500 Meter - Knud Kohr - E-Book

500 Meter E-Book

Knud Kohr

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Beschreibung

"Ich wusste, ich konnte nur noch 500 Meter weit gehen, doch das reichte mir, um die Welt zu sehen." Loslaufen statt aufgeben. Als Knud Kohr mit 37 Jahren erfährt, dass er an MS leidet, weiß er nicht, wie viel Zeit ihm bleibt, um das zu tun, was er schon immer machen wollte: Einmal um die Welt reisen. Manchmal an einem Stock, manchmal an zweien und manchmal fast symptomfrei wandert er über die Hochplateaus von Island und bei fünfzig Grad im Death Valley. Eine Horde alter laotischer Schnapsbrennerinnen stoppt sein Kreuzfahrtschiff auf dem Mekong, ein Maori-Häuptling lehrt ihn das Madenessen, und ein Kapitän namens "Hurricane Johnny" lässt ihn sein 100 Jahre altes Schiff steuern. Bei jeder dieser Begegnungen lernt Knud Kohr mehr über seine Krankheit und über den Umgang mit ihr, und am Ende steht eine ermutigende Erkenntnis: Loslaufen ist besser als aufgeben... "Die Krankheit ist stark und beeinflusst unser Leben in jeder Minute, bei jedem Schritt. Aber sie ist nicht stark genug, uns dazu zu zwingen, unsere Ziele aufzugeben." Die berührende Geschichte eines Mannes, der seiner Krankheit die Stirn bietet und sich sein Leben zurückerobert.

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Über Knud Kohr

Knud Kohr, 1966 in Cuxhaven geboren, studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Er lebt als Reisejournalist und Drehbuchautor in Berlin und schreibt für »Neue Zürcher Zeitung«, »Tagesspiegel« und »Abenteuer und Reisen«. 2009 erschien sein erster Roman »In Cuxhaven«.

Informationen zum Buch

»Ich wusste, ich konnte nur noch 500 Meter weit gehen, doch das reichte mir, um die Welt zu sehen.«

Loslaufen statt aufgeben.

Als Knud Kohr mit 37 Jahren erfährt, dass er an MS leidet, weiß er nicht, wie viel Zeit ihm bleibt, um das zu tun, was er schon immer machen wollte: Einmal um die Welt reisen. Manchmal an einem Stock, manchmal an zweien und manchmal fast symptomfrei wandert er über die Hochplateaus von Island und bei fünfzig Grad im Death Valley. Eine Horde alter laotischer Schnapsbrennerinnen stoppt sein Kreuzfahrtschiff auf dem Mekong, ein Maori-Häuptling lehrt ihn das Madenessen, und ein Kapitän namens »Hurricane Johnny« lässt ihn sein 100 Jahre altes Schiff steuern. Bei jeder dieser Begegnungen lernt Knud Kohr mehr über seine Krankheit und über den Umgang mit ihr, und am Ende steht eine ermutigende Erkenntnis: Loslaufen ist besser als aufgeben.

»Die Krankheit ist stark und beeinflusst unser Leben in jeder Minute, bei jedem Schritt. Aber sie ist nicht stark genug, uns dazu zu zwingen, unsere Ziele aufzugeben.« Die berührende Geschichte eines Mannes, der seiner Krankheit die Stirn bietet und sich sein Leben zurückerobert.

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Knud Kohr

500 Meter

Trotz Multipler Sklerose um die Welt

Für Susann Sitzler, mit der ich seit dem letzten Jahrtausend auf der großen Reise bin. Für Hiromi und Eberhard, die sich von der MS nicht beugen lassen.

Inhaltsübersicht

Über Knud Kohr

Informationen zum Buch

Newsletter

Vorher

Währenddessen. Krank nach Kanada

Wie geht eigentlich chronisch krank sein?

Ein Schub in Chihuahua?

Tausend Gesichter

USA im Hochsommer. Mit einem Abstecher nach Südafrika und in die Schweiz

Post aus Japan

Taipeh – Alle Wünsche werden wahr

Kleine Probleme erhalten die Feindschaft

Der Fall Island

Nachts auf dem Flur

USA: Vierzig Grad minus

Post von Hiromi

Unglaubliches in der Uckermark

Gespräch beim Training

Rundreisen im Rollstuhl

Südostasien – Ein Seil ins nächste Leben

Zu Hause

Neuseeland

Dysfunktionales Dunedin

Wenn man von Berlin aus durch den Globus sticht

Stockmann reist weiter

Paket für mich

Weiterführende Informationen über MS

Impressum

Vorher

Als ich ein Kind war, hatte ich für ein paar Jahre immer wieder denselben seltsamen Traum. Mit ein paar anderen Leuten, die ich nicht kannte, saß ich in einem Zug. Der fuhr ständig um die Welt, und komischerweise sah er genauso aus wie der Nahverkehrszug von Cuxhaven nach Hamburg. Jedes Mal, wenn ich im Traum in diesem Zug saß, spürte ich, dass ich nicht irgendein Reisender war. Ich war auf einer Mission. Dieser Zug musste ohne Pause um die Welt fahren. Wenn er stoppte, würde auch die Welt sich nicht mehr drehen. Fahrgäste, die in diesem Zug ihr Leben verbrachten, waren Auserwählte, die jahrzehntelang in ihren Abteilen saßen und aus dem Fenster schauten. Die höchstens mal ans Fenster im Gang spazierten, um den Mitreisenden in den anderen Abteilen flüchtig zuzuwinken, und ansonsten nur einen sozialen Kontakt hatten: Schaffner, die ihnen dreimal am Tag Essen brachten. Oder neue Bücher, wenn die alten ausgelesen waren. Warum ich auserwählt worden war, wusste ich nicht.

Wenn ich in diesem Traum nicht las oder aß, sah ich zu, was gerade am Fenster vorbeigezogen wurde. Denn so schien es: Nicht der Zug fuhr um die Welt, sondern die Welt wurde an ihm vorübergezogen. Bis heute kann ich mich an die Geparden erinnern, die mit dem Zug um die Wette liefen, wenn wir gerade durch Afrikas Steppen rollten. Und an Menschen, die bei langsamen Bahnhofsdurchfahrten interessiert und mit schief gelegten Köpfen in die Abteile lächelten. Das war alles schön, aber am liebsten saß ich im Gang auf einem Klappsitz. Mitten in der Nacht, wenn mein Gesicht sich schemenhaft in der Scheibe spiegelte, weil nur noch die Notbeleuchtung eingeschaltet war, und die anderen sich alle zum Schlafen hingelegt hatten. Wenn nur noch ich aufpasste, dass die Welt nicht aufhörte, sich zu drehen.

Damit der Zug um die Welt fahren konnte, hatten sie für ihn gewaltige Brücken über die Meere gebaut. Oder Tunnel durch die Berge. Dort musste ich viele Stunden lang auf eine Wand sehen, ohne dass es mir etwas ausmachte. Die anderen versuchten dann schon wieder zu schlafen oder zogen jedenfalls die Vorhänge vor ihre Abteiltüren. Mir machte es am meisten Spaß, kleine Wolken gegen das Fenster zu atmen. Dabei dachte ich mir Geschichten aus. Keine einzige davon weiß ich noch.

