DAZED & DAZZLED - Urs Aebersold - E-Book

DAZED & DAZZLED E-Book

Urs Aebersold

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Beschreibung

DAZED & DAZZLED Alle nennen mich Zeff, und ich leide unter dem lästigen Zwang, alles wie unter einem Brennglas zu betrachten: Die Anmaßung des Menschen, der sich die Krone der Schöpfung aufsetzt, kaum hat er vom Baum der Erkenntnis gegessen, seinen Irrglauben an die Maschinen und seine Habgier, mit der er die Erde bis zur Selbstauslöschung zerstört, getrieben vom Wissen um seine Endlichkeit, das wie eine schwärende Wunde seine Seele zerfrißt. Um sie zu betäuben, nimmt er Drogen oder jagt dem Phantom der Liebe hinterher - eine wahrhaft geniale Erfindung der Natur, um die Fortpflanzung zu garantieren. Dennoch treibt mich etwas um, eine Sehnsucht, die ich nicht zu benennen vermag…

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Seitenzahl: 183

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Urs Aebersold

* 1944 in Oberburg / CH

1963 Abitur in Biel/Bienne (CH)

1964 Schauspielschule in Paris, Kurzspielfilm "S"

Studium an der Universität Bern

Weitere Kurzspielfilme. "Promenade en Hiver",

"Umleitung", "Wir sterben vor"

1967-70 Studium an der HFF München

1974 Erster Kinospielfilm DIE FABRIKANTEN

als Co-Autor, Co-Produzent und Regisseur

Diverse Drehbücher für "Tatort"

Ab 2016 erste Buchveröffentlichungen

VERZAUBERT / NOVEMBERSCHNEE / DAS

BLOCKHAUS - Drei Erzählungen

JULIA / AM ENDE EINES TAGES / DUNKEL IST

DIE NACHT - Drei Erzählungen

NUITS BLANCHES - Roman

DER BAUCH MEINER SCHWESTER / EIN PERFEKTES PAAR / DIESES JÄHE VERSTUMMEN - Drei Erzählungen

BLUT WIRD FLIESSEN - Psychothriller

TÖDLICHE ERINNERUNG – Psychothriller

DER LETZTE BUS - Psychothriller

DAZED & DAzzled

Roman

Urs Aebersold

© 2019 Urs Aebersold

Coverfoto: Urs Aebersold

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7482-3012-0

Hardcover:

978-3-7482-3013-7

e-Book:

978-3-7482-3014-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DAZED & DAZZLED

Alle nennen mich Zeff, und ich habe viele Talente, doch das größte besteht zweifellos darin, unglücklich zu sein. Dabei erfülle ich alle Voraussetzungen für ein unbeschwertes Leben. Ich stamme aus einer guten Familie, bin groß, klug, schlank und von einem jungenhaft struppigen Blond, sodass nicht wenige Frauen jeden Alters, aber auch Männer bei meinem Anblick spontan in Versuchung geraten, mir mein widerspenstiges Haar glattzustreichen. Doch ich leide unter dem verhängnisvollen Zwang, die Dinge wie unter einem Brennglas zu betrachten, verstärkt durch meinen Hang zur Melancholie, die ich von meiner Mutter erbte. Während die Menschen um mich herum in heiterer Ignoranz in den Tag hineinleben und die im Sekundentakt anbrandenden Katastrophenmeldungen aus allen Herren Ländern mit beneidenswerter Indolenz an sich abtropfen lassen oder sie in endlosen Debatten zerreden, ohne sich zu fragen, wie lange die Erde die Anmaßung des Menschen, der sich in seinem Größenwahn selbst die Krone der Schöpfung aufsetzte, noch verkraften kann, seinen Irrglauben an die Maschinen und seine Habgier, mit der er seinen Heimatplaneten bis zur Selbstauslöschung zerstört. Kommt es daher, daß er das Wissen um seine Endlichkeit nicht erträgt, das wie eine schwärende Wunde seine Seele zerfrißt? Betäubt er sich deshalb mit Drogen und jagt wie ein Verdurstender dem Phantom der Liebe hinterher, eine wahrhaft geniale Erfindung der Natur, um die Fortpflanzung zu garantieren? All das zerrt auch an mir, dennoch oder vielleicht gerade deshalb treibt mich etwas um, eine Sehnsucht, eine Hoffnung, die ich nicht zu benennen vermag.

