Alles, was wir nicht erinnern - Christiane Hoffmann - E-Book

Alles, was wir nicht erinnern E-Book

Christiane Hoffmann

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Beschreibung

«Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Christiane Hoffmanns Vater floh Anfang 1945 aus Schlesien. 75 Jahre später geht die Tochter denselben Weg, 550 Kilometer nach Westen. Sie kämpft sich durch Hagelstürme und sumpfige Wälder. Sie sitzt in Kirchen, Küchen und guten Stuben. Sie führt Gespräche – mit anderen Menschen und mit sich selbst. Sie sucht nach der Geschichte und ihren Narben. Ein sehr persönliches, literarisches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was wir verdrängen, um zu überleben. Deutschland in den 1970er Jahren. Unter dem Tisch sitzen die Kinder. Oben seufzen die Erwachsenen, essen Schnittchen und reden über die verlorene Heimat. Sie geben ihre Verletzungen und Alpträume weiter an die nächste Generation. Nach dem Tod des Vaters kehrt die Tochter in das schlesische Dorf mit dem malerischen Namen zurück, nach Rosenthal, das jetzt Rózyna heißt. Am 22. Januar 2020 bricht sie auf und geht noch einmal den Weg seiner Flucht. Was bleibt heute vom Fluchtschicksal? Wie gehen Familien, wie gehen Gesellschaften, Deutsche, Polen und Tschechen mit der Vergangenheit um? Christiane Hoffmanns Buch holt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ins 21. Jahrhundert, es verschränkt ihre Familiengeschichte mit der Historie, Zeitzeugenberichte mit Begegnungen auf ihrem Weg. Doch es ist vor allem ein sehr persönliches Buch, geschrieben in einer literarischen Sprache, die Suche einer Tochter nach ihrem Vater und seiner Geschichte.

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Christiane Hoffmann

ALLES, WAS WIR NICHTERINNERN

Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters

C.H.Beck

Zum Buch

«Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Christiane Hoffmanns Vater floh Anfang 1945 aus Schlesien. 75 Jahre später geht die Tochter denselben Weg, 550 Kilometer nach Westen. Sie kämpft sich durch Hagelstürme und sumpfige Wälder. Sie sitzt in Kirchen, Küchen und guten Stuben. Sie führt Gespräche – mit anderen Menschen und mit sich selbst. Sie sucht nach der Geschichte und ihren Narben. Ein sehr persönliches, literarisches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was wir verdrängen, um zu überleben.

Deutschland in den 1970er Jahren. Unter dem Tisch sitzen die Kinder. Oben seufzen die Erwachsenen, essen Schnittchen und reden über die verlorene Heimat. Sie geben ihre Verletzungen und Alpträume weiter an die nächste Generation. Nach dem Tod des Vaters kehrt die Tochter in das schlesische Dorf mit dem malerischen Namen zurück, nach Rosenthal, das jetzt Różyna heißt. Am 22. Januar 2020 bricht sie auf und geht noch einmal den Weg seiner Flucht. Was bleibt heute vom Fluchtschicksal? Wie gehen Familien, wie gehen Gesellschaften, Deutsche, Polen und Tschechen mit der Vergangenheit um? Christiane Hoffmanns Buch holt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ins 21. Jahrhundert, es verschränkt ihre Familiengeschichte mit der Historie, Zeitzeugenberichte mit Begegnungen auf ihrem Weg. Doch es ist vor allem ein sehr persönliches Buch, geschrieben in einer literarischen Sprache, die Suche einer Tochter nach ihrem Vater und seiner Geschichte

Über die Autorin

Christiane Hoffmann ist Journalistin und Autorin beim Nachrichtenmagazin «Der Spiegel». Hoffmann studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Journalistik in Freiburg, Leningrad und Hamburg. Sie arbeitete fast 20 Jahre für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und berichtete als Auslandskorrespondentin aus Moskau und Teheran. Anfang 2013 wechselte sie als stellvertretende Leiterin ins Hauptstadtbüro des «Spiegel». Seit 2018 ist sie dort Autorin und häufiger Gast in Rundfunk und Fernsehen. Hoffmann ist die Tochter zweier Flüchtlingskinder. Ihre Vorfahren väterlicherseits stammen aus Schlesien, die Familie ihrer Mutter aus Ostpreußen.

