Alexander von Humboldt - Rüdiger Schaper - E-Book

Alexander von Humboldt E-Book

Rüdiger Schaper

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Beschreibung

Von Tegel in die Welt und zurück: Humboldt, Preuße und Entdecker

Von Preußen in die Welt: Aus der Perspektive der letzten Jahrzehnte, die Humboldt, nach seinen Entdeckerjahren in Übersee und einem halben Leben in Paris, nun weitgehend in der ungeliebten preußischen Heimat verbringt, lässt Rüdiger Schaper dieses Forscherleben Revue passieren. Er widmet sich neben den Reisen und dem mächtigen Schriftwerk auch dem weithin verborgenen Privatleben – und dem preußischen Erbe, das Humboldt zeitlebens geprägt hat. Ein Lesevergnügen und ein großes Bildungserlebnis.

Mit zahlreichen Abbildungen.

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Seitenzahl: 355

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Rüdiger Schaper

ALEXANDERVONHUMBOLDT

Der Preuße und die neuen Welten

Siedler

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»Es überkommt einen – man muss reisen. Mehr noch, man muss in eine bestimmte Richtung reisen. Man unterliegt also einem doppelten Zwang: sich aufzumachen, und zu wissen wohin.«

D. H. LawrenceDas Meer und Sardinien

»Wir alle rauchen hier das Opium der großen Höhen …«

Henri Michaux, La Cordillera de los Andes

»Setzen«, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte: »Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf«, und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf, und dann begannen sie mit den Ökosystemen, den Naturhaushalten, den Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, dem Wirkungsgefüge von Gemeinschaft und Raum. Vom Nahrungsgesetz des Mischwaldes kamen sie zur Nahrungskette der Wiese, von den Flüssen zu den Seen und schließlich zur Wüste und zum Wattenmeer. »Sie sehen, niemand – kein Tier, kein Mensch – kann ganz allein für sich existieren. Zwischen den Lebewesen herrscht Konkurrenz. Und manchmal auch so etwas wie Zusammenarbeit. Aber das ist eher selten. Die wichtigsten Formen des Zusammenlebens sind Konkurrenz und Räuber-Beute-Beziehung.«

Judith Schalansky, Der Hals der Giraffe

Inhaltsverzeichnis

1. Retour à Berlin:Humboldt kehrt nach Berlin zurück und hält die »Kosmos«-Vorträge

2. Der Rausch der frühen Lektüre:Von Schloss Tegel in die Berliner Salons

3. Universitäten und Jungfernreise:Mit Georg Forster am Eingang zur weiten Welt. Zum ersten Mal am Meer und in Paris

4. Bergbau und Höhenflüge:Seltsame Begegnungen und Gespräche im Kreis von Goethe und Schiller

5. Das wissenschaftliche Geschlecht:Humboldts unterschlagene Sexualität und der Mythos vom »Rhodischen Genius«

6. Geben Sie Reisefreiheit!:Gescheiterte Pläne, aus Europa herauszukommen, und der große Moment am Hof von Madrid

7. Ausfahrt und Ankunft in Lateinamerika:Ein Kontinent wird entdeckt, und ein preußischer Mensch wird neu geboren

8. Ästhetik des Augenblicks:Vom Reisen und Schreiben auf den großen Flüssen der Neuen Welt

9. Das vollkommene Naturgemälde:Der selbstmörderische Sturmlauf auf die Vulkane und ein Weltrekord

10. Fünf Wochen in den Vereinigten Staaten:Zu Besuch bei Präsident Jefferson und Spion für eine junge Nation

11. Der Star, der aus den Tropen kam:Begegnungen mit Napoleon und Simón Bolívar

12. »Ansichten der Natur«:Freiheit im französisch besetzten Berlin und ein Buch wie keines je zuvor

13. Die Welt entsteht noch einmal:Wie das amerikanische Reisewerk wächst und wuchert und nicht nur seinen Autor ruiniert

14. Bis zur chinesischen Grenze:Mit 60 Jahren geht Humboldt auf Einladung des russischen Zaren auf seine zweite große Reise

15. Immer wieder Paris, immer wieder die Anden:Die Entdeckung der Photographie und die humboldtschen Maler

16. »Kosmos« und Kammerherr:Humboldt unterhält den preußischen Hof und schreibt einen Bestseller

17. Humboldts Tod:Der Dschungel bricht durch in Berlin

18. Das magische Jahr 1859:Charles Darwin folgt seinem Idol und findet mit Humboldts Instrumenten den »Ursprung der Arten«

19. Von Tegel zum Humboldt Forum:Eine Reise durch das Berliner Humboldt-Land

Nachbemerkung

Ausgewählte Literatur

Kapitel 1 Retour à Berlin

Alexander von Humboldt ist 57 Jahre alt, er ist weltberühmt und pleite und muss nach Berlin zurück. Das Jahr 1827 erscheint als die große Wasserscheide in seinem Leben.

Mitte April des Jahres reist Alexander von Paris nach London. Er wird dringend in Preußen erwartet, doch er dreht, wie so häufig, noch einmal eine große Runde. War der Umweg nicht immer das Ziel? Er verbindet Orte mit Menschen und Menschen mit Reisen, die Erledigung einer Sache geht einher mit zehn neuen Geschäften und Ideen, eine Entdeckung führt zur nächsten Serie von Experimenten. Als junger Mann hat er schon über sich gesagt: »Voller Unruhe und Erregung, freue ich mich nie über das Erreichte, und ich bin nur glücklich, wenn ich etwas neues unternehme, und zwar drei Sachen mit einem Mal. In dieser Gemütsverfassung moralischer Unruhe, Folge eines Nomadenlebens muss man die Hauptursachen der großen Unvollkommenheit meiner Werke sehen.« In der britischen Hauptstadt diniert er mit dem Premierminister und dem Gesandten der USA. Er genießt die Großstadt, eilt vom Botanischen Garten zur Royal Society, trifft Wissenschaftskollegen. Er wird gefeiert, jeder will etwas von ihm, Einladungen ohne Ende, was ihm schnell auf die Nerven geht, weil er die Zeit lieber zum Arbeiten nutzt. Er knüpft Kontakte, schreibt seine täglichen Briefe und gibt wieder viel zu viel Geld aus bei seinen Einkäufen.

Und er unternimmt etwas vollkommen Verrücktes: Humboldt besteigt eine Taucherglocke und lässt sich auf den Grund der Themse herabsinken. Die Engländer bauen den ersten Tunnel unter dem Fluss. Humboldt trägt dickes, warmes Zeug, es ist stockfinster und eiskalt dort unten in der Kloake. Die Taucherglocke erreicht eine Tiefe von elf Metern, über einen Lederschlauch werden die Insassen mit Atemluft versorgt. Humboldts Begleiter sind der schon über siebzigjährige Sozialreformer und Philosoph Jeremy Bentham und Marc Isambard Brunel, der Ingenieur und Baumeister dieses in der Welt einzigartigen Unternehmens. Humboldt hat Kopfschmerzen, er blutet aus der Nase wegen der Druckschwankungen und erinnert sich fröhlich an seine lebensgefährlichen lateinamerikanischen Bergtouren in Schnee und Eis.