1

Das alte Herrenhaus in ländlichem Jugendstil stand am Ende des Dorfes, gegenüber der Eisengießerei, die zum Besitz dazugehörte. Parallel zur Hauptstraße floß ein fischreicher Bach, der in früheren Zeiten mittels eines Wasserrads den Schmiedehammer antrieb. Nach hinten erstreckten sich Felder und Wiesen, jenseits des Bahndamms wälzte sich die Emme in ihrem weißschimmernden Kiesbett träge, aber unaufhaltsam durch einen dichtbewachsenen Wald.

Es war ein Oktobertag kurz vor Ende des Krieges, die Kühe wurden tagsüber noch auf die Weide getrieben, vereinzelt brannten noch Kartoffelfeuer, als eine der Töchter, die mit ihrem Mann das Hochparterre bewohnte, bei anbrechender Morgendämmerung mit Hilfe einer erfahrenen Hebamme von dem kleinen Zeff entbunden wurde. Die Freude darüber, daß es nach vielen Jahren des Bangens ein Junge wurde, war groß, denn auch wenn er mit der Leitung der Fabrik nichts zu tun haben würde, war das Stammhalterdenken zu jener Zeit noch tief verwurzelt. Was für ein Schock, aus dem Dämmerschlaf meines warmen, geschützten Amphibiendaseins jäh in dieses riesige, milchig schimmernde, im Halbdunkel liegende Zimmer geschleudert zu werden! Hände greifen nach mir und besänftigen meine aufsteigende Panik, doch erst jetzt begreife ich, daß man mich aus dem Bauch eines dieser Geschöpfe herausgezerrt hat, die mich umgeben, und augenblicklich ergreift mich eine tiefe Sehnsucht nach meinem bisherigen schwerelosen Schwebezustand, der mir keine Verantwortung aufbürdete und keine Entscheidungen abverlangte.

Die Tage vergingen, ein strenger Winter kam, dann war wieder Frühling, Sommer Herbst. Zeff wurde umhegt und gepflegt, dennoch fing er bisweilen plötzlich zu weinen an, nicht fordernd, von Hunger getrieben oder weil ihn Blähungen quälten, sondern still und leise, scheinbar ohne Grund. Es dauerte nie lange, doch hinterher lag er reglos und erschöpft da, als habe ihn offenen Auges ein Alptraum heimgesucht. Verwirrend und angsteinflößend diese Tage in der neuen Welt, hilflos ausgeliefert diesen großen, merkwürdigen Kreaturen, die sich forschend über mich beugen und seltsame Laute von sich geben. Eines dieser Wesen – offenbar dasjenige, das mich in die Welt hinausbeförderte - nährt mich und hüllt mich in warme Kleidung, als wollte es damit sein schlechtes Gewissen besänftigen. Bin ich einer von ihnen? Wie wird es weitergehen? Besonders dieser Wechsel von Hell und Dunkel beunruhigt mich, nie bin ich sicher, ob das Licht wiederkommt. Alles zieht sich in mir zusammen, und aus meinen Augen tropft Flüssigkeit.

Die ländliche Idylle mit dem kraftvollen, aber launischen Frühling, dem windstillen, brennendheißen Sommer mit den ewigen Kuhglocken und den Bremsen, die um das Vieh herum schwirrten und auch den Menschen zusetzten, dem melancholischen, nebelverhangenen, von Kartoffelfeuern durchzogenen Herbst und dem stillen, zum Grübeln verführenden Winter endete für Zeff nach drei Jahren, als sich sein Vater beruflich in einen Ort im Mittelland veränderte und mit seiner Familie am Jurasüdfuß, mit Blick auf die Stadt und den See, ein komfortables, bungalowartiges Haus bezog, das nach eigenen Vorstellungen erbaut worden war.

