A Journeyman's Journey - Jim McEwan - E-Book

A Journeyman's Journey E-Book

Jim McEwan

0,0

Beschreibung

Whisky-Profis vergleichen Jim McEwan mit Ikonen wie Steve Jobs, Paul McCartney und Pelé. Aufgewachsen im kleinen Dorf Bowmore auf der "Whisky-Insel" Islay, startete er seine Karriere anno 1963 mit 15 Jahren als Fass­macher in der Bow­more-Destillerie. Daraus entwickelte sich eine beispiellose Karriere, in der Jim die Welt des Whiskys wie kein Zweiter prägen und revolutionieren sollte. Der Erfolg des Single Malt Whiskys ist untrennbar mit ihm verbunden. Höhepunkt seines Schaffens war die Wiederbelebung der Brennerei Bruichladdich, heute eine der innovativsten und angesehensten Vertreterinnen der Whisky-Welt. Wie mit zwei Männern und einem Hund eine Reise begann, die in neue Universen des Whiskys führen sollte, ist nur ein Teil der Geschichte, die Jim McEwan hier anekdotenreich und mit viel Humor erzählt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 488

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ISLE OF ISLAY

Die Whiskyinsel

© Alba-Collection Verlag 03/2021 · www.alba-collection.com

Legende

Whiskybrennerei (in Betrieb)

Whiskybrennerei (geschlossen)

Port Ellen Maltings

Sehenswürdigkeit

Infozentrum

Leuchtturm

Gezeitenbereich

Ich möchte dieses Buch meiner Frau Barbara widmen, denn ohne ihre Unterstützung wäre diese Reise nicht möglich gewesen.

Unseren beiden Töchtern, Lynne und Lesley, die dafür gesorgt haben, dass sich jeder Schritt auf dem Weg nach Hause gelohnt hat. Unseren Schwiegersöhnen David und Damien und unseren vier wunderbaren Enkelkindern Lily, Beth, Eoghan und Ruaridh.

Wir als Familie sind auf so viele Arten gesegnet worden.

Jim McEwanApril 2021

A JOURNEYMAN’S JOURNEY

Die Geschichte des

JIM McEWAN

Jim McEwan | Udo Sonntag

Inhalt

Prolog

1This is Where I Come From

2From the Potato Holidays Into the Wild West

3Follow Your Nose

4Inspiring People – James McColl

5Davy Bell – Always a Penny in Your Pocket

6The Lifeline of Islay – the Puffers

75 o’clock – Tea Time?

8Queen of Port Charlotte

9Arrival in Glasgow Bridgeton

10From Bridgeton to Bellshill

11Back to Bowmore

12Giving Something Back to the Community – Swimming Pool

13A New Era Starts

14Being on the Road is Not a Holiday

15Big in Japan

16With Suntory on Top

17Farewell From Japan

18Legendary Drams – a Piece of Home

19Don’t Mess With Jim

20Expensive Hangover

21Where Did it All Go Wrong For You, Jim McEwan?

22Judgement Days

23Bringing Cinderella to Ball

24Soulmates – Duncan McGillivray

25Recruiting Allan and Adam

26First Drops

27The Botanist

28The Story of Ugly Betty

29Ursula

30Yellow Submarine

31Legendary Drams – Port Charlotte

32Legendary Drams – Octomore

33Legendary Drams – Black Art

34Legendary Drams – Space Mission Bruichladdich One

35Retirement?!

36Height of the Hollow

37Babylon Bags

38Highland Toast

39Thank You at the End

Mary’s Poem

Hall of Fame

Epilog

Abbildungsverzeichnis

Prolog

Für die Whiskywelt ist er „Jim McEwan“, für mich ist er mein Dad. Selbst jetzt als Erwachsene und angesichts des positiven Einflusses, den er auf die Whiskywelt hatte, bin ich außerordentlich stolz auf seine berufliche Karriere, aber noch stolzer auf seine persönliche. Wir sind eine Familie, die wundervoll zusammenhält. Jahrelang war Papa der einzige Mann im Haus, allein mit drei Frauen. Er ist viel gereist, vor allem während Lynnes und meiner Teenagerzeit. Ich bin mir sicher, dass er sich manchmal gefreut hat, in ein Flugzeug zu steigen, um den Teenagerdramen, dem Geschwätz über Freunde und den Stimmungsschwankungen zu entkommen, die mit zwei Teenagertöchtern zwangsläufig vorkommen. Heute haben sich die Zahlen ausgeglichen, denn er hat nun zwei Schwiegersöhne. Mit ihnen kann er über Fußball fachsimpeln und durch die Landschaft wandern, ohne von PMS oder Diät sprechen zu müssen! Der Großvater zu sein, der „Pappy“ genannt wird, ist vielleicht seine Lieblingsrolle. Er kann seine Geschichten noch einmal neu erzählen und neue dazuerfinden. Er liebt gemeinsame Ausflüge an die Orte unserer Kindheit.

Papa war ein lustiger Papa. Mama kümmerte sich um unsere Erziehung, während Papa in der Destillerie arbeitete und lange Zeit rund um die Welt reiste. Wir kannten es nicht anders. Während er weg war, blieben wir mit Telefonanrufen in Kontakt und warteten auf die Ankunft der Postkarten, die er uns immer schickte. Ich liebte sie, denn sie waren voller Unsinn und lustiger Geschichten. Adressiert waren sie zum Beispiel an „Tigermaus“ oder „Scooter“. Ich habe sie alle aufbewahrt und sie bringen mich heute noch zum Lächeln. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Aufregung bei seiner Rückkehr, als ich ihn vom Flughafen abholte. Nur zu gern hörte ich ihm zu, wie er uns von seinen Abenteuern in der Welt erzählte. Stets hielt ich den Atem vor Spannung an, während er den Koffer zum Auspacken öffnete. Wusste ich doch, dass irgendwo darin eine riesige zollfreie Toblerone nur für mich allein lag!

Wenn er zu Hause war, brachte er uns ins Bett. Der Erfolg war immer fragwürdig, denn meistens waren wir am Ende aufgeregter und wacher, als wir sein sollten. Voller Elan und aufgedreht versuchte er dann, uns mit einer Gutenachtgeschichte zu beruhigen. Aber Papas Geschichten waren nie aus Büchern – sie waren meist erfunden und voller Aufregung und Abenteuer, mit dem genau richtigen Maß an Wahrheit, sodass wir jedes einzelne Wort glaubten. Wenn er die Geschichte zu Ende erzählt hatte und uns eine gute Nacht wünschte, drifteten wir schließlich in dem Glauben ab, dass auch wir vor zehn Krokodilen fliehen könnten, wenn es jemals nötig wäre. Gut, dass wir auf Islay keine Krokodile haben.

Am Samstagvormittag trainierte mein Vater den Fußballklub Islay Boys. Manchmal begleiteten wir ihn, aber diese Zeit gehörte ihm und seinen fußballbegeisterten Jungs. Der einzige Nachteil seiner Trainertätigkeit war, dass jeder Junge in Islay Angst davor hatte, mit seinen Töchtern auszugehen, da sie ihn als Trainer kannten. Offenbar war seine Fähigkeit, mit Schimpfwörtern zu motivieren, unübertroffen!

Heute lieben wir es immer noch, als Familie zusammen Zeit zu verbringen. Vater hat seine Enkel zum Spielen und seine Schwiegersöhne Damien und David zum Plaudern über Fußball. Obwohl er älter wurde, hat sich seine Persönlichkeit nicht verändert. Er wird sich sicher immer noch nicht an der ersten Stelle zur Rast niederlassen, die wir bei einem Tagesausflug finden. Stattdessen werden wir weitergehen, bis wir die richtige Stelle gefunden haben. Er liebt den Strand und wird ihn immer lieben. Egal welche Jahreszeit und welche Außentemperatur – innerhalb weniger Minuten wird er mit den Füßen im Wasser sein. Seine Fantasie ist grenzenlos und er ist der beste Geschichtenerzähler, dem ich je begegnet bin. Sein Sinn für Humor ist einzigartig und legendär. Wir haben viele Male versucht, ihn heimlich beim leidenschaftlichen Erzählen einer Geschichte zu filmen, sind aber immer erfolglos geblieben. Umso mehr freue ich mich, dass sein Leben in diesem Buch festgehalten wird, damit wir es bewahren und an die nachfolgenden Generationen unserer Familie weitergeben können und seine Geschichten nie verloren gehen oder vergessen werden.

Deine Lesley Whearty

Damien, Eoghan, Lesley und Ruaridh Whearty.

Auf Whiskyshows von Deutschland bis Russland, von Belgien bis Kanada – wenn ich meinen Namen nenne, dauert es eine Sekunde, manchmal zwei, dann leuchten die Augen der Leute auf und sie fragen: „Bist du Jims Tochter?“ Und sofort erzählen sie mir die Geschichte, wie sie Dad kennengelernt haben. Es ist immer ein entscheidender Moment auf ihrer Whiskyreise und sie können sich an jedes Detail erinnern!