Muss er sich in seinem Alter noch einmal beweisen, bevor es nach Berlin geht, in den märkischen Sand? Die vierzig Minuten unter Wasser in der Themse komprimieren Humboldts Wesen, sein Denken und Tun. Er will herausfinden, wie die Natur beschaffen ist und wie der Mensch sie durch sein Eingreifen verändert. Wo Humboldt ist, da ist die wissenschaftlich-intellektuelle Avantgarde, er setzt seinen Körper als Versuchsobjekt ein. Wenige Tage nach der Tauchpartie der hohen Herren stürzt die Baustelle ein. Erst sechzehn Jahre später, 1843, wird der Themse-Tunnel eröffnet. Manch ein Arbeiter hat dort unten sein Leben gelassen. Humboldts Londoner Tauchexpedition verweist auf seine mörderisch leichtsinnigen, oft spontanen Unternehmungen in der Wildnis der Neuen Welt.

Es ist nicht lange her, da wollte er Europa den Rücken kehren und eine neue Existenz beginnen: »Ich habe den großen Plan eines großen Zentralinstituts der Naturwissenschaften des freien Amerika in Mexiko. Der Kaiser von Mexiko, den ich persönlich kenne, wird fallen, es wird eine republikanische Regierung geben und ich habe die fixe Idee, mein Leben auf die angenehmste und für die Naturwissenschaft nützlichste Weise in einem Teile der Welt zu beenden, wo ich außerordentlich geschätzt werde und alles mich auf eine glückliche Existenz hoffen lässt.« Manchmal klingt er mit seinem radikalen Gründer- und Entdeckergeist wie ein Hochstapler und Fantast: »Dieser Plan eines Instituts in Mexiko … schließt nicht eine Rundreise nach den Philippinen und Bengalen aus. Das ist eine sehr kurze Exkursion, und die Philippinen und Kuba werden wahrscheinlich vereinigte Staaten mit Mexiko bilden.« Humboldt sieht sich nicht allein mit dem Gedanken, »da die ausgezeichnetsten Naturwissenschaftler, wie ich, Europa zu verlassen wünschen«. Goethe gegenüber erwähnt er den Plan, über Südafrika nach Tibet zu reisen.

Aus alldem wird nichts. Am 12. Mai 1827 kommt Humboldt in Berlin an. Er muss von nun an die Welt hauptsächlich von Preußen aus betrachten. Hier verbringt er mit Unterbrechungen das letzte Drittel seines Lebens. Und natürlich wird er Techniken und Strategien entwickeln, der Enge zu entkommen, die Perspektive zu weiten, sich selbst zum Zentrum vielfältiger wissenschaftlicher und publizistischer Aktivitäten zu machen. Berlin profitiert von seinem neuen Bürger, der die Welt mitbringt. Humboldts finanzielle Reserven sind erschöpft. Nicht länger sieht er sich in der Lage, die Stellung in Paris zu halten. Es ist die Stadt, die er liebt, in der er die vergangenen zwanzig Jahre verbracht hat. Zu Orten und Landschaften hat Humboldt eine ausgeprägte Beziehung. Berlin wird eine Vernunft- und Versorgungsehe, während Paris, das er schon als junger Mann kennen- und lieben lernte, seine große Leidenschaft bleibt. Bis zu seinem Tod wird er noch acht Mal an die Seine reisen, zu einigen längeren Aufenthalten. Das gehört zur Abmachung mit Friedrich Wilhelm III. Humboldt ist bald nach seiner Rückkehr von seiner Amerikareise im Jahr 1804 zum preußischen Kammerherrn ernannt worden, ohne weitere Pflichten. Jetzt aber hat der König die lange Leine eingeholt und Humboldt an Spree und Havel zurückbeordert. Der preußische Monarch gewährt seinem Kammerherrn vier Monate Forschungsurlaub im Jahr und erhöht die jährlichen Bezüge auf 5000 Taler. Das ist eine ordentliche Summe und ein starkes Argument. In einem Brief an Humboldt hebt der König die gewährten Privilegien hervor: »Sie werden hierin einen neuen Beweis erkennen, wie sehr Ich Ihre ausgezeichneten Verdienste um die Wissenschaften schätze und wie gern Ich Ihren Wünschen entspreche.«

Am Hofe gefesselt: Alexander von Humboldt, Porträt von H. W. Pickersgill, 1831

Zwei Jahrzehnte hat sich Alexander von Humboldt von Berlin ferngehalten. Das zeigt, was er von der Stadt denkt und wie hoch er seine Unabhängigkeit schätzt, was ihm Paris bedeutet. Im Zusammenhang mit Berlin fällt das Wort Wüste. Berlin-Bashing gehört damals zum guten Ton. Auch Goethe, den Humboldt im Dezember 1826 in Weimar besucht, hat über die Stadt der Preußen wenig Freundliches zu sagen. Umso mehr begeistert er sich für Alexander von Humboldt – in den Gesprächen mit Eckermann nachzulesen: »Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange, und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wesen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nie vorgekommen ist … Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt.«

Humboldt bezieht in Berlin eine bescheidene Wohnung, die Adresse lautet Hinter dem Neuen Packhofe Nr. 4, auf einer Spreeinsel, die wir heute als Museumsinsel kennen. Er bleibt dort bis 1841 zur Miete. Er nimmt Johann Seifert, einen jungen Mann und dessen Frau, als Diener. Den Mathematiker Carl Friedrich Gauß in Göttingen zieht er ins Vertrauen: »Es ist ein großer Entschluss, einen Teil meiner Freiheit und eine wissenschaftliche Lage aufzugeben … Aber ich bereue nicht, was ich getan habe. Das intellektuelle Leben hat mich unendlich angesprochen bei meinem letzten Aufenthalte in Deutschland, und die Idee, in Ihrer Nähe, in der Nähe derer zu leben, die meine Bewunderung für Ihr großes vielseitiges Talent lebhaft teilen, ist ein wichtiger Beweggrund meines Entschlusses gewesen.« Er stimmt sich positiv ein auf die Berliner Provinz. Doch bald wird Humboldt spotten: »In Deutschland wirkt man auf den Geist einiger großer Persönlichkeiten nur durch den Reflex des Ansehens im Ausland.«