2

Die Pläne für das Haus hatte ein befreundeter Architekt entworfen. Im Gegensatz zu den würfelförmigen, meist zweistöckigen Häusern in der Nachbarschaft war der Bungalow langgestreckt und eingeschossig, die Außenmauern wurden zusätzlich mit Holz verkleidet. Rechts vom Eingang schloß ein niedriger Zaun aus gekreuzten Holzpfählen den Vorgarten zur Straße hin ab, die zur linken Seite nach gut hundert Metern als Sackgasse endete und die letzte unterhalb des Waldes war, links vom Eingang schützte die Mauer eines nach Süden offenen Gartenhauses, das in eine Rasenfläche mit Planschbecken überging, vor neugierigen Blicken.

Es dauerte lange, bis das Haus bezogen werden konnte, auch wenn vieles aus der früheren Wohnung mitgenommen wurde - alte Nußbaumkommoden, Schränke, Stühle, Sessel und Tische - denn es mußte ja vollständig möbliert werden: Die Küche, das Bad und die Toilette zur Straße hin, das Wohnzimmer mit dem ausgreifenden, ovalen Balkon davor, das Arbeitszimmer des Vaters, das Kinderzimmer und das Schlafzimmer der Eltern, verbunden mit einem schmalen Balkon, alle nach Süden gerichtet. Im Keller zwei weitere Zimmer, die infolge der steilen Hanglage ganz normale Fenster hatten. Von der Waschküche daneben und dem Kellergang führte je eine Tür ins Freie unter den Wohnzimmerbalkon, wo zwischen Wäschestangen der Boden asphaltiert worden war, der weiter unten in einen großen Garten überging. Zurr Straßenseite des Kellers, mit kleinen Lichtschächten an der Decke, befanden sich Verschläge zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und für die Gartengeräte, der Heizungsraum mit dem Ölbrenner, in dem ein Sägebock und ein Tisch mit einem Schraubstock stand, dazu eine Kiste mit Werkzeugen, mithilfe derer man alle möglichen Reparaturen ausführen konnte, ein nicht betoniertes Erdloch unterhalb des Wohnzimmers für den Öltank und ein weiterer Abstellraum, in dem im Lauf der Zeit so ziemlich alles landete, was kaputt war oder mit dem man nichts mehr anzufangen wußte.

Zeff blieb solange in dem alten Haus auf dem Land und wurde von der Großmutter und einem Kindermädchen beaufsichtigt, wenn seine Eltern sich wieder mal um den Neubau kümmern mußten, von deren Sorgen und Kümmernisse er nichts mitbekamen. An den Umzug kann ich mich nicht erinnern, nur daß sich gegen Norden hin, gleich hinter den Häusern auf der anderen Straßenseite, dunkel und drohend ein Wald wie eine Wand erhebt, der sich steil und unwegsam bis zu den hügeligen Bergkämmen des Jura hochwindet. Auf der Straßenseite vor unserem Haus wachsen Goldregen, Stachelbeeren und anderes Gesträuch, auf dem Rasen vor dem Gartenhaus ist ein Planschbecken eingelassen, in das ich im Sommer immer eingetaucht werde, ob mir das nun gefällt oder nicht. Der Garten unterhalb des Hauses, der stark abfällt, besteht aus einer kleinen Wiese mit Obstbäumen, drei Reihen Himbeeren an Drahtspalieren, daneben Gemüsebeete und neben dem Kompost ein Holunderbaum, unter dem Rhabarber wuchert. Am großen Wohnzimmerbalkon sind unten Eisenstangen mit Haken festgemacht, an denen immer montags die Wäsche flattert. Warum ich das alles so genau beschreibe? Die drei Jahre, die wir jetzt hier wohnen - die Frau, die sich um mich kümmert und offenbar meine Mutter ist, der Mann, mein Erzeuger, der sich meinen Vater nennt -, verbringe ich in einem Schwebezustand, der sich nur schwer beschreiben läßt. Mein Leben folgt ganz dem Tagesablauf und dem Rhythmus meinerMutter, die im Haus und im Garten alles macht, was nötig ist, die einkauft, kocht und wäscht, mich füttert und dafür sorgt, daß ich stets sauber und angemessen gekleidet bin, und den Mann, der mein Vater ist, betreut, wenn er müde von der Arbeit nach Hause kommt. Es ist ein Zustand wie in Trance, ein schwacher Abglanz meines Amphibiendaseins im Bauch meiner Mutter, wie eine Blume, die sich morgens öffnet und abends wieder schließt, ein vegetatives Dahindämmern ohne Anspruch und Pflichten, das mich allmählich damit versöhnt, so abrupt in diese Welt katapultiert worden zu sein, die mir immer noch grell und unverständlich erscheint. Doch auch diese Idylle nimmt ein Ende, denn wieder werde ich hinausgescheucht aus dem abgeschirmten Kreislauf meines Lebens an einen Ort, der sich Schule nennt. Meine Eltern machen ein großes Getue darum - werde ich dort endlich erfahren, woher ich komme und was ich hier mache?

