A bissel was geht immer - Helmut Dietl - E-Book

A bissel was geht immer E-Book

Helmut Dietl

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Beschreibung

Helmut Dietls letzter Film ist dieses Buch Bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr hat der große Filmregisseur Helmut Dietl an seiner Autobiografie gearbeitet. Das Ergebnis ist ein Buch, mit dem Helmut Dietl uns noch einmal überrascht – als exzellenter Schriftsteller. Brillant und auf genau die hintergründig-komische Art, die wir von ihm als Regisseur von »Kir Royal« oder »Rossini« kennen, erzählt Helmut Dietl hier über seine bayerisch-münchnerische Kindheit und seine Aufbrüche ins Leben. Da sind die Großväter, der eine Kommunist und KZ-Häftling, der andere Stummfilmstar. Da sind die sich ewig bekämpfenden Großmütter. Ein undurchsichtiger Vater und eine tapfere Mutter, die sich für ihren Sohn aufopfert. Wir erleben ein Feuerwerk von Liebes-, Trennungs- und Reisegeschichten, seine turbulente Zeit bei den Feldjägern und die ersten Schritte in die Welt des Films an der Seite schillernder Figuren wie Elfie Pertramer oder Walter Sedlmayr. Vor allem aber ist dies eine Hommage an all die Frauen, die Helmut Dietl bereits als junger Mann verzaubert haben. Schon früh wird hier sichtbar, was Helmut Dietl sein ganzes Leben war: ein Mann, der die Frauen liebte. Selten sind die spießigen Fünfziger- und Sechzigerjahre und die frühen Gegenwelten der Schwabinger Boheme sokomisch und unterhaltsam geschildert worden wie in diesem Buch, das von seiner Frau Tamara Dietl herausgegeben wird. Mit einem Nachwort von Patrick Süskind.

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Seitenzahl: 482

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Helmut Dietl

A bissel was geht immer

Unvollendete Erinnerungen

Herausgegeben von Tamara Dietl. Mit einem Nachwort von Patrick Süskind

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Helmut Dietl

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Helmut Dietl

Helmut Dietl (1944–2015) war zuerst Aufnahmeleiter und Regieassistent an den Münchner Kammerspielen. Bekannt wurde er durch herausragende TV-Serien wie »Münchner Geschichten« (1974), »Der ganz normale Wahnsinn« (1979), »Monaco Franze« (1983) und »Kir Royal« (1986) sowie durch Kinofilme wie »Schtonk« (1992), »Rossini« (1997) und »Late Show« (1999). Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. 1992 eine Oscar-Nominierung für »Schtonk«.

Die Herausgeberin

Tamara Dietl, Journalistin, Autorin und Consultant, war seit 2002 mit Helmut Dietl verheiratet. 2015 erschien ihr Buch »Die Kraft liegt in mir: Wie wir Krisen sinnvoll nutzen können«. Sie lebt mit ihrer Tochter in München.

Autor des Nachworts

Patrick Süskind, Schriftsteller und Drehbuchautor. Er arbeitete an zahlreichen Drehbüchern für TV-Serien und Filmen von Helmut Dietl mit. Sein Roman »Das Parfüm« war ein Welterfolg. Patrick Süskind lebt in München.

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Über dieses Buch

Helmut Dietls letzter Film ist dieses Buch.

Bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr hat der große Filmregisseur an seiner Autobiografie gearbeitet. Das Ergebnis ist ein Buch, mit dem Helmut Dietl uns noch einmal überrascht – als exzellenter Schriftsteller. Brillant und auf genau die hintergründig-komische Art, die wir von ihm als Regisseur von »Kir Royal« oder »Rossini« kennen, erzählt Helmut Dietl hier über seine bayerisch-münchnerische Kindheit und seine Aufbrüche ins Leben. Da sind die Großväter, der eine Kommunist und KZ-Häftling, der andere Stummfilmstar. Da sind die sich ewig bekämpfenden Großmütter. Ein undurchsichtiger Vater und eine tapfere Mutter, die sich für ihren Sohn aufopfert. Wir erleben ein Feuerwerk von Liebes-, Trennungs- und Reisegeschichten, seine turbulente Zeit bei den Feldjägern und die ersten Schritte in die Welt des Films an der Seite schillernder Figuren wie Elfie Pertramer oder Walter Sedlmayr. Vor allem aber ist dies eine Hommage an all die Frauen, die Helmut Dietl bereits als junger Mann verzaubert haben. Schon früh wird hier sichtbar, was Helmut Dietl sein ganzes Leben war: ein Mann, der die Frauen liebte. Selten sind die spießigen Fünfziger- und Sechzigerjahre und die frühen Gegenwelten der Schwabinger Boheme so komisch und unterhaltsam geschildert worden wie in diesem Buch, das von seiner Frau Tamara Dietl herausgegeben wird.

 

Mit einem Nachwort von Patrick Süskind

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kinderbilder

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Fragmente

Erinnerungen an eine Freundschaft

Personenglossar

Vorwort

Helmuts letzter Film ist dieses Buch. Wer es liest, wird einem bisher unbekannten Helmut Dietl begegnen. Einem Helmut Dietl aus einer Zeit, als er noch nicht der Helmut Dietl war. Aus der Zeit vor den Münchner Geschichten, dem Monaco Franze und Kir Royal, vor Schtonk und vor Rossini. Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Das war an einem sehr heißen Abend im Sommer 1997, und Helmut war schon lange der Helmut Dietl.

Es war eine Begegnung der Blicke. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Irgendeine Medienfirma hatte zu einem Empfang ins Kölner »Wasserturm«-Hotel geladen. Ich sah Helmut inmitten von Schauspielerinnen, Agentinnen und anderen Damen der Filmwelt. Es war eine Szene wie aus seinen Filmen, und er selbst verkörperte sein eigenes Klischee. Ganz in Weiß gekleidet saß er da und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Mir kamen Szenen aus Rossini in den Sinn, einem seiner größten Erfolge, der zu Beginn desselben Jahres dreieinhalb Millionen Zuschauer in die Kinos gelockt hatte.

Immer wieder schaute er zu mir herüber, und ich schaute zurück. Es war diese melancholische Genugtuung in seinem Blick, die mich zutiefst berührte. Und gleichzeitig war ich irritiert von der irreal anmutenden Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit, die sich in dieser Szene spiegelte und die mich noch lange beschäftigte.

 

Drei Monate später sahen wir uns wieder. Diesmal in München, zum Abendessen im »Romagna Antica«, natürlich genau in jenem italienischen Lokal, das als reales Vorbild gedient hatte für das fiktive Restaurant »Rossini«. Wieder mutete die Szenerie irritierend unwirklich an, und irgendwie hatte ich den ganzen Abend das Gefühl, im falschen Film zu sein. Am Tisch hinter Helmut – selbstverständlich wieder in Weiß und natürlich wieder ketterauchend – saß der laut monologisierende Bernd Eichinger mit ein paar Schauspielerinnen, die an seinen Lippen hingen. Helmut plante damals einen Spielfilm über das Leben und Sterben des bayerischen Schauspielers Walter Sedlmayr, den er seit den 1960er-Jahren kannte, der oft bei ihm gespielt hatte und der 1990 ermordet worden war. Ich hatte für SPIEGEL TV eine Dokumentation über den Tod von Walter Sedlmayr gemacht, und Helmut meinte, ich könne ihm deshalb vielleicht bei dem Drehbuch behilflich sein.

 

Irgendwie war jener Abend der eigentliche Beginn unserer Liebe – auch wenn es noch über zwei Jahre dauern sollte, bis wir endgültig zusammenkamen. Es war der Moment, in dem wir unser gemeinsames Lebensthema entdeckten: die großen Fragen des Künstlers an das Zusammenspiel von Realität und Fiktion. Die ganze Nacht philosophierten wir über den Unterschied zwischen dem »echten« Leben und dem Leben auf der Leinwand. Für Helmut, so begriff ich irgendwann in den frühen Morgenstunden, spielten am Ende weder Wirklichkeit noch Fiktion die eigentliche Rolle.

Ihm ging es vielmehr um die Wahrheit; um die Kunst, in all seinen Geschichten die Wahrheit hinter der Wirklichkeit zu erzählen. Mit seinen Komödien und Satiren die Wahrheiten der menschlichen Seele zu entlarven, ihre Schwächen, ihre Stärken, ihre Sehnsüchte, Ängste und auch ihren Selbstbetrug – diese Kunst war sein Leben, und darin war er genial.

Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens habe ich mit ihm gemeinsam verbracht und die Entstehung von zwei Filmen miterlebt. Habe miterlebt, wie unendlich hingebungs- und mühevoll sein künstlerisches Ringen um eben diese Wahrheit war. Habe miterlebt, wie Zettl, seine Satire über die Berliner Republik, 2012 mit den gnadenlosen Verrissen der Filmkritiker regelrecht hingerichtet worden war. Helmut hat aufs Schmerzlichste unter dieser Häme gelitten – als Mensch und auch als Künstler. Er fühlte sich zutiefst unverstanden durch die Vorwürfe, dass die Republik, wie er sie in Zettl gezeichnet hat, so in Wirklichkeit doch gar nicht sei. Verbittert schüttelte er über so viel Ignoranz den Kopf – weil es ihm eben gerade nicht um die Wirklichkeit, sondern um die Wahrheit der Berliner Republik gegangen war.

