ALBATROS - Urs Aebersold - E-Book

ALBATROS E-Book

Urs Aebersold

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Beschreibung

In seiner frühen Kindheit hat LEONARD LANSING nie das erfahren, was man Ur-Vertrauen nennt. Erfolgreich in seinem Beruf als Unternehmensberater, wird er in seinem Privatleben regelmäßig von seinen Freundinnen verlassen. Er macht eine CyberEvent-Therapie, die dazu dienen soll, seine Ängste zu überwinden und Vertrauen aufzubauen. Doch seelische Verletzungen lassen sich durch virtuell erzeugte Simulationen realer Erlebnisse nicht einfach ausradieren, und so wird für ihn erst eine Reise nach Apulien eine Reise zu sich selbst…

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EPUB
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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Urs Aebersold

*1944 in Oberburg/CH

1963 Matur in Biel/Bienne (CH)

1964 Schauspielschule in Paris, Kurzspielfilm "S"

Studium an der Universität Bern. Weitere Kurzspielfilme:

"Promenade en Hiver", "Umleitung", "Wir sterben vor"

1967-70 Studium an der HFF München

1974 Erster Kinospielfilm DIE FABRIKANTEN

Diverse Drehbücher, auch für "Tatort"

Ab 2016 erste Buchveröffentlichungen:

VERZAUBERT / NOVEMBERSCHNEE / DASBLOCKHAUS - Drei Erzählungen

JULIA / AM ENDE EINES TAGES / DUNKEL ISTDIE NACHT - Drei Erzählungen

NUITS BLANCHES - Roman

DER BAUCH MEINER SCHWESTER / EIN PERFEKTES PAAR / DIESES JÄHE VERSTUMMEN -Drei Erzählungen

BLUT WIRD FLIESSEN - Psychothriller TÖDLICHE ERINNERUNG - Psychothriller DER LETZTE BUS - Psychothriller

DAZED & DAZZLED – Roman

ALBATROS – Roman

ALBATROS

Roman

Urs Aebersold

© 2020 Urs Aebersold

Coverfoto: Pixabay

Verlag und Druck: tredition GmbH

Halenreie 42

22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-6765-6

Hardcover:

978-3-7497-6766-3

e-Book:

978-3-7497-6767-0

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

ALBATROS

Der mächtige Kastanienbaum im Hinterhof stand in voller Blüte, seine Äste wogten in einem launischen, bisweilen orkanartigen Frühlingswind auf und ab, einige der Zweige mit ihren zarten Blütenkerzen wischten dabei sachte an einem geschlossenen Fenster im dritten Stock eines Wohnhauses entlang, als wollten sie hinein sehen und sich ein Bild machen von dem, was da drinnen geschah. Es war ein kleines, verwahrlostes Kinderzimmer, der Boden übersät von Spielzeug, mit einem Laufgitter in der Mitte des Raums, dessen Tür in den Angeln gebrochen war und schräg herunter hing, einem überdimensionalen Hampelmann an der Wand mit seitlich abgeknicktem Kopf, einem offenen Schrank voller Krempel und einer Kommode in der Ecke, deren Schubladen von Babywäsche überquoll, schräg gegenüber ein Kinderbett, in dem ein schreiender Säugling lag. Er schrie schon eine ganze Weile, rot im Gesicht, Arme und Beine verkrampft und eng am Körper, doch niemand kam, um nach ihm zu sehen. Das kleine Wesen wurde immer leiser, bis es ganz verstummte. Der Kopf ruckte unruhig hin und her, wieder und wieder stießen Arme und Beine jäh ins Leere, die Augen nahmen einen Ausdruck von Ohnmacht und Qual an, der sich allmählich verfestigte, als sei es nicht das erste Mal, daß seine gellenden Hilferufe ungehört verhallten, doch diesmal womöglich das eine Mal zuviel. Sanft wiegten sich die Blütenkerzen der Kastanie am Fenster hin und her, als wollten sie es trösten, doch mit seinem Verstummen war auch die Hoffnung erloschen, daß es jemals jemanden geben werde, der es vor der Welt beschützte.