3

Der Schulweg war eine einzige Herausforderung. Er führte in gewundenem Bogen zu dem großen Platz hinunter, wo von oben und unten jeweils zwei Straßen einmündeten und der Konsumladen stand, in der Zeffs Mutter das Nötigste für den Haushalt einkaufte. Von da aus ging es eine lange, steile Treppe zur Alpenstraße hinab, unter der das Bahngleis verlief, an einem modrigen Holzzaun entlang, hinter dem zwischen alten, hohen Bäumen wie verwunschen ein Schlößchen lag, von dem nur ein spitzer Turm hervorlugte, dann noch ein paar Treppen an der französisch-protestantischen Kirche vorbei bis ins Pasquart, wo unter dichten Bäumen der Stadtbach leise murmelnd dem See zu floß. Dort war es eben und nicht mehr weit bis zum Schulhaus. Die Zeit in der Primarschule ist für mich wie in Nebel gehüllt. Man lernt Lesen, Schreiben und Rechnen und wird mit einer humorlosen Strenge behandelt, als ob man dauernd nur damit beschäftigt sei, sich irgendwelchen Unfug auszudenken. Zu meiner Verwunderung kommt die Sprache nie darauf, wo wir herkommen und was wir hier machen, es ist viel die Rede von einem Wesen, das alles erschaffen hat, über alles Bescheid weiß und über uns wacht, aber das halte ich für eine Behauptung, weil die Lehrerin es nicht besser weiß, sie bekommt dann immer so einen schmalen Mund, und ihre Augen wandern unstet von einem zu anderen. Die größte Enttäuschung sind jedoch meine Mitschüler, die scheinbar alles gleichgültig über sich ergehen und das, was sie nicht interessiert, einfach an sich abtropfen lassen. Da freue ich mich richtig auf den Nachhauseweg, selbst wenn ich die steilen Treppen zweimal am Tag bewältigen muß, wenn ich nachmittags auch Unterricht habe. Es ist irgendwie erheiternd, aber auch unwirklichzu sehen, wie all die Menschen durcheinanderlaufen, Fahrräder klingeln, Autos quietschend bremsen und hupen oder Hunde völlig unbeeindruckt von all dem Trubel lässig ihr Bein heben an einem knorrigen Baum. Ich erwarte dann immer, daß plötzlich irgendetwas Schreckliches diesen Frieden durchbricht, doch die Tage kommen und gehen, und meine Befürchtungen sind umsonst.