In Humboldts Berlin-Abwehr steckt ein Stück Ungerechtigkeit. Einen besonderen Familiensinn hat er nie entwickelt. Sein Bruder Wilhelm und seine Schwägerin Caroline nehmen ihn herzlich auf. Wilhelm hat 1820 den Staatsdienst quittiert und erfreut sich in Tegel seines Lebens als Privatgelehrter. Karl Friedrich Schinkel hat den Familiensitz elegant klassizistisch umgebaut, den Landsitz schmücken antike Skulpturen und Abgüsse. 1824 ist das Privatmuseum, an dessen Realisierung der dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen mitgewirkt hat, ein Freund aus römischen Tagen, eingeweiht worden, der König war zugegen. Wilhelm von Humboldt vertieft sich in seine Sprachstudien. Selbst kleinere europäische Sprachen wie das Baskische sind ihm geläufig, er lernt Sanskrit, beschäftigt sich mit dem Japanischen und den Sprachen der Südsee und Amerikas, hält Vorträge in der Akademie der Wissenschaften. Chateaubriand, Botschafter Ludwigs XVIII. in Berlin, ein politisch stockkonservativer Schriftsteller, hat sich über Wilhelm von Humboldt lustig gemacht. Um die Zeit totzuschlagen, habe Wilhelm alle Sprachen und »Volksmundarten« der Erde gelernt, nichts weiter als ein Spleen. Chateaubriand ist ein Vertreter der Alten Welt. Er begreift nicht, wie sehr Wilhelm von Humboldt das Verständnis für ein neues Weltbild mitprägt: Jeder Mensch hat seine Sprache und Kultur, kann nur aus ihnen heraus verstanden werden. Dem entspricht Alexanders Idee von Geographie und Geschichte, die einander bestimmen. Zum 250. Geburtstag Wilhelm von Humboldts am 22. Juni 2017 sagte Neil MacGregor, der Gründungsintendant des Berliner Humboldt Forums, in seiner Festrede: »Genau wie sein Bruder Alexander die Welt der Pflanzen auf neue Art erforschte, hat uns Wilhelm eine vitale Welt eröffnet, die einem lebenden Organismus gleicht: die der Sprachen. Wie Pflanzen sind Sprachen von ihrer Umwelt bestimmt. Sie sind miteinander und ineinander verwachsen und auseinander hervorgegangenen. Sie verzweigen sich ständig. Jede Sprache enthält für sich eine Welt, in der man sich bewegen, in die man reisen kann.«

Wilhelm ist in dieser Phase des Übergangs Alexanders Halt. Spät im Leben finden sie das Gemeinsame. Berlin wird für den jüngeren Bruder durch Wilhelm erträglich. Dessen vergleichende Sprachwissenschaft basiert auf einem freien Menschenbild, stellt der Linguist Jürgen Trabant fest: »Das scheinbar Schrullige erweist sich als das Humane und wahrhaft Kosmopolitische.« Da sind die Humboldt-Brüder einmal vereint. Er sei nach Berlin gegangen und habe endlich das »so lange entbehrte Glück« genossen, »mit meinem Bruder an einem Orte zu leben und vereint wissenschaftlich zu arbeiten«, sagt Alexander. Neugier auf die Welt, unbedingter Freiheitssinn, lustvoller Forscherdrang – das verbindet die beiden Humboldts. Wilhelm bezeichnet im »Bruchstücke einer Selbstbiographie« als seine »hervorstechendste Seite« die Selbstbeherrschung, »die vollkommene Herrschaft des Willens über mich selbst«. Das trifft bei allen Unterschieden in Temperament und Lebensführung auch Alexanders Wesen.

»Reden statt reisen« lautet nun die Devise. Und so übel wirkt sich der erzwungene Ortswechsel von Paris nach Berlin doch nicht aus. Die Nähe zum Bruder, der intensive Austausch setzt Kräfte frei. Alexanders Produktivität explodiert geradezu. In wenigen Monaten hält er einundsechzig Vorlesungen an der Universität, die Wilhelm von Humboldt 1809 gegründet hat. Anfang Dezember 1827 wechselt Alexander von Humboldt die Lokalität. Die neben der Universität gelegene Singakademie – das heutige Maxim Gorki Theater – wird zum Schauplatz eines einzigartigen Triumphs. Was sich in sechzehn Vorträgen in der Singakademie bis Ende März 1828 vollzieht, lässt sich als die Begründung der modernen Wissenskultur verstehen. Der Saal platzt bei jedem Auftritt Humboldts aus allen Nähten. Man schätzt insgesamt bis zu dreizehntausend Wissbegierige und Schaulustige bei diesen Lectures, die als »Kosmos-Vorträge« in die Geschichte der Wissenschaft eingehen. Der Vortragszyklus schafft eine neue Form von Öffentlichkeit. Er zieht Zuhörer aus allen Schichten an, Männer wie Frauen. Humboldt ist Stadtgespräch. Die Vossische Zeitung schreibt am 7. Dezember 1827: »Die Würde und Anmut des Vortrags, vereinigt mit dem Anziehenden des Gegenstands und der ausgebreiteten tiefen Gelehrsamkeit des Lehrers, die immer aus dem Vollen zu schöpfen vermag, dieser so seltene Zusammenfluss aller für die mündliche Belehrung ersprießlichen Eigenschaften, fesselt den Zuhörer mit unwiderstehlicher, in keinem Augenblick nachlassender Kraft.« Goethe erhält vom Berliner Theaterdirektor Karl von Holtei folgenden Bericht über Humboldts »Kosmos«-Spektakel: »Der König, der ganze Hof, die höchsten Staatsbeamten und Militärpersonen, nebst ihren Damen, alle Gelehrte, Künstler von Bedeutung, die ganze schöne Welt – alle sind versammelt, um Belehrung und Freud in den Worten zu finden, die der große Mann aus dem Schatze seiner Erfahrungen und Kenntnisse spendet. Achthundert Menschen atmen kaum, um den Einen zu hören.« Auch Wilhelm und Caroline von Humboldt fehlen nicht. Caroline will in den brillanten, die Welt umspannenden Ausführungen ihres Schwagers »tiefste Wehmut« gespürt haben, wie Manfred Geier in seiner Doppelbiographie der Brüder Humboldt schreibt. Genial, erfolgreich – »und doch nicht glücklich«. Reaktionäre Kräfte behaupten eine öffentliche Gefahr: Es gibt Stimmen, die in seiner freidenkerischen, demokratischen Natur Umsturz wittern.

Neu ist, wie Humboldt Zusammenhänge präsentiert, wie Geist und Materie, Natur und Geschichte, Wissenschaft und Kunst und die eigenen Reiseabenteuer in einen mitreißenden Vortrag einfließen. Da spielt im Winter 1827 / 28 ein Ein-Mann-Orchester und bringt Berlin aus der Fassung. Humboldt selbst zeigt sich überrascht, er spricht von einer »unerwartet lebhaften Teilnahme«. Ob deutsch oder französisch, er spricht frei. Um zu begreifen, wie hoch Humboldt in der Berliner Singakademie greift, lohnt der ausführliche Blick in das Vorlesungsverzeichnis. Es gibt einen Eindruck seines gewaltigen Assoziationsreichtums, seiner manchmal sprunghaften Art zu denken. Alles ist erforschenswert, alles hat seine Bedeutung, jeder Landstrich, jeder Zeitraum, jedes Volk, Flora und Fauna und Mensch kommunizieren miteinander. Und es ist eine Wissenschaft, die mit den Menschen kommuniziert.