1

Es war früh im Frühling, und draußen herrschte noch Zwielicht, als die Jaeger-LeCoultre Memovox an Leonard Lansings Handgelenk zu schnarren begann und mit sanfter Penetranz in seinen traumlosen Schlaf eindrang. Seine Hand tastete über das Nachtkästchen und schob den Alarmknopf des Weckers, den er zur Absicherung aktiviert hatte, auf Null, kurz bevor er um Punkt 5.30 mit seinem schrillen, mißtönenden Piepsen die morgendliche Stille zerreißen konnte. Erst jetzt öffnete Leonard die Augen und zwang sich, die Decke abzuwerfen, seine Beine über den Bettrand zu schwingen und sich entschlossen auf die Füße zu stellen, entgegen seinem spontanen Bedürfnis, noch eine Weile liegen zu bleiben und sich wohlig zu räkeln.

Nach seinem Gang auf die Toilette begab er sich in die Küche, erneuerte das Wasser des Kaffeeautomaten und schaltete ihn ein, schüttete von seiner Cerealien/Amaranth-Spezialmischung, angereichert mit Trockenfrüchten, in ein Gefäß, gab eine Handvoll Walnüsse dazu, übergoß das ganze mit fettarmer Milch, rührte um und ließ einen Eßlöffel Waldhonig hinein tropfen. In ein zweites Gefäß schnitt er eine Kaki, eine Kiwi und eine halbe Banane klein.

Vor dem bodenlangen Spiegel im Bad rasierte er sich sorgfältig und betrachtete dabei aufmerksam Gesicht und Körper. Mit seinem kurz geschnittenen, struppigen schwarzen Haar, das über dem linken Ohr einen nicht zu bändigenden Kringel bildete, seiner blassen Haut, seiner geraden Nase, die eine Spur zu kurz war, um als römisch zu gelten, seinem straffen Mund, den dunklen, scheinbar pupillenlosen Augen, die auf den ersten Blick schwarz schienen, aber von einem überraschenden Dunkelblau waren, seiner athletischen, animalisch gespannten, knapp über mittelgroßen Figur wirkte er sehr attraktiv, wenn auch ein wenig düster und bedrohlich, wäre da nicht dieser leise leidende, beinahe abbittende Ausdruck in seinen Zügen gewesen, den er eifrig kultivierte, und seine guten Manieren, mittels derer er sein wölfisches Wesen erfogreich zu kaschieren und in das Bild eines dynamischen und zugewandten jungen Mannes zu transferieren vermochte.

Leonard ging in sein Schlafzimmer zurück, rollte eine Turnmatte aus und begann nackt mit seinen Übungen, um Arm-, Bein-, Rücken- und Bauchmuskulatur zu kräftigen, konzentrierte sich auf seine dreißig Liegestützen, die er mit um neunzig Grad abgeknicktem Oberkörper ausführte, damit auch seine Schultermuskeln trainiert wurden, und schloß mit zwanzig Klimmzügen am Türreck ab, bevor er für eine schweißtreibende halbe Stunde auf den Croßtrainer stieg. Die Wärme, die sich allmählich in seinem Körper ausbreitete, und der Schweiß, der ihm überall über die nackte Haut rann, erzeugte in ihm ein atavistisches Gefühl von Allmacht und Unbesiegbarkeit, das ihn im Lauf des Tages nie ganz verließ und ihm immer wieder einen leichten Schauer über den Rücken jagte.

Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, duschte er ausgiebig, rieb seine Achselhöhlen mit dem Deodorant-Stick von Zino Davidoff und sein Gesicht mit dem Rasierwasser aus derselben Duftreihe ein, die nicht mehr hergestellt wurde, von der er sich jedoch über schwer zugängliche und unverschämt teure Quellen einen komfortablen Vorrat angelegt hatte, kleidete sich an, jedoch nicht zu auffällig teuer, da heute die Inhaber eines mittelständischen Betriebs auf seiner Besuchsliste standen, deren Belegschaft ihn für ihresgleichen halten sollte.