Zu den Annehmlichkeiten, die den Alltag der Bewohner erleichterten, die wie wir so weit weg von der Stadt wohnten, gehörte zweifellos, daß es einen Milchmann gab, der täglich frische Milch lieferte, die in großen stählernen Kannen auf seinem Elektrokarren festgezurrt waren. Alle Häuser, die diesen Dienst in Anspruch nahmen, hatten neben der Haustür eine metallene, mit einem Vierkant aufschließbare Klappe, an welcher der Briefkasten befestigt war. Dahinter befand sich eine von innen abschließbar Abstellfläche, die groß genug war für ein paar Krüge, die der Milchmann je nach den Bestellungen, die auf den beigelegten Zetteln vermerkt waren, befüllen konnte. Man mußte also nicht zu Hause sein, um täglich frische Milch zu bekommen, man durfte nur nicht vergessen, die Krüge mit der Mengenangabe bereitzustellen. Wie oft beobachte ich durch das Flurfenster, wie der Milchmann, entspannt vorne auf seinem Gefährt sitzend, das er mit einer Hand steuert, während die andere den angestrengt sirrenden Elektromotor bedient, vor unserem Haus stehenbleibt, die Handbremse zieht, den Vierkant hervorholt, gemächlich auf unsere Haustür zugeht, die Klappe öffnet, den Zettel studiert, unsere Krüge zu seinem Gefährt trägt und sie in aller Ruhe mit einer großen Metallkelle füllt. Wenn meine Mutter zufällig gerade in der Nähe ist, geht sie manchmal hinaus und wechselt ein paar Worte mit ihm, oder er klingelt, weil er die Schriftnicht entziffern kann, oder denkt, wir haben die Bestellung vergessen, wenn wir für einmal keine Milch brauchen. Es ist nicht die Ungeduld, endlich frische Milch trinken zu können, die mich ans Fenster treibt, wenn ich den Milchmann höre, es ist die unendlich ruhige Art seiner Bewegungen, die mich fasziniert, er hat keine Eile, alles ist an seinem Platz und hat seine Richtigkeit, es ist, als sei er ein Teil der Natur.

Während sich Zeff Morgen für Morgen auf das Erscheinen des Milchmanns freute, ängstigte ihn jedes Mal der Anblick des Briefträgers, wie er in seiner dunkelblauen Uniform und der soldatischen Schirmmütze sein Fahrrad mit der mächtigen Ledertasche hinter sich auf dem Gepäckträger die steile Straße empor schob, bevor sie auf der Höhe unseres Nachbarn etwas flacher verlief. Er war ein stämmiger Mann um die fünfzig, trug eine dicke schwarze Hornbrille und hatte im Sommer ein rotes, verschwitztes Gesicht, das er sich mit einem rotweißkarierten Taschentuch ununterbrochen abwischte. Bei Regen warf er sich eine Pelerine über, unter der er völlig verschwand, und im Winter konnte er sich in seinem dicken Mantel kaum bewegen. Wie erträgt man jeden Tag klaglos diese Tortur? Können ihn der Respekt der Leute, denen er die Post bringt, und hie und da ein freundliches Worte mit seiner schweren Arbeit versöhnen? Sein Rücken ist immer gerade, und in seinen Augen leuchtet trotz der Anstrengung stets ein Anflug von Stolz.

Der Heizungsraum im Keller mit all den Werkzeugen, dem Schraubstock, der Hobelbank und dem Sägegestell wurde schon bald zu einem Lieblingsort von Zeff, besonders wenn in der kalten Jahreszeit der gedrungene, schwarz lackierte Ölbrenner an war, der mit tiefem, gleichmäßigem Brummen eine sanfte Wärme ausströmte und, weil er unter der Erde verborgen war, auf geheimnisvolle Weise den Eindruck erweckte, als sorge er mit seinem glühendheißen Feuer für den Antrieb der Welt. Wenn ich durch den Flur gehe, verschmilzt für mich das leise, beruhigende Summen, das bis hier oben zu hören ist, und der Anblick des aufgetürmten Schnees draußen untrennbar zu meiner Erinnerung an den Winter. Lange hielt ich dieses hohe Summen für das Geräusch des Winters selbst, bis mir klar wurde, woher es kam. Vielleicht zieht es mich deswegen immer wieder in den Heizungsraum, aber auch wegen des Geruchs von Holz und Leim, der wohligen Wärme im Winter und all den Werkzeugen, die ich hier eines nach dem anderen völlig ungestört ausprobieren kann. Ich säge schiefe Bretter auseinander, nagle sie zusammen und entferne anschließend mit Zangen die Nägel wieder aus dem Holz. Sobald mir die Werkzeuge vertraut sind, werde ich anfangen, etwas Sinnvolles zu bauen.