Aber manchmal saß ein anderer Mann vor mir. Der seufzte in den Nächten immer, ohne sich umzudrehen: »Ich könnte ewig hier sitzen.« Komischerweise musste ich darüber so lachen, dass ich aufwachte. Noch heute bringt dieser Satz mich zum Lachen. Über dreißig Jahre später muss ich mir manchmal in Wartezimmern oder in langweiligen Veranstaltungen die Hand vor den Mund halten, um nicht loszuprusten. Weil ich denke: »Ich könnte ewig hier sitzen.«

Jedes Mal, wenn ich aus diesem Traum aufwachte, war ich stolz. Immerhin sorgte ich dafür, dass die Welt nicht unterging. So wie James Bond, bloß ohne Rumballern oder Martinisaufen.

Der Traum kam wieder. Ungefähr bis ich zwölf, dreizehn Jahre alt war und lieber von Mädchen träumte. Dann verebbte er langsam.

Viel später erzählte ich einem Arzt von diesen Träumen. Der machte ein wichtiges Gesicht und sagte, dass das der Fluchttraum eines Heranwachsenden gewesen sei, der sich in seiner täglichen Umgebung gefangen fühlt. Ich glaube, der Mann hat Blödsinn erzählt. Wahrscheinlich habe ich damals schon trainiert. Trainiert, wie man um die ganze Welt kommt, wie man alles sehen kann, ohne viele Schritte machen zu müssen.

Währenddessen. Krank nach Kanada

Eine alte Dame stellte sich mir in den Weg. Zuvor hatte sie sich hilfesuchend auf dem Terminal Zwei des Münchner Flughafens umgesehen. Jetzt zeigte sie auf ihr Gepäck, das neben einem Rollwagen stand. Eine Reisetasche und ein Koffer.

»Können Sie mir eben helfen?«, fragte sie. »Die Sachen sind so schwer, ich krieg die da gar nicht rauf.«

Mein Gepäck war schon in Berlin-Tegel bis Toronto durchgecheckt worden. Bis zum Weiterflug waren es noch knapp zwei Stunden. Gerade überlegte ich, an welchem Zeitungsstand ich mich bis dahin langweilen sollte. In solchen Situationen ist meine Ritterlichkeit immer am stärksten. Gerade Damen gegenüber. Trotzdem zögerte ich. Eine Tasche, ein Koffer. Warum hatte sie ausgerechnet mich gefragt?

»Erst mal die kleine, zum Warmwerden«, scherzte ich und griff mit einem Ruck nach der Tasche.

Das alte, mit Lederflicken verzierte Ding aus Leinen war wesentlich schwerer, als es aussah. Ich setzte es noch mal ab und holte ein wenig Schwung. Wuchtete es vom Boden hoch und beförderte es mit einem kleinen Halbkreis durch die Luft in Richtung Gepäckwagen. Dabei verlor ich das Gleichgewicht. Die Tasche polterte zurück auf den Teppich und riss mich mit. Mein rechter Fuß suchte Halt und hakte dabei hinter dem linken ein. Ich fiel direkt vor der alten Frau auf die Knie. Sie blickte erstaunt.

»Das versuche ich wohl besser noch mal«, sagte ich viel zu fröhlich und griff erneut nach der Tasche. Die Frau musterte mich. Ein bisschen zweifelnd, ein bisschen mitleidig.

Dann sagte sie es: »Ich frage mal jemand anders. Sie sind ja auch nicht so gut zu Fuß.«

Während ich mich noch aufrappelte, sprach sie schon den nächsten Reisenden an. So unauffällig wie möglich griff ich nach meinem Rollkoffer und verschwand.

Warum war ich umgefallen? Ich konnte mich nicht erinnern, an welcher Stelle der Aktion ich den Halt verloren hatte. Vor einigen Monaten war ich regelmäßig gestürzt. Einfach so. Aber vor zwei Wochen hatte das aufgehört. Einfach so. Und egal, was die Ärzte mir in der Zwischenzeit einreden wollten: Ich war wild entschlossen, diese seltsamen Gleichgewichtsstörungen so schnell wie möglich zu vergessen.

Bis zur Kontrolle von Pass und Handgepäck kam ich gut voran. Ich schob entschlossen einen Fuß vor den anderen und fand festen Halt auf dem stumpfen Boden. Dann wurden meine Schritte langsam schwerer. Als ob ich Skistiefel anhätte und damit über eine riesige Fußmatte mit hohen, starren Borsten gehen müsste. Zweimal blieb ich hängen. Kleine, ungelenke Sprünge sorgten dafür, dass ich nicht wieder fiel.

Leute, die an den Kontrollen hinter mir gestanden hatten, strömten auf dem Weg zum Gate rechts und links an mir vorbei. Mein rechter Fuß begann sich immer weiter nach außen abzuspreizen, bis ich ihn nur noch im Winkel von sechzig, siebzig Grad aufsetzen konnte. Wären meine Füße Uhrzeiger gewesen, sie hätten ungefähr fünf vor zwei angezeigt.

Die Position meiner Füße zu korrigieren war plötzlich unmöglich. Sie taten nicht weh, aber sie gehorchten mir nicht mehr. Ein weiterer Blick nach unten. Jetzt hatte jemand meine Füße auf Sommerzeit umgestellt. Fünf vor drei. Als noch sechs Gates zwischen mir und meinem Ziel lagen, begann ich mich an der Wand abzustützen. Noch immer war reichlich Zeit. Ich schleppte mich in die nächste Toilette und setzte mich in einer Kabine auf den Deckel.

Zum ersten Mal hatte ich sechs Monate zuvor Schwierigkeiten beim Gehen bekommen. Bei einer Urlaubsreise durch Portugal wachte ich eines Morgens im Hotel auf und bemerkte, dass ich mein rechtes Bein nur noch wenige Zentimeter heben konnte. Selbst über die Badezimmerschwelle kam ich nur dann, wenn ich das Bein aus der Hüfte heraus über das kleine Hindernis wuchtete. Treppensteigen wurde unerklärlich schwierig: Auf dem Weg nach unten musste ich mit einer Hand das Geländer greifen und mich mit der anderen an der Wand abstützen, um nicht mit dem Kopf zuerst anzukommen. Und auf dem Rückweg ins Zimmer blieb ich oftmals an der Kante der Stufen hängen und musste einen neuen Versuch unternehmen. Jedenfalls mit dem rechten Bein. Ausschließlich mit dem rechten Bein, um genauer zu sein.

Schon einige Tage vor dem Urlaub hatten sich vergleichbare Symptome gezeigt. Doch da dachte ich noch, dass meine berufliche Situation daran schuld wäre. Ich hatte in dieser Zeit viel zu viel Stress. Vor kurzem hatte ich mich von einer Filmfirma getrennt, für die ich zwei Jahren lang Drehbücher entwickelt hatte, und war nun sicher, dass ich binnen kürzester Zeit qualvoll verhungern müsste. Mein ganzer Körper war vor Stress verkrampft, und in den Urlaub war ich zusammen mit meiner Freundin mehr oder weniger geflohen.

Unsere Reise begann in Lissabon, meiner Lieblingsstadt. Dort hoffte ich Ruhe zu finden. Aber die Erstarrung im Bein löste sich nicht. Im Gegenteil: Von Tag zu Tag wurde sie schlimmer, bis ich den Fuß auf den gepflasterten Straßen nur noch nachschleifen konnte. Leider besteht die Altstadt von Lissabon fast nur aus Kopfsteinpflaster, steilen Hügeln und engen Wegen. Es gab also reichlich Gelegenheit zum Nachschleifen.