In der Küche aß er seinen Getreidebrei mit den frischen Früchten, nahm eine große Tasse Kaffee mit in den Wohnraum seiner schuldenfreien, geräumigen Anderthalbzimmer-Dachgeschoß-Eigentumswohnung, checkte auf seinem Smartphone die Nachrichten und seine Termine für den Tag, trat kurz auf die Terrasse, um die frische Luft zu atmen und mit einer Art heimlichem Besitzerstolz über die erwachende Stadt zu blicken, als würde sie ihm bald gehören, dann verschwand er in der Toilette und bereitete alles für sein tägliches Klistier vor. Seit er vor zwei Jahren mitten in einer Teamsitzung aufstehen und mit einer fadenscheinigen Ausrede den Konferenzraum hatte verlassen müssen, um dem unerbittlichen Drang nachzugeben, seinen Darm zu entleeren, mit dem Ergebnis, daß in seiner Abwesenheit ein Auftrag mit viel Prestige an einen verhaßten Rivalen vergeben wurde, hatte er beschlossen, sich während der Arbeitszeit niemals mehr einer solchen Laune der Natur auszusetzen, auch wenn ihm dieses tägliche Prozedere von Grund auf zuwider war.

Um 7.30 betrat Leonard die Tiefgarage, stieg in seinen dunkelblauen Maserati GranCabrio und fuhr gespannt wie ein Bogen in den neuen Tag hinaus.

2

Die Firma A&A Consulting, für die Leonard arbeitete, befand sich im 15. Stock eines neuerbauten, gläsernen Hochhauses und nahm die ganze Etage ein. Über den ganzen Raum verteilt erstreckten sich kleine, abgetrennte Verschläge, in denen Computer auf verstellbaren Metalltischen standen und gerade mal Platz boten für eine Person. Dort mühte sich die unterste Schicht der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ab, die Rechercheure und Zuarbeiter, Frauen und Männer in etwa der gleichen Anzahl, doch kaum jemand über vierzig.

In unregelmäßigen Abständen unterbrachen etwa ein Dutzend würfelförmige Glaskäfige diese gleichförmigen Arbeitsplätze, ebenfalls ausgerüstet mit Computern, jedoch ergänzt durch eine kleine Sitzecke und metallene Aktenschränke, Trinkwasserbehälter, einen Kühlschrank und eine Miniküche, in der man Kaffee und Tee zubereiten konnte. Hier residierten die Beraterinnen und Berater, sofern sie nicht gerade im Einsatz waren, deutlich mehr Männer als Frauen, und bereiteten sich auf ihre Aufgaben vor. Sie hatten im Betrieb absolute Priorität und ließen das ihre Kolleginnen und Kollegen auch spüren.

Über ihnen allen thronten die beiden Gründer der Firma, Akerman und Abel, auf der Südseite des Büroturms jeweils in großen, komfortablen Wohnbüros, deren Clou es war, daß sich die Glasverkleidung durch Knopfdruck dunkel färben ließ, sodaß kein Blick ins Innere mehr möglich war, während nach außen uneingeschränkte Sicht herrschte. Um diese Besonderheit rankten sich die wüstesten Vermutungen, besonders dann, wenn nicht Sitzungen mit wichtigen Kunden Anlaß für Diskretion waren, sondern Akerman einzelne attraktive, junge Mitarbeiterinnen zu sich rief und sich unmittelbar danach die Wände verdunkelten. Akerman war groß und hager und stand trotz Familie im Ruf, ein Weiberheld zu sein, und wenn die Frauen wieder durch die Tür heraus traten, tasteten sie Dutzende von Blicken insgeheim nach verräterischen Spuren ab, geröteten Wangen etwa, verwischtem Lippenstift oder verrutschter Bluse. Bei Abel, weich und rundlich, einem echten Genußmenschen, wie es sie nur noch selten gab, dessen Scharfsinn man jedoch leicht unterschätzte, waren es die jungen Männer, über die man sich heimlich das Maul zerriß, auch wenn in beiden Fällen nur wild spekuliert wurde und es keine Beweise für solche Unterstellungen gab.