Inhalt

1

2

3

4

Epilog 1

Epilog 2

Dank

Karte: Fluchtroute 1945

Stammbaum

Für meinen Vater

1

Bittet aber, dass Eure Flucht nicht im Winter geschehe.

Math24, 20

Flucht ist die letzte und radikalste Entscheidung, die man in einem Leben treffen kann.

Aleida Assmann

Gegen acht Uhr morgens gehe ich los. Nach wenigen Schritten liegt das Dorf hinter mir, die grauen Häuser und die bunten, die verlassenen Häuser und die, in denen nur noch eine Alte lebt, die Häuser mit den jungen Familien, die Scheunen mit den eingefallenen Dächern und der helle Kirchturm. Das Dorf bleibt zurück wie es so oft zurückgeblieben ist, still und ergeben und voller Erbarmen für die Menschen, die fortmüssen, hierhin und dorthin.

Der steinerne Engel gibt mir seinen Segen, das zweibeinige Ortsschild nickt mir zu, grinst mit schiefem rotem Mund, Różyna, der Name des Dorfes, durchgestrichen von links unten nach rechts oben. Dann bin ich allein auf der Landstraße, und der Wind fällt über mich her.

Wie eine graue Steppdecke liegen die Wolken über dem weiten Land, nur am Horizont, wo die Kuppen des Riesengebirges den Himmel berühren, schimmert ein Streifen Blau. Die Eschen entlang der Straße lehnen sich nach Süden, in ihrem kahlen Geäst hängen Misteln, schwarz wie verkohlte Christbaumkugeln.

Es ist mild für Ende Januar.

Als Ihr damals aufgebrochen seid, war die Straße nach Lossen tief verschneit, die Luft eisig, sicher zwanzig Grad kälter. Es muss schon dunkel gewesen sein, nachmittags gegen fünf. Hinter Euch hörtet Ihr die sowjetische Artillerie über die Oder schießen, die Russen, wie Du immer sagtest.

Schon Tage zuvor hatte jenseits der Oder das Grollen begonnen. Der Krieg näherte sich dem Dorf als Lärm, als ein immer lauter werdender Donner jenseits des Flusses, wie ein großes Tier, ein Drache, der, nur durch das dünne Band der Oder zurückgehalten, am anderen Ufer raste und tobte. Tags zuvor hatte die Wehrmacht die Brücken gesprengt.

Als wir die Russen über die Oder schießen hörten, war einer Deiner Sätze. Sonst erinnertest Du Dich an fast nichts mehr.

Ich begann früh zu fragen, noch als Kind, aber auch damals waren schon mehr als drei Jahrzehnte vergangen seit jenem Tag, und Deine Erinnerung war geronnen wie das Blut über einer alten Wunde. Eine harte Kruste, die das, was geschehen war, mit immer gleichen Sätzen verdeckte. Ich fragte und fragte, aber Du erzähltest immer nur dieselbe Geschichte: Wie Ihr in der Hast des Aufbruchs das Oberteil Deines Matrosenanzugs vergessen hattet, die weiße Hemdbluse mit dem marineblauen Kragen, der Sonntagsstaat in einem schlesischen Bauerndorf. Er war neu, Du warst neun, Du hattest ihn zu Weihnachten bekommen und noch kein einziges Mal getragen, er lag, sagtest Du, noch in der guten Stube unter dem Christbaum.

Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, mehr war von Dir nicht zu erfahren, aber ich habe seither gelesen und mit anderen gesprochen, habe Schnipsel um Schnipsel zusammengetragen und mir ein Bild gemacht von jenem 22. Januar 1945. Es war ein Montag.

Ich weiß jetzt mehr als Du, weiß, dass schon zwei Tage zuvor, am Samstagabend, Wehrmachtssoldaten in das Dorf gekommen waren, eine motorisierte Kolonne, die sich in den Höfen entlang der Dorfstraße einquartierte. Ihr Jungen wart gerade beim Rodeln am Kirchberg, nun kamt Ihr herbeigelaufen, um die schweren Tornister der Soldaten mit Euren Schlitten in die Quartiere zu ziehen.

Am Sonntag wurde das Grollen lauter, nach der Kirche standen die Großen in Grüppchen auf der verschneiten Dorfstraße. Besorgte Gespräche: Würde man flüchten müssen? Die Angst kroch in die Bauernstuben, wo die Frauen nachts über ihre gefallenen Männer weinten und für die verschollenen Söhne beteten.