1. und 2. Vortrag: Die kosmischen Körper, die Bestandteile unseres Planetensystems, die Größenverhältnisse im Weltall und auf der Erde, die Gestalt der Erde.

3. Vortrag: Vergleich der Planeten untereinander, die Aggregatzustände der Stoffe auf der Erde und auf anderen Himmelskörpern; der Einfluss des Sonnenlichts auf die organische Natur; fossile Menschenknochen, der Aufbau des Erdinnern.

4. Vortrag: Der Aufbau des Erdinnern, die Bildung der Erde, Thermalquellen, Vulkanismus.

5. Vortrag: Die Erdrinde, Gebirgsarten, deren Gesteine und fossile Einschlüsse, die Tiere der Urzeit.

6. Vortrag: Die Luft- und Wasserhüllen der Erde, die Relativität der Aggregatzustände, Winde, Luftdruck, die Verdunstung des Meerwassers.

7. Vortrag: Die Verteilung des Wassers auf der Erde, die Fische; Ballonaufstiege und ihr Nutzen für die Wissenschaft, die Temperaturzonen der Erde, der Einfluss der Wasserhülle auf das Klima, Meeresströmungen, die physikalische Wellentheorie, historische Veränderungen des Meeresniveaus.

8. Vortrag: Die Klimate der Erde, die Lebensumstände der Menschen in verschiedenen Klimaten, die Reaktionen des menschlichen Körpers auf äußere Temperaturen; die Pflanzenformen in den Klimazonen, Urformen der Pflanzen, Zwerge und Riesen unter den Gewächsen, die Zahl der Pflanzenarten.

9. Vortrag: Die geographische Verbreitung der Tiere, die Zahl der Tierarten, Vögel und Insekten, die Tierarten in Nord- und Südamerika sowie in Afrika.

10. und 11. Vortrag: Die Natureinheit des Menschengeschlechts, die Verurteilung der Sklaverei, die Abstammung des Menschen, Menschenrassen und deren Charakteristik. Die Mongolen, die Bewohner Afrikas und Amerikas, die Eskimos, die fragliche Verwandtschaft zwischen Affe und Mensch.

12. Vorlesung: Die Erkenntnis der Einheit der Natur in der Geschichte, mythische Einkleidungen und Epochen der rationalen Erkenntnis, die ionische Naturphilosophie, die Züge Alexanders des Großen.

13. Vortrag: Die Araber, frühe Entdeckungsreisen, das Weltsystem von Copernicus, die Entdeckung Amerikas, die Kenntnis des südlichen Sternenhimmels; die Durchsetzung der modernen Naturanschauung, die Entdeckung des Fernrohrs, des Thermometers und des Barometers, neuere Entdeckungsreisen, die Geognosie als Wissenschaft, Elektrizität, Magnetismus, Polarisation.

14. Vortrag: Die Elektrizität und deren Anwendung in Physik und Chemie, neuere Entdeckungen in der Optik, die Polarisation des Lichtes und deren Anwendung in der Astronomie, die Entwicklung der Mikrometer, die Einheit von Elektrizität und Magnetismus; Fortschritte in der Astronomie von Copernicus bis Newton, Lichterscheinungen der Erde, die Dunkelheit des Nachthimmels, kosmische Dunkelwolken, der Einfluss der Astronomie auf die Kultur des Menschen, die Wellennatur des Lichtes.

15. Vortrag: Die Sichtbarkeit der Sterne am Tage, die Zahl der Sterne, der südliche Sternenhimmel, die Topographie des Mondes.

16. Vortrag: Die kosmische Natur der Meteorite, die Natur der Sonne, die Sonnenflecken; die Geschichte der Naturbeschreibung, die Darstellung der Natur in der Kunst.

Humboldt denkt an eine Publikation der Vorträge in Buchform. Doch bis der erste Band seines »Kosmos« erscheint, vergehen noch siebzehn Jahre. Das Werk wird unendlich viel umfangreicher werden, als er sich es in jenem ersten Winter nach der Rückkehr nach Berlin träumen lässt.

Das Jahr 1827 beginnt für Humboldt mit der unfreiwilligen Rückkehr ins Preußische, einer bitteren Niederlage gleich. Daraus ergibt sich ein neuer Lebensrhythmus, lassen sich Perspektiven entwickeln. In der Balance von innerem Widerstand und Anpassung ist der Diplomat gefragt. Im Juli 1828 begibt sich der Kammerherr mit seinem König Friedrich Wilhelm III. zum Bäderurlaub nach Teplitz; das wird sich in den nächsten zehn Jahren wiederholen. Am Hof fungiert er als Gesellschafter und Berater, und er findet Wege und Mittel, das wissenschaftliche Leben in Berlin voranzubringen, das wird von ihm erwartet. Er sitzt in der Entourage der Herrscherfamilie und muss dabei beweglich bleiben. Im September kommt Carl Friedrich Gauß nach Berlin und nimmt bei Humboldt Quartier. Humboldt hält in der Singakademie die Eröffnungsrede zur Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, die er leitet. Sechshundert kluge Köpfe tauschen bei dem Treffen ihre Ideen und Erkenntnisse aus, viele von ihnen Schriftsteller. Humboldt erklärt, dass sich Deutschland hier in seiner geistigen Einheit offenbare. Er regt die Einrichtung von geomagnetischen Messstationen an, aber der Schwung der »Kosmos«-Monate scheint verpufft. Es kommt ihn nun immer wieder hart an: Berlin liegt nicht in den Tropen und es ist nicht Paris. Er schätzt die Gespräche mit Gauß, aber das Kongresswesen, das er soeben neu begründet hat, geht ihm bald auf die Nerven.

Der Erfolg der »Kosmos«-Vorlesungen weckt die Sehnsucht nach neuen Grenzen und Gipfeln. Reisen und forschen, kommunizieren und schreiben, die Welt als globales Geschehen am jeweiligen Ort durchdringen und immer in Bewegung sein, den Informationsfluss beschleunigen: Das ist die Humboldt-Formel. Darin liegt seine Modernität. Wissen besitzt die Eigenschaft, dass es wandert und Sogwirkung entfaltet, und Daten erzeugen Ströme.

Das Interesse an dem frühen Denker der Globalisierung ist sprunghaft gewachsen, und es nimmt in dem Maße zu, in dem die Weltordnung unter dem Einfluss disruptiver Mächte vor unseren Augen zerfällt. Humboldt hat die Welt als Ganzes gesehen, politisch, ökonomisch, kulturell. Es gab für ihn keine überlegenen Nationen, keinen wie auch immer begründeten Anspruch auf Hegemonie. Humboldts praktische Philosophie wirkt wie ein Antidotum in diesen neoautoritären Zeiten. Viele Erkenntnisse hat er aus eigener Anschauung gewonnen. Darin unterscheidet er sich maximal von anderen großen Geistern seiner Zeit. Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe und Karl Marx erkundeten die Welt vom Schreibtisch aus, recht bequem und meist ohne Gefahr. Alexander von Humboldt sucht nicht nach Schutzräumen der Theorie, sondern er geht dahin, wo noch keiner war.