Nach dem Flop von Zettl fiel er in eine schwere Depression und eine große Schreibblockade. Nie wieder werde er einen Film machen können – davon war er überzeugt. Er begann Antidepressiva zu nehmen, in der Hoffnung, die Kränkung auf diese Weise bekämpfen zu können. Die Psychopharmaka halfen ihm dabei, nicht völlig in der eigenen, der inneren Dunkelheit zu versinken. Aber die Schreibhemmung konnten sie nicht lösen.

»Ich werde meine Memoiren schreiben«, verkündete er eines Morgens beim Frühstück. Er hatte wieder einmal die halbe Nacht nicht geschlafen und den Kampf gegen die Dämonen im Morgen-Grauen für verloren erklärt.

»Was hältst du davon?«, fragte er mich, ohne meine Antwort abzuwarten. »Wenn ich keinen Film schreiben muss, fällt mir das Schreiben vielleicht wieder leichter.«

 

Und genau so kam es. Helmut begann an seinen Memoiren zu schreiben und überwand auf diese Weise seine Schreibblockade. Wie früher bei seinen Drehbüchern arbeitete er auch diesmal enorm diszipliniert. Jeden Tag mehrere Stunden lang. Mit einem – wesentlichen – Unterschied allerdings. Er schrieb allein. Für das Verfassen seiner Drehbücher hatte er immer ein Gegenüber gebraucht, einen Koautor. »Hat auch was«, sagte er eines Tages amüsiert über sich selbst. »Hat wirklich was, gleichzeitig sein eigener Autor und Koautor zu sein.«

Monatelang schrieb er, ohne dass ich etwas lesen durfte, dafür aber immerhin von seiner zunehmend besseren Laune profitieren konnte. Sein Schreibtisch füllte sich langsam, aber stetig mit seinen kleinen feinen Kalendern der letzten vierzig Jahre, die ihm als Notiz-Tagebücher gedient hatten. Als ich ihn irgendwann einmal nach seinen Fortschritten fragte, antwortete er triumphierend: »Ich bin schon bei fast zweihundert Seiten und noch lange nicht das erste Mal verheiratet.«

 

Es war ein wunderschöner Sommerabend im Jahr 2013, als er mich fragte, ob ich Lust hätte, etwas aus seinen Memoiren zu hören. Unsere Tochter Serafina war bereits ins Bett gegangen, und wir saßen auf unserer Terrasse hoch über den Dächern von München. Er holte eine Flasche Rotwein und sein Manuskript. Dann begann er zu lesen. Die halbe Nacht lang. Und ich begann zu staunen. Das waren nicht die Memoiren, die ich erwartet hatte. Das war Literatur – und zwar vom Allerfeinsten. Wundervolle Prosa, die mich sehr beeindruckte. Eine brillante Erzählung über seine Kindheit und Jugend im München der Nachkriegszeit, die abgöttische Liebe zu seiner Mutter Else, die sich für ihn aufgeopfert hatte, über die latente Verachtung für den alkoholkranken Vater, der die Familie früh verlassen hatte. Seine Aufbrüche ins Leben, die Zeit beim Militär, seine ersten Berührungen mit der Welt des Films. Vor allem aber seine ersten Berührungen mit der Welt der Erotik – seine zärtliche, poetisch-sinnliche Liebeserklärung an die Frauen rührte mich am meisten. Helmut war schon sehr früh das, was er sein Leben lang geblieben ist: ein Mann, der die Frauen liebte.

»Du bist ein Schriftsteller geworden durch die Arbeit an diesem Buch«, sagte ich am Ende seiner Lesung. »Bin ich nicht geworden, Liebling, war ich schon immer«, erwiderte er. »Ich war immer ein Autor. Regisseur bin ich nur deshalb geworden, weil es niemanden gab, der meine Drehbücher genauso gut hätte inszenieren können wie ich selbst.«

 

Helmut schrieb weiter an dieser wunderbaren Geschichte seines Lebens. Mit großer Befriedigung schrieb er daran, jeden Tag, viele Stunden lang.

Bis zum 8. Oktober 2013. Bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem er seine Krebsdiagnose bekam. Danach war Schluss mit dem Schreiben, jedenfalls erst einmal. Über zweihundertfünfzig Seiten hatte er bis dahin geschafft – und war noch immer nicht das erste Mal verheiratet.

Als sich im Frühsommer 2014 sein Zustand nach der Strahlenchemotherapie stabilisierte, wollte er weiterschreiben. Aber es gelang ihm nicht mehr richtig. »Vielleicht kann man als Schwerkranker nicht wirklich gut sein eigener Koautor sein«, bemerkte er eines Tages und rief seinen Freund Patrick Süskind an. Er solle seine Kalender und Tagebücher aus den frühen Jahren mitbringen. Patrick kam, und bei einer »guten Tasse Tee« (Süskind) begannen die beiden die gemeinsame Zeit zu rekonstruieren. Viele Nachmittage ging das so, immer bei einer guten Tasse Tee und, wie mir schien, einer zarten und heiteren Freude über die gemeinsam verbrachte Lebenszeit.

Eines Morgens setzte sich Helmut wieder an seinen Laptop und schrieb weiter. Allerdings nicht da, wo er aufgehört hatte. Sondern da, wo er mit Patrick begonnen hatte, Kir Royal zu erfinden. »Dazu fällt mir im Moment am meisten ein«, sagte er. »Über die Zeit dazwischen werde ich später schreiben.«

 

Zu dem Später ist es nicht mehr gekommen. Im Dezember 2014 begann Helmuts Lungenkrebs Metastasen in die Wirbelsäule zu streuen. Im Februar 2015 gaben wir schließlich die Hoffnung auf Heilung auf und ersetzten sie durch die Hoffnung auf ein würdevolles Sterben bei uns zu Hause. Diese Hoffnung wurde erfüllt. Eine Woche bevor er starb, sprach Helmut noch einmal über seine Memoiren, die nun unvollendet bleiben mussten. Er bat mich, sie nach seinem Tod zu veröffentlichen.

»Für das, was ich nicht mehr geschafft habe, können die Leute ja meine Serien und Filme schauen«, sagte er mit einem Lächeln und dieser melancholischen Genugtuung im Blick. »In meinem Werk steckt die ganze Wahrheit über mich. Das bin ja sowieso alles ich.«

 

Tamara Dietl

München, den 26. April 2016

1

Andere feiern ihre Geburtstage. Ich nicht. Das liegt vielleicht daran, dass ich auf diesem Gebiet als Kind schon eindrucksvolle und daher unvergessliche Enttäuschungen erleben durfte. Keiner meiner Geburtstage vom dritten bis zum zehnten Lebensjahr war auch nur annähernd so verlaufen, wie ich mir damals einen Kindergeburtstag im Hochsommer vorgestellt hatte: Die Sonne sollte scheinen, es sollte aber nicht zu heiß sein. Zwischendurch oder auch gleichzeitig sollte es schneien, und zwar in gleichmäßig dicken Flocken. Auf keinen Fall sollte es jedoch kalt sein. Im hüfthohen Gras eines großen, wilden Gartens sollten bunt bemalte Eier versteckt sein. Baden sollte man können, aber auch Schlittenfahren, Drachen steigen lassen, Blinde Kuh spielen, singen, tanzen, lachen. Von den Geschenken, die ich mir als Kind zum Geburtstag wünschte, weiß ich nur noch, dass sie sehr viel zahl- und vor allem viel einfallsreicher waren als die, die ich schließlich bekam. Meinen Eltern konnte ich keinen Vorwurf machen, meinem Vater schon deshalb nicht, weil er wieder mal nicht da war, und meiner Mutter auch nicht, weil ich sie viel zu sehr liebte. Wo mein Vater hinfuhr, wenn er wegfuhr, wusste ich nicht genau. Er sei beruflich auf Reisen, hatte man mir gesagt. Diese Reisen mussten müde machen, denn wenn mein Vater gelegentlich an Wochenenden nach Hause kam, dann schlief er. Meine Mutter kochte, allerdings wohl nicht so gut wie die Großmutter väterlicherseits. Dieses Defizit war an Sonntagen ständiges Thema, sogar als sich meine Mutter einmal, überraschenderweise, bei der Zubereitung eines gekochten Rindfleisches selbst übertraf.

Fatalerweise hatte mein Vater recht, als er die gereichte Speise als »Tellerfleisch« bezeichnete und nicht als den Tafelspitz, den er von seiner Mutter gewohnt war. Grundsätzlich wäre das kein Problem gewesen, denn das Tellerfleisch war wirklich sehr gut, aber es war kein Tafelspitz. Es hätte gereicht, das Tellerfleisch als solches zu bezeichnen, und alles wäre in Ordnung gewesen. Meine Mutter jedoch machte den entscheidenden Fehler, ihrem durchaus wohlschmeckenden Gericht den hochstapelnden Namen Tafelspitz zu geben. Sie setzte sich damit in Konkurrenz zu ihrer Schwiegermutter und hatte den Kampf schon verloren, ehe er begann.