Am Montagmorgen verließ die Wehrmachtskolonne fluchtartig das Dorf, nun wurden alle unruhig. Scholzes hatten schon am Vortag gepackt und wollten sofort losfahren, aber Schütz, Bürgermeister und Parteimitglied, stand am Dorfausgang, die Pistole im Anschlag, und ließ niemanden raus. Erst am Nachmittag gegen vier kam der Befehl, das Dorf zu räumen, innerhalb einer Stunde. Nun lief Schütz von Hof zu Hof und verbreitete die Nachricht.

Deine Mutter hatte noch kaum damit begonnen, das Nötigste zusammenzupacken, es gab zu viel zu tun, nun stopfte sie Wäsche und Bettzeug in Kornsäcke und füllte eine Kiste mit Hafer für die Pferde. Die Menschen griffen, was ihnen vor die Augen kam, den geräucherten Schinken vom letzten Schweineschlachten, etwas Werkzeug, das wenige, was sie an Schmuck besaßen. Wer keinen eigenen Wagen besaß, barmte bei den Bauern darum, seine Habe auf einem der Fahrzeuge unterbringen zu dürfen.

Deine Mutter holte die Pferde aus dem Stall. Mit dem Braunen war Dein Vater vor wenigen Wochen zum Volkssturm eingezogen worden. Auf dem Hof waren zwei Pferde geblieben, so erzähltest Du, ein Lahmes und ein Junges, das noch nie vor dem Wagen gegangen war. Es gelang Deiner Mutter nicht, die Pferde einzuspannen. Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde.

Der Donner der Geschütze wurde lauter. Der Drache bäumte sich auf über dem Dorf, spie Feuer und ließ die Menschen hastig durcheinanderrennen, die Luft rauschte, die Erde bebte, Granaten schlugen auf beiden Seiten der Häuser ein und rissen Krater in die hartgefrorenen Äcker. Die Panik des Aufbruchs ergriff die Tiere, die Kühe brüllten, die Hunde bellten und rissen an ihren Ketten. Die Mägde liefen noch einmal durch die Ställe und füllten die Tröge mit Futter, streuten den Hühnern Körner hin für drei Tage, länger würdet Ihr nicht fort sein, so hatte man Euch gesagt, Ihr solltet nur kurz aus dem Beschussbereich.

Es dämmerte. Der Nachbar half Euch beim Einspannen. Deine Mutter setzte ihre Schwiegermutter auf den Wagen und den Onkel, der lahm war wie das Pferd. Der lahme Onkel, das lahme Pferd – Ihr verwendetet für beide dasselbe Wort. Du würdest zu Fuß gehen.

Und in dieser Hast, im eiligen Zusammenraffen unter Geschützdonner und Feueratem geschah es, dass nur der halbe Matrosenanzug mit auf die Flucht kam. Das Oberteil blieb zurück und fiel den Russen in die Hände oder wurde vielleicht später von einem polnischen Jungen getragen, für Dich jedenfalls war es für immer verloren.

Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde. Ich hörte nicht Dich in Deinen immer gleichen Sätzen, sondern andere, es waren fremde, tote Sätze, hinter die mein Fragen nicht drang. Trotzdem wollte ich die Geschichte immer wieder von Dir hören, die Erzählung über den Augenblick des Aufbruchs, den Augenblick, der alles veränderte und alles bestimmte, die Urszene unserer Familiengeschichte. Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde. Nun werde ich mich an Deiner Stelle erinnern. Ich weiß jetzt mehr als Du, trotzdem habe ich noch immer den Wunsch, Dich zu fragen, auch jetzt, da das nicht mehr möglich ist.

Ich musste Schutzkleidung anziehen, wenn ich zu Dir ging. Sie lag in einem Regal im Vorraum des Krankenzimmers zwischen Schläuchen und Einwegspritzen, blassgelb, die Farbe wässrigen Nasenschleims. Die Schwester half, den Umhang zu binden, oben im Genick und hinter dem Rücken, wie einen OP-Kittel. Es war Wegwerfkleidung. Wenn man Dein Zimmer verließ, musste man sie in die große Mülltonne entsorgen, die in der Ecke stand. Einmal vergaß ich, den Umhang wegzuwerfen. Sofort bat mich eine Schwester auf dem Gang, achtsamer zu sein.