Jeden Morgen versuchte ich mir einzureden, dass diese seltsame Lähmung über Nacht verschwunden war. Doch spätestens mittags musste ich mir eingestehen, dass ich mir in die Tasche log. Was war eigentlich los? Leute, die plötzlich anfangen zu humpeln oder Gleichgewichtsstörungen bekommen, haben in der Regel einen Schlaganfall erlitten. Oder einen Gehirntumor. Aber so was merkt man doch, oder? Und außerdem war ich so gut in Schuss, wie man es als 37-jähriger Schreibtischarbeiter sein kann, der weder raucht noch trinkt, auf sein Gewicht achtet und zweimal pro Woche im Fitnessstudio trainiert. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun.

Nach einigen Minuten auf der Toilette gelang es mir, die Füße wieder in eine parallele Stellung zu bringen. Dann ging ich zum Spiegel und starrte mein Gesicht an. Atmete konzentriert ein und aus. Das hatte mir eine Ärztin geraten, die am Stadtrand von Berlin nach Prinzipien der Traditionellen Chinesischen Medizin praktizierte. Sie war mir von einem Freund empfohlen worden, der unter Hodenkrebs litt. Nachdem sie ihm den rechten Hoden schon abgeschnitten und alle Schulmediziner zur Amputation auch des zweiten Hodens geraten hatten, war er in einem letzten Versuch zu der unerschrockenen Ärztin nach Zehlendorf gegangen, die viele Jahre zuvor ihre schulmedizinische Karriere zugunsten alternativer Behandlungsformen beendet hatte. Sie war erfolgreich gewesen und hatte den Krebs meines Freundes mit speziellen Tees aus hochwirksamen Kräutern, Hölzern und Muscheln zum Stillstand gebracht. Vorläufig.

»Knud, fahr doch mal zu ihr raus«, hatte der Freund am Telefon gesagt. »Vielleicht kann sie ja was für dich tun. Ich kann nur sagen: Auf einem Ei steht es sich prima. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Vier Tage später fuhr ich an den Stadtrand. Die Ärztin war sehr nett zu mir gewesen. Hatte mich ausführlich untersucht, mir zwei neue Termine gegeben und dann auch für mich eine Teemischung zusammengestellt, die ich alle paar Tage selbst kochen und in Flaschen umfüllen musste. Das Gesöff schmeckte furchtbar und rumorte ständig in meinem Magen. Aber ich hatte das Gefühl, etwas zu tun. Auch ein Buch hatte die Ärztin mir mitgegeben, das die Prinzipien der chinesischen Medizin erklärte. Es lag ungelesen in meinem Schreibtisch.

Nun stand ich in einer Flughafentoilette. Gleich würde ich einen Fotografen treffen, mit dem ich noch nie zusammengearbeitet hatte, um für ein Münchner Hochglanzreisemagazin in die kanadischen Wälder zu fliegen und mit Indianern vom Stamm der Ojibwe im Tipi zu wohnen. Zwischen Elchen, Wölfen und Bären. Wenn ich auf einem glatten Teppich ging, musste ich mich nach einigen Metern an der Wand abstützen. Meine einzige Waffe war ein Plastiktütchen mit Kräutergranulat, das mir die Zehlendorfer Hodenretterin verschrieben hatte. War ich eigentlich völlig wahnsinnig geworden? Das Lachen des Mannes im Spiegel sah verbeult aus und hörte sich rostig an. Noch eine Dreiviertelstunde bis zum Abflug nach Kanada. Zeit zu gehen.

Draußen fiel mir das Gehen wieder etwas leichter. Am Gate stand ein Mann, von dem ich wusste, dass er Thomas hieß. Als er mich sah, begann er zu grinsen. Am Telefon hatte er mir erzählt, dass ich ihn an seiner Glatze leicht erkennen würde. Da ich mir aus Haarmangel ebenfalls den Kopf nass rasierte, hatten wir Gelegenheit, Witze über unsere nicht vorhandenen Frisuren zu machen. Nicht der schlechteste Auftakt, wenn man sich nicht kennt und trotzdem am Ende der Welt miteinander zelten soll.

Thomas trug ein brüllend buntes T-Shirt. Vor seinen Füßen stand die für Fotografen typische, bis zum Bersten gefüllte Tasche mit Handgepäck. Als wir uns die Hand schüttelten, fiel mir auf, dass er nicht nur keine Haare auf dem Kopf hatte, sondern auch keine Augenbrauen. Keinen Bartschatten. Nichts. Auf den ersten Blick sah Thomas aus wie ein netter Bewohner von Alpha Centauri, der sich verflogen hat. Oder seinen wohlverdienten Jahresurlaub auf der Erde verbringt. Auch ihm war etwas aufgefallen.

»Fuß verknackst?«, fragte er.

»Ach, das ist bloß …« Mit einer unbestimmten Geste in Richtung meiner Füße ließ ich die Antwort sterben. »Lass uns mal einchecken.«

Damit schlurfte ich an ihm vorbei. Dass wir in den nächsten Jahren mehrere Monate auf vier Kontinenten verbringen und uns manches Mal Dinge voneinander erzählen würden, die allenfalls noch unsere Frauen, aber sonst niemand auf der Welt von uns wusste, konnte ich in diesem Moment natürlich nicht ahnen.

Für die nächsten Stunden stopfte Thomas sich Wachspfropfen in die Ohren und döste oder las an seinem Fensterplatz. Ich träumte vor mich hin, wie immer auf Reisen, machte alle zwei Stunden Dehnübungen für meine Waden und verschwand zwischen Island und Neufundland auf der Toilette, um mir mein Kräutergranulat mit Wasser zu mischen. Komischerweise wurde ich immer zuversichtlicher. Obwohl ich noch nicht einen einzigen Schritt in den Wald gesetzt hatte, lagen doch schon Tausende von Kilometern hinter mir.

Durch das lange Sitzen hatten sich meine Beine beruhigt, und sie ließen sich beim Aussteigen deutlich besser benutzen als vor dem Start. Außerdem war der Flughafen von Toronto viel kleiner als der in München. Meine Zuversicht hielt an. Am Rande des Flugfeldes wartete eine kleine Propellermaschine, die uns nach Sault Ste. Marie bringen sollte, einem Städtchen am Lake Superior und eigentlicher Startpunkt unserer Reportage. Dort empfing uns ein Fahrer der staatlichen Tourismusbehörde, und in dem Hotel, in das er uns fuhr, wartete ein Bett für eine unruhige, vom einsetzenden Jetlag und düsteren Gedanken zerstückelte Nacht.

»Dass die damals in so was eingestiegen sind.« Thomas klopfte probehalber gegen die rot-gelb lackierte Außenhaut eines alten Wasserflugzeugs, das vor ihm in einem Ausstellungshangar stand. Es klang wie die Kühlerhaube eines Trabants. Etwas Holz, wenig Blech, viel Kunststoff. Vorn war ein Propeller angebracht, so groß wie ein Deckenventilator. Nur Hasardeure können mit so etwas geflogen sein. Irgendwo in der Halle begann etwas zu summen. Eine Hornisse vielleicht?