Unglaublich – für einen kleinen Jungen aus Bowmore, der im Alter von 15 Jahren mit der Arbeit begann und auf den die Bowmore-Destillerie eine magische Anziehungskraft ausübte. Er wollte den Männern jener Zeit nacheifern – das waren seine Vorbilder, er wollte sich von den Geschichten an der Darre, dem Geruch von Tabak und Malz berauscht fühlen – und es sollte sich schließlich als die Genese einer lebenslangen Liebe zu Single Malt erweisen. Sein Leben war einzigartig; er war hartnäckig und spirituell, er verfolgte seine eigene Linie, aber er wurde von einigen wenigen beeinflusst, die einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen haben: Mentoren, die ihn lehrten, ein Mann zu sein und Whisky herzustellen, und seine legendären Geschichten erwecken diese Menschen wieder zum Leben, ihr Einfluss auf ihn ist heute genauso stark wie damals.

Als Kind ging Papa mit uns über jeden Zentimeter der Rhinns von Islay und was mich am meisten beeindruckt hat, ist, dass er nie zurückblickte. Als Elternteil sehe ich jetzt selbst, wie ungewöhnlich das ist. Er marschierte vor uns her und wir folgten ihm, er hat nie nachgesehen, ob wir in Gräben oder über Klippen fielen, er ging und wir folgten ihm, er ließ uns unseren eigenen Weg finden. Ihn umgab diese ganz bestimmte Aura, für ihn war selbstverständlich, dass wir ihm folgen und unseren eigenen Weg finden können. Und genau deshalb fanden wir ihn auch. Ich erinnere mich daran, dass wir ihn immer wieder bedrängt haben, Schlitten fahren zu gehen. Da wegen des Golfstroms auf Islay nur selten Schnee lag, war es also eine seltsame Bitte. Schließlich nahm er uns an einem verschlafenen Sonntag mit dem Firmen-Landrover mit zum Big Strand. Auf einer Strecke von sieben Meilen nichts als Sand, Dünen und Wind. Er band sich ein riesiges Stück Seil um den Oberkörper und daran einen Schlitten und einen ganzen Nachmittag lang rutschten und schlitterten wir über die Dünen. Heute nimmt er die Enkelkinder mit auf die gleichen Abenteuer und sie kommen klitschnass, schmutzig und voller Geschichten von Millionen von Steinstränden, Sternenschiffen und Schlössern zurück. Erwachsene dürfen nie mitkommen und ich gebe zu, dass ich neidisch bin, dass ich nicht mehr Kind bin. Islay ist ein wahrhaft magischer Ort für Kinder, wenn man ihn durch die Augen meines Papas sehen darf.

Jims Enkelkinder Lily, Ruaridh, Beth und Eoghan.

Es gibt keinen Jim McEwan ohne Barbara McEwan. Die beiden heirateten, als er 23 und sie 19 Jahre alt war, und 49 Jahre später ist sie immer noch seine treue Gefährtin. In den frühen Bowmore-Tagen, als Dad Manager war, gab es auf Islay nur wenige Restaurants. Papa rief Mama am späten Nachmittag an, um ihr zu sagen, dass er sechs japanische Gäste zum Abendessen nach Hause bringen würde, und als er am selben Abend durch die Tür kam, hatte Mama etwas Unglaubliches gekocht. Lesley und ich servierten und es sah aus, als wäre es schon seit Monaten geplant gewesen. Oft sprachen die Gäste kein Englisch, aber durch die internationale Sprache des Whiskys, das Gestikulieren mit Händen und Armen sowie nicht selten durch das Singen von Liedern wurden erstaunliche Verbindungen hergestellt. Meine Eltern sind das ultimative Team, Mama managt Heim und Herd, ist aber immer bereit für eine Party und ein Lied. Papa reist um die Welt und verbreitet das Evangelium des Whiskys unter eifrigen Jüngern. Sehr oft pilgerten diese Leute eines Tages nach Islay und klopften an die Tür. Am ersten Neujahrsfest meines Mannes auf Islay saßen wir beim Abendessen und es klopfte an der Tür. Draußen standen zwei lächelnde Männer aus Deutschland. Mama hieß sie willkommen und ließ sie eintreten. Mein Mann fragte: „Kennen wir sie?“ Mama antwortete: „Natürlich nicht, aber wir werden sie bald kennen, hol du schon mal den Whisky.“

1986 bot man Dad die Rolle des Managers der Bowmore Distillery an und so schloss sich der Kreis vom Küferlehrling mit 15 Jahren bis zu dem Mann, der heute sowohl für viele andere Männer als auch für den Whisky verantwortlich ist. Es ist kaum zu glauben, aber zu dieser Zeit hatte das Islay-Malt-Phänomen noch nicht eingesetzt. Schwerer Torf hatte einen so polarisierenden Geschmack, dass der Großteil des auf Islay hergestellten Single Malts für Blends bestimmt war. Dad sprach nie nur über Bowmore, er sprach über Whisky, über Islay, über die Spiritualität des Whiskys. Er führte die Besucher zur Wasserquelle, zeigte ihnen die Insel und spazierte die Strände entlang. Er nahm sie mit zu meiner Oma oder zur Kilchiaran-Farm, um Margaret und Neil – enge Freunde der Familie – zu besuchen. Es war nicht die Norm, fremde Gäste mit zur eigenen Familie zu bringen! Papa hatte eine solche Leidenschaft für Bowmore und für Islay, dass er nicht anders konnte, als sie mit anderen zu teilen. Je mehr Menschen ihn trafen und Whisky und Islay durch seine Augen sahen, desto mehr Anhänger zog er an und sein Ruf begann zu wachsen. Auf der ganzen Welt begannen die Menschen, ihn Master Distiller zu nennen. Das ist heute ein verbreiteter Begriff, man kann sich sogar für eine solche Position bewerben. Meinem Vater wurde der Titel aufgrund seiner unglaublichen Verdienste rund um den Whisky ehrenhalber verliehen.

Ich erinnere mich noch genau, wo ich war, als Vater hereinkam und uns erzählte, dass man ihm angeboten hatte, sich einer privaten Investorengruppe anzuschließen, die die Bruichladdich-Destillerie kaufen wollte. Nach 37 Jahren bei Bowmore war dies ein unglaublicher nächster Schritt, aber es war auch ein enormes Risiko. Für viele mag das verrückt geklungen haben. Betrachtet man allerdings seine Vision von Whisky oder seine Ziele und Werte, so wirkte das überhaupt nicht verrückt, und ich wusste sofort, dass ich dabei sein wollte.

Dads erster Rekrut bei Bruichladdich war Duncan McGillivray, der drei Mal von Bruichladdich entlassen worden war und die Destillerie wie kein anderer kannte. Trotz dieser Erfahrungen zögerte er nicht, zurückzukommen. Dad und er stellten die Laddie-Crew zusammen, der ich noch heute angehören darf. Wie schon damals in meiner Kindheit führte Papa die Bruichladdich-Brennerei mit der unerschütterlichen Überzeugung, dass man hier alles tun kann, und so glaubten auch wir alle daran. Duncan zauberte, hämmerte und erweckte die Destillerie physisch wieder zum Leben, während Vater den Geist hervorrief – sowohl den flüssigen als auch den emotionalen. Bruichladdich ist wohl sein größtes Vermächtnis und sein Name ist damit untrennbar verbunden.

Lynne, David, Lily und Beth.

Von Bowmore bis Bruichladdich und auf der ganzen Welt dazwischen erinnert uns Dads Geschichte an die Zeit des Whiskys, die in dieser Art nicht mehr existiert. Dennoch ist aber auch eine Wahrheit damit verknüpft, die wir nie vergessen dürfen: Im Whisky geht es um Menschen, im Whisky geht es um die Gemeinschaft und die Arbeit ist nie getan. Es gibt ein Lied von Bruce Springsteen, das Dad liebt und das „Working on a Dream“ heißt. Es könnte keine bessere Metapher für seine Reise geben und wie The Boss rockt er weiter.

Deine Lynne McEwanIm November 2020

1This is Where I Come From

| Mein Ursprung, meine Heimat

Es war ein Freitag, an dem das Leben sich dazu entschieden hat, mir die Türen zu öffnen und mich loszuschicken. An diesem sonnigen Freitag, es war der 23. Juli 1948, hatte das Leben offensichtlich gute Laune und wollte ausgerechnet mir etwas Gutes tun. Das Leben hat mich in den Westen Schottlands geschickt. Ich durfte das Licht der Welt auf meiner geliebten Insel Islay erblicken. Ebenjene sagenumwobene, geschichtsträchtige und wunderbare Insel, die als Königin der Hebriden weit über die Grenzen Schottlands hinaus bekannt ist und geliebt wird. Es hätte wohl keinen perfekteren Ort für mich auf diesem großen Globus geben können. Alles passt zusammen: die Distanz zur Hektik und der Betriebsamkeit so mancher Großstadt auf dem schottischen Festland. Die farbenreiche und unbeschreiblich schöne, urtümliche Natur mit all ihren vielfältigen Facetten. Lassen Sie mich Ihnen eingangs Islay etwas näherbringen. Ich möchte, dass Sie ein Bild davon vor Ihrem inneren Auge sehen können.