Der Mundschutz mit Gummizug um den Kopf ging bis über die Nase, am oberen Rand war ein Draht eingearbeitet, der sich in die Form der Nase biegen ließ, sodass der Mundschutz gut hielt. Ich kannte das damals noch nicht, anderthalb Jahre vor der Pandemie. Das Schlimmste waren die Gummihandschuhe. Mit Dir zu sprechen war gut, aber ich war gekommen, um Deine Hand zu halten.

Am ersten Tag beachtete ich die Regeln. So hattet Ihr es mir beigebracht. Jetzt bereue ich das, so viele Stunden, in denen ich Dich hätte berühren können. Noch ein Versäumnis.

Als meine Großmutter noch lebte, saßen die Erwachsenen manchmal abends um ihren Küchentisch: Du und Mutter, Dein Bruder Manfred und seine Frau, Großmutter, ihre Brüder und deren Söhne, die oft zu Besuch kamen. Der Zigarettenrauch mischte sich mit dem Käsegeruch der Schnittchen, die Lampe, ein Drahtgestell, das Mutter mit einem braun grundierten Blümchenstoff bezogen hatte, verbreitete schummriges Licht.

Unter dem Tisch war es fast dunkel. Dort spielten wir Kinder. Wir verglichen halb fasziniert, halb angeekelt die Beinbehaarung der Erwachsenen, die zwischen Strumpfrand und Hosensaum hervorschaute, Deine vereinzelten Strähnen und den dichten Pelz deines Bruders Manfred. Großmutters Füße steckten barfuß in Pantoffeln, ihre Schienbeine waren knorrig und übersät mit Narben und blauen Flecken, die nie mehr wegzugehen schienen. Wir rollten Deine Socken hinauf und hinunter, drehten die elastischen Bündchen zu weichen Würsten. Bei Manfred hätten wir das nie gewagt.

Es waren gemütliche und düstere Abende. In Großmutters Wohnung war von den Vorhängen bis zu den Pantoffeln alles in unbestimmbaren, dunklen Farben gehalten, auch die einfachen Möbel, die sie und Großvater sich Ende der fünfziger Jahre leisten konnten, als sie endlich eine eigene Wohnung bekommen hatten, von der «Neuen Heimat».

Es wurde Skat gekloppt und politisiert. Meist begannen die Gespräche bei der Tagespolitik, den Steuern, Willy Brandt, dann kamen sie auf die Nazizeit und den Krieg und alles, was man doch einmal sagen dürfen musste. Dass doch nicht alles schlecht gewesen war. Die Autobahnen und Arbeit für alle. Dass Hitlerdeutschland, ob es einem nun gefalle oder nicht, doch letztlich Europa vor dem Kommunismus bewahrt habe. Und dass die Zerstörung von Dresden doch nun wirklich nicht mehr nötig gewesen sei. Und wenn alles heraus war und zurechtgerückt, alles erlittene Unrecht aufgezählt, dann ließ die Heftigkeit des Gesprächs nach, der Eifer wich langsam der Wehmut, und es wurde Zeit für die Heimat.

Oben am Tisch wurde geseufzt. Unter dem Tisch bemühten wir uns, leise zu sein, denn gerade in Momenten der Schwermut konnte Dein Bruder Manfred aufbrausend werden. Ein lautes Lachen oder ein gestohlener Pantoffel würden ihn dann unerwartet und schmerzhaft ausschlagen lassen. Du saßt meist schweigend dabei. Oben am Tisch gedachten sie der Heimat und dieses Gedenken klang wie eine schwere, getragene Melodie, wie der Gefangenenchor aus Nabucco, der, das wusste ich, die Lieblingsmusik meines Großvaters gewesen war, Deines Vaters, während Deine Mutter «An der schönen blauen Donau» vorzog.

Für mich war Heimat der Klang von «Wir lagen vor Madagaskar»: Ohe, Kameraden, jene Stelle, an der die düstere Wirklichkeit, die Pest, das verfaulte Wasser, abgelöst wird von der getragenen, fast heiteren Melodie des Refrains: Ja, wenn das Schifferklavier an Bord erklingt. Und wenn dann die Matrosen so still wurden, dann hatte ihr Heimweh bei aller Verlorenheit auf den Weltmeeren etwas Tröstliches, weil ein jeder nach seiner Heimat sich sehnt, die er gerne einmal wiedersehen will. Genau so war es.