Die beiden Inhaber der Firma hatten mit ihrem Führungsstil trotz ihrer jovialen Art dafür gesorgt, daß niemand es wagte, offen über sie zu tratschen. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, daß sich unter den Angestellten Spione verbargen, die über ein raffiniertes Computerprogramm nichts anderes taten, als jeden einzelnen von ihnen zu kontrollieren. Auch hier gab es keine Beweise, doch in der Vergangenheit war es öfter vorgekommen, daß einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von einem Tag zum andern plötzlich verschwanden, bis es allen allmählich dämmerte, daß es immer diejenigen traf, die geglaubt hatten, ein lockeres Leben führen und an den Arbeitsbedingungen herummäkeln zu können.

Ein weiterer schlauer Schachzug war die Einrichtung einer Kantine, die fast ein Viertel der Etage einnahm und während der gesamten Arbeitszeit stets hochwertiges Essen bereithielt. Unausgesprochen wollte man so verhindern, daß die Belegschaft zur Mittagszeit in alle Himmelsrichtungen ausschwärmte, sich in Imbißecken von Einkaufszentren festquatschte und so die Konzentration verlor. Jetzt schlenderte jeder rasch hinüber ins Casino, wenn er Hunger hatte, die Essenszeiten entzerrten sich, und alle waren mehr oder weniger dauernd am Arbeiten. Einen Zwang zu dieser Arbeitsform gab es nicht, doch jeder, der jetzt mittags das Gebäude verließ, wirkte irgendwie wie ein Verräter oder zumindest wie ein Paria.

Akerman und Abel hatten sich während ihrer Studienzeit kennen- und schätzengelernt, waren schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren im Geschäft und entsprechend abgebrüht. Seit dem Umzug in das Hochhaus vor drei Jahren hatten sie ihr Tätigkeitsgebiet ausgebaut, sie betreuten jetzt auch einheimische Firmen, die eine Dependence im europäischen Ausland eröffneten und europäische Unternehmen, die sich im Inland ansiedeln wollten. Akermann konzentrierte sich vor allem auf das Inland, während Abel, der mehrere Fremdsprachen beherrschte und ein ausgezeichneter Gastgeber war, sich vorwiegend auf der internationalen Ebene bewegte.

Unter den Beraterinnen und Beratern fand täglich ein quälender, kräfteraubender, mit subtilsten Mitteln geführter Abnützungskampf um die lukrativsten Aufträge statt, der von den beiden Firmeninhabern gekonnt angeheizt wurde. So konnte es geschehen, daß Mitarbeiter, die eben noch brillante Arbeit abgeliefert hatten und sich Hoffnung auf einen dauerhaften Platz an der Spitze machten, mit einer Aufgabe abgespeist wurden, die ihnen schlagartig die Grenzen ihrer Ambitionen aufzeigen sollte. Das Perfide daran war die unausgesprochene Übereinkunft, daß solcherlei Willkür stillschweigend geschluckt und Widerspruch nicht geduldet wurde, wollte man seine Karriere nicht aufs Spiel setzen. Auch wenn sie sich untereinander duzten, sprachen sie professionell und sachlich über ihre Arbeit und übten lediglich in Form dezent angedeuteter Verbesserungsvorschläge, die sie angeblich von Kolleginnen und Kollegen gehört haben wollten, verschlüsselte Kritik an der Unternehmenspolitik, denn keiner konnte wissen, ob das andernfalls nicht sofort nach oben durchgesteckt wurde. Dennoch hielten alle verbissen an ihren Posten fest, denn wer es zu A&A Consulting geschafft hatte, fand immer wieder eine Anstellung, auch wenn er oder sie dort hochkant hinausgeflogen war.