Noch verheerender waren die Folgen, wenn sich meine Großmutter mütterlicherseits des Herdes bemächtigte. Die Betty-Oma hatte nämlich im Gegensatz zur väterlichseitigen Greiner-Oma Gaumen und Zunge von hoher Unempfindlichkeit. Ob die Tatsache, dass die eine die Vornamen-Oma war, die andere jedoch, respektvoll, ihren Nachnamen vorangestellt bekam, mit den unterschiedlichen kulinarischen Fähigkeiten der Großmütter zu tun hatte, war mir als Kind zwar nicht zu sagen, aber zu vermuten gestattet. Es gab noch andere Hinweise, dass die Ehe zwischen Else Dietl-Greiner, geborene Else-Betty Donhauser, und ihrem Mann Heinz, meinem Vater, von Anfang an eine nicht sehr glückliche Verbindung war. Die Greiner-Oma nannte Else eine »Bürgerliche«, ein Ausdruck, der von der Schwiegertochter als ungerechte und vor allem ungerechtfertigte Herabwürdigung empfunden wurde, denn weder war die Familie Dietl-Greiner jemals adelig, noch gab es sonst einen ersichtlichen Grund, der so eine Beleidigung gerechtfertigt hätte. Wenn die Greiner-Oma, die Maria hieß, aber allgemein Mirzl genannt wurde, eine Kommunistin gewesen wäre, dann könnte man so eine Invektive vielleicht verstehen, sie war aber zeit ihres Lebens keine. Wenn überhaupt jemand in der Familie der marxistischen Ideologie verdächtigt werden konnte, dann der Großvater mütterlicherseits, Xaver Donhauser. Er war Schneider von Beruf und redete wenig.

Die Betty-Oma muss es schwer gehabt haben neben ihrem Xaver. Er war Atheist, sie war streng katholisch.Und die beiden sprachen auch angeblich nicht miteinander. Wie sie trotz dieser Hindernisse zu zwei Kindern kamen, blieb ihr Geheimnis. Bei Betty-Omas geradezu fanatischer Marienverehrung war eine unbefleckte Empfängnis nicht auszuschließen. Ihr Mann Xaver Donhauser wurde wegen seiner kommunistischen Parteizugehörigkeit von den Nazis verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gesteckt. Meine Erinnerung an ihn ist dunkel und beschränkt sich auf einen einzigen und kurzen Moment: Ein alter Mann mit wenigen weißen Haaren, gekleidet in eine verbeulte dunkelgraue Hose, ein hellbraun gestreiftes Hemd unter einem grau melierten Pullover mit V-Ausschnitt, darüber ein bräunliches, schon ziemlich abgewetztes Tweed-Jackett, betrat unsicher gehend und auf einen Spazierstock gestützt das Erdgeschoss eines großen Einfamilienhauses.

 

Da Vater, Mutter und Kind nur ein einziges Mal in ihrem gemeinsamen Familienleben ein solches Haus bewohnten, kann es sich nur um die ehemalige Villa einer Nazigröße gehandelt haben, die die amerikanischen Befreier beschlagnahmt und »Henry« Greiner – meinem Vater –großzügig zur Verfügung gestellt hatten.

Die Villa war in Neufriedenheim gelegen, einem Vorortsviertel in den westlichen Ausläufern der Stadt München. Die Straße, die zu dem Haus führte, war nicht geteert. Gegenüber breiteten sich Kornfelder aus, dahinter Wiesen und Wald. Etwa zehn Gehminuten weiter östlich, Richtung Stadt, war in einer von der Sozialen Wohnungsbaugesellschaft der Weimarer Republik um das Jahr 1930 errichteten Siedlung von Ein- und Mehrfamilienhäusern auch das kleine Häuschen der Greiner-Oma zu erreichen. Sehr praktisch für den Vater, wenn er seine Mutter besuchen wollte, sehr unangenehm für die »bürgerliche« Schwiegertochter und nicht unproblematisch für den kleinen Jungen, der seine Greiner-Oma innig liebte, aber spürte, dass zwischen seiner Mutter und der um die Ecke wohnenden Schwiegermutter die Distanz um ein Vielfaches größer war als die Entfernung zwischen den Häusern.

Der äußerlich durchaus gesund wirkende Großvater Donhauser starb einige Wochen nach seinem Besuch bei uns an einer Krankheit, die er sich offenbar im Lager zugezogen hatte. Welche, erfuhr ich nicht, möglicherweise war sie seelisch verursacht. Ich war häufig bei der Greiner-Oma untergebracht, da beide Eltern arbeiteten. An den Abenden des Wochenendes, wenn die Mutter freihatte – sie war Absolventin einer Handelsschule und irgendwo als Stenotypistin oder Sekretärin tätig –, legte sie zwei Sofakissen auf ein Fensterbrett im ersten Stock der Villa und stellte einen Stuhl davor, damit ich darauf stehen oder knien konnte. Sie öffnete das Fenster, Mutter und Kind lehnten sich auf die Kissen und schauten auf die dunkle Straße hinaus, in der weder jemand vorbeiging noch vorbeifuhr. Das Kornfeld gegenüber war in der Dunkelheit kaum zu sehen. Es gab keine Straßenbeleuchtung. Nur wenn der Mond ausreichend schien oder sich das Auge nach einiger Zeit an die Dunkelheit angepasst hatte, wären einzelne Gegenstände zu erkennen gewesen, wenn es solche gegeben hätte. Mutter und Kind warteten auf den Vater. Sie warteten darauf, dass sich zwei Scheinwerfer zeigten, die Scheinwerfer eines amerikanischen Trucks. Wenn der kam, kam auch der Vater.

 

Er saß immer vorne auf dem Beifahrersitz. Um sich das Warten, das sehr häufig vergeblich war, zu versüßen, aßen meine Mutter und ich Schokoladenpralinen, die damals sehr selten waren. Mein Vater hatte sie, wie viele andere Lebensmittel auch, aus der PX, dem Post Exchange Laden, in dem nur Angehörige der amerikanischen Streitkräfte einkaufen durften. »Henry« Greiner arbeitete, offenbar in hoher Funktion, für den Special Service. Was er da allerdings tat, wussten weder Frau noch Kind, deshalb wussten wir auch nicht, wann und ob er nach Hause kam und vor allem nie, wo er war, wenn er nicht kam. Ich erhielt auf diesbezügliche Fragen, sowohl von Vater wie von Mutter, unbefriedigende Antworten, die stets mit einem »Das verstehst du noch nicht« endeten. So unrecht hatten die beiden gar nicht, denn was zum Beispiel »Damenringkämpfe im Schlamm« waren und inwiefern sie ein »Special Service« sein sollten, das erschloss sich dem Kind erst, als es keines mehr war.

In Erinnerung blieb etwas ganz anderes. Nicht ob und wann der Vater kam oder nicht, sondern die mit den Fingernägeln ganz glatt gestrichenen Stanniolpapiere, in die die Pralinen eingepackt waren. Silbrig auf der Unterseite, wo sie mit der Schokolade in Berührung kamen, farbig bunt auf der Oberseite. Teils waren Linien zu sehen, die aber nicht durchgehend eine Farbe hatten, sondern wiederum in sich bunt waren. Sterne gab es und Mondsicheln, Kometen, Kugeln, Quadrate und Dreiecke. Am eindrucksvollsten waren Sterne und Mondsicheln. Meine Mutter war besonders verlässlich im Glattstreichen des Stanniolpapiers. Was ihre Hände verließ, sah aus wie gebügelt. Ich war mit meinen wesentlich kleineren Fingernägeln nicht ganz so erfolgreich. Vielleicht war ich auch ungeduldiger. Durch das abendliche Warten am Fenster entstanden so im Laufe der Zeit dicke Bündel von Stanniolpapier. Sie sahen aus wie etwas sehr Wertvolles. Zuerst verwendete ich das Wunderpapier, das gar kein Papier war, sondern eine ganz dünne Metallfolie, die sich zu allen möglichen Gestalten und Installationen formen ließ, zum Spielen. Mithilfe meiner Mutter entstanden realistische Dinge wie Häuser, Mauern und Straßen. Ich belebte dann die Szenerie mit Fabelwesen, die nur von mir identifiziert und benannt werden konnten. Wenn jemand fragte, welche Kreatur oder welches Tier beispielsweise ein etwa zwanzig Zentimeter langes, röhrenartiges Gebilde sein sollte, das sich nach dem einen Ende zu deutlich verjüngte, bekam man von mir nur die verächtliche, stereotype Antwort: »Das sieht man doch.«

Da sich niemand, vor allem Erwachsene nicht, die Blöße geben wollten, etwas nicht zu sehen, »was man doch sah«, wichen die Fragen bald einem Erkenntnis und Verständnis heuchelnden: »Ah ja … sehr schön, also was das Kind in dem Alter schon für eine Fantasie hat.« Man war offenbar der Meinung, dass Fantasie ein fortgeschrittenes Lebensalter voraussetzt.

Die so wertfrei begonnene Spielerei fand jedoch bald ein kommerzielles Ende. Es stellte sich heraus, dass Stanniol zu der damaligen Zeit tatsächlich in Deutschland ein rares und daher wertvolles Gut war. Deshalb verkaufte es der Vater, das weinende Kind erhielt als Trost einen Teddybären. Das Problem, das damals niemand verstand, war jedoch, dass man zu einem Teddybären, sei er auch noch so weich und kuschelig, außer Kosenamen nichts anderes sagen konnte. Ein Teddybär war ein Teddybär, »das sah man doch«. Weder konnte er ein Elefant noch eine Schlange werden, unmöglich eine Dampflokomotive oder ein Propellerflugzeug, und schon gar nicht so etwas Exotisches wie die nur in den Urwäldern von Stanniolistan vorkommenden Ungetüme wie der Schokopudding fressende Akakamuffelknupsel oder die ständig betrunkene Wildpatschlöffeline.