„You don’t choose the way you come into life and you don’t choose the way you leave. It’s the part in-between – that’s what it’s all about.“

Jim McEwan

Islay gehört zu den Inneren Hebriden und ist westlich der Kintyre-Halbinsel im Südwesten Schottlands gelegen. Islay ist eine der Vorzeigeinseln Schottlands. Dabei ist Islay eigentlich gar nicht von Anbeginn an immer schottisch gewesen, gerade einmal erst seit dem 13. Jahrhundert. Damals gehörte die Insel dem gefürchteten Lord of the Isles. Er war der Schrecken der Meere in dieser Zeit, geachtet und noch mehr gefürchtet. Vielleicht haben die Ileachs (ausgesprochen „Ielachs“), so nennt man die Menschen auf Islay, immer noch ein bisschen Spirit von diesem Lord in sich, wer weiß? Diesen Lord of the Isles gibt es offiziell immer noch, aber heutzutage muss man ihn Gott sei Dank nicht mehr fürchten, denn er weilt in London, sein Name ist Charles und seine Mutter ist die Queen.

Die Paps of Jura.

Nördlich von Islay liegt die nahezu menschenleere Insel Jura. Obwohl dort nur etwa 300 Menschen leben, findet man im Dorf Craighouse, wunderschön von Palmen umrahmt, eine Whiskybrennerei. Die Inneren Hebriden sind von der Natur besonders verwöhnt, denn hier fließt der Golfstrom entlang und sorgt für ein besonderes Klima, in dem Natur und Pflanzen gedeihen können. Zugegeben, zwar nicht jede Pflanze unserer schönen Erde, aber zumindest mehr, als man denkt. Die Insel Jura erkennt man schon von Weitem an den drei mächtigen und zugleich gütig dreinblickenden Gipfeln, die „Paps of Jura“ genannt werden: unbewaldete Erhebungen, die im Winter auch schneebedeckte weiße Spitzen tragen und so zumindest eine Vorstellung von Winter bringen. Jedes Frühjahr, wenn das Schmelzwasser von den Gipfeln herunterstürzt, kann ich es kaum erwarten, alle drei Gipfel zu erklimmen und Islay von dieser Warte aus zu sehen.

Etwa 20 Meilen Luftlinie weiter südlich liegt die irische Insel. An sonnigen Tagen kann man sie von Islays Südküste aus wunderbar betrachten. Manchmal scheint sie sogar zum Greifen nah. Auch im Norden der irischen Insel findet man eine berühmte Brennerei, sogar die älteste offiziell erwähnte und legalisierte Brennerei der Welt aus dem Jahre 1608. Einziges Manko – sie ist keine schottische Brennerei. Ebenso weit entfernt wie Nordirland im Süden ist die Nachbarinsel Isle of Mull im Norden gelegen. An klaren Tagen sind ihre Hügel zu sehen. Einen exklusiven Blick auf diese Inselwelt hat man, wenn man als unerschrockener Wanderer auf den einsamen Wegen im Norden Islays unterwegs ist. Begibt man sich zum westlichsten Punkt Islays, so sucht man vergebens nach einer Nachbarschaft. Denn was der Sonne folgend als Nächstes aus dem Meer ragt, ist Kanada. Entlang der gesamten Westküste kann man die Unendlichkeit des Meeres und die Freiheit des Horizonts spüren. Diejenigen, die behaupten, auf einer Insel herrsche eine bedrückende Enge, standen noch nie auf den Felsen von Portnahaven und haben zusammen mit den Seehunden die Sonne glutrot untergehen sehen – das sind unvergessliche Momente.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um auf die Insel zu gelangen. Sie können entweder in eine kleine Propellermaschine mit 32 Sitzplätzen einsteigen und kommen mehr geschüttelt als gerührt am Islay Airport, dem „Port-adhair Ile“, an. Ich empfehle bei der Buchung des Hinflugs stets darauf zu achten, einen Fensterplatz an der Steuerbordseite zu bekommen. Wann immer es die Wetterbedingungen zulassen, werden die Piloten nämlich den Landeanflug an der Südküste ansetzen. Richtet man den Blick zur Küste hin, und glauben Sie mir, Sie werden es tun, dann kommen plötzlich drei weiße Warehouses mit großen schwarzen Lettern auf ihren Mauern zum Vorschein. Zu lesen sind drei Namen, die die Herzen der Whiskykenner höherschlagen lassen: Ardbeg, Lagavulin und Laphroaig. Schon eine gute Minute später haben Sie den festen (oder sollte ich sagen: den torfigen) Islay-Boden unter Ihren Füßen.

Die zweite Möglichkeit, die Queen of Hebrides zu bereisen, wäre mit dem Auto. Dazu fährt man eine der schönsten Strecken in diesem Teil Schottlands. Von Glasgow kommend, am Westufer des Loch Lomond vorbei, gelangen Sie zu einem wunderbaren Schlosshotel in Tarbet. An diesem Punkt beginnt der Weg ins Paradies. Auf immer schmaler werdenden Wegen dringen Sie tiefer in die Landschaft von Argyll vor. Sie passieren traumhafte, unberührt wirkende Fjordlandschaften, sehen wunderschöne verwunschene alte verlassene Brücken rechts und links neben der Straße. Die Landschaft wirkt nahezu märchenhaft.

Nun steigt der Weg an. Sie fahren über einen hohen Pass, der auf der Höhe zum Rasten einlädt. Der Pass trägt den wundervollen und sehr passenden Namen „Rest and be thankful“ – Ruh dich aus und sei dankbar. Wenn Sie sich umblicken, verstehen Sie, warum dieser Platz so genannt wird. Die Schönheit, die Sie dort erblicken, wird Sie zum Staunen bringen. Zwangsläufig, denn es gibt nur diese eine Straße, kommen Sie auch an einem der schönsten Schlösser Schottlands vorbei. Allerdings können Sie Inveraray Castle nur aus den Augenwinkeln sehen, wenn Sie Single Track Road Bridge fahren. In Inveraray angekommen machen Sie eine kleine Pause und genießen das Flair des Hafenpiers mit den Bergen der Highlands im Hintergrund. Die Fahrt auf dieser Scenic Route endet schließlich in einem gottverlassenen Fährhafen namens Kennacraig. Dort nimmt Sie dann eine Fähre mit und während der nun folgenden zweistündigen Überfahrt wird die Vorfreude auf das Kommende immer größer. Schließlich und endlich sind Sie angekommen und Islay, meine Insel, heißt Sie herzlich willkommen.

Sie sehen, es ist alles andere als einfach, nach Islay zu reisen, aber es lohnt sich. Wer diesen beschwerlichen Weg auf sich nimmt, der wird es nicht bereuen, denn Islay hat so viel zu bieten. Ich hoffe, Sie erlauben mir, Ihnen meine Insel zu zeigen.

Jim im Hafen von Bowmore, unweit der Brennerei.

Nachdem Sie sicher schon etwas davon gehört haben, wissen Sie, dass die Insel Islay in aller Welt für eine Besonderheit berühmt ist beziehungsweise geschätzt wird: die berühmten Islay Single Malt Whiskys. Das liegt vor allem daran, dass sich auf Islay neun der wohl berühmtesten und beliebtesten Brennereien befinden. In alphabetischer Reihenfolge sind dies: Ardbeg, Ardnahoe, Bowmore, Bruichladdich, Bunnahabhain, Caol Ila, Kilchoman, Lagavulin und Laphroaig.

Neben diesen Ikonen der Whiskygeschichte birgt die Insel auch noch eine Vielzahl von weiteren spektakulären Orten. So findet man im Südosten Islays, abseits der befestigten Straßen, einen frühen Zeugen der Christianisierung Europas: das nahezu vollständig erhaltene und wohl schönste Keltenkreuz seiner Art, „Kildalton Cross“, umgeben von Ruinen einer Kirchenanlage aus längst vergangenen Zeiten.

Im Südwesten eröffnet sich eine eindrucksvolle neue Welt auf Islay – die Halbinsel Oa. Vorbei an Port Ellen kommt man auf eine Straße, die sich scheinbar ans Ende der Welt schlängelt. Es kann schon einmal passieren, dass man sich plötzlich in einem Stau wiederfindet. Dieser wurde aber nicht durch eine Baustelle verursacht, sondern durch eine Herde frei umherlaufender Schafe. Ich bin mir sicher, die meisten von Ihnen steckten so in der Art noch nie im Verkehr fest. Das Ziel dieser Straße ist jedoch nicht das Ende der Welt, sondern das „American Monument“ mit Blick auf die schroffen Meeresklippen der Oa. Ein rund gemauerter Turm wurde als beeindruckendes Denkmal für ums Leben gekommene amerikanische Soldaten errichtet. Vor der Küste Islays sank im Jahr 1918 das Truppenschiff „Tuscania“ nach einem U-Boot-Beschuss. Die meisten der etwa 2.000 amerikanischen Soldaten konnten zwar gerettet werden, dennoch fanden etwa 230 von ihnen den Tod. Beim Anblick dieses Ortes kann man nicht anders – man wird unweigerlich emotional berührt.