Wahrscheinlich war es nur eine Sinnestäuschung. Heute Morgen trugen wir beide unsere Augenringe bis auf die Wangenknochen, und auf der Zunge hatten wir einen Geschmack, den einem nur ein transkontinentaler Jetlag in den Mund zaubern konnte. Vor einer Stunde hatte uns der Fahrer von gestern Abend abgeholt und hier abgesetzt. Am Bush Plane Museum von Sault Ste. Marie, das am Ufer des Lake Superior liegt. Im Hintergrund konnten wir die Brücke sehen, die vom kanadischen Ontario in den US-Bundesstaat Michigan führt.

Nun warteten wir auf einen Piloten der Hawk Air, die darauf spezialisiert war, Reisende wie uns in die Lodges und Reservate des Hinterlandes zu befördern.

Das seltsame Surren wurde lauter. Plötzlich begriffen wir, woher es kam: Direkt vor dem Museum landete eine Maschine, deutlich kleiner als diejenige, die wir eben so ungläubig bestaunt hatten. Kurz darauf stand unser Pilot vor uns. Bill war sein Name – 64 Jahre alt und Flieger seit über vier Jahrzehnten. Dass Passagiere mit weichen Knien vor seiner DeHaviland Beaver stehen, schien er gewohnt zu sein. »Sie ist 1960 geboren. Viel jünger als ich. Also macht euch keine Sorgen.«

Er machte einen großen Schritt vom Steg auf einen der Schwimmkörper des Flugzeugs, nahm unsere Koffer entgegen und warf sie hinter den Rücksitz. Thomas kletterte auf den Platz neben dem Pilotensitz. Bill nickte mir zu. Vom Steg bis zum Schwimmkörper waren es dreißig Zentimeter nach vorn und einen halben Meter nach unten. Jetzt nur nicht wieder ausrutschen wie am Flughafen! Nur nicht die Reise mit einem Sturz ins Wasser beginnen!

Bill musterte mich von der Seite. Zwinkerte. Plötzlich griff er mit einer Hand unter meine linke Schulter und mit der anderen an meinen Gürtel. Es war, als ob eine Sprungfeder mich hob. Dann saß ich auf dem Rücksitz. Scheinbar flog Bill häufiger Passagiere wie mich.

»Sooo«, sagte er gedehnt, nachdem er auf seinem Platz saß und die Maschine mit einem Paddel vom Steg abgestoßen hatte. »Seid ihr nach 1967 Auto gefahren?«

Wir nickten.

»Gut, dann brauche ich euch nicht zu erzählen, wie ein Sicherheitsgurt funktioniert. Die Stewardess hat heute ihren freien Tag. Schwimmwesten sind unter den Sitzen. Braucht ihr jetzt nicht anzuziehen. Ich sage Bescheid, wenn wir abstürzen.«

Natürlich waren das Standardwitze. Aber irgendwie beruhigten sie mich. Für zehn Sekunden. Dann sah ich die kleine abgeschabte Metallplatte, die am Armaturenbrett angebracht war.

Start, stand auf der linken Seite. Und darunter eine Anleitung in zehn Punkten.

Land, stand rechts. Auch hier zehn Punkte. Offenbar saß ich in einem Transportmittel, dessen Bedienung so komplex war wie die eines Sitzrasenmähers. Nur dass ich mich damit gleich in die Lüfte erheben würde. Was, wenn Bill nun einen Herzinfarkt bekam? 64-jährige Männer bekamen doch gern mal einen Herzinfarkt. Bill gab jedem von uns ein Paar klobige Kopfhörer. Trotzdem hörte ich den Motor laut aufröhren. Wir fuhren auf die Seemitte. Dann gab Bill Gas. Starr schaute ich nach oben. Zwanzig Zentimeter über meiner Nasenspitze war das Polster. Dann zwei Zentimeter Metall. Und dann nur noch Luft. Unter meinen Füßen sah es auch nicht besser aus.

Zwanzig Zentimeter über meiner Nasenspitze endete die Welt. Der Schlitten, auf dem ich lag, glitt automatisch in die enge Röhre des MRT. MRT heißt »Magnetresonanztomograph«. Mit diesem Verfahren kann man den Körper eines Patienten in Gänze abbilden. In einer MRT-Röhre durchleuchtet ihn ein Magnetfeld in millimeterdünnen Scheiben. Danach können die Ärzte Scheibe für Scheibe sehen, ob mit den inneren Organen alles in Ordnung ist. Nachdem ich aus Portugal nach Berlin zurückgekommen war, suchte ich meine Orthopädin auf. Die machte ein paar Tests mit mir. Zunächst schien alles normal zu sein. Doch dann zog sie an meinem rechten Bein.

»Ziehen Sie mal in die Gegenrichtung.«

Es ging nicht. Sosehr ich mich auch anstrengte, wenn sie mein angewinkeltes rechtes Bein am Fuß gerade zog, konnte ich nicht dagegenhalten.

Sie runzelte die Stirn. Auf meine Nachfragen reagierte sie plötzlich nur noch wortkarg. Sie überwies mich zu einem Neurologen. Der mich nach einem kurzen Gespräch gleich weiterüberwies.

Nun lag ich auf dieser schmalen Liege, die Ohren unter dicken Kopfhörern, die das scheppernde Dröhnen des Magnetbeschusses in der nächsten halben Stunde abmildern sollten. Die Beruhigungsspritze, die mir die überarbeitet wirkende Krankenschwester anbot, hatte ich abgelehnt. Diese Untersuchung wollte ich bei vollem Bewusstsein erleben. Schließlich konnte sie mein ganzes weiteres Leben verändern.

Als die Liege in ihre Endposition einrastete, sah ich direkt vor meinem Gesicht zwei Bilder. Einen endlosen Strand im Sonnenuntergang. Ein bisschen Strandhafer wuchs auf einer Düne, davor spielten zwei Robben, und auf dem Meer sah man zahllose kleine Inseln. Auf dem anderen war ein Wald und eine Herde Rinder, die friedlich auf einer Wiese grasten. Beide Fotos waren alt. Die Klebestreifen an ihren Rändern wellten sich schon. Vermutlich war ein wohlmeinender Pfleger mal in die Röhre gerutscht, um sie dort zur Beruhigung künftiger Patienten zu befestigen.

Plötzlich musste ich lachen. Lautlos zwar, aber so heftig, dass mein ganzer Körper zu vibrieren begann. So lange, bis die Krankenschwester, die mich zur Röhre gebracht hatte, aus der Kontrollkabine kam. Energisch klopfte sie von unten gegen meine Füße.

»Herr Kohr! Sie müssen schon ruhig liegen, sonst können wir die Untersuchung nicht machen!«

Ich wackelte mit dem linken Fuß, zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Als die hämmernden Geräusche des Magnetfelds einsetzten, begann ich leise zu zählen. »1634« dachte ich gerade, da erstarb das Gehämmer, und die Liege fuhr zurück in die Ausgangsposition.

»Ergebnis dann nächste Woche bei Ihrem behandelnden Arzt«, sagte die Krankenschwester und war aus dem Zimmer, bevor ich auch nur richtig auf der Liegenkante saß.