Kapitel 2 Der Rausch der frühen Lektüre

Auch wenn sich sein Name zuerst mit Natur und Forschungsreisen verbindet, ist Alexander von Humboldt ein Mensch der städtischen Zivilisation. Er geht aus ihr und aus sich heraus, um die Bedingungen des Lebens zu erkunden. Und auch wenn es seinen 250. Geburtstag zu feiern gilt, empfiehlt er sich als früher Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts. In einer angeblich immer mehr zusammenrückenden, tatsächlich unheilvoll zerteilten Welt verlinkt sich über ihn preußische Vergangenheit mit globaler Gegenwart. Wissenschaft und Kunst gehen bei ihm eine Verbindung mit dem Freiheitsgedanken ein. Natur erleben und Natur begreifen, das gehört zum freien Individuum, darin liegt Alexander von Humboldts Utopie. Er selbst ist seinem Entwurf recht nahegekommen.

Man will ihn nicht idealisieren, aber manchmal ist es wirklich schwer zu vermeiden: Weil sich dieser Preuße als globaler Vermittler anbietet und weil von seinem umfassenden Wissen und der Art, wie er es erwirbt, etwas Heilsames ausgeht. Mit seinem durchdringenden Gerechtigkeitsempfinden gegenüber anderen Kulturen nimmt er eine historische Sonderrolle ein. Sein langes, überreiches Leben gleicht einem Dschungel, reich an Gefahren für Biographen. Eine objektive Schwierigkeit liegt darin, dass ihm letzten Endes so vieles gelungen ist. Und was hat er nicht alles angepackt! Es sind also Schneisen zu schlagen, mit und ohne Rücksicht auf Verluste. Es gibt unendlich viele Verlockungen, hier oder dort abzubiegen, und jede Entscheidung bringt es mit sich, dass anderes unbeachtet bleibt. Das war auch sein Problem. Welchem Ruf, Plan oder Instinkt folgen? Wohin abschweifen? Welcher Weg oder Umweg führt zum Ziel – und sind die Ziele richtig gesetzt? Humboldt gehört als Schriftsteller zu den Mäandertalern. Abschweifen und ausschwärmen liegt in seinem Charakter. Etwas am Wegrand liegen zu lassen, ist nicht seine Sache. Daher bietet es sich hier an, einen geraden Weg einzuschlagen, damit am Ende ein hoffentlich großer Kreis dabei herauskommt.

Am 14. September 1769 wird Alexander von Humboldt im Sternbild der Jungfrau in Berlin geboren. Es hat Zeichen gegeben. Ein Komet, nach dem Astronomen Messier benannt, wird von August bis Dezember 1769 fast überall auf der Welt erblickt, von China bis in die Südsee, von Paris bis Teneriffa. Am 22. September wird seine maximale Helligkeit gemessen. Der Komet Messier, oder der Große Komet von 1769, wegen seiner außergewöhnlichen Helligkeit mit bloßem Auge zu erkennen, ist Gesprächsthema bei Bürgern und Bauern wie bei Wissenschaftlern. Zur Zeit Alexanders des Großen, um das Jahr 330 v. Chr., könnte er schon einmal auf der Erde sichtbar gewesen sein; die nächste Annäherung wird auf das Jahr 3420 geschätzt. Und es gibt, Humboldts Kommen betreffend, neben der astronomischen Attraktion eine tellurische Auffälligkeit. Der Cotopaxi, berühmt für seine elegante Form, bricht ein Jahr vor Alexanders Geburt dramatisch aus. Eines Tages wird Alexander den Vulkan im heutigen Ecuador besteigen.

Humboldt ist nicht vom Himmel gefallen. Aufbruchstimmung liegt in der Atmosphäre. Andere deutsche Gelehrte werfen schon vor ihm ihr Herz weit über die sichtbaren und unsichtbaren Hürden ihrer Zeit. Johann Gottfried Herder, der Schriftsteller und Philosoph der Aufklärung, unternimmt in Humboldts Geburtsjahr 1769 – Herder war Mitte zwanzig – eine Reise von Riga aus übers Meer nach Frankreich. Er schreibt hinterher einen enthusiastischen Text der umfassenden Naturerfahrung und Kulturvision, eine Zusammenschau der Welt-Phänomene, Gedanken für neue Werke fliegen ihm zu, Pläne für wildbewegte Bücher. Herders »Journal meiner Reise im Jahre 1769« erscheint erst posthum, es liest sich aber gerade so, als sei es in Humboldts Wiege gelegt: »Wie viel ist hier noch zu suchen und auszumachen! Die Origines Griechenlands, aus Ägypten, oder Phönizien? (…) Nun die Origines Nordens, aus Asien, oder Indien, oder Aborigines? Und der neuen Araber? aus der Tartarei oder China! und jedes Beschaffenheit und Gestalt, und denn die künftigen Gestalten der Amerikanisch-Afrikanischen Literatur, Religion, Sitten, Denkart und Rechte – – – Welch ein Werk über das Menschliche Geschlecht! den Menschlichen Geist! die Kultur der Erde! aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte! Mischungen! (…) Griechisches Alles! Römisches Alles! Nordische Religion, Recht, Sitten, Krieg, Ehre! Papistische Zeit, Mönche, Gelehrsamkeit! (…) Christliche, heidnische Aufweckung der Gelehrsamkeit! Jahrhundert Frankreichs! Englische, Holländische, Deutsche Gestalt! – Chinesische, Japanische Politik! Naturlehre einer neuen Welt! Amerikanische Sitten usw. Großes Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis dass es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen!«

Ein neues Leben, ein neues Zeitalter kündigt sich mit sprachlicher Ekstase und Selbstberauschung an. »Was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphären zu denken!« Unter dem Eindruck der Elemente entfesselt Herder Sturm und Drang, ganz wörtlich, und entwirft eine »Universalgeschichte der Bildung der Welt«. Eine Schöpfung mit zwei starken Genitiven, weit ausschwingende Worte. Ein humboldtsches Wetterleuchten.

Über das Geburtsdatum Alexanders gibt es keinen Zweifel. Und auch wenn der Geburtsort durchaus auch Tegel gewesen sein könnte, vor den Toren Berlins, das Anwesen der Familie draußen am See mit dem kleinen Schloss, so deuten die Quellen doch recht klar darauf hin, dass er in der Stadt das Licht der Welt erblickt, in der Jägerstraße 22 im heutigen Bezirk Mitte. Unter der Adresse findet sich jetzt die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, eine Plakette am Eingang erinnert an Alexander. Das alte Haus machte in den 1930er Jahren einem Neubau Platz. Seine Geschichte ist die Geschichte der Familie, die einst Homboldt hieß und im 16. Jahrhundert Humpolt, ein Stammbaum von Soldaten und Beamten.