Von Port Ellen aus führt die A 846 nördlich in Richtung Bowmore. Auf Islay wird sie nur liebevoll Low Road genannt. Wenn man hier entlangfährt, dann weiß man, wofür Islay-Whisky berühmt ist: Torf, Torf und noch mehr Torf. Gute zehn Kilometer eine kerzengerade Straße und nur Torflandschaft um einen herum. Bowmore werden Sie im Laufe des Buches noch genauer kennenlernen.

Islay wird durch zwei Meeresarme, Loch Indaal und Loch Gruinart, nahezu in zwei Teile geteilt. Ihre seichten Gewässer bieten einzigartige Rückzugsgebiete mit voller Speisekarte für Vögel. Schon allein diese Tatsache lockt jedes Jahr viele Ornithologen an. Den kompletten Gegensatz zu Loch Indaal bildet die von Touristen noch weitestgehend unentdeckte Nord- und Westseite der Insel. Dort zeigt sich, welche Kraft, welche Macht das Meer hat, denn dort finden Sie die ursprüngliche und raue See. Ob nun an Sanaigmore oder an einer benachbarten Bucht, Sie spüren es überall. Die spektakulären Klippen im Norden, an denen die Brandung mit ihren Wellen in Abertausende Tropfen zerschellt: Das sind für mich ganz magische Orte. Das Meer und vor allem die Wellen haben es mir besonders angetan. Islay ist umgeben vom sich ewig bewegenden und manchmal seichten, aber auch stürmischen Wasser. Ich stelle bei Weitem nicht alle Orte vor – ein paar Geheimnisse möchte ich auch für mich behalten. Am besten, Sie machen sich einfach einmal mit einer Karte vertraut. Die Weite, der Torf, die Berge, das Meer, die Klippen, die Wellen, der Wind – all das ist Islay für mich. All das hat mich sehr geprägt und eine tiefe Verbundenheit zu dieser Perle in mir verankert. Es macht mich zutiefst glücklich und zufrieden, ein Ileach, ein Einwohner von Islay, zu sein.

Diese Insel gab mir meinen Start ins Leben. Dafür bin ich mehr als dankbar, ist doch die Insel eine so gute Mutter für ihre Kinder, die auf ihr leben. Als Ileach wird man reich beschenkt für das Leben. Das Erste, was man lernt, ist Bescheidenheit. Auf Islay zu leben bedeutet damals wie heute, dass man Mutter Natur ausgeliefert ist. Je nachdem, wo man auf der Insel ist, kann es passieren, dass man alle vier Jahreszeiten an einem Vormittag erlebt – eine Tatsache, die einst von einer Laphroaig-Werbekampagne verwendet wurde: Islands in the sun are not for everyone.

Im Herbst ziehen häufig schwere Stürme auf. Wolken bauen eine bedrohliche, manchmal gar apokalyptisch-dunkle Kulisse auf. Dann ist es schnell vorbei mit der Beschaulichkeit. In Zeiten wie diesen kann man für ein warmes Haus und ein Glas Whisky am Kamin dankbar sein – ein Moment der Vollkommenheit! Man lernt zwangsläufig, die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen. Auf Islay hat alles seinen Wert. Hier gibt nicht ein Terminkalender das Leben vor – nein, hier hat Mutter Natur das Sagen. Ehrlich gesagt, kann man sich in bessere Hände begeben? Ich glaube kaum. Ich liebe diese, meine Insel.

Wenn Sie Islay schon einmal erleben durften, dann konnten Sie wahrscheinlich die Anziehung, die Magie dieses Ortes spüren. Wenn Sie noch nicht in den Genuss dieses einzigartigen Fleckchens Erde kamen, dann hoffe ich, Ihnen zumindest einen Eindruck seiner Anziehungskraft vermitteln zu können. Diese gerade einmal 250 Quadratmeilen sind weit mehr als meine Geburtsstätte. In Wahrheit sind sie eine Quelle großen Stolzes. Meine Islay-Wurzeln ernähren und halten mich. Ich glaube, das sehe nicht nur ich so, sondern auch alle anderen 3.247 Ileachs. Auf Islay geboren zu sein bedeutet auch, dass man Teil einer Gemeinschaft ist, die man sich nicht aussucht. Glauben Sie mir, auf so einer Insel kennen wir uns alle und wissen alles voneinander. Wir respektieren uns auch gegenseitig. Wenn es darauf ankommt, so halten wir auf eine Art und Weise zusammen, die für Besucher schwer zu verstehen sein könnte. Die Inselgemeinschaft ist stark, sie trägt uns und ist für alles gewappnet.

Der Hafen von Bowmore.

Achten Sie einmal darauf, was passiert, wenn Sie heute auf Islay mit dem Auto unterwegs sind. Es passiert etwas, was hier selbstverständlich ist, aber viele Besucher manchmal irritiert. Wenn man sich auf der Straße begegnet, dann hebt man kurz die Hand und grüßt sich – The Islay Wave. Es ist hier obligatorisch, egal, wer hinter dem Steuer sitzt. Oft erlebe ich Menschen, die, wenn sie das zum ersten Mal erleben, langsamer fahren oder sogar anhalten, weil sie meinen, mit dem Auto würde etwas nicht stimmen. Die Lokalzeitung hat Briefe von Besuchern abgedruckt, die überzeugt waren, dass sie mit jemand anderen verwechselt worden waren. Nein, es ist einfach eine wunderbare Geste, um den anderen zu zeigen: „Hallo, schön dich zu sehen!“ Kostet uns das etwas? Nicht das Geringste, nicht einen einzigen Penny – aber es bringt doch so viel. Es schafft Gemeinschaft. Wenn du nach Islay kommst, dann bist du Teil der Familie. Du hast deinen Platz. Welch wunderbare und natürlich gelebte Gastfreundschaft. Hier auf der Insel funktioniert der Teamspirit. Mit diesem Teamspirit fühlen wir uns wohl, den brauchen wir. Wir leben alle in unseren Häusern, aber die Häuser stehen alle auf Islay. Wir teilen unser Leben hier auf begrenzter Fläche – also müssen das alle akzeptieren. Und hier hat man genau das verstanden. Man kennt die Insel rund um den Globus. Warum? Weil wir der absolute Hotspot für Whisky sind. Davon wird noch ausführlich die Rede sein. Hier sind neun der weltweit wichtigsten Whiskybrennereien ansässig. Und das aus gutem Grund. Gott wurde einst gefragt, warum er gerade den Schotten die Kunst des Whiskybrennens anvertraut hat. Was mag er sich wohl als Antwort überlegt haben? Nun, er kennt uns ja und er sagte, dass die Schotten einfach damit umgehen und diese Kunst verantwortungsvoll bewahren können. Zeigen Sie mir einen einzigen Fleck auf dieser Erde, an dem im Jahr über 20 Millionen Liter reinen Alkohols produziert werden und an dem die Kriminalitätsrate so gering ist, dass sie quasi nicht messbar ist. Stellen Sie sich vor: 20 Millionen Liter! Statistisch betrachtet sind das über 50.000 Liter pro Ileach … und null Kriminalität. Solch paradiesische Zustände finden sie nur auf Islay. Und es funktioniert, es funktioniert tadellos – und das schon seit Generationen.

Das „Loch Indaal Lighthouse Rubh an Duin“.

Islay, das ist eine Erfolgsgeschichte der ganz besonderen Art. Und das hat bei Weitem nicht nur mit dem Wasser des Lebens, dem Whisky, zu tun, nein. Wenn ich hier von Islay rede, dann schwingt all das immer mit: die wunderbare Landschaft, die ungezähmte Naturgewalt, die besondere Insellage, die Menschen, die Gemeinschaft. Das ist es, was ich meine, wenn ich von Islay rede. Ich möchte Sie mitnehmen, Sie teilhaben lassen an meiner abenteuerlichen und oftmals schier unglaublichen Reise meines Lebens.