Es dauerte anderthalb Stunden, dann setzte Bill zur Landung auf einem See an. Gerade als wir uns entspannt hatten. Mit einem kreisförmigen Manöver testete er die Windverhältnisse. Dann landete er auf dem Lake Wabatongushi, vor dem hölzernen Haupthaus einer Lodge mitten in der kanadischen Seenplatte. Der Besitzer stand auf dem Steg, um uns persönlich zu empfangen. Er hieß Al und sah genauso aus, wie man sich einen Mann aus den Wäldern Kanadas vorstellt: kräftig, vollbärtig, in Jeans und Flanellhemd.

»Hey ya«, er gab uns zur Begrüßung die Hand. Mit wenigen Worten veranlasste er das Notwendige für unsere Unterbringung, um sich dann bis zum Abend zu verabschieden. Die Lodge erstreckte sich über mehrere kleine Inseln. Wir bekamen eines der wenigen Häuser zugewiesen, zu denen man zu Fuß gehen konnte, statt mit einem Ruderboot überzusetzen. Einer der Angestellten belud sich mit unseren Taschen, und Thomas folgte ihm mit seiner Fototasche, die er wie alle Fotografen niemals aus der Hand gab. Ich stolperte ihnen hinterher, durch eng stehende Stämme und über Wurzeln, die aus dem mit Laub bedeckten Boden hervorstaken. Nach zwanzig Metern hatten die beiden ungefähr fünfzehn Meter Vorsprung. Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich versuchte einige schnelle Schritte. Blieb an einer Wurzel hängen und lag schon wieder auf dem Boden. Irgendwie schuldbewusst rappelte ich mich auf. Die anderen waren zu weit entfernt, sie hatten meinen Sturz nicht mitbekommen. Aber in mir waren plötzlich wieder Zweifel, ob ich diese Reise würde überstehen können.

Als ich unsere Hütte erreichte, hatte der Angestellte schon unsere Taschen hineingestellt. Thomas hielt die Kamera im Anschlag. »Ontario« war ein Indianerwort und bedeutete »glitzerndes Wasser«. Die Indianer hätten kein besseres wählen können. Der See vor unserer Hütte sah in der nachmittäglichen Septembersonne aus wie mit flüssigem Gold überzogen. Vielleicht würde ich diese Reise nicht überstehen. Aber immerhin hatte ich das hier gesehen.

Ein Boot kam über das Gold gefahren. In ihm saß ein etwa 70-jähriger Mann mit zerfurchtem Gesicht. Ivan Madahbee hieß er, ein Indianer vom Stamm der Ojibwe. Zur Begrüßung sagte er lediglich:

»Was wollt ihr sehen? Vögel? Fische? Waldtiere?«

Ivan würde unser Führer für die nächsten Stunden sein. Warum sollten wir nicht mit dem kanadischen Wappentier beginnen?

»Vielleicht einen Elch?«, schlugen wir vor.

»Kein Problem«, sagte Ivan. Half uns in sein Boot und legte ab.

Der beste Ort für Elche war auf der anderen Seite des Sees, einige hundert Meter entfernt. Also setzte Ivan zunächst den kleinen Außenbordmotor in Betrieb. Auf der Fahrt erzählte er uns, dass er Häuptling in einem nahen Reservat war. Ein Häuptling? Der Kollege und ich schauten uns beeindruckt an. So wie Winnetou? Mit Adlerfederschmuck auf dem Kopf, Tomahawk und Friedenspfeife immer griffbereit im Gürtel? Jederzeit und für jeden einen weisen Satz auf der Lippe? Gott sei Dank sagten wir nichts von dem Stuss, der uns gerade durch den Kopf schoss.

Häuptling in den Reservaten sei nämlich mittlerweile ein Wahlamt, erzählte Ivan: »Ziemlich langweilig. Reichlich Schreibkram. Nach drei Jahren habe ich mich nicht wieder wählen lassen und führe lieber Touristen.«

Mittlerweile hatten wir das andere Ufer des Sees erreicht. Ivan schaltete den Motor ab und lenkte das Boot in den Schatten des ufernahen Schilfs.

Dann begann er seine Versuche, einen Elch anzulocken. Eigentlich Routinearbeit für ihn. Schon fünfzehn Tiere hatte er geschossen – als Indianer durfte er sie erlegen, wann er wollte. Im Gegensatz zu anderen Jägern. Allerdings ging er, wie alle Indianer, nur dann auf die Jagd, wenn seine Vorräte aufgebraucht waren.

Heute hatte er es schwer, ein Tier anzulocken. Starker Wind fegte über das Wasser. Der alte Häuptling zog alle Register: Er stieß Lockrufe aus, die klangen, als würde er in ein Ofenrohr rülpsen. Rieb mit einem Paddel gegen Baumstämme. Leerte seine Wasserflasche in den See, um ein urinierendes Weibchen vorzugaukeln. Aber alles blieb vergeblich – der Wind blies seine Lockgeräusche einfach weg. Irgendwann gab Ivan auf und fuhr uns zurück. Selbst eine Familie Schwarzbären, die er uns im Vorüberfahren am Ufer zeigen konnte, besserte seine Laune kaum. Direkt vor dem Haupthaus der Lodge setzte er uns ab. Mittlerweile hatte sich das Abendrot über den See gelegt.

Das typische kanadische Abendessen besteht aus Steak, Backkartoffeln und Blaubeerkuchen. Danach gesellte sich Al zu uns. In ein paar Tagen würde die Saison zu Ende gehen und er mit der Familie in das Städtchen Hawk Junction umziehen, wo sie in ihrem Privathaus die langen Winter verbrachten.

»Im nächsten Jahr möchte ich gern Reittouren auf Elchen anbieten«, sagte er. Wir blickten erstaunt.

»Hab schon oft auf einem gesessen. Sind gute Reittiere. Aber die Regierung rückt die Genehmigung nicht raus.«

Auf eine trockene, wortkarge Art, in der er die meisten Sätze nur begann und mit vielsagender Miene beendete, kam Al ins Plaudern. Nach ein paar Jagdgeschichten – der scheinbar üblichen Angeberei unter kanadischen Männern – erzählte er, worauf er am meisten stolz war.

»Ich hab hier noch den gestresstesten Manager aus Toronto oder Ottawa zu Ruhe gebracht. Manche haben sogar nach einigen Tagen in meiner Lodge ihr Prozac weggeworfen.«

Al schaute mal wieder vielsagend und stemmte sich entschlossen auf den Lehnen seines Stuhls nach oben.

»Morgen früh schicke ich euch Paul vorbei.« Auf dem Weg zu seinem Zimmer drehte er sich noch einmal um.

»Ihr müsst ein bisschen Kanu fahren lernen, bevor ich euch zu den Indianern lassen kann.« Dann ging er schlafen.

Auf unseren inneren Uhren war erst früher Nachmittag. Also nahmen wir uns noch jeder ein Getränk aus dem Kühlschrank in der Ecke. Wir tasteten uns durch das kleine Waldstück bis zu unserer Hütte und setzten uns auf den Steg davor. Der Himmel war spektakulär. Die nächste Stadt war Dutzende von Meilen entfernt. Kein Kunstlicht störte den Sternenhimmel. Wie ein riesiger gepunkteter Schirm spannte sich die Milchstraße über uns. Am Horizont begann ein Polarlicht zu scheinen. Einige Sternschnuppen fielen vom Himmel. Als wir ihnen nachschauten, stellten wir fest, dass auch noch ein Satellit über uns seine Bahn zog.