Den Hang zum Sentimentalen habe ich von Dir geerbt.

Oben am Tisch wurde geseufzt. Unten spielten wir Gefangene oder Matrosen. Und so lernten wir die Heimat als etwas immer schon Verlorenes kennen, etwas, das nur unsere Vorfahren kannten, das wir selbst aber nie gehabt hatten und niemals haben würden. Die Heimat war ein Sehnsuchtsland, ein Paradies, aus dem wir immer schon vertrieben waren. Dazu passte auch ihr Name. Die Heimat hatte einen Namen wie aus dem Märchenbuch. Wunderschön stellten wir sie uns vor, einen verwunschenen Ort an einem Fluss, in einer Senke zwischen sanften Hügeln und weiten Feldern, umwuchert von Rosen. Die Heimat hieß Rosenthal.

Im Sommer nach Deinem Tod fahre ich nach Rosenthal, in das Dorf an der Oder, das jetzt Różyna heißt.

Was willst du da? fragt meine Polnischlehrerin. Es ist ein sehr kleines Dorf.

Bevor ich losfahre, googele ich noch ein paar polnische Vokabeln, wer weiß, wann ich das nächste Mal WLAN haben werde. Urszula hat mich angesteckt mit ihren Bedenken: Wo willst du denn schlafen? Ich habe mir darüber gar keine Gedanken gemacht. In Rosenthal.

Nimm einen Schlafsack mit, sagt Urszula. Ich lege auch Zelt und Isomatte in den Kofferraum, vielleicht kann ich hinten am Friedhof zelten, und eine Rolle Klopapier. Mieten – nająć, Badezimmer – łazienka und Steckdose – gniazdo, das heißt Nest, tatsächlich, das werde ich später merken, sagen sie gniazdko, Nestchen. Dann noch den Kurs des Zloty, etwa eins zu vier, und die Wetter-App. Es wird sehr heiß werden. Die ganze Woche.

Nimm etwas zu essen mit, rät eine Freundin. Aber das, da bin ich sicher, ist unnötig. Dafür kenne ich den Osten gut genug.

Ich fahre los. Wohin fahre ich? Ich fahre nach Polen. Ich fahre nach Schlesien, aber was soll das sein: Schlesien? Eine Provinz, eine Landschaft, ein untergegangenes Reich, ich fahre in meines Vaters Land. Mein Vater kam aus einem Land, das es nicht mehr gibt. Ich bin Schlesierin, bin ich Schlesierin? Meine Vorfahren waren Schlesier.

Ich wuchs in Wedel auf, einer Kleinstadt am Stadtrand von Hamburg, fast zwei Jahrzehnte lang lebte ich dort, so lange wie später nie wieder an einem Ort, aber Heimat wurde Wedel nie. Heimat war Rosenthal, Heimat gab es nicht. Rosenthal blieb der ferne Fluchtpunkt meines westdeutschen Lebens. Und wenn man mich fragte, woher ich komme, und ich antwortete: aus Wedel, erschien es mir immer nur als die halbe Wahrheit.

Ich fahre nach Osten. Hinter Cottbus werden die Schilder mit den Kilometerangaben an der Autobahn einzeilig. Jetzt kommt lange nichts und dann irgendwann Wrocław. Es gibt sehr wenig Verkehr, ab und zu überhole ich einen grünen Flixbus, Berlin-Wrocław 21 Euro, sonst bin ich mehr oder weniger allein auf der Trasse zwischen den Wäldern. Kilometer um Kilometer nichts als Wald, hier beginnt der Osten, ein gigantisches Niemandsland, ein Vorschuss auf Sibirien.

In Polen sind Geschwindigkeitsbegrenzungen keine realen Zahlen. Jeder fährt, so schnell es eben geht. Das kommt mir gelegen. Ich rase Rosenthal entgegen. Rase über die Grenze, da, wo wir früher viele Stunden lang auf die Kontrolle gewartet haben, mucksmäuschenstill, nicht lachen durften, nicht reden, nicht auffallen, wortkarge Uniformierte, zackige Anweisungen, Fenster runterkurbeln, Beeilung, Entschuldigungen, wenn das Fenster klemmte, strenge Blicke ins Innere des Wagens, seltsame Stempel in meinem Kinderpass, die Nervosität meiner Mutter, die Beflissenheit, alles recht zu machen, das Gefühl, Untertan zu sein.