Seien Sie ein Teil Schottlands, ein Teil der Whiskywelt, ein Teil Islays und seien Sie für einen Augenblick ein Ileach. Haben Sie Lust? Dann setzen Sie sich in Ihren Sessel, gönnen Sie sich einen Dram und begleiten Sie mich …

2From the Potato Holidays Into the Wild West

| Aus den Kartoffelferien mitten hinein in den Wilden Westen

Dass ich auf Islay das Licht der Welt erblicken durfte, war für mich stets ein Glücksfall gewesen, für den ich sehr dankbar bin. Diese Insel ist nach wie vor der perfekte Ort für mich und ist es schon immer gewesen. Wenn ich nun Rückschau halte, so haben sich aber innerhalb dieser über 70 Jahre sehr, sehr viele Dinge verändert. Das heutige Leben auf Islay ist mit dem damaligen gar nicht zu vergleichen. Es war eine völlig andere Zeit. Die Menschen bewegten ganz andere Dinge als heute. Ich wurde in einer Zeit geboren, in der der Krieg noch sehr präsent war. Das Kriegsende war gerade einmal drei Jahre her und hatte sehr deutliche Spuren und Wunden hinterlassen. Obwohl der Krieg eigentlich gewonnen wurde, so war der Preis dafür hoch und schmerzlich. Auch auf Islay haben Ehemänner, Väter, Söhne, Brüder ihr Leben lassen müssen. Sie fehlten! Sie fehlten der Insel, aber sie fehlten vor allem den Familien.

Die wirtschaftliche Situation war Ende der 40er und Anfang der 50er immer noch katastrophal. Es fehlte überall im Land an Geld, Lebensmittel wurden rationiert. Das sind Zustände, die wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können und Gott sei Dank auch nicht müssen. Ob ich mir gerade diese Zeit ausgesucht hätte, wenn ich es gekonnt hätte? Wer weiß. Man kann es sich nicht aussuchen. You don’t choose your way into life! Es waren sehr harte Zeiten Ende der 40er-, Anfang der 50er-Jahre, aber sie sind unbestreitbar ein Teil meines Lebens. Sie haben mit dazu beigetragen, dass ich zu dem wurde, der ich heute bin. Sie haben mir das Leben ermöglicht, das ich führen durfte. Und um ehrlich zu sein: Es ist wahrlich kein schlechtes Leben. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Leben für uns bereits einen roten Faden bereithält, noch bevor wir es selbst in die Hand nehmen können. Das ganz persönliche Buch des Lebens wurde schon vor der Geburt geschrieben, so auch meines. War schon das Leben in ganz Schottland nicht einfach, so war es auf Islay noch einmal ein Stück schwieriger, aber dennoch einzigartig schön. Davon und von meiner Kindheit möchte ich ein wenig erzählen.

Quasi am Mittelpunkt der Insel liegt das wunderschöne Dorf Bowmore. Schützend und über allen wachend thront an der höchsten Stelle des Ortes eine Kirche. Es ist eine besondere Kirche – es ist die einzige runde Kirche in ganz Schottland. Sie wurde im Jahre 1769 in dieser Form errichtet, damit sich der Teufel in keiner Ecke verstecken kann. Wie clever die Ileachs schon Mitte des 18. Jahrhunderts waren, als sie die Kirche errichteten! Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass der Teufel nie in Bowmore gesichtet wurde.

Jim im Alter von circa fünf Jahren.

Mein Geburtshaus in der 7 Main Street liegt etwa auf halbem Weg zwischen der Kirche und der Bowmore-Brennerei. Heute ist in dem Gebäude die Royal Bank of Scotland untergebracht. Das bedeutet, dass sich heute sehr viel Geld in dem Haus befindet. Als ich geboren wurde, war das nicht der Fall – damals fehlte es. In dem Haus wohnten damals vier Parteien in jeweils sehr kleinen Wohnungen. Ich lebte mit meiner Mutter Margaret, die von jedem Peggy genannt wurde, und mit meiner Großmutter Kate in der oberen Etage. Neben uns wohnte eine Frau mit ihrem Sohn. Im Erdgeschoss lebten rechts eine ältere Frau, die im Ruhestand war, und links ein Fischer. Es war alles ziemlich dicht gedrängt. Sieben Menschen wohnten Tür an Tür hautnah zusammen. Unsere kleine Wohnung bestand gerade einmal aus einer Wohnküche und zwei Schlafzimmern. Darin schliefen meine Mutter und meine Oma. Ich schlief meist auf dem Sofa, ein weiteres Bett zu kaufen war nicht möglich. Armut prägte unseren Alltag. Um uns alle warmzuhalten, gab es einen kleinen Ofen, der mit Kohle geheizt und auf dem auch gekocht wurde. Wir genossen keinerlei Luxus und waren auf das Wesentliche fokussiert. Aber wir hatten ein Dach über dem Kopf, das wir „Zuhause“ nennen konnten. Wir hatten einen sicheren Platz, wo wir aufgehoben waren, essen und schlafen konnten.

Jims Geburtshaus.

Das Leben in jenen Tagen war viel langsamer, nicht einfacher, aber langsamer. Die Produktion in den Brennereien war noch nicht wieder aufgenommen geworden. In diesen kriegszerrütteten Zeiten forderte das Leben wirklich viel, sehr viel von uns. Es gab kaum Jobs in den frühen 50ern. Auch wir Kinder mussten unseren Beitrag leisten, damit wir gemeinsam überleben konnten. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass wir in der Schule besondere Ferien hatten. Das waren die Potato Holidays, die Kartoffelferien. Das hieß, dass alle Kinder zur Erntezeit mit aufs Feld konnten, um Kartoffeln zu lesen – und das bei jedem Wetter! Den ganzen Tag draußen, sich bücken, aufsammeln und dann die schweren Körbe zusammentragen. Das war ziemlich harte Feldarbeit für Kinder, aber es gehörte dazu. Wir waren alle dabei und hatten sichtlich auch unseren Spaß. Jeden Tag waren wir von oben bis unten dreckig und voller Schlamm. Auch wenn es regnete, gab es kein Erbarmen, der Job musste erledigt werden. Und auf Islay gibt es viele Regentage. Aber wir bekamen dafür einen kleinen Lohn, umgerechnet 50 Pence am Tag. Das war nicht viel, aber es war ehrlich verdientes und dringend benötigtes Geld. Obendrein gab es auch einen Sack Kartoffeln dazu. Wenn man diese dann abends zusammen aß, schmeckten sie gleich noch einmal so gut. Meine Mutter und meine Oma waren großartige Köchinnen. Sie konnten aus dem Wenigen stets eine tolle Mahlzeit zaubern. Ich liebte ihr Essen. Und unsere „Kartoffelferien“ – sie illustrieren die weitverbreitete Armut, die auf Islay herrschte. Es waren wirklich andere und oft harte Zeiten. Heute kennt man so etwas eigentlich nur noch aus alten Filmen in Schwarz-Weiß. Das Leben war aber alles andere als schwarz-weiß, es war für uns als Kinder sehr bunt. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, dann fällt mir vor allem ein, was es hieß, auf einer Insel zu leben. Islay war damals nicht so leicht erreichbar. Heute versorgt ein regelmäßiger Fähr- und Flugverkehr die Insel mit allem, was man braucht, auch mit Touristen. Ein Hoch auf die Calmac-Fähren. Als Kind war das damals anders. Es gab die sogenannten Puffers, die sich als Verbindungsglied zu den westlichen Inseln erwiesen. Das waren mit Kohle betriebene und für damalige Verhältnisse moderne Dampfschiffe. Von diesen Schiffen werde ich noch erzählen.

Der Hafen von Bowmore war das Revier für uns Kinder. Es war der beste Abenteuerspielplatz, den man sich vorstellen konnte. Natürlich war es strengstens verboten, dort zu spielen. „Geh nicht zum Hafen! Wenn ich sehen sollte, dass du auf dem Floß bist, dann versohle ich dir den Hintern und du kommst gleich ins Bett!“ – so die eindeutige Ansage meiner Mutter. Aber genau das machte ja eben den Reiz aus. Wie sehr ich es geliebt habe, von diesem verbotenen Platz aus all die Boote zu beobachten. Sie fuhren hinaus, warfen die Netze aus und kamen zurück mit einem reichen Fang. Ab und zu hat mich ein Fischer mit hinausgenommen und ich durfte ihm bei der Arbeit helfen. Auf das Meer hinauszufahren, selbst das Ruder in der Hand zu haben, das bedeutet für mich Freiheit. Das Meer hat kein Ende. Wie gern habe ich mir vorgestellt, einmal hinaus in die weite Welt zu segeln, fremde Länder zu bereisen, andere Kulturen kennenzulernen. Das endlose Meer als Tor zur Welt: Das hat mich schon damals fasziniert. Doch noch war es nicht so weit. Als Kinder kämpften wir gegen Seeungeheuer, machten die sieben Weltmeere unsicher oder kaperten als Piraten so manche gut beladene Fregatte. Jeden Tag gab es eine neue Geschichte, die erlebt werden wollte. Man kann gar nicht glauben, wie viele kleine Festungen, Gefängnisse, Schatzkammern und Verliese so ein Bootshafen haben kann. Unzählige Ecken, welche die nach Abenteuern Ausschau haltenden Jungs fesselten und nicht mehr losließen. Jeder von uns wusste, wo man hindurfte und wohin nicht. Natürlich waren die verbotenen Areale die spannenderen. Stets ging der Blick in Richtung Ufer, wo vielleicht die Eltern standen. Man wollte vermeiden, dass man dabei erwischt wurde, wie man gerade diese Tabuzonen erkundete. Womit man allerdings nicht rechnete, war eine Tatsache, die heute in dieser Form kaum noch zu finden ist: Man hatte auf der Insel nicht nur eine Mutter – nein, man hatte mehrere, genauer gesagt viele, sogar sehr viele! „Jim McEwan! Du weißt genau, dass du das nicht darfst – das hat deine Mutter dir doch sicher gesagt!“ Dieser Satz in genau diesem Wortlaut hallte aus den unterschiedlichsten Kehlen häufig mehr oder weniger lautstark, aber immer eindeutig und unmissverständlich durch Bowmore. Auch wenn ich es damals alles andere als mochte, aber es gab einem doch ein Gefühl vertrauter Sicherheit. Es gab immer jemanden, der auf einen aufpasste. Auf Islay hat es mit der Verantwortung für andere funktioniert, so hat man das damals gemacht in einer Zeit vor den Mobiltelefonen. Genau deshalb kam es aber auch nicht nur einmal vor, dass meine Mutter mich an den Ohren vom Floß herunter- und die Main Street hinaufzog. Dann setzte es eine oder drei Ohrfeigen und ich wurde ohne Abendessen ins Bett geschickt. Wenn das geschah, dann kam der Auftritt meiner großen Fürsprecherin. Die stets treue Verbündete an meiner Seite war meine geliebte Großmutter Kate. Sie sagte immer zu meiner Mutter: „Lass ihn doch, er ist doch nur ein Junge und möchte eben auch wie ein Junge spielen, komm her, mein Sohn, hier ist dein Abendessen.“ Meine Granny Kate hat mich so gut wie immer verstanden. Klar verstand mich meine Mutter auch, aber sie war eben voller Sorge um mich und mein Wohlergehen.