3

Leonard ging mit verzögerten Schritten auf den Eingang von A&A Consulting zu und wartete auf das gedämpfte Hauchen, mit der die Türen zur Seite glitten, dann ging er lässig den langen Korridor zu Akermans Büro entlang, heimlich verfolgt von Dutzenden von Augen der schon fast vollständig anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und nickte Solange, die in ihrem Verschlag direkt am Gang saß, mit einem leichten Senken des Kopfes unauffällig zu, die seinen Blick mit blitzenden Augen erwiderte. Sie hatten sich ein paarmal zufällig im Casino getroffen und danach privat verabredet, obwohl auch das zu den unausgesprochenen Regeln gehörte, daß Paarbildungen innerhalb der Firma als unerwünscht galten. Die Erfahrung hatte aber gezeigt, daß keine Sanktionen erfolgten, solange niemand in seiner Leistung nachließ. Dennoch bemühten sich alle Betroffenen, auch Leonard und Solange, ihre Beziehung möglichst geheimzuhalten.

Leonard richtete seinen Blick wieder nach vorne und sah Mia Faber, seine heutige Partnerin, die bei Akerman bereits auf einem Besuchersessel saß. Auch diese Maßnahme, daß jeder Auftrag von mindestens zwei Beratern durchgeführt werden mußte, entsprach der Firmenphilosophie – keine Alleingänge, keine Geheimnistuerei, jeder überwachte jeden. Mia unterhielt sich angeregt mit ihrem Vorgesetzten, der es sich auf seinem Drehstuhl bequem gemacht hatte, die Füße auf dem Schreibtisch, sodaß er beinahe lag. Wohl noch zu früh für eine Verdunkelung, dachte Leonard hämisch, oder Mia ist nicht sein Typ. Dabei entging ihm nicht, daß ihn Abel, der allein mit seiner Sekretärin in seinem Büro saß, abgetrennt durch eine deckenhohe Glaswand, wie drüben bei seinem Partner, mit lüsternen Blicken musterte, um sich gleich wieder seinem Laptop zu widmen. Leonard war das Interesse Abels an seiner Person äußerst unangenehm, auch wenn er noch nie Annäherungsversuche unternommen hatte, wohl auch deshalb, weil Leonard zu Akermans Leuten zählte und in seiner hervorgehobenen Position schlecht als Lustknabe taugte.

Leonard sah rasch auf seine Uhr, bevor er Akermans Büro betrat. Es war kurz vor acht, also war er nicht zu spät, doch daß Mia vor ihm da war, versetzte ihm dennoch einen kleinen Stich. Sie war eine angenehme Erscheinung, etwas jünger als Leonard, dunkelblond und gelassen und knapp zwei Jahre länger im Betrieb, doch man wußte bei ihr nie, was sie dachte oder wie ehrgeizig sie war. Leonard spürte, daß Akerman insgeheim viel von ihm hielt und ihn gerade deswegen immer wieder bremste, um zu verhindern, daß er abhob oder dünkelhaft wurde. Es war möglich, daß Akerman von einem Tag zum anderen völlig willkürlich jemand anderen zu seinem Favoriten erhob, deshalb mußte er immer wachsam sein.

Leonard klopfte kurz, zog am Türgriff und glitt gewandt ins Büro.

"Guten Morgen…"

Mia lächelte ihm freundlich zu, doch ihr selbstzufriedener Gesichtsausdruck war unübersehbar. Akermans länglicher Kopf mit den notorisch geröteten Wangen und den schlohweißen Haaren, die er bereits mit fünfzig hatte, ruckte zu ihm herum.

"Guten Morgen Herr Lansing…"

Seine blaßblauen Augen nahmen ihn spöttisch ins Visier.