 

Im Herbst des Jahres 1950 fand diese Art von Spielereien ein Ende. Es gab eine Schultüte, einen Schulranzen und das dazugehörige imposante Gebäude. Dieses lag mehrere Kilometer weit entfernt, an der Kreuzung Fürstenrieder/Agnes-Bernauer-Straße, und konnte nur durch einen dreiviertelstündigen Fußmarsch oder mit dem Bus erreicht werden. Schon von Weitem war der Turm der Schule zu sehen, die höchste Erhebung des Vororts Laim. Von 1901 bis 1904 war an dem post-neugotischen Gemäuer gebaut worden. Es sollte das Wahrzeichen des im Jahr 1900 von der Stadt München eingemeindeten Dorfes werden. Es war ein schieres Wunder, dass dieses mächtige Bauwerk im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurde, denn es war so auffällig, dass es von Bord eines alliierten Bombers nur schwerlich übersehen werden konnte.

Die wenigen Erinnerungen des Erwachsenen an diese Volksschule, heute Grundschule genannt, sind die Eisblumen an den äußeren Scheiben der Doppelfenster links von der Schulbank des Kindes. Außerdem konnte es sein, dass es sanft schneite. Da sich solche Phänomene nur zu einer ganz bestimmten Jahreszeit ereignen, muss es Winter gewesen sein.

Das im Langzeitgedächtnis gespeicherte Bild vom Schreibwerkzeug des Griffels, eines rund gedrehten, massiven Schieferstiftes von ungefähr vier bis fünf Millimeter Durchmesser, der bis über die Hälfte von glänzendem, buntem Papier umwickelt war, sowie der dazugehörigen Schiefertafel mit dem gelbbraunen Schwämmchen, lassen vermuten, dass es sich um die erste Klasse Volksschule, also den Winter 1950/51 handelte. Bleibende Eindrücke, etwa von Lehrern oder Mitschülern, habe ich nicht. Man ist versucht, daraus den Schluss zu ziehen, dass ich mich bereits als Kind nur für mich selbst interessierte, eine Eigenschaft, die auch dem Heranwachsenden immer wieder vorgeworfen wurde, ebenso wie dem Erwachsenen und dem Alternden. Dieses ungewöhnlich selektive Gedächtnis entstand vermutlich durch die Erfahrungen in frühkindlicher Zeit. Schon damals schien sich das »Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand« tief in Hirn und Seele eingeprägt zu haben. Außerdem fand meine Lehrzeit für soziale Beziehungen weder in der Schule noch in der Familie statt, sondern, wenn überhaupt, auf der Straße, damals »auf der Gassn« genannt.

 

Parallel zur breiten Fürstenrieder Straße, der vom Laimer Bahnhof bis über den Waldfriedhof von Norden nach Süden verlaufenden Verkehrsader, hatte die Soziale Wohnungsbaugesellschaft schon 1928 begonnen, das Land nach Westen hin zu bebauen. So entstand unter anderen ein großer Wohnblock mit vier Stockwerken, direkt an der Fürstenrieder Straße, zwischen Inderstorfer- und Saherrstraße, mit weiträumigen Hinterhöfen, in denen Männer ihre Fahrräder abstellen und reparieren konnten. Frauen fuhren damals seltener Fahrrad als heute. Als Ausgleich dafür durften bzw. mussten sie häufiger zu Hause bleiben und in besagtem Hinterhof an zu diesem Zweck extra installierten Teppichstangen mit einem Haushaltsgerät namens Teppichklopfer, auch Ausklopfer genannt, den Teppich-, Bett- oder Wohnungstürvorleger kräftig bearbeiten und dabei zwangsläufig allerlei Aggressionen und Frustrationen loswerden. Wann immer solche weithin hörbaren Aktionen begannen, wurden fast gleichzeitig Fenster zum Hof geöffnet, und ältere Herren machten es sich auf den Fensterbrettern bequem. Sie schauten hinunter auf die Frauen, die mit ausladenden Körperbewegungen auf die Teppiche einhieben. Manche der Männer benutzten sogar Fern- oder Operngläser, um die wackelnden Pos und schwingenden Brüste aus der Nähe betrachten zu können.

Manche der Hausfrauen vollführten ihre Reinigungsbewegungen, so schien es wenigstens dem frühreifen Jungen, in einer so ausschweifenden Art, dass eine vorsätzliche erotische Provokation nicht ausgeschlossen werden konnte. Leider fand dieses Teppichklopfen eher vormittags als nachmittags statt, sodass man als Schulpflichtiger nur selten Gelegenheit hatte, von dem Schauspiel zu profitieren.

Ältere, schon in der Pubertät befindliche Anrainer pflegten an bestimmten Wochentagen, von denen sie wussten, dass ein entsprechender Andrang vor den Teppichstangen herrschen würde – meistens die Montage und Freitage der Monate Mai bis Ende September –, irgendeine Krankheit zu simulieren, die stundenlanges Verweilen an der frischen Luft eines geöffneten Fensters zwingend vorschrieb. Wenn das anregende Schauspiel in den Höfen nicht geboten wurde, konnte man dort auch Fußball spielen. Die Teppichstangen dienten dabei als ideale Tore.

 

Die westliche Begrenzung des Hinterhofes bildete eine mannshohe Hecke, die ab Frühsommer alles verbarg, was an Niedrigem hinter ihr geschah, im Spätherbst jedoch ihre Blätter verlor. An dieser Hecke vorbei führte außerhalb des Hofes ein schmaler Weg von etwa eineinhalb Metern Breite, der auf der gegenüberliegenden Seite wiederum von einer Hecke des gleichen Gebüsches begrenzt wurde. Hier jedoch war sie ungefähr alle zehn Meter unterbrochen von schmalen, etwa ein Meter vierzig hohen, aus Staketenhölzern gezimmerten Gartentüren, die in leicht bemoosten Betonpfählen verankert waren. Auch die Holzlatten waren schon grünlich von der Feuchtigkeit, was darauf schließen lässt, dass sie nicht aus der verwitterungsfesteren Edelkastanie geschnitten waren, sondern eher aus dem billigeren Fichten- oder Tannenholz. Um zu verhindern, dass Mensch oder unerwünschtes Getier darüberkletterten, waren die Latten oben spitz zugeschnitten. Dies nützte aber schon deshalb nichts, weil zwischen den einzelnen Latten, wahrscheinlich aus Ersparnisgründen, genügend Platz gelassen war, dass sich potenzielle Eindringlinge auf die Querträger stützen und so, gefahr- und problemlos, das Hindernis überwinden konnten. Die Gartentür ließ sich selbstverständlich auch mit einem Schlüssel öffnen. So einen besaß ich. Ich hatte ihn der Greiner-Oma mit ihrem ausdrücklichen Einverständnis gestohlen. Diese eher absurden Spiele machten uns beiden Spaß.

Mit der Betty-Oma war so was nicht möglich. Stehlen war Sünde und als solche irgendwo im Katalog der Zehn Gebote verzeichnet. Den kannte die Betty-Oma auswendig und zitierte ihn bei jeder Gelegenheit. Die Greiner-Oma hingegen hatte kein so gutes Verhältnis zum »lieben Gott«. Man hörte sie selten von ihm sprechen und wenn, dann wurde er eingepackt in eher abschätzige Redewendungen wie »Achduliebergott«, »Ohgottohgottohgott« oder auch »Meingottmeingott«, letztere mit der Betonung auf »mein«, was jedoch in keiner Weise als Possessivpronomen gemeint war. Ob die »alte« Frau, damals jedoch höchstens Anfang sechzig, schon früh eine überzeugte Atheistin gewesen war oder sie erst durch ein Leben, geprägt von überwiegend schlechten Erfahrungen, darunter zwei Weltkriege, einfach nicht mehr an Gott glaubte, vor allem nicht an den »lieben«, konnte man im Alter von sechs bis acht Jahren natürlich nicht wissen.

 

Aber man machte in Hinsicht Religionsunterricht auch andere, gegenteilige Erfahrungen. Wenn das Kind an der Hand von Betty-Oma einem Kapuzinermönch begegnete, was nicht ungewöhnlich war, weil Betty-Oma in München in der Ehrengutstraße, in der Nähe der Kapuzinerkirche, wohnte und keine Gelegenheit versäumte, in der Kapuzinerstraße an der Kapuzinerkirche vorbeizugehen, um einen oder mehrere Kapuzinermönche zu erspähen, dann ermahnte die Großmutter das Enkelkind, den heiligen Mann zu grüßen: »Gelobt sei Jesus Christus!« Das Kind in seiner Aufregung sagte jedoch »geliebt« statt »gelobt«, was dem Mönch offenbar besonders gut gefiel. Er griff in eine der Taschen seiner dunkelbraunen Kutte, holte aus einer prallen Spitztüte eine reife gelbe »Ringlo«, hochdeutsch auch Reineclaude genannt, heraus und übergab sie dem Kind, weihevoll wie eine Hostie, mit feierlichen Worten und einem ebensolchen Lächeln. Der Großmutter sagte er, dass er den Versprecher fast noch besser fände als das Original. Daraufhin war Betty-Oma lange Zeit sehr stolz auf ihren Enkel.