Leider habe ich meinen Großvater nie kennenlernen dürfen. Er hätte mir bestimmt viel erzählen können. So kann ich nur das wiedergeben, was jeder sagte, der ihn kannte: John McEwan war ein freundlicher und gütiger Mensch. Er hatte ein spektakuläres Leben. Wie fast alle Ileachs fuhr er zur See. Er heuerte als Pferdeflüsterer auf einem Schiff an, welches Pferde nach Kuba brachte. Dafür bekam er den Spitznamen „Kuba“ verliehen. Mit den Tieren war er die ganze Zeit unter Deck und beruhigte sie bei jedem Seegang. Auf ihrer Überfahrt lernten die Pferde Gälisch, denn das sprach mein Großvater fließend. Nach seiner Rückkehr nach Islay fand er Arbeit als Maltman, als Gerstenwender, in der Bowmore-Brennerei. Genau wie fast alle Männer damals rauchte er Pfeife. Er liebte das – wenn ich Fotos von ihm betrachte, so habe ich ihn immer mit einer Pfeife im Mund vor Augen. Ich liebte diesen wohlvertrauten Geruch des Tabaks. Doch der Tabak forderte seinen Tribut. Viel zu früh starb er an Krebs im Rachenraum. Das ist eine sehr, sehr traurige Geschichte. Ich vermisste meinen Großvater John sehr, obwohl ich ihm nie begegnen durfte.

Der Hafen war für uns im Sommer auch ein willkommener Platz zum Schwimmen. Manchmal gingen wir schon an Ostern ins Wasser. Wir liebten es, bei Regenwetter ins Meer zu gehen. Ja, Sie haben richtig gelesen, an Ostern! Jetzt denken Sie wahrscheinlich, dass ich übertreibe. Wir reden hier schließlich von der Westküste Schottlands, wir reden vom mitunter stürmischen Atlantik. Stimmt, aber wir reden auch von Islay und wir reden von der Brennerei. Sie wissen, dass das Brennen von Whisky eine sehr heiße Angelegenheit ist. Unglaublich große Wärmemengen werden eingesetzt. Wenn die Hitze ihren Dienst verrichtet hat, dann muss sie abgeleitet werden. Ebenso mussten die Brennblasen mit heißem Wasser gespült werden. Auch dieses immer noch warme Wasser wurde ins Meer geleitet. Außer ein paar Maischeresten war ja keinerlei Verunreinigung darin enthalten. Wir wussten natürlich, an welcher Stelle der Brennerei das Rohr mit dem warmen Wasser in den Loch Indaal mündete. Man konnte es einerseits gut riechen und andererseits auch sehen. Wir hatten unseren ganz persönlichen und immer warmen Swimmingpool. Ein beheiztes Freibad, das immer geöffnet hatte und vor allem zum Nulltarif schon ab Ostern besucht werden konnte. Islay war wie eine Insel in der Südsee. Je länger ich darüber nachdenke, desto toller war meine Kindheit auf Islay. Wer von Ihnen kann denn schon behaupten, eine solche Wellnessanlage ganzjährig kostenlos vor der Haustür zu haben?

Doch wie überall besteht das Leben nicht nur aus Spiel und Freizeit. Der Ernst des Lebens gehörte genauso dazu – die Schule. In meinem Fall lag sie sogar nur wenige Meter Luftlinie entfernt. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich gern in die Schule ging. In der Schule machten wir genauso Blödsinn wie wahrscheinlich überall. Mit Eddie MacAffer und Angus „Innis“ McKechnie hatte ich zwei wunderbare Schulfreunde.

„Jim McEwan ist ein echter Ileach! Und auf das, was er in seinem Leben erreicht hat, bin ich sehr stolz. Ich liebe es, wenn die Jungs von Islay Großes vollbringen, und er hat wahrhaft Außergewöhnliches geleistet. Ich freue mich, ihn als echten Freund bezeichnen zu können.“

Eddie MacAfferMaster Distiller,Bowmore Distillery

Eddie wurde im späteren Verlauf Manager bei Bowmore und Angus war mein späterer Trauzeuge. Zusammen hatten wir unglaublich viel Spaß. Ich weiß noch, dass wir eines Tages den Schulgarten pflegen und ernten sollten. Das war so ziemlich das Langweiligste, was es in der Schule zu erledigen gab, aber immerhin mit dem Bonus, dass wir aus dem Klassenzimmer herauskamen. Damals hat mich Gartenarbeit so was von überhaupt nicht interessiert. Mr Crawford allerdings schon. Er war unser Schulleiter und ein passionierter Gärtner. Er war wirklich ein toller Rektor. Ihm lagen der Schulgarten und der verantwortungsvolle Umgang damit sehr am Herzen. Er wollte uns zu großartigen Gartenliebhabern erziehen. In der Erntezeit zeigte sich, wie gewissenhaft man über das Jahr hinweg gearbeitet hatte. Natürlich haben Angus und ich uns nie wirklich großartig um unsere Karotten gekümmert. Als wir antreten sollten, um zu ernten, investierten wir ein paar Pence in einen frischen Bund Karotten vom Lebensmittelladen und schmuggelten ihn in die Schule. Ebendiese Karotten „pflanzten“ wir dann vorab sorgfältig ein, nur damit wir sie vor den Augen von Mr Crawford publikumswirksam wieder ernten konnten. Er war davon sichtlich begeistert und wir wurden ausdrücklich für unsere Leistungen gelobt. Er habe noch nie solch prächtige Karotten im Schulgarten gesehen.

Aber es gab nicht nur Glory Days in der Schule. Einmal hatten wir etwas ausgefressen, ich weiß nicht mehr, was genau, und sollten bestraft werden. Mr Crawford verurteilte uns dazu, seinen Hühnerstall auszumisten. Darauf hatten wir aber überhaupt keine Lust. Dennoch mussten wir antreten. Also zeigte er uns den Hühnerstall, in dem sich natürlich auch die Tiere befanden. Als Mr Crawford den Stall verließ, taten wir allerdings etwas anderes, als uns eigentlich geheißen war. Wir nahmen den kleinen Wassertopf aus Metall, leerten ihn aus und nutzten ihn als Schlagzeug. Dazu sangen wir lauthals schallend in den grässlichsten Tönen. Alle Hühner wurden aufgescheucht und flogen panisch umher. Es war ein wildes Durcheinander, in dem die Vögel in der Luft aneinanderprallten. Federn flogen und das Schreien der Tiere war panisch. Ich weiß nur noch, dass wir die Szenerie dann einfach verlassen haben. Diese Hühner haben wohl nie mehr in ihrem Leben ein einziges Ei gelegt. Mr Crawford hat jedenfalls nie ein Wort über diese Angelegenheit verloren und uns auch nie mehr damit bestraft. Es stand also unentschieden.