"Setzen Sie sich, setzen Sie sich, ich hoffe, Sie haben gut geruht…"

Leonard ließ sich auf dem Sessel neben Mia nieder und verkniff sich eine Antwort.

Akerman nahm seine Füße vom Schreibtisch, beugte sich vor und sah Mia und Leonard beschwörend in die Augen.

"Ihre heutige Aufgabe mag Ihnen nicht allzu anspruchsvoll erscheinen, doch wir sind uns einig, daß wir jeden Kunden mit dem gleichen Respekt behandeln…"

Akerman blätterte lustlos die Broschüre durch, die vor ihm auf dem Tisch lag, und wandte sich an Leonard. Das bedeutete, daß er ihm die Führung übergab.

"Über die Fakten haben wir ja ausführlich gesprochen… wie gedenken Sie vorzugehen?"

Mia sah aufmunternd zu Leonard hinüber, als sei es ausgemacht gewesen, daß er der Wortführer sei, und verbarg erfolgreich ihre Enttäuschung darüber, daß ihr Kalkül, sich einen kleinen Vorteil zu verschaffen, indem sie lange vor dem Termin erschienen war, im selben Augenblick in sich zusammenfiel. Leonard blieb das nicht verborgen, doch er hütete sich, seiner Stimme einen triumphierenden Ton zu verleihen.

"Nun, es ist etwas heikel… die eigentlichen Auftraggeber sind der Sohn des Speditionsunternehmers und seine Frau… der Alte will auf keinen Fall, daß sich etwas ändert, doch sie steuern auf ein dickes Minus zu…"

Akerman packte die Broschüre, schüttelte sie heftig und warf sie wieder hin.

"Das weiß ich, steht alles hier drin…"

Leonard sah kurz zu Mia hinüber und wandte sich wieder an Akerman.

"Mia schlug vor, uns als Ehepaar auszugeben, das eine Spedition von ähnlicher Größe aufbauen und sich von ihnen beraten lassen möchte… so schöpft der Alte keinen Verdacht und wir können ihnen auf dem Rundgang in Ruhe unsere Vorstellungen näherbringen…"

"Ist das nicht schizophren? Sie reden mit Leuten, die unsere Ideen gar nicht umsetzen können, und der eigentliche Adressat weiß von nichts?"

"Die Juniorpartner sind davon überzeugt, daß sie den Alten umstimmen können, solange er glaubt, daß es ihre eigenen Vorschläge sind und sie vernünftig klingen…"

"Und deswegen fahren Sie extra dorthin? Geht das nicht über Mailaustausch?"

Akerman drehte ungeduldig seinen Montblanc-Füller zwischen den Fingern.

"Es gibt zu viele Unwägbarkeiten… der Zustand des Fuhrparks, das Firmengelände, die Verkehrsanbindung und ob der Sohn und seine Frau überhaupt begreifen, was wir uns ausgedacht haben…"

Akerman zwinkerte Leonard zu.

"Advocatus diaboli… Sie haben natürlich recht…"

Er grinste seinen Mitarbeitern jovial zu, die sich augenblicklich erhoben.

"…am besten, Sie nehmen einen Firmenwagen ohne Aufschrift… einen Golf oder einen kleinen Audi…"

Leonard, schon im Gehen, drehte sich mit einem Lächeln nochmal kurz um.

"Eigentlich wollten wir Mias Wagen nehmen, für den Fall, daß sie das Kennzeichen überprüfen… man kann ja nie wissen…"

Einen kurzen Augenblick schien es, als wollte Akerman aufbrausen, doch dann hatte er sich wieder im Griff.

"Und? Wo ist da der Witz?"

"Ihr Auto ist auf ihre Eltern angemeldet, und die wohnen auf dem Land…"

Akerman bedachte ihn mit einem frostigen Lächeln.