Auch dieser dachte sich seinen Teil. Die Sache mit der »Ringlo«, einer seltenen Frucht, die er besonders gerne aß, hatte ihn sehr beeindruckt. Auch die Kleidung des Mönches, das weite Gewand mit der Kapuze, fand er elegant und gleichzeitig geheimnisvoll. Die Großmutter erzählte dem Kind, dass der Kapuzinerorden ein ganz besonderer sei, weil sich seine Mitglieder in erster Linie um Arme und Kranke kümmerten, erst dann um sich selbst. Sie stünden sehr früh auf und beteten erst, bevor sie frühstückten. Dann würden sie den ganzen Tag arbeiten, hauptsächlich in Krankenhäusern und Heimen, in denen die Armen, die kein Zuhause hatten, übernachten durften. Zu essen gebe es für die Mönche immer nur Wasser und Brot, an Sonntagen eine warme Suppe, weil sie selbst so arm seien. Am Abend beteten sie wieder, nachdem sie tagsüber ebenfalls häufig gebetet hätten. Danach legten sie sich, meist hungrig, auf ihre harten Holzpritschen nieder, weil sie sich keine weichen Betten leisten konnten und wollten, und schliefen, in Gedanken an eine Vielzahl christlicher Märtyrer, denen es noch viel schlechter gegangen war als ihnen, zufrieden ein. Mir taten die armen Mönche leid. Aber ganz so schwer, wie die Betty-Oma das elende Leben der Gottesdiener darstellte, konnte es auch nach kindlichem Ermessen kaum sein. Immerhin wölbte sich die Kutte etwas um den Bauch des Gottesmannes, was wohl nicht allein von Brot und Wasser kam, und immerhin hatte er eine Tüte voll mit »Ringlos« in der Tasche. Es war eine Lektion in Sachen Mythenbildung, die das Kind hier erhielt.

 

Was war die Wahrheit, was die Wirklichkeit? Stimmte das eine mit dem anderen überein oder widersprach es sich? Und welche Geschichte war die interessantere: die vom dickbäuchigen Ringlokapuziner oder die des asketischen Mönches, der in der Tradition des »Ordens der minderen Brüder« auf hölzernen Pritschen schläft und von heiliggesprochenen Märtyrern träumt?

Welche erzählt man gerne weiter?

 

Wenn der kleine Junge die Gartentür mit dem »gestohlenen« Schlüssel öffnete, waren es noch höchstens fünfzehn Schritte, um über einen schmalen Kiesweg den rückwärtigen Eingang zu Greiner-Omas kleiner Doppelhaushälfte zu erreichen. Die Soziale Wohnungsbaugesellschaft hatte die Siedlungen außerordentlich bewohnerfreundlich konzipiert und gebaut. Es gab in südlicher Richtung, rechtwinkelig von der Inderstorfer Straße abgehend, fünf Straßen mit dem gleichen Bebauungsmuster. Jede der Straßen war ungefähr zehn Meter breit und an die zweihundert Meter lang. Bebaut waren sie mit einstöckigen Reihenhäusern, die Keller und Speicher sowie nach hinten raus kleine Gärten von je etwa zweihundert Quadratmetern hatten. Von diesen Gärten hatte ein jeder seine eigene Teppichstange. Damit die Wohnanlage nicht allzu uniform wirkte, waren die Reihenhäuser unterschiedlich angeordnet. Es gab Zwei-, Drei- und Vierspänner, und es gab auch verschiedene Grundrisse.

Dies hatte zur manchmal verwirrenden Folge, dass der nachbarliche Besucher, wenn er eines der äußerlich sehr ähnlichen Häuser betrat und gleich eilig links zur Toilette wollte, entweder gegen eine Wand prallte, weil da gar keine Tür war, oder – was für einen kleinen Jungen besonders peinlich war – mit schon geöffneter Hose im Wohnzimmer des Nachbarn oder in seiner Küche stand.

Bei der Greiner-Oma, die am Ende der Gaishofer Straße eine Doppelhaushälfte mit der Nummer 47 bewohnte, konnte einem dieses Malheur nicht passieren. Hier führte die erste Tür links nach der Eingangstüre tatsächlich zur Toilette. Wollte man diese nicht benützen, ging man den kurzen Gang entlang, auf dem man dann entweder nach links zur Küche abbog oder ebenfalls links die Treppe zum Obergeschoss bestieg. Man konnte aber auch geradeaus gehen, die Tür zum rechteckig geschnittenen Wohn- und Esszimmer öffnen, um an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes eine ältere Frau im Hausmantel sitzen zu sehen. Auf dem Tisch standen eine Kaffeekanne, durch die wollene Wärmehaube nicht gleich als solche erkennbar, daneben eine Tasse aus Meißner Porzellan mit dem dazugehörigen Unterteller in Zwiebelmuster und einem kleinen silbernen Löffel. Das Ensemble wurde vervollständigt durch Milchkännchen und Zuckerdose, ebenfalls aus dem wertvollen alten Porzellan, das aber an den Rändern schon leichte Schrammen aufwies. Leicht gekrümmt saß die Greiner-Oma auf einem Biedermeierstuhl, trug ihre Lesebrille und las Zeitung. Jeden Tag außer Sonntag, denn sonntags gab es damals keine.

 

Welche Zeitung das war und ob sich das Kind im Alter von sechs Jahren, als es gerade anfing lesen zu lernen, dafür interessierte, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, dass es eine andere Zeitung war als die, die die Nachbarn lasen. Manche Seiten von Greiner-Omas Zeitung waren auch mit sonderbaren Schriftzeichen bedeckt, die mir fremd erschienen. Zu welcher Tageszeit die Greiner-Oma ihre Zeitung las, das weiß ich auch noch: Es geschah zweimal am Tag: Das erste Mal las sie darin morgens, da schien die Sonne, allerdings nur im Sommer, durch die zwei nach Osten gerichteten Fenster ins Zimmer. Im kleinen Garten davor warf sie lange, schräge Schatten. Das zweite Mal war es später Nachmittag, da stand die Sonne schon tief im Westen, allerdings nur im Winter. Im Garten lag Schnee, das Zimmer war dunkel, bis auf den Platz am Tisch, den eine Leselampe erhellte.

Sonderbarerweise gibt es keine Erinnerungsbilder, die die Greiner-Oma am späten Nachmittag in einer wärmeren Jahreszeit, Zeitung lesend, am Tisch des Wohnzimmers zeigen. Tat sie es vielleicht heimlich irgendwo anders? Las sie die Zeitung vielleicht an dem alten Holztisch, der im Garten nahe der Begrenzungsmauer unter der Linde stand und immer wackelte, egal wie viele Bierfilze man unter egal welches Tischbein schob? Nein, an diesem Tisch wurde nicht gelesen, an diesem Tisch wurde gegessen, und zwar nicht einfach irgendwas.

Was an diesem Tisch gegessen wurde, im Sommer, im Schatten der ausladenden Krone des Baumes, waren die feinsten Speisen, die sich ein Kind vorstellen und eine Großmutter wie die Greiner-Oma mit wahrer Zauberkraft herstellen konnte: Zwetschgenknödel oder gar, als Höhepunkt der Feinschmeckerei, Aprikosenknödel. Für diese ursprünglich in der österreichischen Küche beheimatete und dort Marillenknödel genannte kulinarische Kostbarkeit wurden die Früchte zuerst entkernt, mit jeweils einem Stückchen Würfelzucker gefüllt und dann mit einem Teig aus Kartoffeln, Mehl, Eiern, Salz und etwas Muskat ummantelt. Anschließend hatte die Köchin sie zu einem kinderfaustgroßen Knödel zu formen, in Ei und Semmelbröseln zu panieren und in heißem Fett goldbraun zu backen. Schließlich wurden sie noch mit Zucker und Zimt bestreut. Und so wurden sie auf dem wackeligen Holztisch unter der Linde von der Oma serviert.

Das Kind saß der Großmutter gegenüber und konnte es kaum erwarten, den ersten dieser noch warmen Marillenknödel hinunterzuschlingen. Um einen Engpass in der Speise- und eine Blockade der Luftröhre zu vermeiden, hatte die Greiner-Oma ihrem Enkel verordnet, die Knödel zuerst mit der Gabel in gefahrlos essbare Stücke zu zerteilen und dann erst zu verzehren. Insgeheim freute sie sich natürlich über die Gier und die Lust des Kindes auf die von ihr zubereiteten Spezialitäten. Es würde sich in der Familie herumsprechen, die Betty-Oma würde sich grämen, auch die »bürgerliche« Schwiegertochter würde vermutlich den vom kleinen Sohn stolz berichteten neuen Rekord von achtzehn hintereinander gegessenen Marillenknödeln mit ebenso süßsaurem Lächeln zur Kenntnis nehmen, wie sie bereits den Verzehr von zunächst zehn, dann zwölf und schließlich fünfzehn kommentiert hatte. Diesmal allerdings war die Grenze überschritten. Achtzehn Knödel hält kein Magen aus, schon gar nicht der eines kleinen Kindes.

Die Greinerin war sich keiner Schuld bewusst, denn sie wusste genau, dass sie nur zehn Knödel gemacht hatte. Vier davon hatte sie selbst zu sich genommen, also konnte das Kind nur sechs gegessen haben und keinesfalls dreimal so viel. Der Familienstreit, der nun ausbrach, drehte sich nun nicht mehr nur um Ernährungsfragen, sondern auch um ethische und moralische Probleme. Während sich die Ernährungsfragen darum drehten, dass das Rindsgoulasch der Großmutter grundsätzlich zu scharf sei, dass generell alle Speisen einen zu starken Beigeschmack von Knoblauch und Zwiebeln hätten (was dazu führte, dass das Kind häufig unter Blähungen litt), dass das Paprikahuhn viel zu paprikalastig und die Nachspeisen wie Kaiserschmarrn, Apfelstrudel mit Vanillesoße, Salzburger Nockerln oder gewuzelte Mohnnudeln zu schwer, zu fett und zu süß seien, waren die in der Hauptsache von der Betty-Oma vorgebrachten Argumente religiöser Natur: Wer lügt in dieser Angelegenheit wen an?