Immer wieder zeigten sich kleine Propellerflugzeuge am Himmel, die vom nahen Flugplatz aufgestiegen waren. Zeff hätte ihnen von der Terrasse aus stundenlang zuschauen können, wie sie träge ihre Schleifen flogen und kühn, mit aufheulendem Motor, hin und wieder sogar einen Looping wagten, doch noch lieber sah er den Segelfliegern zu, die sich auch manchmal blicken ließen, wie sie, majestätisch dahingleitend, wie die großen Rabenvögel sich scheinbar ewig in der Luft halten konnten. Dieses tonlose Gleiten und Schweben, diese absolute Freiheit von allen Zwängen erinnert mich an meinen Urzustand, und in einem Augenblick äußerster Euphorie fasse ich den Entschluß, es diesen Fliegern gleichzutun. Aufmerksam studierte er den Bau dieser eleganten Flugkörper, die breiten, leicht gewellten Tragflächen, den schmalen Leib und die kurzen Stummelflossen am Ende des Rumpfes und ging heimlich, ohne jemandem ein Wort zu sagen, in den Keller, wo er tagelang aus Brettern ein Flugzeug zusammenbaute, das in seinem Augen die gleiche Magie ausstrahlte wie wie die fernen Vorbilder. Er wartete ab, daß niemand von seiner Familie in der Nähe war, verließ den Keller und stellte sich unter der Terrasse, wo die Wäscheleinen hingen, an den schmalen, etwa anderthalb Meter breiten Abhang, an dem Erdbeeren wuchsen und der unten zur Wiese und zum Garten hin mit einer kleinen Mauer begrenzt war. Er klemmte sich seinen Flieger zwischen die Beine, überlegte, wie er am besten den Obstbäumen auswich, die verstreut auf der Wiese standen, atmete tief ein und wagte den Sprung. Bevor ich auch nur einen Gedanken fassen kann, lande ich hart und mich überschlagend knapp unterhalb der Mauer. Der große Flügel und der Rumpf meines Flugzeugs sind zerbrochen, und an meinem Steißbein spüre ich einen heftigen Schmerz, ansonsten scheine ich unverletzt. Minutenlang sitze ich da und kann nicht fassen, was mir zugestoßen ist, offenbar braucht es mehr als reine Willenskraft, um sich mit einem Fluggerät in die Lüfte zu schwingen. Ich nehme mir vor, irgendwann meine Eltern zu fragen, aber erst dann, wenn keine Gefahr mehr besteht, daß sie hinter meiner Frage ein mißlungenes Experiment vermuten. Deshalb reiße ich mein Flugzeug auseinander, entferne die Nägel und stecke die Überreste in einen Holzstapel, der voll ist mit solchem Gerümpel.

Als die Lehrerin in der Schule von Wilhelm Tell erzählte, der auf Geheiß des Tyrannen mit seiner Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schiessen sollte und diese grausame Prüfung heldenhaft bestand, wußte er, daß er als nächstes eine Armbrust basteln würde. Aus einem abgebrochenen Tischbein feilte und hobelte er die Mittelsäule, hinten mit einer Rundung, damit sie sich gut an die Schulter schmiegte, schabte eine tiefe Rinne für die Bolzen aus und schraubte nach mühsamem Bohren durch das massive Holz aus verschiedenen Metallteilen eine Rückhalte- und Abzugsvorrichtung für die Sehne zusammen. In einer Spenglerei schenkte man ihm einen kräftigen Draht, und jetzt fehlte ihm nur noch das Entscheidende: Der Bogen.