Wir hatten aber nicht nur einen tollen Rektor, der den Garten liebte – wir hatten auch eine wunderbare Lehrerin. Diese Lehrerin war eine Frau, die uns Islay Boys gut im Griff hatte. Und vor allem hatte sie etwas, was andere Frauen nicht hatten. Unsere Mrs McArthur hatte einen Fernseher! Wow! Es gab nur sehr wenige Fernseher in Bowmore. Es war eine brandneue Technologie, die sich kaum jemand leisten konnte. Aber wir wussten, dass im Wohnzimmer unserer Lehrerin ein solches Gerät stand. Das war sehr leicht herauszufinden. Man benötigte zum Fernsehempfang eine Antenne. Diese Antennen waren derart groß, dass sie schon von Weitem zu sehen waren. Ich bin mir sicher, dass die NASA keine kleineren Antennen hatte, Riesenmasten, die das Signal von Irland auffangen mussten. Die Antennen der damaligen Zeit glichen mehr einem Pfosten auf einem Rugbyspielfeld. Wir reden hier aber nicht von UHD-Qualität, sondern von einer eher mäßigen monochromen Sicht der Dinge in Schwarz-Weiß. Einmal in der Woche lief im TV eine Kindersendung. Sie hieß „The Lone Ranger“ – eine Westernserie mit Clayton Moore in der Hauptrolle. Dieser Lone Ranger war unser Held, er war der Cowboy, der für das Gute stand und so manchen Banditen in die Flucht schlug. Stellen Sie sich vor, nur einmal in der Woche gab es eine Sendung für uns kleine Ileachs und niemand von uns konnte „The Lone Ranger“ sehen. Mrs McArthur hatte ein großes Herz. Natürlich wusste sie, dass wir Kinder zu Hause keinen Fernseher hatten. Was tat sie dann also, als sich kurz vor Beginn von „The Lone Ranger“ rein zufällig fast alle Kinder in der Nähe ihres Hauses herumtrieben? Sie bat uns in ihr kleines Wohnzimmer. Können Sie sich das vorstellen? Wir quetschten uns zusammen, die Größeren standen hinten, die Kleinen saßen zusammengekauert direkt vor dem winzigen Bildschirm. Anfangs dachte ich, dass alle Sendungen im Winter spielten, denn es schneite grundsätzlich, bis ich erkannte, dass es mit dem Empfang zusammenhing. Das war für uns das Highlight der Woche: „The Lone Ranger“. Natürlich haben seine Abenteuer jedes Mal ein gutes Ende genommen. „The Lone Ranger“ brachte für uns eine neue Welt nach Islay: den Wilden Westen. Sobald wir nach der Vorführung das Haus der Lehrerin verließen, verwandelte sich die Main Street in eine weite Prärie, von der High Street kamen die Indianer und vom Hafen her hörte man das laute, unverkennbare Trampeln der großen Büffelherden. Meistens lauerten in der Jamieson Street die Banditen mit ihren Halstüchern vorm Gesicht den Cowboys auf. Ich wurde zwischen Kirche und Hafen sicher 4.000 Mal erschossen. Cowboys gab es genug auf Islay, ich gehörte aber meistens zu den Indianern. Ich wollte schon damals nie einer von vielen sein, nie mit der Menge mitgehen. Der Indianer inmitten von Cowboys zu sein, das war die McEwan-Story.

Wir hatten als Kinder eine blühende Fantasie und erschufen uns unsere virtuellen Welten ganz ohne Computer. Wenn wir nicht gerade auf der Jagd nach Indianern, Cowboys oder Banditen waren oder Boote bastelten, ließen wir uns manchmal dazu hinreißen, von verbotenen Früchten zu naschen. Diese Früchte befanden sich im von einer kleinen Steinmauer umgebenen Garten unseres Pfarrers. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich einmal all meinen Mut zusammennahm, um Stachelbeeren aus dem Pfarrgarten zu stehlen. Langsam schlich ich mich mit anderen an und achtete genau darauf, dass mich niemand sah – zumindest glaubte ich das. Dann kroch ich über die Mauer, robbte im hohen Gras zu den Büschen und stahl so viele Beeren, wie ich in meinen Händen tragen konnte. So leise und unbemerkt wie möglich schlich ich mich wieder zurück und konnte die Mauer überqueren. In vermeintlicher Sicherheit teilte ich mit meinen Freunden den unrechtmäßig erworbenen Schatz aus dem frommen Garten. Was haben diese Stachelbeeren köstlich geschmeckt! Das waren die wohl besten Stachelbeeren der Welt! Das müssen sie auch gewesen sein, denn man nahm ja ungeheure Risiken dafür in Kauf. Doch kaum war die Beute verzehrt, rächte sich der Einsatz: „Jim McEwan! Du weißt genau, dass du das nicht darfst – das hat deine Mutter dir doch sicher gesagt!“, schallte es von irgendeiner der schier allgegenwärtigen Mütter her. So nahm meine kriminelle Karriere schon in Kindertagen ein jähes Ende – Gott sei Dank. Später habe ich erfahren, dass uns der Pfarrer gesehen hatte, aber froh war, dass jemand die Stachelbeeren aß, weil er sie nicht mochte.

Wenn wir nicht fernsehen konnten, liebten wir das Radio. Mit einem solchen Gerät war ebenfalls nicht jeder gesegnet. Es gab in Bowmore eine große Snooker Hall, die „British Legend Hutt“. Diese Halle wurde für Versammlungen aller Art genutzt. Für uns Kinder war es ein magischer Ort, direkt vor meiner Haustür gelegen. Heute sind dort ein großer, freier Platz und die Touristeninformation. Damals war es der Treffpunkt schlechthin. Das Ambiente in dieser hölzernen Baracke war einzigartig. Man traf sich, spielte Snooker, bekam die Haare geschnitten oder erzählte sich Geschichten von längst vergangenen Zeiten. Zutritt hatten nur Männer und manchmal durften auch wir Jungs rein. Dort trafen sich die Männer, die in der Brennerei hart arbeiteten, und die alten Kriegsveteranen. Ich liebte es, den Geschichten der alten Männer zuzuhören. In Zeiten ohne Smartphone, Fernsehen und Internet war das unsere Unterhaltung. Wir Kinder gehörten irgendwie dazu, solange wir uns anständig und vor allem leise verhielten. Die Zeiten, von denen ich hier berichte, liegen aus heutiger Sicht sehr weit zurück und müssen sich für die meisten von Ihnen fremd anhören. Umso ferner liegen die Geschichten zurück, die ich als Kind zu hören bekam. Sie handelten von den Abenteuern auf hoher See oder von den beiden Weltkriegen. Es gab Kriegsveteranen, die noch nie die Insel verlassen hatten, bevor sie eingezogen wurden, hinaus in eine feindselige Welt ohne jegliche Gewissheit, nur mit der Hoffnung auf eine gesunde Wiederkehr. Davon erzählten die Männer. Oder wie es war, zum ersten Mal das schottische Mainland zu betreten, Islay von außen zu sehen. Für mich als Junge waren das fesselnde Geschichten, die ich ganz in mich aufsog. Die alten Ileachs waren fantastische Geschichtenerzähler und ich gehörte zu ihrem dankbaren Publikum. Damals wurde einfach viel mehr miteinander gesprochen und vor allem viel mehr zugehört. Zu alledem lag dieser für mich so faszinierende Geruch in der Luft – diese männliche Melange aus Whisky, Pfeifentabak und Feuer. Der Höhepunkt der Woche war Samstag, denn jeden Samstag um 15:00 Uhr wurde Fußball live im Radio übertragen. Ab 14:45 Uhr scharten sich alle um das Radiogerät. Wir Kinder durften damals am Boden sitzend dabei sein, aber nur, wenn wir absolut keinen Laut von uns gaben. Andernfalls wären wir schneller hinausgeworfen worden, als uns lieb gewesen wäre. Dafür, dass von unserer Seite auch wirklich Ruhe herrschte, sorgte Mr McNeill. Er war in der Navy, konnte Haare schneiden und in der British Legend Hutt war sein Wort Gesetz. Für mich als kleiner Junge waren das damals unvergessliche Momente inmitten alter Veteranen, von denen manche sogar beide Weltkriege miterlebt hatten. Ich liebte die Atmosphäre, das Flair und vor allem das Privileg, in dieser legendären Gesellschaft die Fußballübertragung miterleben zu dürfen. Ich wollte auch unbedingt Pfeife rauchen und Whisky trinken! Das ging leider nur schlecht, denn ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Aber ich war mir sicher: Wenn ich einmal groß bin, dann werde ich einer von ihnen werden! Auf einer protestantischen Insel waren natürlich alle Glasgow-Rangers-Fans. Alle bis auf den kleinen Jim McEwan – der war aus welchem Grund auch immer Anhänger des Hibernian Football Club. Das sagte ich aber nicht allzu laut, denn meistens verloren sie. In den seltenen Fällen, in denen sie aber gewonnen hatten, ließ ich es jeden mitunter wochenlang wissen. Wenn Schottland spielte, dann hielten wir alle zusammen. Wenn 50 Leute da waren, dann gab es mindestens 50 Experten – alle ausgestattet mit dem Wissen, das für einen Nationaltrainer gereicht hätte. Wenn Schottland spielte, dann war man sich über alle Vereinsgrenzen hinweg einig – zumal, wenn es gegen England ging. Dann waren aber mehr als nur 50 Leute in der Hutt. Ich werde nie die Gänsehautmomente vergessen, die es gab, wenn ich bei einem Fußballspiel zuhören durfte. „… Jim Baxter im Mittelfeld erobert den Ball, spielt steil auf Willie Stevenson. Der rast mit der Kugel durch das Mittelfeld und lässt drei Gegenspieler stehen, passt dann nach vorn zu Max Murray. Brillant nimmt er den Ball an, dreht sich kurz, fasst sich ein Herz, zieht ab und … Tooooooor!“ Wenn das geschah, dann lagen sich Jung und Alt in den Armen und feierten. Fußball, das wurde gelebt. Da kochten die Emotionen hoch. Jeder hatte wohl ein anderes Spiel vor seinem inneren Auge. Ein Fußballstadion von innen hatte noch niemand gesehen. Aber jeder fühlte sich, als ob er das entscheidende Tor geschossen hätte, großartig! Man hat miteinander gewonnen und man hat auch, leider häufiger, miteinander verloren. Aber man hat dieses Erlebnis, diese Begeisterung, diese einmaligen Emotionen gemeinsam geteilt – wunderschöne und zugleich sehr prägende Momente. Leider hat Schottland viel mehr Spiele verloren als gewonnen. Deswegen lernte ich genau dort auch unheimlich viele Vokabeln, die ich nirgends sonst hätte lernen können – gälische Schimpftiraden. Diese gälische Poesie, wie ich sie an dieser Stelle nennen möchte, unterschied sich bei Weitem von all den Schimpfwörtern, die heute verwendet werden. Das F-Wort gab es damals noch nicht. Man fand einfach sehr anschauliche Vergleiche, mit denen man sich gegenseitig Komplimente machte. Trotz aller Missgunst, die es während eines Streits gab, beleidigte man sich mit Respekt und so gut wie nie mit Flüchen. Man fand lustige Vergleiche. Kam es zu einem Streit, dann hatte der gewonnen, der das letzte Wort hatte. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das im Jahr 1642 gewesen ist!“ „Tut mir leid, Wallie, dir sagen zu müssen, dass es im Jahre 1643 war, exakt am 22. Juli abends um halb acht. Das war das genaue Datum, Sir!“ Gelogen hatten zwar beide, aber das machte nichts. Es waren wirklich wundervolle Zeiten dort, an die ich mich sehr gern erinnere. So viele Generationen aus den unterschiedlichsten Familien unter einem Dach und alle mit der geteilten Freude, eine gute Zeit miteinander zu verleben. Das waren wirklich Happy Days!