"Dieser Punkt geht an Sie… ich wünsche Ihnen gutes Gelingen…"

Bevor Mia und Leonard die Tür erreicht hatten, ließ sich Akermans Stimme erneut vernehmen.

"Ach… Mia?"

Mit einem unguten Gefühl drehte sich Mia zu ihm um.

"Genial, sich als Paar auszugeben… aber vergessen Sie Ihre ehelichen Pflichten nicht…"

Es war eine dieser typischen, schlüpfrigen Akerman-Anspielungen, auf die es es keine Antwort gab und auch keine erwartet wurde. Leonard und Mia waren noch nicht draußen, als Akerman bereits konzentriert in ein Telefongespräch vertieft war.

4

Mias Auto war ein silbergrauer Peugeot 208 mit dem Kennzeichen des Landkreises, in dem ihre Eltern wohnten. Sie mußten dem Alten also gar nicht erst groß erklären, woher sie kamen. Mia fuhr sicher und zügig, ohne sich auf nervtötende Autobahnscharmützel einzulassen. Leonard saß entspannt neben ihr und genoß das ruhige Dahingleiten, die Landschaft, die nach dem langen Winter allmählich wieder ergrünte. Es war das erste Mal, daß sie als Team zusammenarbeiteten, und er hätte mit Mia gerne ein persönliches Gespräch geführt, es war sehr lästig, dauernd auf der Hut sein zu müssen, gerade wenn man so viel Zeit zusammen verbrachte. Auch wenn sie nicht direkt sein Typ war, schätzte er ihre ausgeglichene, unaufdringliche Art, er hätte gerne gewußt, ob sie einen Freund hatte und wie sie ihre spärliche Freizeit verbrachte. Vielleicht kam er ihr ja über Smalltalk näher.

"Es ist angenehm, sich einfach mal zurückzulehnen… du fährst so lässig, ich komme gar nicht auf den Gedanken, mich einzumischen…"

Überrascht sah Mia zu Leonard hinüber.

"Meinst du das ehrlich? Ich dachte, wer ein so sportliches Auto fährt wie du, leidet Qualen auf dem Beifahrersitz…"

"Ich bin kein Raser… mir geht es in erster Linie um die Ästhetik…"

"Das sagt mein Freund auch, doch er würde niemals ein Auto kaufen, das weniger PS hat als meins…"

Sie kannte also seine Automarke und hatte einen Freund, und sie schien sich weniger Gedanken zu machen, wieviel sie von sich preisgab. Oder war das ihre Methode, die anderen zum Reden zu bringen? Klug genug war sie, doch war sie auch so abgefeimt? Leonard beschloß, seinem Instinkt zu vertrauen, der ihm sagte, daß Mia keine Bedrohung war.

"Na ja, ein bißchen Dampf unter der Motorhaube kann nicht schaden, wenn man überholen will…"

Mia lächelte amüsiert und wiegte den Kopf.

"Könnte man glatt aufs Berufsleben übertragen…"

Leonard war überrascht, daß sie sich so weit auf die Äste hinauswagte, doch er ließ sich auf das Spiel ein.

"Zum Beispiel, indem man sich viel zu früh zum Termin beim Chef einfindet?"

Wenn Leonard erwartet hatte, daß Mia erschrocken verstummen würde, hatte er sich getäuscht. Sie lachte fröhlich heraus.

"Touché… es hat mich einfach gereizt herauszufinden, ob solche Dinge bei Akerman zählen…"

"Und wie lautet das Fazit?"

"Er hat die Glaswände nicht verdunkelt…"

"So früh am Morgen?"

"Okay, aber er hat es auch früher nie versucht…"

"Das heißt dann wohl, er schätzt dich…"

"Akerman kennt nur zwei Kategorien von Frauen… die heißen Miezen, die für die Verdunkelung in Frage kommen, und die Arbeitsbienen… oder hast du schon mal erlebt, daß er einer von uns bei einem Auftrag die Leitung übergab? Es sind immer die Männer…"

Leonard hatte noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, die tägliche Anstrengung, sich optimal darzustellen, hielt ihn zu sehr in Atem.