Während ich mit Magenbeschwerden, die ich mir übrigens nicht durch die Marillenknödel zugezogen hatte, sondern durch übermäßigen Genuss von Gummibären, die ich bei unerlaubtem Kartenspiel mit anderen Gassenkindern gewonnen hatte, zu Hause im Bett lag, analysierte die gottgläubige Frau den Hergang der Marillenknödelaffäre: Wenn der Junge nur sechs Aprikosenknödel gegessen, aber von achtzehn erzählt habe, dann könne er sich nur entweder verzählt haben oder er habe gelogen. Da er jedoch bereits als Kind bekanntlich ein glänzender Kopfrechner gewesen sei, scheide erste Möglichkeit aus. Die zweite scheide ebenfalls aus. Denn hätte er nicht achtzehn von diesen Knödeln gegessen, läge er jetzt nicht krank im Bett. Außerdem könne sie sich gut erinnern, dass der Magen des Kindes bereits bei sechzehn Stück solcher Knödel schon einmal leicht revoltiert habe. Also sei die Lügnerin überführt: Es sei Mirzl Greiner, und sie habe nicht, wie sie behauptet, nur zehn Knödel angefertigt und selbst davon vier gegessen, sondern höchstwahrscheinlich mindestens zwanzig oder sogar zweiundzwanzig. Jedenfalls habe sie gelogen. Hätte das Kind gelogen, könnte man in Anbetracht seines geringen Alters von einer lässlichen Sünde ausgehen, bei Frau Greiner sei das jedoch nicht der Fall. Hier handle es sich um eine eindeutige grobe Lüge, noch dazu im Verein mit Körperverletzung. Diese Machenschaften seien ein eindeutiger Verstoß gegen das achte Gebot. Kein Wunder bei einer Frau, die nie, auch an Sonntagen nicht, zur Messe gehe. Dabei wohne sie in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche Herz Jesu, die höchstens zweihundert Schritte von ihrem Haus entfernt sei, wogegen man zum »Wirtshaus zum Grünen Kranz«, in das die Greinerin gelegentlich ihr Enkelkind mit einem irdenen Maßkrug schickte, um an der Gassenschenke einen Liter frisches Bier vom Fass zu holen, mindestens doppelt so lange gehen müsse. Im Übrigen sei man nicht hundertprozentig sicher, dass das Kind durch das frische Bier nicht in die Versuchung geführt würde, eine, wenn auch geringe Menge des Alkohols zu sich zu nehmen.

 

Else musste sich von ihrer Mutter noch einige weitere Gründe anhören, warum die gottlose Schwiegermutter völlig ungeeignet sei, den Jungen richtig zu erziehen. Der verstorbene Mann der Greinerin sei ein unseriöser Filmschauspieler gewesen und habe im Jahr 1933 aus immer noch ungeklärten Gründen Selbstmord begangen. Eine Todesart, die jedenfalls unter Christen eine Todsünde sei. Ferner sei Fritz, der ältere Bruder von Heinz, irgendwann irgendwo verschollen, Heinz selbst sei zuerst in einem Zirkus außer Landes, dann aus unerfindlichen Gründen nicht im Krieg gewesen, in dem doch alle waren, außer ihrem Mann, der im Lager leiden musste. Und zur Kapuzinerkirche, in der sie jeden Morgen die heilige Messe besuche, ginge man von ihrer Wohnung in der Ehrengutstraße zu Fuß mindestens zehnmal so lange wie zu Herz Jesu vom Haus der Greiner-Mirzl. Erschwerend komme noch, jedenfalls im Winter, hinzu, dass die Kapuzinerkirche nicht geheizt sei, wogegen es in Herz Jesu immer mindestens achtzehn Grad habe. Das habe sie heimlich, mit einem Thermometer, im letzten Winter eigenhändig gemessen. Bei dieser Gelegenheit seien von ihr auch die Schritte von der Kirche bis zum Haus der Greinerin unabsichtlich, aber genau gezählt worden. Ihre, Bettys Schrittlänge sei ungefähr die gleiche wie die der gottlosen Mirzl, da sie sich und die andere in der Körpergröße nur unwesentlich unterschieden. Außerdem gebe es Gerüchte, dass Heinz, der meistens abwesende Vater des armen Jungen, ein Spion, wenn nicht gar ein Doppelspion gewesen oder noch sei. Als sich nämlich amerikanische Panzerverbände, die ihren Xaver mitsamt dem ganzen KZ Dachau befreien wollten, zuerst von Nordwesten dem Dorf Arnbach genähert hätten, sei Heinz Dietl unter dem Namen Henry Greiner zusammen mit den alliierten Soldaten und noch dazu in amerikanischer Kampfuniform als Führer und Dolmetscher der Einheiten aufgetaucht und habe verhindert, dass die kleine Ortschaft beschossen wurde.

Das könne sie bezeugen, weil sie genau zur gleichen Zeit in Arnbach beim Bauern Graf Butter, Eier, Brot und Milch gehamstert habe. Und die seltsame Fügung, dass es eine Indersdorfer Straße sowohl in Arnbach als auch in München gebe und dass sich das herrschaftliche Haus, das Heinz/Henry, für welche Dienste auch immer, von den Amis erhalten habe, ausgerechnet in einer Straße befände, die genau so heiße wie die, die durch das kampflos eroberte Dorf führte, sei ganz bestimmt kein Zufall, sondern deute auf eine verschlüsselte Nachricht des amerikanischen Geheimdienstes hin.

Elses Einwand, dass man die Straße in München in der Mitte mit hartem »t«, die andere jedoch mit weichem »d« schreibe, wurde von ihrer Mutter nicht zur Kenntnis genommen. Stattdessen erging sie sich in weiteren Vermutungen, Gerüchten und diffusen Anschuldigungen, die letztlich auf nichts anderes abzielten, als dem Kind jeden weiteren Umgang mit der Greiner-Oma unmöglich zu machen. Der Erste, dem diese Absicht klar wurde, war der Junge, der eigentlich in seinem Bett liegen sollte, um den verstimmten Magen auszukurieren.

 

Ganz leise hatte ich die Tür meines Zimmers einen Spalt weit geöffnet, um Betty-Omas wirre Monologe mitzuhören. Als ich genug gehört hatte, huschte ich zurück in mein Bett, wartete noch einen Moment, dann begann ich zu weinen. Zuerst leises, dann immer lauteres Weinen war meine Spezialbegabung. Ich brauchte nur an irgendetwas Trauriges zu denken, schon kamen mir die Tränen. In meiner jungen Seele hatte ich einen ganzen Katalog trauriger Umstände, Situationen und Begebenheiten angesammelt, die mir als geborenem Melancholiker jederzeit zur Verfügung standen und die ich nur abzurufen brauchte. So genügte es also zu denken, dass ich die geliebte Greiner-Oma nie wiedersehen würde, schon flossen die Tränen. Allein die Vorstellung, in Zukunft auf ihre Paprikahendl, ihr Goulasch, ihren Tafelspitz, ihr Wiener Schnitzel und ihre wunderbaren Mehlspeisen verzichten zu müssen und stattdessen der redlichen, aber fantasie- und geschmacklosen Küche der ebenfalls geliebten Betty-Oma ausgesetzt zu sein, verursachte bei mir regelrechte Weinkrämpfe.

 

Es dauerte keine halbe Minute, da beugten sich Mutter und Großmutter besorgt über das magenkranke Kind. Tränenüberströmt bat der Junge seine geliebte Mutter, ihn mit der Großmutter allein zu lassen, weil er bei ihr die heilige Beichte ablegen wolle.

Else staunte über das seltsame Begehren, da sie aber in seinem linken Auge ein zehntelsekundenkurzes, komplizenhaftes Zwinkern wahrnahm, eine Botschaft, die ganz eindeutig nur ihr, der Mutter galt, ging sie gehorsam aus dem Zimmer. Betty erklärte dem Kind, dass man so eine Prozedur nur bei Todkranken durchführe, und auch in einem solchen Fall sei dazu nur ein Priester befugt. Der Enkelsohn bestand jedoch eigensinnig auf der Beichte bei der Oma. Er ließ sich die Tränen trocknen und beichtete mit leiser Stimme die schweren Sünden, die er begangen hatte: Erstens habe er diesmal keine achtzehn Marillenknödel gegessen und damals auch keine sechzehn. Die Greiner-Oma habe nämlich wie immer nur zehn solcher Knödel gemacht, und er habe wie immer auch nur sechs davon gegessen. Mehr könne er von diesen ekligen Teigbatzen, die er nur der Greiner-Oma zuliebe hinunterwürge, gar nicht verdrücken. Als der Junge bemerkte, wie gut diese Schmähung der einen Großmutter bei der anderen ankam, fuhr er in seiner »Beichte« fort. Das Magen-Darm-Problem sei nicht durch die Knödel verursacht worden, sondern durch die Menge der Gummibären, die er beim Kartenspiel auf der »Gassn« gewonnen habe.

Betty-Oma glaubte, es handle sich um Spiele wie Quartett oder Ähnliches. Der Junge ließ sie in dem Glauben und verschwieg, dass es sich um »Wattn« handelte, ein Glücksspiel, das gerne in Hinterzimmern bayerischer Wirtshäuser von gestandenen Männern gespielt wurde, die nicht selten dabei Haus und Hof verloren. Mit den sechzehn bzw. achtzehn Knödeln habe er nur angeben wollen, das bereue er zutiefst, und er wolle es nie wieder tun. Man möge ihm verzeihen und insbesondere der Greiner-Oma nicht böse sein, die bestimmt nichts dafür könne, dass ihr Enkel so ein Lügner sei.