Da Zeff zu stolz war, seine Eltern um Hilfe zu bitten, brach er irgendwo auf dem Heimweg von der Schule einen dicken Ast von einem Haselnußstrauch ab, weil er gehört hatte, daß dieses Holz besonders elastisch sei, sägte ihn zurecht und fixierte ihn vorne an der Mittelsäule mit dicken Nägeln. An den Enden befestigte er den Draht, spannte den Abzug und zog die Sehne mit aller Kraft nach hinten. Der Ast ließ sich nur mühsam biegen, und bevor Zeff den Draht hinter dem Abzugsbügel arretieren konnte, brach er mit einem häßlichen Krachen, als ob ein Knochen splitterte, mitten entzwei. Der Schock sitzt tief. Weiß und anklagend ragen die zerfetzten Fasern aus dem aufgeplatzten Holz, und der Eisendraht hängt schlaff herunter. Konnte ich wirklich nicht voraussehen, daß der Haselnußbogen brechen würde, wenn man ihn mit Nägeln durchbohrte? Ich hatte im Gegenteil angenommen, daß sie den Ast stabilisieren würden. Jetzt sitze ich da, starre fassungslos und beschämt auf mein mißlungenes Werk, und mit tiefer Beschämung fällt mir wieder der Tag ein, als ich mit meinem aus Brettern zusammengezimmerten Flugzeug in die Tiefe sprang, im festen Glauben, mich wie ein Vogel in die Lüfte schwingen zu können.

Noch war Zeff nicht so weit, über Wunsch und Wirklichkeit nachzudenken, noch waren er und die Welt eins, doch die beiden schmerzhaften Erfahrungen dämpften etwas seine kindlichen Allmachtphantasien, der Zweifel, die Verunsicherung hatten sich kaum merklich in sein Leben geschlichen. Dessen ungeachtet war seine Begeisterung für das Hobeln, Feilen und Sägen ungebrochen, und als er im Pasquart einen Jungen auf dessen Trotinette dahinrollen sah, packte ihn der Ehrgeiz, selbst eins zu bauen. Auf die Idee, seine Eltern zu fragen, ob sie ihm eins schenken würden, kam er gar nicht erst. Ein Brett für das Standbein war rasch gefunden, ebenso zwei Räder eines ausgedienten Kinderwagens. Für das hintere Rad sägte er hinten am Brett eine Öffnung aus, bohrte waagrecht ein Loch für die Achse, montierte vorne eine dreieckige Stütze, an der die Lenkstange mit dem Führungsrad befestigt werden sollte, und sah sich auf einmal mit dem Problem konfrontiert, daß er nicht an das Scharnier gedacht hatte, das er für die Lenkung brauchte.

Diesmal weihte er seine Eltern in seine Pläne ein, die sein Vorhaben zwar mit Verwunderung zur Kenntnis nahmen, ihn aber nicht entmutigten. Seine Mutter hatte sogar eine gute Idee.

"Deine Tante Lena kommt demnächst zu Besuch, sie bringt einen Verehrer mit, der hat einen Handwerksbetrieb… frag' ihn doch mal…"

Zeff konnte den Tag kaum erwarten, und als seine Tante und ihr Verehrer, der Marcel Holzer hieß, endlich mit seinen Eltern zusammen beim Essen saßen, mußte er sich sehr beherrschen, nicht einfach in das Gespräch hineinzuplatzen, doch seine Mutter erinnerte sich noch an seinen Wunsch.

"Hören Sie, Herr Holzer…"

"Sagen Sie doch bitte Marcel zu mir…"

"Also, Marcel… unser Zeff hat eine Bitte, aber das soll er doch selber sagen…"

Zeff, überrumpelt, kam ins Stottern, fing sich dann wieder und versuchte sein Anliegen zu erklären, jedenfalls schien Marcel zu verstehen.

"Also du brauchst ein Scharnier für den Lenker deines Trotinettes… kannst du es mir mal zeigen?"

Zeff holte es aus dem Keller, obschon er sich für die primitive Bauweise schämte. Marcel war total begeistert, aber vielleicht tat er auch nur so, um der Tante zu gefallen.

"Sowas habe ich noch nie gesehen… und das in deinem Alter…"

Marcel nahm Maß mit seiner Hand, um die ungefähre Größe des Scharniers abzuschätzen.

"Kein Problem… in dieser Stärke gibt es viele… ich bringe dir ein paar passende mit…"

Tage vergingen, dann Wochen, doch Zeff hörte nie mehr etwas von diesem Mann, von dem er sich so viel versprochen hatte, das Trotinette blieb unvollendet. Daß seine Tante die Beziehung inzwischen auf Eis gelegt hatte, hielt man nicht für nötig, ihm mitzuteilen.