»Ich finde, das ist übertrieben«, befand Thomas. Wir begannen schallend zu lachen.

Mir fiel dabei ein, dass ich seit heute Morgen nichts von meinem Kräutergranulat genommen hatte. Also zog ich das Tütchen aus meiner Jacke, schüttete mir eine Portion in den Mund und spülte mit einem Schluck aus der Flasche nach.

»Was ist denn das?«, fragte Thomas. »Nimmst du Drogen?«

»Ach. Ist zur allgemeinen Stärkung.« Das war nicht gelogen. Aber auch nicht ganz richtig. Meiner Stimme schien man das angehört zu haben.

»Wieso, bist du krank?«

»Pff« oder so ähnlich klang meine Antwort.

»Ich hab gesehen, wie du heute Nachmittag über die Wurzel gekippt bist. Und dich beim Umsteigen am Flughafen zweimal festhalten musstest.«

Da sagte ich ihm, an welcher Krankheit ich litt. Er sah ein bisschen nach dem Polarlicht und nickte dann.

»Ist gut. Ich mach die körperlich schweren Sachen. Berge hoch, steile Treppen und so. Aber ich warte nicht auf dich. Du passt auf meine Tasche auf, und ich komme dann wieder zurück.«

»Geht klar.« Erst jetzt merkte ich, dass ich vor einem Gespräch wie diesem Angst gehabt hatte. Und war erleichtert, wie einfach es war.

»Kann ich auch was für dich tun? Außer bei der Tasche warten?«

»Ja. Ich ekle mich vor Käse, Knoblauch, vor den meisten Fischen und solchem Zeug. Wenn uns so was angeboten wird, musst du das probieren.«

»Gemacht.« Erleichtert gab ich ihm die Hand. Dass ich damit zugestimmt hatte, in den nächsten Jahren Quallen und Schafshirn, Rindersehnen und Hund zu essen, konnte ich noch nicht ahnen. Im Moment hörte es sich an, als ob ich meinen Reisepartner komplett über den Tisch gezogen hätte. Das machte mich mutig.

»Was ist eigentlich mit dir? Warum hast du keine Haare?«

»Die sind mir ausgefallen, als ich sechzehn war. Innerhalb von ein paar Wochen. Ist irgendeine Autoimmunkrankheit. Meine Eltern dachten, dass ich sterben muss. Aber nachdem alle Haare weg waren, hat die Krankheit einfach aufgehört.«

»Nimmst du Medikamente?«, wollte ich wissen.

»Nö. Ich merke ja, wenn ich mich krank fühle.«

Dann ging er in seinen Teil der Hütte, um sich schlafen zu legen.

»Soll ich dich umwerfen, oder machst du das selbst?«, fragte Paul, unser Guide, am nächsten Morgen. Es war neun Uhr, und ich saß in der Badehose im Kajak. Paul hatte eines der Boote zum Üben hier im Swimming Pool der Lodge zu Wasser gelassen. Er gab mir Anweisungen, was zu tun war, wenn ich mit dem Boot umkippte. Zunächst sollte ich Ruhe bewahren. Dann die Hände ausstrecken und mit deutlichen Bewegungen gegen die Unterseite des Bootes klopfen. Damit die anderen sehen konnten, dass ich mir bei der ungewollten Drehung nicht irgendwo den Kopf angeschlagen hatte und ohnmächtig war. Erst dann sollte ich die Verschnürungen lösen, mit denen die wasserabweisende Plane an meinem Bauch befestigt war. Und dann, unterstützt durch einen kräftigen Tritt, aus dem Kajak gleiten.

»Alles verstanden?«, wollte Paul wissen.

Gottergeben zuckte ich mit den Schultern. Rollte zur Seite, und das Wasser schlug über mir zusammen.

Der Neurologe hatte einen Umschlag in der Hand. Er war jetzt mein behandelnder Arzt. Ein Spezialist für Multiple Sklerose, den ich seit wenigen Wochen kannte. Multiple Sklerose ist eine Autoimmunkrankheit. Klang schon mal fies. So als ob sie vier bis fünf Fäuste hätte. Dazu ein altsprachliches Abitur. Und trotzdem ihrem kleinen Bruder die Groschen aus dem Sparschwein klaut. Ungefragt war sie meine neue Untermieterin geworden.

Der Arzt hatte die Überweisungen besorgt, die notwendig geworden waren. Bei ihm waren die Ergebnisse zusammengelaufen. Er hatte sich in den letzten Wochen bemüht, die Buchstaben »M« und »S« in dieser Kombination so selten wie möglich zu verwenden. Denn je länger die Diagnostik andauerte, desto sicherer wussten wir, dass es genau darum ging. Und nun hielt er also einen Umschlag in der Hand.

»Das hier ist Ihr blauer Brief«, sagte er, nachdem ich mich gesetzt hatte. »Sie werden versetzt. Aber.« Er versuchte ein Lächeln.

Sie haben etwas gefunden, dachte ich. Für ein paar Sekunden füllte dieser Gedanke meinen ganzen Schädel. Fast war ich erleichtert. Immerhin hatte ich jetzt Klarheit und musste mir nicht immer neue, immer absurdere Erklärungen für meinen Zustand herbeidenken, während ich nachts die dunkle Zimmerdecke anstarrte. Der Neurologe saß mit dem Rücken zum Fenster. Ich sah an ihm vorbei. Auf der anderen Seite der Straße prallte mein Blick gegen eine Häuserfront aus Stein und Glas und Metall. Hier war alles neu. Das Haus, in dem ich saß. Das Haus gegenüber. Die ganze Gegend. Bei meinem ersten Besuch hatte ich eine halbe Stunde gebraucht, um die Praxis zu finden. Obwohl sie direkt neben einem neuen Hochbahnhof war. Ganz hier in der Gegend hatte ich mal gewohnt. Als es die DDR noch gab und auf der gesamten Westseite des Potsdamer Platzes gerade mal drei Häuser standen. Eines davon war der »Bellevue Tower«, ein ganz erlesenes Beispiel für scheußliche Architektur der 70er Jahre. Darin war meine Studentenwohnung gewesen. Mittlerweile natürlich längst abgerissen und durch ein Bürohaus ersetzt. Wurde jetzt mein bisheriges Leben abgerissen? Oder zumindest eine neue Krankheit hineingesetzt?

Immerhin – die Eichhornstraße, wo der Tower gestanden hatte, gab es noch. »Eichhörnchenstraße«, hatte meine erste Berliner Freundin immer gesagt.

»Herr Kohr?« Vor mir auf dem Tisch lagen zwei Blätter, die wie Röntgenbilder aussahen. Schnittbilder durchs Gehirn, wie sie in der MRT-Röhre erzeugt werden. In der grau melierten Masse des einen Hirns waren nur wenige winzige weiße Flecken zu erkennen. Das andere sah aus wie eine Wunderkerze. Oder wie der Nachthimmel über einer Lodge in Ontario. Nur ohne Satelliten. Der Neurologe zeigte auf das zweite.