Das Haus in der Jägerstraße wird in den 1740er Jahren errichtet. Es gehört dem Geschäftsmann Johann Heinrich Colomb, einem in Paris geborenen Hugenotten, Alexanders Großvater. Die Verbindung nach Frankreich ist von Anfang an da – ebenso die Christoph-Kolumbus-Assoziation. Colombs Tochter Marie-Elisabeth heiratet 1766 – in zweiter Ehe – den ehemaligen preußischen Major und Kammerherrn Alexander Georg von Homboldt. Sie haben zwei Söhne, Alexander und den zwei Jahre älteren Wilhelm. Die Mutter wird als kühl und streng beschrieben, während der Vater ein liebevoller, warmherziger Mensch gewesen sein soll, voller Stolz auf seine Söhne. Er hat sie mitgenommen auf die Jagd und er mag der Erste gewesen sein, der Alexander den Zugang zur Natur eröffnete, die in den Tegeler Wäldern Überraschungen bereithielt; dort gab es Baumschulen mit überseeischen Gewächsen für die Anlagen des Königs. Auf einem Miniaturbildnis macht der Vater einen jovial-fröhlichen Eindruck. Bereits 1779 stirbt der Major, Alexander ist zehn Jahre alt. Materielle Probleme bekommt die Familie nicht, Geld und Gut stehen in ausreichendem Maß zur Verfügung. Es wird keinerlei Einschränkung bei der Ausbildung der beiden Jungen geben, die ihren Vater so früh verlieren.

Die Eltern: Marie-Elisabeth und Alexander Georg von Humboldt

Marie-Elisabeth, die Mutter, wird häufig als die Unnahbare, Harte dargestellt. Das wird der Frau nicht gerecht. Man darf hier nicht unsere Familienvorstellungen des 20. und 21. Jahrhunderts zum Maßstab nehmen. Sie ist gebildet, unabhängig und hat mit dem Tod des Majors erneut den Verlust eines Ehemanns zu verschmerzen. Der erste, Friedrich Ernst von Hollwede, ein Offizier auch er, ist 1765 gestorben. Er hinterließ ihr das Gut Tegel. Sie hat einen Sohn aus dieser Ehe, Heinrich Friedrich Ludwig Ferdinand von Hollwede, 1762 geboren. Er findet sich schwer im Leben zurecht und wird schließlich Rittmeister. Luise, Marie-Elisabeths Tochter aus der Verbindung mit Hollwede, überlebt das frühe Kindesalter nicht. Wahrlich kein schönes Leben: Im Alter von 38 Jahren hat Marie-Elisabeth bereits ein Kind und zwei Ehemänner verloren. Sie bleibt Witwe. Die Erziehung der Söhne übergibt sie dem Hauslehrer Gottlob Johann Christian Kunth, einem jungen Mann mit breitem Wissen, in vielen Sprachen bewandert, mit theologisch-juristischem Hintergrund. Kunth war schon im Haushalt, als der Vater noch lebte, und er hält den Humboldts lange die Treue, kümmert sich um weit mehr als die Aufgaben eines Hofmeisters. Er ist der Mann im Haus – und was das alles einbezieht, muss offen bleiben. In späteren Jahren wird er für Alexander und Wilhelm eine Vertrauensperson in finanziellen Dingen, und dass er aus seiner speziellen Stellung und Hausmacht unanständigen Vorteil gezogen habe, wird nirgends berichtet. Mit dem protestantisch strengen, korrekten Mann verbringen Wilhelm und Alexander Kindheit und Jugend. Intellektuell ist es ihr Schaden nicht. Er vermittelt ihnen eine breite Bildung, weckt das Interesse für vielerlei Fächer und Gebiete. Im Nachhinein können sie der Mutter für Kunth danken. Marie-Elisabeth, allein und verantwortlich für die Kinder, hat eine gute Wahl mit ihm getroffen. Sie erspart den Söhnen die militärische Laufbahn. Es wäre keine Überraschung gewesen, hätte sie Wilhelm und Alexander gemäß der Familientradition in die preußische Uniform gesteckt und zum Drill geschickt.

Aber das Kind Alexander empfindet anders. Er kränkelt, im Unterricht ist er unkonzentriert, bedrückt. Wilhelm eilt ihm voraus, ein guter Schüler. Wenn es um ihre Kindheit geht, wählen beide Brüder später schlimme Worte: öde, freudlos. Das alles klingt nach Überforderung und Unterforderung zugleich, nach Nichtverstehen und Missverständnissen, vor allem bei dem jüngeren Kind, Alexander. Hart das Urteil, wenn er als Erwachsener schreibt: »In Tegel habe ich den größeren Teil dieses traurigen Lebens zugebracht, unter Leuten, die mich liebten, mir wohlwollten, und mit denen ich mir doch in keiner Empfindung begegnete, in tausendfältigem Zwange, in entbehrender Einsamkeit, in Verhältnissen, wo ich zu steter Verstellung, Aufopferungen gezwungen wurde.« Der Ton ist furchtbar und bitter. Nach dem Tod der Mutter – Alexander ist ein erwachsener Mann – wird er in einem Brief an einen Freund sagen: »Du weißt, mein Guter, dass mein Herz von dieser Seite nicht empfindlich getroffen werden konnte, wir waren uns von jeher fremd.«

Die unglückliche Kindheit Alexanders gehört zu den Standards der biographischen Literatur. Greifbare Anhaltspunkte gibt es dafür aber nicht. Er selbst ist wesentlich der Ursprung dieser Interpretation. Es fällt schwer, ihm da zu folgen. Woher diese Verhärtung? Die Brüder können sich entfalten, musisches Leben wird ihnen nicht vorenthalten. Alexanders Interessen werden keineswegs unterdrückt. Und doch erinnert er sich an seine Kindheit und Jugend nicht gern. Sein Drang nach Unabhängigkeit muss von früh an so mächtig gewesen sein, dass er Elternfiguren, Lehrer, Autoritäten überhaupt als Behinderung empfindet – ein äußerst ungeduldiger Junge mit einer jähzornigen Ader. Dafür spricht die bei Alexander schon früh beobachtete Schlagfertigkeit. Er ist hochbegabt. Seine Energie findet keinen Auslass. Natürlich könnte man Kunth anlasten, dass er Alexanders außergewöhnliche Persönlichkeit nicht erkannt hat. Er hat sie aber auch nicht in ihrer Entwicklung behindert und verbogen. Die Erziehung verlangt ein anspruchsvolles Arbeitspensum und ist an Leistung, Disziplin und Arbeitsethos orientiert. Über Sanktionen ist nichts bekannt, von preußisch-militärischem Schliff kann nicht die Rede sein. Wilhelm und Alexander bekommen mindestens das Beste, das ein Haushalt wie der humboldtsche damals in Preußen zu bieten hat, sie genießen eine breite, stimulierende intellektuelle Ausbildung. Das Leben in Tegel hat Alexander mit »Schloss Langweil« tituliert. Er ist schnell mit der Zunge, kann treffsicher austeilen und verletzen. Von ihm geht schon früh eine aggressive Unruhe aus, und nachher ist ihm offensichtlich daran gelegen, sich als unabhängigen, aus eigener Kraft geformten Geist zu stilisieren. Alexander will sich absetzen vom preußischen Biotop und der Familie. Oder wie es Douglas Botting in seiner Biographie zuspitzt: »Alexander von Humboldt hat ein Riesenwerk geschaffen: sich selbst.«