Betty-Oma war tief gerührt von den Bekenntnissen des Kindes und umarmte es inniglich. Natürlich verzieh sie ihm alles und schloss aus dieser Offenheit, dass sie ihm unter allen Omas doch die liebste sei. »Unter den Omas schon«, entgegnete der Junge, aber die Reihenfolge sei: »Zuerst die Mama, dann gleich dahinter sie, dann lange nichts, und dann erst, wenn überhaupt, die Greiner-Oma.« Gegenüber der Greiner-Oma hätte er natürlich diese Rangordnung entsprechend umgestellt, wenn sie ihn jemals gefragt hätte. Aber solche Fragen stellte diese lebenserfahrene Frau nicht.

Was denn mit dem Papa sei? Auf welchen Platz käme denn der in der Liste? Mit großen, sehnsuchtsvollen Augen sah das Kind seine Großmutter an, die, so beschränkt sie manchmal auch war, sofort begriff, dass sie diese Frage besser nicht gestellt hätte. Aus den Augen des Kindes quollen dicke Tränen, die Lippen zuckten, aber sie blieben stumm. Der Schmerz war ganz tief im Innersten verschlossen, er entzog sich jeder Formulierung, man erhielt keine Auskunft.

2

So wuchs ich also zwischen drei Frauen auf. Ich liebte an meiner Mutter alles, ohne irgendwelche Einschränkungen, an den zwei so gegensätzlichen Großmüttern ihre Verschiedenheit. Von allen dreien lernte ich viel. Betty hatte neben ihrer Liebe zu Gott auch eine Leidenschaft für Friedhöfe und Straßenbahnen. An ihrer Hand lernte ich früh die ganz verschiedenen städtischen Friedhöfe kennen. Besonders geheimnisvoll war der Südfriedhof, der etwa einen halben Kilometer südlich des Sendlinger Tors zwischen Thalkirchner- und Pestalozzistraße lag. Dort ruhten unter schweren alten Marmor- und Granitplatten, bewacht von moosbewachsenen, steinernen Engeln, all die berühmten Toten, nach denen die Stadt ihre Straßen benannt hatte: Ainmiller und Bürklein, Ett und Fraunhofer, Gabelsberger, Gärtner, Görres und Kaulbach, Klenze, Neureuther, Nussbaum und Ohm, Pettenkofer, Reichenbach, Schwanthaler, Senefelder, Spitzweg, Thiersch, Zenetti und viele andere. Ich wusste zwar nicht, was die genannten Herren alles vollbracht hatten, aber dass sie sehr berühmt sein mussten, das bewiesen schon die Haltestellen der Straßenbahnen, die wiederum nach den Namen der Straßen benannt waren. Natürlich gab es auch eine Haltestelle namens Goetheplatz sowie eine, die Schillerstraße hieß. Von diesen beiden Herren hatte ich aber noch nie etwas gehört. Auf dem Südfriedhof lagen sie jedenfalls nicht. Daraus folgerte ich, dass ein Klenze oder ein Schwanthaler weit bedeutender sein mussten als ein Schiller oder ein Goethe.

Vom Alten Südfriedhof, der Mitte des 16. Jahrhunderts als Pestfriedhof vor den Toren der Stadt angelegt worden war, hatte die Betty-Oma noch weitere gruselige Geschichten zu erzählen. So sollen anfangs des 18. Jahrhunderts an die achthundert Leichen von Opfern der Sendlinger Mordweihnacht in Massengräbern unter die Erde geschafft worden sein. Ich, der ich mit knapp sieben Jahren schon verstand, dass ein Massengrab im Gegensatz zu den prunkvollen Einzelgräbern etwas von einer ungerechten Güterverteilung an sich hatte, wollte unbedingt die genaue Stelle sehen, an der die achthundert Toten vergraben worden waren, und ging trotz Einwänden der überforderten Großmutter einem fauligen Geruch nach, der leider nur von einem Komposthaufen an einer Mauerecke ausströmte.

Als Entschädigung bot die Großmutter dem enttäuschten Enkelkind an, am Sendlinger-Tor-Platz die Trambahn Nummer 6 zu nehmen und die Lindwurmstraße hinaufzufahren, vorbei am Goetheplatz, wo das Amt sei, in dem sie praktischerweise gleich ihre Rente abholen könne, zu dem Sendlinger Bergerl, an dem das Sendlinger Kircherl stehe. An diesem Kircherl sei nämlich ein großes Wandgemälde zu sehen, auf dem der Schmied von Kochel, fahneschwingend und bewaffnet nur mit einer großen Keule mit eisernen Spitzen, als Anführer seiner bayerischen Bauern gegen die österreichischen Besatzer gekämpft habe. Durch einen schändlichen Verrat sei es dann 1705 zu der besagten Mordweihnacht gekommen, in der die Bayern ihr Leben für die Freiheit ihres Landes hingaben. Zur Befreiung von den Österreichern und ihrem Kaiser Joseph dem Ersten sei es zwar zunächst nicht gekommen, aber zum ewigen Gedenken an die Tapferen. »Lieber bayerisch sterben als kaiserlich verderben« soll der Eid gelautet haben, den sich die aufständischen Bauern schworen. Als ihn die Großmutter mit zitternder Stimme zitierte, liefen dem Jungen mehrere Schauer den Rücken hinunter, und jedes Mal, wenn er später mit der Linie 6 an der Kirche mit dem heroischen Gemälde vorbeifuhr, konnte er sich darauf verlassen, dass ihn eine wohlige Gänsehaut befiel.

So lernte ich, straßenbahnfahrend mit der Betty-Oma, allmählich meine Stadt kennen, die streng genommen gar nicht die meine war. Ich wurde nämlich am 22. Juni 1944 geboren, zu einer Zeit, in der München gerade wieder von alliierten Bombern angegriffen wurde. Else flüchtete damals hochschwanger aus der gefährdeten Stadt und brachte mich in dem Kurort Bad Wiessee am Tegernsee zur Welt. Diesen Ort konnte ich als Kleinstkind naturgemäß nicht als solchen wahrnehmen. Als erwachsener Mann sah ich ihn erst fünfundvierzig Jahre später wieder, als ich meine damalige Lebensgefährtin in eine der vielen Privatkliniken begleitete, die sich entlang des Seeufers breitgemacht hatten. Jegliche Suche nach Spuren war sinnlos, da ich als Säugling, der sich höchstens ein paar Tage in Bad Wiessee aufgehalten hatte, wohl keine hinterlassen haben dürfte. Die einzigen Kontakte, die später gelegentlich zwischen mir und meinem Geburtsort zustande kamen, waren meine durch mehrmalige Scheidungen und Eheschließungen ausgelösten Anträge an die Gemeinde, dem unbelehrbaren Wiederholungstäter ein entsprechendes Herkunftszeugnis auszustellen.

 

Die Greiner-Oma, zu der ich in den ersten zwei Jahren meiner Volksschulzeit meistens mittags kam, um dann am frühen Abend nach Büroschluss von meiner Mutter abgeholt zu werden, hatte außer bei der täglichen Zeitungslektüre wenig mit der Gegenwart und gar nichts mit der Zukunft im Sinn. Ihre Gedanken galten der Vergangenheit, und da besonders ihrem Mann.

Fritz Greiner, geboren am 1.1.1879 in Bratislava, das damals noch zu Ungarn gehörte, war ein viel beschäftigter Schauspieler, der nach einem kurzen Gastspiel am Schlierseer Bauerntheater, wo er Mirzl kennenlernte und sich in sie verliebte, ab 1918 zuerst in München, dann in Berlin in über achtzig Filmen erst Neben-, dann auch bald Hauptrollen spielte. Seine bedeutendsten Rollen waren die Titelfiguren des Wallenstein und des Andreas Hofer in den gleichnamigen Produktionen 1924/25 und 1929. Was man sich unter Filmtiteln wie – um nur einige zu nennen – »Der größte Gauner des Jahrhunderts« sowie »Der Verfluchte« oder »Der unsterbliche Lump«, »Der Zinker« oder »Dr. Sacrobosco, der große Unheimliche« vorzustellen hatte, war mindestens zwei Familienmitgliedern ganz klar: mir und auch der Großmutter mütterlicherseits. Für uns beide nämlich waren die Rollennamen des jeweiligen Filmtitels mit Person und Charakter des Schauspielers Greiner identisch. Daraus ergab sich das absolut negative Bild des Mannes bei Betty-Oma, das in dem Beiwort »unseriös« gipfelte, und ein über alle Maßen faszinierendes bei mir. Kraftvolle, dämonische, auch heldenhafte Figuren verkörperte der Großvater für mich.

Aber so war er gar nicht, sagte die Greiner-Oma, heldenhaft schon, kraftvoll auch, aber auf keinen Fall dämonisch. Und dann zählte sie, als ob sie sie irgendwann auswendig gelernt hätte, all seine guten Seiten und Eigenschaften auf: männlich schön sei er gewesen, großzügig und gütig, gescheit und humorvoll, verständnisvoll, immer gut gelaunt und ein vorbildlicher Vater, wenn er da war und nicht, wie in seinem Beruf üblich, oft auf Reisen. Von diesen Reisen habe er jedoch immer Postkarten mit ganz lieben Grüßen geschickt. Sie habe sie alle aufgehoben. Allerdings seien sie alle in deutscher, nicht in lateinischer Schrift geschrieben, sodass ich sie vielleicht erst später einmal, als Erwachsener, werde lesen können.