»Hier sehen Sie einen Schnitt durch Ihr Hirn. Das Bild daneben zeigt ein gesundes Hirn. Jede weiße Stelle bei Ihnen ist eine Narbe, die entstanden ist, als die MS in Ihrem Hirn eine Entzündung ausgelöst hat. Ich zeige Ihnen das nicht, um Sie zu erschrecken. Sondern nur damit Sie sehen, dass die Krankheit schon eine ganze Weile …«

Was Eichhörnchen wohl heute macht? Nach einiger Zeit nannte ich sie auch so. Letztes Jahr hatten wir telefoniert. Da ging es ihr ganz gut.

»Zufällig beginnt in der Klinik, mit der ich zusammenarbeite, nächste Woche eine Studie über die Wirksamkeit eines neuen Medikaments. Ein Interferon-Derivat.«

Die Stimme des Neurologen war wieder da.

»Das nimmt man nur einmal wöchentlich. Mit einer Depotspritze. Überhaupt kein Problem. Ich kann Ihnen gleich mal einen Termin mit unserer Pharmareferentin …«

»Ich möchte gern nach Hause«, sagte ich und stand auf.

»Einen Moment!« Der Neurologe zog eine Plastiktüte unter seinem Schreibtisch hervor. Wahrscheinlich hatte er sie schon vor unserem Gespräch dort deponiert. Sie war voll mit Prospekten und einem dicken Karton. Auch eine DVD steckte drin. Ich nahm alles, nur um hier rauszukommen.

Wir verabschiedeten uns von Paul und Al. Am Steg wartete das nächste Wasserflugzeug. Es sollte uns zum North Channel bringen, dem Übergang von der Gregorian Bay zum Lake Huron. Thomas schaute mich betreten an. Diese Kiste sah nämlich noch älter aus als die, mit der wir hier angekommen waren. Im Gegensatz zu dem Piloten, der daneben stand und sich als Matti Mantari vorstellte.

»Der muss sich demnächst bestimmt zum ersten Mal rasieren«, murmelte Thomas auf Deutsch.

Wie nebenbei fragten wir Matti nach seinem Alter.

»21 Jahre«, grinste er.

Vorsichtig erkundigten wir uns, wie lange er den Pilotenschein schon besaß.

»Seit gestern«, er kullerte mit den Augen. »Das ist doch kein Problem für euch?«

Dann grinste er noch breiter. Zwei Stunden später setzte uns Mantari, der schon seit zwei Jahren als Berufspilot arbeitete, am Ufer des Lake Huron ab.

Direkt am Steg befand sich ein Schnellrestaurant der Kette »Tim Horton’s«. In den nächsten zwei Wochen sollte ich lernen, dass sich in der kanadischen Wildnis eigentlich immer an der nächsten Ecke ein »Tim Horton’s« befindet. Diese Kette, gegründet in den 1960ern von einem Eishockeyspieler, war so omnipräsent, dass Kanadier die Größe ihrer Siedlungen danach bemessen, wie viele Filialen sich dort befinden. »I live in a 3-Tim-Town« war ein Satz, den wir tatsächlich hören würden.

In dieser Filiale am Steg befand sich ein Mann, der auf uns wartete.

»My name is Joe«, sagte er.

Joe trug Jeans, Flanellhemd und einen struppigen Bart. Er war der zweite kanadische Indianer, den wir kennen lernten. Auch er trug keinen Federschmuck, hatte keinen Medizinbeutel um den Hals und auch sonst nichts bei sich, was man als alter Karl-May-Leser erwartet hätte. Allmählich fühlte ich mich betrogen.

»Lasst uns losfahren.«

Vor der Tür stand Joes Geländewagen. Ein riesiger Ojibwe-Krieger war gerade dabei, unsere Koffer einzuladen. Um den Weg vom Steg zum Wagen abzukürzen, hatte er sich kurzerhand alle drei Koffer unter die Arme geklemmt. Besonders angestrengt sah er nicht aus.

»Das ist Darren«, sagte Joe. Der nickte kurz und klemmte sich auf den Vordersitz.

Besonders gesprächig schienen die Ojibwe nicht zu sein. Das hinderte einen munteren Ureinwohner Bavarias wie Thomas aber nicht, umgehend loszuplaudern. Als wir nach wenigen Kilometern von der Straße auf einen befestigten Waldweg abbogen, lachten sie zum ersten Mal, und auch Darren begann mit tiefer Stimme Antworten zu brummen.

Ich lachte nicht mit. Ich fühlte mich verloren. Und zwar auf eine Weise, die ich bisher nicht gekannt hatte. Wenn die drei mich hier aus dem Auto warfen, war ich wirklich aufgeschmissen. Der Wagen rumpelte über eine schmale Fahrspur zwischen Bäumen und Gebüsch. Wie lange könnte ich hier allein überleben? Die fünf oder zehn Kilometer zum Imbiss würden mich einen halben Tag oder länger kosten. Wenn ich sie überhaupt schaffte. Wenn ich nicht unterwegs stürzte und mir etwas brach, von einem Tier angegriffen wurde oder die Orientierung verlor. Wenn mein Bein mir nicht vor Angst und Erschöpfung vollkommen den Dienst versagte und mich gelähmt im Wald zurückließ.

Seit meiner Kindheit hatten Fußmärsche von fünf oder zehn Kilometern nie ein Problem für mich dargestellt. Der Schulweg war lang gewesen. Wenn es mir zu Hause zu langweilig wurde, wanderte ich stundenlang über Weiden oder an den Landstraßen entlang. Begann eine Geschichte in mir zu wachsen, jagte ich sie auf endlosen Spaziergängen. Bis vor wenigen Monaten hatte ich mir den Ärger aus dem Körper gelaufen, wenn es Streit zwischen meiner Freundin und mir gegeben hatte. Das war nun vorbei. Das bekam ich nicht zurück. Wenn ich die Ärzte richtig verstanden hatte: nie wieder. Ich starrte aus dem Fenster und bemühte mich, nicht zu weinen.

Keine Ahnung, was man hier machte, wenn es dunkel wurde. Keine Ahnung, was zu tun wäre, wenn ein Bär oder ein Wolf auf mich zukäme. Wegrennen konnte ich vergessen, und im Erklettern von Bäumen war ich noch nie gut gewesen. Ich saß im Auto, drei Männer um mich herum, von denen nur einer den Namen meiner Krankheit wusste. Sie sahen in mir einen Mann, der gekommen war, um Abenteuer zu erleben. Sie hatten keine Ahnung, wie ich gerade da saß: Mutig, trotzig, abenteuerlustig – und verloren wie ein kleines Kind.

»Gentlemen, da sind wir!«

Joes Stimme holte mich zurück zu den anderen. Der Wagen hielt an einem See, der vielleicht noch schöner und lauschiger lag als der, über den uns Ivan gefahren hatte. An seinem Ufer standen zwei Tipis. Ein bisschen sahen sie aus wie das Indianerzelt aus Plastik, in dem ich mich als Kind im Garten versteckt hatte. Allerdings wesentlich größer. Vielleicht vier Meter hoch? Aus hellem imprägniertem Stoff, das Gerüst mit dicken Holzstäben in den Boden gerammt.

Zwei weitere Männer kamen auf uns zu. Ein kleiner mit skeptischem Gesichtsausdruck und intelligenten Augen – Howard. Und Matthew, der in seiner modischen Jeansjacke eher wie ein Geschäftsmann aussah und der später am Abend tatsächlich nach Hause fahren würde, um bei seiner Frau zu übernachten.