Tegel war so übel wohl nicht. Der »kleine Apotheker«, wie sie ihn liebevoll in der Familie nennen, findet Freude in der Natur, im Schlosspark, der eine Zeitlang wild und weit genug ist für einen Zehn- oder Zwölfjährigen. Später wird sich Alexander erinnern an den »Genuss, den die reizende, anmutsvolle Natur hier in so reichem Maße gewährt«, immerhin. Während Wilhelm für seine Lernerfolge Lob erntet, in Griechisch und Latein brilliert, macht man sich um Alexander Sorgen. Der spielt mit Mineralien, Insekten, Pflanzen; in seinem Zimmer legt er seine erste Sammlung an. Er ordnet seine Funde, schreibt Etiketten, denkt sich Sortierungen aus. Exkursionen in die brandenburgischen Gehölze tun ihm gut und er begeistert sich an seiner Lektüre. Er liest die Bücher der Weltumsegler, die Berichte der englischen und französischen Expeditionen in die Südsee und zum Amazonas. Dabei prägt er sich den Namen des Schriftstellers Georg Forster ein.

Die Welt macht in dieser historischen Phase mit sich selbst Bekanntschaft. Der Globus wird zum Objekt exotischer Abenteuer. Alexander darf Johann Heinrich Campe zu seinen Lehrern zählen. Der angehende Schriftsteller hält sich nur kurz im Hause Humboldt auf, hinterlässt aber Eindruck. Campe begeistert sich für Rousseau, er wird ihn übersetzen, er ist ein leidenschaftlicher Büchermensch, auf ihn wartet eine Karriere als Verleger, Pädagoge, Bestsellerautor. Campe setzt sich für Volksbildung ein und verdient damit Geld. Er gibt Wörterbücher heraus und publiziert 1779 »Robinson der Jüngere«, eines der ersten Kinder- und Jugendbücher überhaupt. Campe variiert den »Robinson Crusoe« von Daniel Defoe, der 1719 erschienen ist und das »Leben und die unerhörten Abenteuer des Robinson Crusoe, eines Seemanns aus York [erzählt], der 28 Jahre lang ganz allein auf einer unbewohnten Insel vor der Küste von Amerika lebte, nahe der Mündung des großen Orinoco-Stroms …«

Dahin will Alexander. Bereits 1781 veröffentlicht Campe »Die Entdeckung von Amerika«, Geschichten von Kolumbus und den Konquistadoren. Das Buch wird ein großer Erfolg. Auf der Liste der Subskribenten finden sich die Namen der noch sehr jungen Herren Wilhelm und Alexander von Humboldt. Sie gehören zum Zielpublikum des neuen Genres der Bücher für ein heranwachsendes Publikum, die zugleich belehren und unterhalten sollen. Wie Fernrohre wirken diese Bücher, sie lassen weit blicken. Wilhelm wird der Erste sein, der aufbricht. Er fährt 1789, nach dem Sturm auf die Bastille, mit Campe nach Paris. Anschließend plant der Schriftsteller eine Amerikafahrt, die aber nicht zustande kommt. Campe wollte, wie Alexander schreibt, »die Verfassung des nordamerikanischen Freistaats aus der Nähe studieren«, und Alexander, der einen solchen Ausflug für selbstverständlich hält, so wie er veranlagt ist, erwartet »täglich den Brief, worin Campe mir das Mitreisen anbietet«. Ihn lockt als Ideal der freie Staat, Freiheit misst sich in Entfernung. Die Freiheit scheint zuzunehmen, je weiter hinaus ein junger Mensch geht. Der preußische Frischling imaginiert die Geographie der Zukunft.

Die jungen Humboldts atmen den Lesestoff ein. Alexander wird einmal die Träume, die ihm aus Büchern entgegengewachsen sind, in eine neue Realität umsetzen. Bücher folgen Büchern, sie sind die globalen Transportmittel der Epoche, so wie die Schiffe. Alexander von Humboldts Werk wird wiederum Generationen von Forschern und Künstlern antreiben und auf den Weg bringen. Lesen, träumen, reisen, schreiben, das sind die vier Aggregatzustände des Geistes. Die fremden Namen der zu entdeckenden Welt haben sich ihm eingepflanzt. Aber noch werden ihm und seinem Bruder zuhause andere Dinge nahegebracht. Damit lässt sich später einiges anfangen, wenn erst einmal der lähmende Schulgeruch verflogen ist. Professoren der Philosophie und Nationalökonomie geben sich die Klinke in die Hand, es gibt Politikunterricht und Pflanzenkunde, die Jungen übersetzen die klassischen Schriftsteller. Wilhelm hat erst einmal mehr davon, er ist schließlich der Ältere und der Unterricht wird auf ihn zugeschnitten, Alexander kann oder will oft nicht folgen. Die breite Bildung ist auf der Höhe der Zeit. Ihre Mutter spart in diesem Punkt an nichts. Die Brüder bekommen die gebildetsten Lehrer, die in Berlin aufzutreiben sind.

Alexander gilt als Hypochonder, ein lust- und kraftloser Junge, und doch saugt er alles auf. In ihm wächst die Wildnis. Und es gibt noch etwas, das ihm neben den Reisebüchern Freude bereitet. Er zeichnet und malt Landschaften und Porträts. Damit beginnt er früh. Mit zehn entwirft er Karten des Planetensystems und Amerikas. Alexander nimmt professionellen Zeichenunterricht, sehr wahrscheinlich bei Daniel Chodowiecki, dem Direktor der Akademie der Künste in Berlin, er lernt das Radieren und den Kupferstich. 1786 stellt er eine Arbeit in der Akademie aus. Das Sujet wirkt alles andere als jugendlich: »Die Freundschaft weint über der Asche eines Verstorbenen«. Es handelt sich um eine allegorische Zeichnung in schwarzer Kreide nach einem Bild der Malerin Angelika Kauffmann. Auch in den folgenden Jahren ist er mit eigenen Arbeiten vertreten, auch Marie-Elisabeth von Humboldt zeichnet, das gehört zum guten Ton. Und es mag auch ein zarter Hinweis sein, dass das Verhältnis Alexanders zur Mutter nicht immer nur distanziert war. Schließlich hat sie den Söhnen große Freiheiten gewährt, zwischen dem Landsitz Tegel und der Stadtwohnung in Berlin.