3Follow Your Nose

| Immer der Nase nach

Jeder Mensch hat bei seiner Geburt ein wunderbares Geschenk mitbekommen. Etwas, das vor so mancher Gefahr bewahrt und das uns sehr glücklich machen kann. Leider unterschätzen viele dieses Geschenk. Dieses Geschenk, von dem ich rede, ist die Nase und ihre unglaubliche Fähigkeit, Gerüche wahrnehmen zu können. Gott hat uns rechts und links eine wertvolle Besonderheit mitgegeben, die so wunderbar und unglaublich bereichernd für uns ist. Es sind kleine Areale im Inneren der Nase, gerade einmal etwa zwei mal fünf Zentimeter groß. Darin sind unsere Rezeptoren für Aromen, Düfte und Gerüche angesiedelt. Die Nase ist circa 2.000-mal sensibler als die Zunge. Welch ein faszinierendes Erlebnis, Gerüche wahrzunehmen und wirken zu lassen! Haben Sie sich schon einmal Gedanken über Ihren Geruchssinn gemacht? Ich vermute nein – allenfalls dann, wenn er zeitweise wegen einer Erkältung ausgefallen ist. Das haben Sie vermutlich als ungewohnt und unangenehm empfunden, aber wie überlebenswichtig dieser Sinn eigentlich ist, darüber lohnt es sich wirklich nachzudenken. Niemand von uns würde nämlich auf die Idee kommen, etwas zu sich zu nehmen, das komisch oder übel riecht. Die Nase bewahrt uns vor einer Vergiftung. Auf die Nase kann man sich verlassen. Lange bevor man eine Gefahr sieht, kann man sie mitunter schon riechen. Im Gehirn stehen olfaktorische Reize in unmittelbarer Wechselwirkung mit unseren Emotionen. Sobald wir etwas uns Vertrautes riechen, werden Glücksgefühle ausgelöst. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal einen lieben Menschen oder Ihre Kinder in den Arm nehmen. Jeder Mensch hat einen ureigenen Geruch. Jemanden, den man „nicht riechen kann“, mag man auch nicht. Ich könnte noch stundenlang über diesen wunderbaren Sinn hinter dem Geruchssinn philosophieren, der mein Leben so sehr geprägt hat.

Leider kann man in einem Buch keine Gerüche transportieren, also versuche ich diese Magie in Worte zu fassen. Wenn es auf Islay etwas im Überfluss gibt, dann ist es Torf. Von Hand gestochener und getrockneter Torf. Dieser Brennstoff spielte nicht nur für die Whiskyherstellung eine Rolle, sondern auch im Alltagsleben der Menschen auf Islay. Torf war früher ein weitverbreitetes Heizmaterial, Holz gab es nicht in der benötigten Menge. Getrockneter Torf brennt nicht wie Holz mit hohen Flammen, nein, er schwelt und glimmt.

Torf eignet sich nicht nur für Whisky.

Ein Torffeuer ist ein wohltuendes und langsam brennendes Feuer. Es dauert lange, bis ein solches Feuer entfacht ist, aber dafür hält es auch lange nach. Brennt es, so verströmt es diesen für mich so wunderbaren charaktervollen, voluminösen, heimelig vertrauten Rauch. Auch wenn man den Rauch nicht sehen kann, die Nase kann ihn einfangen. Doch nicht nur den Rauch fängt unsere Nase ein, in einer Brennerei strömen noch viele weitere Eindrücke auf unsere Nase ein. Es gab für mich den satten Duft der Gerste zu entdecken: Wie ein Regen im Frühling – so roch das Korn, das sich vor dem Auskeimen mit Wasser vollgesogen hatte. Dieser Duft verströmte etwas Fruchtbares, etwas Kraftvolles, etwas, das lebendig war, etwas, das sich am Beginn einer Reise befand. Aufbruch und Heimat zugleich. Dazu roch ich auch etwas zutiefst Erdiges, etwas, das Wurzeln austrieb. Sobald die Gerste über dem Rauch getrocknet wurde, erschien ein neuer Duft, der Duft der Verwandlung: Es lag eine zauberhafte, an Karamell erinnernde und feingliedrige Süße in der Luft, ein angenehmer Geruch, der manchmal auch an Honig erinnerte. Und dann auch wieder diese grasigen, an die satten Salzwiesen erinnernden Noten. Das war nur der Anfang. Ein Kapitel für sich waren die vielschichtigen Aromen der Fässer – sie reichten von nassen, dunklen, derben, von Gerbsäure geprägten Holznoten der einzelnen Fassdauben, die im Regen lagerten, bis hin zu einer fruchtigen und von Vanille geprägten Frische. Dann gab es auch die dunklen und süßen, an Schokolade erinnernden Noten der ehemaligen Sherryfässer, die für die Befüllung bereitstanden. Umrahmt wurde diese für die Nase so spannende Kulisse dann auch noch von der schier unglaublichen Fülle aller maritimen Noten, welche die Insellage in nie enden wollender Fülle zu bieten hatte: das Salz, die Feuchtigkeit, die Säure, die Frische, kurz gesagt, den ganzen Charakter meiner Insel. Getragen wurde diese Fülle noch von einer urgewaltigen Kraft: dem Feuer. Es wurde gebraucht, um die Fässer auszubrennen. Die Hitze, die das Metall zum Glühen brachte. Die Kohle, der Dampf, der die Brennblasen betrieb. Das Schmieröl, das die altehrwürdigen und historischen Maschinen und die Mechanik am Laufen hielt. All das wäre aber nutzlos gewesen, wenn es nicht noch die Heroen unserer Kindheit gegeben hätte. Der Schweiß der Männer von Islay, die in den Brennereien ihr Bestes gaben und leidenschaftlich hart arbeiteten. Diese Mühsal und dieser Schweiß waren tagtäglich in der Brennerei gefordert – und sie wurden von den fleißigen Ileachs auch geliefert. All das zusammen ergab diese magische Mischung, die meine Nase jeden Tag erleben durfte. Und als Sahnehaube auf alledem waberte noch der Duft der allgegenwärtigen und stets brennenden Tabakpfeifen der Männer. All das war für mich unglaublich und schier nicht in Worte zu fassen! Dieses Spiel der Düfte und Gerüche hatte auf mich eine immense Anziehungskraft, der ich mich nicht widersetzen konnte.

Die komplette Bowmore-Belegschaft im Jahr 1928, darunter auch der Maltman John McEwan (letzte Reihe, 4. von rechts).