Nach der Begrüßung zeigte Joe auf das rechte der beiden Zelte.

»Packt erst mal aus. Dann trinken wir einen Kaffee. Was wir dann machen, wisst ihr ja.«

Ich wusste es nicht. Wahrscheinlich hatten sie das im Auto besprochen, während ich damit beschäftigt war, nicht loszuheulen.

Der Kaffee aus verbeulten Blechbechern schmeckte schlimm. Dann stand die erste Lektion unseres Indianerlebens an: Kanu fahren. Kein Problem, zwinkerte ich als erfahrener Kajaksportler dem Kollegen zu. Joe sah mich nachdenklich an. Eigentlich stiegen die Indianer nacheinander ins Boot, wobei derjenige, der im Bug saß, den Anfang machte. Doch Joe zog das Boot parallel zum Steg.

»Halt du hinten fest«, sagte er.

Beide Männer zerrten das Kanu mit aller Kraft gegen den Steg, und ich bestieg es, indem ich mich auf ihre beiden Rücken stützte. Thomas warf seine Ausrüstung ins Heck und setzte sich hinter mich. Vielleicht lag es am Abweichen von der Routine: Ausgerechnet als Joe zusteigen wollte, begann das Boot zu schwanken. Entschlossen versuchte Joe, es zu stabilisieren, aber vergebens. Er selbst schaffte noch den Sprung zurück auf den Steg. Thomas, seine Ausrüstung und ich klatschten ins Wasser. Während ich noch mit den Füßen nach Grund suchte, riss ich mein Notizbuch über die Wasseroberfläche und streckte es in die Luft.

»Don’t take me! Take my notes!«, brüllte ich. Leider war gerade kein Verleger in der Nähe, um meine todesverachtende Arbeitsmoral zu bewundern. Fairerweise muss man sagen, dass unsere Gastgeber erst zu lachen begannen, als sie uns ans Ufer gezogen hatten. Und sofort wieder aufhörten, als sie Thomas’ Blick sahen. Dessen Ausrüstung war komplett unter Wasser gewesen. Es kostete ihn mehrere Stunden, seine kostbaren Kameras und Objektive wenigstens einigermaßen wieder zu trocknen.

Am Nachmittag gab Joe seinen drei Kompagnons ein unauffälliges Handzeichen. Darren, Howard und Matthew gingen zu meinem Kollegen, der noch immer verdrossen neben seinen Arbeitsgeräten saß.

»Wir gehen jagen.« Darren schmetterte ihm eine seiner riesigen Pranken auf die Schulter. »Lust mitzukommen?«

»Auf jeden Fall!« Thomas nahm eine seiner Kameras, schaute probehalber durch den Sucher und schien mit dem Ergebnis zufrieden. Howard wandte sich zu mir um.

»Zwei Kanus, vier Männer«, lächelte er bedauernd. Als ob ich nicht heute Mittag am eigenen Leib erfahren hätte, dass auch drei Männer in ein Kanu passten. Und schon machten sie sich auf zum Steg, ohne sich noch einmal umzuschauen. Als sie über den See in Richtung Dämmerung, Jagd und Abenteuer verschwanden, spürte ich ein neues, fieses Brennen in meiner Brust. Zum ersten Mal war ich wegen meiner Krankheit ausgeschlossen. Sonst war immer ich es gewesen, der abwinkte. Diesmal hatten es die anderen beschlossen. Klar, was wollten sie auch mit einem wie mir? Bei der Jagd, wo man sich leise anpirschen muss. Schnell sein, manchmal beim Angriff, manchmal bei der Flucht. Als ihr Gelächter über den See klang, über Witze, die ich nicht mehr verstehen konnte, war ich kurz davor, mich zum nächsten billigen Hotel fahren zu lassen und von da zum Flughafen. Zum ersten Mal wollte ich einfach aufgeben.

Joe legte mir eine Hand auf die Schulter. Feierlich schaute er mir in die Augen.

»Knud, du weißt, dass jeder von uns einen Kriegsnamen trägt. Nun gebe ich dir auch einen. Ab heute bist du ›Canoed‹ – der Mann, der vom Kanu besiegt wurde.« Jetzt lachte auch ich. Immerhin.

»Komm mit in die Küche.« Joe nahm mich mit zu einem Aufbau von Gerätschaften, der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. Etwas abseits der Tipis war zwischen zwei Bäumen ein Seil gespannt, an denen Töpfe, Pfannen und Besteck baumelten. Davor standen Gewürze und sonstige Vorräte, alle in fest verschließbaren Behältern aus Metall oder Glas. Sogar einen kleinen Kühlschrank gab es. Daraus nahm Joe einen Fleischbrocken und warf ihn zum Anbraten in einen gusseisernen Topf.

»Gibt ein schönes Stück Elchbraten heute Abend«, sagte er. Und dann, ohne mich anzuschauen: »Was hast du eigentlich mit deinen Beinen?«

Ich sagte es ihm.

»Böse!«, sagte Joe. Zusammen trugen wir den Topf zu einer Feuerstelle. Sie bestand aus einem Steinkreis, über dem Äste zu einer kleinen Haltevorrichtung gegeneinandergestellt worden waren. Wir holten einen Eimer voll Wasser aus dem See und hängten den Topf zwischen den Ästen ein. Das alles hätte Joe natürlich auch allein geschafft. Vermutlich wollte er mir das Gefühl vermitteln, in diesem Männercamp in der Wildnis nicht komplett überflüssig zu sein. Wir schichteten Holz auf, entzündeten ein Feuer und sahen bei einem Becher Kaffee dem Fleisch beim Garen zu.

»Schade, dass du übermorgen wieder wegmusst. Sonst hätte ich dich zu unserem Medizinmann gebracht.«

Um uns herum dunkelte es.

»Sind deine Kleider noch nass?«, fragte er nach einiger Zeit.

»Ziemlich.«

»Weißt du, wo die von Thomas liegen?«

»Hat er auf dem Zeltboden ausgebreitet.«

»Hol das Zeug mal her.«

Etwas verwundert tat ich, was er verlangte. Joe nahm die Sachen entgegen und trug sie zu dem Wagen, mit dem er uns heute Morgen hierher gefahren hatte.

»Steig ein.«

Eine Zeitlang fuhren wir den Weg, den ich schon kannte. Dann bog Joe in eine kleine Straße ein. Nach etwa zehn Minuten wurde der Wald schütterer. Links und rechts des Asphaltbandes standen Häuser. Fertighäuser der billigsten Machart, das konnte ich sogar in der Dunkelheit erkennen. Straßenlaternen gab es hier nicht.

»Das ist die Hauptstadt unseres Reservats«, sagte Joe. »Die Tipis sehen ein bisschen anders aus als am See.«

Er hielt vor einem der besser aussehenden Häuser. Auch dieses war aus billigen Eternitplatten zusammengebaut, aber es sah gepflegter aus als die anderen. Es gab einen Carport und sogar einen kleinen Kräutergarten im Fenster. Joe schnappte sich die Taschen und schloss die Tür auf. Offenbar war dies sein Haus. Am Tisch der kleinen Küche saßen zwei Frauen und schälten Kartoffeln. Eine von ihnen schaute auf sein kurzes, aber nicht unfreundliches Knurren hin fragend