"Tatsächlich? Was hält dich dann bei A&A?"

Mia fuhr eine Weile schweigend, bevor sie antwortete. In ihrer Stimme schwang Wehmut mit.

"Ich liebe meine Arbeit, und sie wird sehr gut bezahlt… doch sobald ich heirate und Kinder kriege, bin ich sowieso weg vom Fenster…"

Leonard musterte sie verwundert. Mia spürte seinen Blick.

"Das macht dich stutzig? Es ist ein Naturgesetz…"

Sie lächelte wieder.

"Du bist in Ordnung, sonst würde ich nicht so mit dir reden, auch wenn du ein Akerman-Junge bist…"

"Was heißt das?"

"Du bist begabt, aber krankhaft ehrgeizig und kennst nur einen Weg… nach oben…"

Überrascht öffnete Leonard den Mund, um etwas zu erwidern, doch Mia kam ihm zuvor.

"…und du merkst nicht, daß Akerman dich nur benützt und gegen die anderen ausspielt…"

Leonards Miene verdüsterte sich, dennoch fuhr Mia fort.

"Zum Beispiel der Auftrag heute… der ist deiner unwürdig, damit versucht er doch nur, dich kleinzuhalten und dir zu zeigen, wer der Herr im Haus ist…"

Trotzig hob Leonard den Kopf.

"Für ihn bin ich unverzichtbar…"

"Ja, wie der Esel, auf dem der Bauer sitzt und dem er eine Karotte vor die Nase hält: Ein Schritt noch, dann hab' ich die Karotte, dann noch einen und noch einen…"

Leonard sah Mia ungläubig an.

"So siehst du das?"

Mia lächelte.

"So sehen das alle… aber wenigstens hast du Manieren und behandelst die Frauen mit Respekt…"

Leonard sah rasch zu Mia hinüber.

"Fürchtest du nicht, daß ich das alles weitertratsche?"

Mia betätigte den Blinker, die Autobahnausfahrt lag vor ihnen.

"Ein Typ wie du? Eher würdest du Abel einen blasen… danach giert er doch, seit du bei A&A angefangen hast…"

Leonard lachte lautlos und schüttelte den Kopf.

"Gibt es etwas, das dir nicht entgeht?"

Ein Ausdruck der Genugtuung huschte über Mias Gesicht.

"Es kann nicht schaden, über alles Bescheid zu wissen… das ist meine Art, in diesem Haifischbecken zu überleben…"

5

Unweit der Autobahnabfahrt lag die Spedition Kallmann & Sohn in einem Gewerbegebiet, das sich seit ihrer Gründung vor mehr als siebzig Jahren sprunghaft vergrößert hatte. Auf dem großzügig bemessenen Areal waren die Werkhallen, das Verwaltungsgebäude und das Wohnhaus, das ursprünglich vollkommen im Freien gestanden hatte, immer wieder ausgebaut und renoviert worden, dennoch umwehte die Firma noch der Hauch ihrer Gründerzeit. Auf dem Parkplatz und und vor den Rampen überwogen große, schon in die Jahre gekommene Laster, und die Mitarbeiter bewegten sich in einem gemächlichen Tempo über das Gelände.

Mia fuhr quer über den Innenhof und parkte vor dem Bürogebäude. Sie zog den Zündschlüssel ab und sah Leonard mit einem aufmunternden Lächeln an.

"Ich weiß zwar nicht, wie sich eine Ehefrau benimmt, aber ab und zu ein bewunderndes Lächeln dürfte nicht schaden…"

"…und wundere dich nicht, wenn du hin und wieder meine Hand auf deiner Schulter oder um deine Taille spürst…"

Beide mußten herzlich lachen, dann griff Leonard nach der Tür.

"Also dann, Herr und Frau Sebastian und Sabine Kambach…"