denen der „Jungen Gemeinde“. Aber auch die „Junge Gemeinde“ in Volkmarsdorf befand sich auf einem absteigenden Ast. Es schlug wie eine Bombe ein, als bekannt wurde, dass Pfarrer K. sich mit einer jungen Frau aus dem „großen Kreis“ verlobt hatte. Damit änderte sich viel im Beziehungsgefüge. Nach meiner subjektiven Meinung spielte auch eine Rolle, dass die Verlobte jemand war, die wir bisher kaum wahrgenommen hatten.

Der 17. Juni 1953 sollte eigentlich ein normaler Tag in meinem Schülerleben werden. Pikanterweise war für diesen Tag die Abschlussprüfung in „Gegenwartskunde“ angesetzt.

Wir wurden in der Schule informiert, dass die Prüfung an diesem Tag nicht stattfinden würde. Gleichzeitig sprach es sich herum, dass in der Stadt „etwas los“ wäre. Abenteuerlustig wie wir waren, machten wir uns sofort auf den Weg, um „dabei“ zu sein. Die wirkliche Rolle dieses Tages habe ich erst viel später begriffen.

Als erstes erlebten wir eine Menschenmenge am damaligen Ort der Kreisleitung der SED, Ernst-Thälmann-Straße / Ecke Elisabethstr. Die Kreisleitung war schon mächtig ramponiert. Eine Gruppe von ca. 8-10 Angehörigen der KVP (Kasernierte Volkspolizei) sollte die Kreisleitung verteidigen. Mit ihnen diskutierten, zum Teil handgreiflich, aufgebrachte Menschen. Einige KVP-Angehörigen beharrten auf ihren Auftrag, 2 nahmen ihre Gewehre und zerschlugen sie an der Bordsteigkante.

Uns zog es weiter in die Innenstadt. An einigen Straßenbahnen stand in schneller Schrift geschrieben „Spitzbart, Bauch und Brille“ (Ulbricht, Pieck und Grotewohl) „sind nicht des Volkes Wille“. Die Gruppen von Menschen, die gleich uns unterwegs waren, führten uns von der Hauptstraße fort in eine Nebenstraße. Dort klaffte im Erdgeschoß eines Hauses ein riesiges Loch. Sowjetische Panzer hatten die Nebenstraßen benutzt, um möglichst unbemerkt in die Innenstadt zu kommen. Dabei war einer aus der Spur gekommen und mit dem Geschützrohr in der Wohnstube einer Familie gelandet.

In der Innenstadt wurden wir an der Bezirksleitung der FDJ in der Ritterstraße Zeuge, wie sich der Zorn der Menschen an Sachen entlud. Schreibmaschinen, Akten, Schreibtische flogen aus den Fenstern auf die Straße. Wir wurden abgelenkt durch eine große Menschenmenge, die vom Augustusplatz her in Richtung Hauptbahnhof zog. Auf ihren Schultern trugen einige Männer zwei Tote. Wir erfuhren, dass sie in den Kämpfen am Geviert „Wächterburg“ erschossen wurden, wo die aufgebrachte Menschenmenge die Polizei und das Gefängnis gestürmt hatte, um die dort Eingekerkerten zu befreien.

Die Menge zog hinunter zum Hauptbahnhofsvorplatz als von der Westseite des Bahnhofes her plötzlich sowjetische Panzer auf den Platz einschwenkten. Ihr MG-Feuer ging zwar über die Köpfe hinweg, aber die realen Einschläge in das Dach der Straßenbahn, in die wir „hineingehechtet“ waren, bewiesen uns, dass mit scharfer Munition geschossen wurde. Als uns der Ernst der Situation bewusst wurde, verdrückten wir uns doch lieber nach Hause. Meine Mutter war heilfroh, als ich wieder zu Hause war. Sie hatte wegen mir Todesängste ausgestanden.

Mit dem September 1953 war ich also Schüler an der Nicolai-Oberschule. Auch wenn wir manchmal „Nickel-Töppe“ genannt wurden, waren wir doch stolz darauf, Schüler der ersten weltlichen Schule von Leipzig5 zu sein. Das galt besonders dann, wenn wir im Wettstreit standen mit den beiden anderen EOS im Stadtbezirk, der Richard-Wagner-EOS und der EOS Humboldt.

Eine der ersten Veranstaltungen außerhalb des Unterrichts war die Wahl der FDJ-Gruppen- Leitung der Klasse. Für mich völlig überraschend war die Entscheidung meiner Mitschüler, mich zum FDJ-Sekretär zu wählen. Dieses Votum tat meinem Selbstbewusstsein gut, also gab ich meinen Antrag zur Aufnahme in die FDJ ab.

Mit meinen Klassenkameraden erlebte ich im Mai 1954 das Deutschlandtreffen der Jugend in Berlin. Romantisch war schon die Fahrt im „Vieh“-Waggon nach Berlin. Am Vortag war ich mit einer Art „Becker-Hecht“ beim 100-m-Lauf ins Ziel gekommen. Die Aschenbahn hinterließ deutliche Spuren auf meinem Bein von der Hüfte bis zum Knöchelgelenk. So hatte die unsere Hundertschaft begleitende Rote-Kreuz-Schwester immer etwas zu tun. In Berlin wurden wir von freundlichen Berlinern zur Übernachtung auf ihrem Dachboden empfangen.

Seit diesem Treffen ist mir die „Knacker“-Wurst verleidet, weil in den Verpflegungsbeuteln für früh, mittags und abends mindestens eine zu finden war. Da die Nächte meist kurz waren, mussten wir uns auf der Rückfahrt ausschlafen. Dabei wären wir fast aus den offenen Schiebetüren „herausgerüttelt“ worden.

Das nächste Deutschlandtreffen 1964 erlebte ich schon als junger Lehrer, gemeinsam mit meinen Schülern. In Erinnerung geblieben ist mit die taktische Leistung mit meiner 10-er Gruppe von Schülern immer gemeinsam an der verabredeten S- oder U-Bahnstation ein-bzw. auszusteigen. Zu diesem Zweck hatten wir die Gruppe in zwei 5-er Gruppen aufgeteilt, eingedenk der Erkenntnis, dass man 5-7 Dinge plus/minus 2 wahrnehmen kann! So haben wir auch im größten Gedränge nie einen verloren.

Zu den Weltfestspielen 1973 sah die Situation schon anders aus: Als stellvertretender Direktor war ich neu an der 18. Polytechnischen Oberschule. Die Verbindung zu den Schülern war noch nicht so eng und für das Übernachten in Massenquartieren war ich wohl schon etwas zu alt. So nutzte ich den Tod Walter Ulbrichts für ein fingiertes Telegramm, das mich vorzeitig nach Hause rief.