Im zweiten Band des »Kosmos« wird Humboldt Jahrzehnte später die Bilder und Bücher der frühen Jahre heraufholen: »Indem wir uns hier auf die einfache Betrachtung der Anregungsmittel zum wissenschaftlichen Naturstudium beschränken, erinnern wir zuerst an die mehrfach sich wiederholende Erfahrung, dass oft sinnliche Eindrücke und zufällig scheinende Umstände in jungen Gemütern die ganze Richtung eines Menschenlebens bestimmen. Kindliche Freude an der Form von Ländern und eingeschlossenen Meeren, wie sie auf Karten dargestellt sind; der Hang nach dem Anblick der südlichen Sternbilder, dessen unser Himmelsgewölbe entbehrt; Abbildungen von Palmen und libanotischen Zedern in einer Bilderbibel können den frühesten Trieb nach Reisen in ferne Länder in die Seele pflanzen. Wäre es mir erlaubt, eigene Erinnerungen anzurufen; mich selbst zu befragen, was einer unvertilgbaren Sehnsucht nach der Tropengegend den ersten Anstoß gab; so müsste ich nennen: Georg Forsters Schilderungen der Südsee-Inseln; Gemälde von Hodges, die Ganges-Ufer darstellend, im Hause von Warren Hastings zu London; einen kolossalen Drachenbaum in einem alten Turme des botanischen Gartens bei Berlin. Die Gegenstände, welche wir hier beispielsweise aufzählen, gehörten den drei Classen von Anregungsmitteln an, die wir früher bezeichneten: der Naturbeschreibung, wie sie einer begeisterten Anschauung des Erdenlebens entquillt: der darstellenden Kunst als Landschaftsmalerei, und der unmittelbaren objektiven Betrachtung charakteristischer Naturformen.«

Die Kindheitserinnerung produziert den typisch distanzierten Humboldt-Sound, in dem es allerdings heftig brodelt und still glüht. Die große Reise beginnt in Tegel und der Natur des Berliner Umlands. Carl Ludwig Willdenow, ein Jugendfreund, lehrt den etwas jüngeren Humboldt das ordentliche Botanisieren. Willdenow, ein Apotheker, wird später Professor für Botanik und Direktor des Botanischen Gartens in Berlin, er entwickelt sich zu einem hoch geehrten, einflussreichen Wissenschaftler und wird Humboldt als Mitarbeiter bei der Auswertung der Lateinamerikareise zur Seite stehen. Das ist eine ganz typische Geschichte. Bei Humboldt verbindet sich die Freundschaft mit der Profession. Und solche Freundschaften halten bei ihm lang.

Alexander von Humboldt hat häufig das Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Mitte der 1780er Jahre werden die Brüder in die Berliner Salons eingeführt, Alexander ist sechzehn Jahre jung. Es herrscht dort ein Geist der Aufklärung und Emanzipation. Die Debütanten machen sich mit Markus Herz bekannt, einem jüdischen Arzt und Physiker, der in seinem Haus Privatvorlesungen hält. Das wohlhabende Bürgertum entwickelt Selbstbewusstsein, es sind vor allem die jüdischen Kreise um Moses Mendelssohn, die sich aus dem Berliner Provinzmief erheben. »Jüdische Männer und Frauen aus der Elite ihres unterdrückten Volks haben die Brüder Humboldt aus der trockenen und pedantischen Atmosphäre Berlins und Tegels in gewisser Weise befreit, gehoben, gebildet, erzogen und zu sich selbst hingeführt«, schreibt Hanno Beck. In den Salons blüht Alexander auf, als wäre es die freie Natur. Schnell wird er ein guter Tänzer, versteht sich auf Konversation, parliert und charmiert, teilt freche Bemerkungen aus. Hier bildet sich schon früh ein Teil seines Netzwerks. Im Salon trifft er Rahel Levin, die den Schriftsteller, Offizier und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense heiraten wird, Alexander von Humboldts Freund und Vertrauten der späten Berliner Jahre. Er lernt dort David Friedländer kennen, einen reichen jüdischen Reformer und Aufklärer und Gründer der jüdischen Freischule. Friedländer wird sein Bankier und Mäzen. Der Heißsporn Humboldt schlägt ein, am Rande zu stehen ist nicht seine Art. Ein undatiertes Porträt aus jener Zeit zeigt den vermutlich achtzehnjährigen Alexander: ein rundes Gesicht mit großen, leuchtenden Augen, sinnlicher Mund, auf den Backen ein dünner Bart. Mit leicht geneigtem Kopf blickt er den Betrachter unvermittelt an. Heftig schwärmt er für Henriette Herz, die Frau von Markus Herz. Sie ist fünf Jahre älter als Alexander und siebzehn Jahre jünger als ihr Mann. Ihre Familie stammt aus Portugal, der Vater leitet das Jüdische Krankenhaus. Sie besitzt eine hinreißende Ausstrahlung, ist der Mittelpunkt des Salons. Alexander schreibt ihr schwärmerische Briefe auf Englisch oder Hebräisch, preist ihre Klugheit, ihr Temperament, ihren Humor. Auch Wilhelm kann nicht genug bekommen von ihr. Er schickt Henriette Liebesdepeschen in einer deutlicheren Sprache.

Der Schwarm der Berliner Salons: Henriette Herz, 1788, Porträt von Anna Dorothea Therbusch

Von Hannah Arendt stammt ein berührendes Porträt der Henriette Herz. Sie zeichnet es in ihrem Buch über Rahel Varnhagen. Bereits in der Jugend habe Henriette »das letzte gleichsam physische Hemmnis der Assimilation, die jüdische Tradition« überwunden. Das Christentum habe ihr Friedrich Schleiermacher vermittelt, der evangelische Theologe und Philosoph. Arendt formt das Bild einer überaus klugen, attraktiven Frau nach: »Sie lässt sich trotzdem erst verhältnismäßig spät taufen, weil sie erst den Tod ihres Mannes und dann den ihrer Mutter abwarten muss. Sie ist geachtet, weil sie sehr tugendhaft ist, sie wird viel geliebt, weil sie sehr schön ist. Man nennt sie kalt, weil nichts zu ihr dringt, weil sie unberührt bleibt.«

Tüchtige Privatlehrer und die exquisite Schule der Salons sprechen gegen das weitverbreitete Klischee von Humboldts freudlosem Start ins Leben. Er wird mit offenen Armen und offenem Geist empfangen. Zielsicher findet er die Inseln der Bildung und Kultur im Preußen jener Jahre. Die Lesegesellschaft diskutiert Kant, Männer und Frauen debattieren über die Aufklärung, vorgetragen werden lyrische und dramatische Werke. Wie weit die Beziehung der Brüder zu Henriette Herz tatsächlich gegangen ist, die sich gern mit jungen, intelligenten Männern umgibt und das Flirten versteht, ist der Phantasie überlassen. Hannah Arendt bleibt in ihrer Charakterisierung Henriettes dabei: Verliebtsein habe sie die »verderblichste Gabe der Götter« genannt und jede Leidenschaft abgewehrt. In der Literatur heißt es, Alexander habe Henriette, »diese dunkeläugige Jüdin«, wie Douglas Botting 1973 in »Humboldt and the Cosmos« schreibt, zum Idealbild der Frau gemacht, dem keine andere je nahe gekommen sei. Während Wilhelm sich tatsächlich etwas bei ihr ausgerechnet hat.