Als ich sie dann später tatsächlich las, wurde mir klar, warum die Oma mir diese Postkarten aus Madeira und Mexiko, aus Lissabon, Madrid, Paris, Wien, Bratislava, Budapest, Prag, Rom, Venedig und anderen magischen Orten nie vorlesen wollte. Aus den sich ständig wiederholenden »lieben Grüßen und Küssen« stieg ein verdächtiger Geruch von schlechtem Gewissen auf.

Aus manchen der postalischen Äußerungen des Großvaters war zu schließen, dass Mirzl ihren Fritz gerne auf seinen Reisen zu den Dreharbeiten begleitet hätte. Briefe von ihr an ihn gab es nicht. Sie habe ihm nicht geschrieben, das habe sich bei den kurzen Abwesenheiten nicht »gelohnt«. Aus den Poststempeln der Karten ging jedoch hervor, dass sich die »kurzen Abwesenheiten« zuweilen über Wochen und Monate erstreckten.

Der Großvater scheint viele gute Eigenschaften gehabt zu haben, aber ein guter Ehemann war er wohl nicht. Dennoch hatte Mirzl ihn geliebt, und sie tat es immer noch. Mit einem Stolz, der nicht ganz frei war von dezenter Beimischung des Schmerzes und der Wehmut, sagte sie, meist nach mehreren Gläsern Pfefferminzlikör, dass Fritz Greiner halt etwas war, was ich erst sehr viel später verstehen würde. Kurz vor dem Abitur, nach drei Jahren Unterricht in französischer Sprache, erinnerte ich mich an die Formulierung, die meine Großmutter damals gebraucht hatte: »un homme à femmes«, und übersetzte sie wörtlich. Heraus kam: »ein Mann zu/für/bei/Frauen«.

Fritz hatte seine Mirzl betrogen. Und das wohl nicht nur einmal, sondern gewohnheitsmäßig. Damals dachte ich über solche möglichen Fehltritte meines Großvaters nicht nach, weil ich die Vorgänge gar nicht begriff und sie mich auch nicht interessierten. Was ich jedoch unbedingt von der Greiner-Oma bis ins letzte Detail wissen wollte, war alles über Theater, Film und Schauspielerei. Mirzl, die selbst einmal Schauspielerin gewesen war, diesen Beruf aber ihrem Fritz und den beiden Söhnen zuliebe aufgegeben hatte, wollte aus irgendeinem Grund nicht gerne über das Thema reden. Da also viel aus ihr nicht herauszubringen war, vermutete ich Geheimnisse, die immer größer und deren Lüftung immer interessanter wurden, je weniger sie erzählte.

Gelegentlich jedoch durfte ich sie auf die sogenannte »Filmbörse« begleiten, die sich in einem Saal im ersten Stock des Hofbräukellers an der Inneren Wiener Straße im Stadtteil Haidhausen befand. Das imposante Gebäude, gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Stil der Neorenaissance errichtet, hatte auch einen weitläufigen Biergarten, in dem am 5. Mai 1919, nach Zerschlagung der Münchner Räterepublik, unschuldige Bürger von Freikorpsangehörigen erschossen worden waren. Am 16. August desselben Jahres hielt Hitler hier im Hofbräuhaus-Keller seine erste politische Rede, deren Verlauf er in seinem Buch »Mein Kampf« beschrieb, auch in weiteren Jahren diente die Örtlichkeit sehr häufig rechtsradikalen Veranstaltungen. Wie so häufig in großen Bierhallen, waren auch an diesem Ort Gebräu und Gewalt, Dumpfheit und Dummheit, Rauflust und Reaktion harmonisch vereint.

Als mich die Greiner-Oma zu der »Börse« mitnahm, wusste ich als Kind natürlich nichts von der Vergangenheit des Hauses. Die Gedenktafel, die heute am Eingang des Biergartens angebracht ist, gab es damals noch nicht, und das einzig Seltsame für mich war, dass in einem Gebäude, das Keller hieß, die Treppen nicht nach unten, sondern nach oben führten. Hinter zwei mächtigen dunkelbraunen Flügeltüren im ersten Stock verbarg sich ein riesiger Saal, in dem viele Menschen, teils stehend, teils auf Stühlen sitzend, warteten. Die, die standen, waren überwiegend Arbeitslose, die hofften, ein paar Mark als Statisten beim Film zu verdienen. Die, die gelegentlich saßen und sich den Stuhl mit anderen teilten, waren die Komparsen, die diese Beschäftigung berufsmäßig ausübten, und die, die immer auf ihren sogar mit Namen versehenen Stühlen saßen, waren die Kleindarsteller. Ein Statist war eine anonyme Figur in einer Menge, beim Komparsen konnte schon, wenn er Glück hatte, sein Gesicht für eine Sekunde im Film zu sehen sein, und ein Kleindarsteller war, wie der Name sagt, ein »kleiner Darsteller«. Wenn ein solcher Glück hatte, durfte er sogar ein, zwei Worte sagen oder im allerglücklichsten aller Fälle einen ganzen Satz. Die Kleindarsteller waren meist ehemalige Schauspieler, die es nicht geschafft hatten, jemals bekannte Akteure zu werden, oder sie waren, wie Mirzl Greiner, die Witwen früherer Stars. In Greiner-Omas Fall war der Tod ihres Mannes schon fast zwanzig Jahre her, und die Filme, mit denen sich Fritz Greiner einen Namen gemacht hatte, waren überwiegend Stummfilme. Es gab also nicht allzu viele Kleindarsteller, die sich an den großen Kollegen erinnerten. Aber von denjenigen, die ihn entweder noch vom Sehen oder vom Hörensagen kannten, wurde Mirzl ehrerbietig gegrüßt, zum Teil auch umarmt und geküsst, hauptsächlich von Damen ihres oder noch weiter fortgeschrittenen Alters. Wer den Krieg überlebt hatte, erinnerte sich gerne an die Zeit davor, und von Demenz oder Alzheimer war bei den älteren Kleindarstellerinnen nicht das Geringste zu spüren. Nach gehöriger Zeit des Wartens, meistens ein bis zwei Stunden, die sich die reiferen Damen mit Gesprächen über bessere Zeiten vertrieben, kamen dann die Herren Aufnahmeleiter, Produktionsleiter oder Regieassistenten der Filme, die hauptsächlich in den Ateliers von Geiselgasteig, heute Bavaria, hergestellt wurden.

Sie hatten die Aufgabe, unter den Wartenden diejenigen auszuwählen, die für den jeweiligen Film gebraucht wurden. Junge, hübsche Frauen hatten es am leichtesten, sie konnten den wichtigen Herren etwas bieten. Von den älteren hatten jene die besten Chancen, beschäftigt zu werden, die den Komparsenführer, den Chef der Filmbörse, gut kannten. So kam es immer wieder vor, dass einige sechzig- oder siebzigjährige grauhaarige Frauen engagiert wurden, wenn eigentlich dreißigjährige blonde gesucht wurden. Die älteren bekamen dann platinfarbene Perücken und entsprechende Korsagen und wurden irgendwo, mit dem Rücken zur Kamera, in den Hintergrund gestellt. Einige wenige wurden immer engagiert, darunter auch Greiner-Oma, mit Ausnahme von Filmen, für die man junge Soldaten oder alte »Neger« brauchte.

 

Eines Tages erfuhr Greiner-Oma vom Chef der Filmbörse, natürlich ganz vertraulich, dass für eine Rolle in einer deutsch-französischen Koproduktion ein männliches Kind im Alter ihres Enkels gesucht wurde. Die Beschreibung »blond, dicklich und blaue Augen« passte mit Sicherheit auf eine Vielzahl von Kindern, nur nicht auf mich. Ich war dunkelhaarig, mager und hatte braune Augen, entsprach also durchaus nicht dem Klischeebild eines deutschen Kindes. Meine Großmutter, gewieft durch langjährige Erfahrung im Filmgeschäft und überzeugt von dem Talent ihres Enkelsohns, ließ sich von der Rollenbeschreibung nicht abschrecken und ersuchte um einen Vorstellungstermin bei der Produktion auf dem Studiogelände von Geiselgasteig. Als man sie dort fragte, ob ihr Enkel die beschriebenen Voraussetzungen für die Rolle erfülle, entgegnete sie, dass sie sich ein blondes, dickliches und blauäugiges Kind in einer französischen Koproduktion unmöglich vorstellen könne und daher den Regisseur sprechen möchte, um ihn vor diesem gravierenden Besetzungsfehler zu bewahren.

Damals, im Alter von knapp sieben Jahren, wusste ich noch nicht, dass solche Verhaltensweisen im Filmgeschäft nicht nur äußerst unüblich, sondern vor allem absolut chancenlos waren, darum war ich auch nicht erstaunt, dass man uns tatsächlich in den Warteraum vorließ. Heute halte ich sowohl dieses selbstbewusste Auftreten meiner Großmutter als auch das, was danach geschah, für ein Wunder. Man führte uns in ein großes Zimmer, in dem gut zwei Dutzend blonde, dickliche und blauäugige Jungen unter der Obhut von Damen saßen, die aus Gründen unverwechselbarer äußerlicher Merkmale nur ihre Mütter sein konnten.