Jetzt fahre ich weiter ohne anzuhalten, im Gegenteil, ich drücke noch mal auf’s Gas, rase vorbei an den Grenzgebäuden, von denen die Farbe abblättert, und dass ich in Polen bin, merke ich nur daran, dass der geschmeidige deutsche Asphalt Betonplatten weicht mit breiten Ritzen dazwischen, dadack, dadack, dadack, Kopfschmerzen.

Das Vorstellungsgespräch für meine erste Redakteursstelle, ein großes Büro nicht weit vom Frankfurter Hauptbahnhof, der Herausgeber im dunkelgrünen Wollpullover. Waren Sie schon mal in den USA?

Ich war noch nie in den USA. Eine Westdeutsche, bald Ende 20, die noch nie in New York war. Ich war schon in Leningrad und Moskau, Kiew und Lemberg, in Riga, Tallinn und Tartu. Ich war im Altai und in Bischkek und auf der Krim. Ich war schon in Barnaul. Kennen Sie Barnaul? Das ist Westsibirien, in der Nähe gab es damals noch ein paar Wolgadeutsche, saubere Dörfer, Straßendörfer wie Rosenthal.

Ich war noch nie in New York, und ich habe es noch nicht einmal vermisst. Die USA konnten warten, sie blieben, wie sie sind, sie hatten kein Geheimnis. So dachte ich damals. Aber dann, vor dem großen Schreibtisch in Frankfurt, erschien es mir plötzlich als ein Makel. Wie sollte ich Redakteurin werden, Schwerpunkt Außenpolitik, wenn ich noch nie in den USA gewesen war?

Sie sind, sagte der Herausgeber, also ein östlicher Mensch.

Ein östlicher Mensch. Kein Vorfahre, weder mütterlicherseits noch väterlicherseits, wurde nennenswert westlich der Oder geboren, beide Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern, alles östliche Menschen, Danzig, Elbing, Königsberg, Heubude, Trunz und irgendwelche pommerschen Güter, das war die Linie der Mutter, und die des Vaters: Rosenthal, das, nun ja, anderthalb Kilometer westlich der Oder lag. Kein Ort unserer Familiengeschichte gehört heute noch zu Deutschland. Wohin sollte sich der Blick richten, wenn nicht nach Osten?

Nur Polen habe ich lange ausgelassen. Ich war dann irgendwann in New York. Und ich zog immer weiter nach Osten, an die Wolga und den Amur, nach Minsk und Kaluga, Irkutsk und Chabarowsk, ans Weiße Meer, ans Schwarze Meer und zum Baikalsee, in den Ural, zum Tienschan und in den Kaukasus, nach Tschetschenien, Straßendörfer auch dort. Nur nach Polen fuhr ich nicht.

Die drei Besuche in Rosenthal zählten nicht, das war nicht Polen, das war die Heimat, das Dorf hinter den sieben Bergen, ein Ort ohne Geografie.

Gegen fünf setzt sich der Treck in Bewegung, etwa fünfzig Gespanne, drei von Ochsen gezogen, vielleicht 300 Einwohner, die Älteste fast neunzig, der Jüngste ein Neugeborenes, erst wenige Tage alt. Zurück bleiben eine Handvoll Alte, die lieber zu Hause sterben als flüchten wollen. 300 Einwohner, etwa die Hälfte der Rosenthaler, die andere Hälfte, Männer und Jungen zwischen sechzehn und sechzig, sind im Krieg, auch Manfred und Gotthard, Deine beiden älteren Brüder, und Dein Vater.

Manfred, Jahrgang 1925, ist in der Kreisstadt Brieg aufs Gymnasium gegangen, hat im Sommer 1943 Notabitur gemacht, kurzzeitig als Standortführer die Hitlerjugend der Dörfer Lossen, Jeschen, Jägerndorf, Koppen, Schwanowitz, Schönau, Pramsen, Frohnau und Rosenthal betreut und sich dann freiwillig zur Marine gemeldet. Er ist im April zuletzt in Rosenthal gewesen, sein erster und einziger Urlaub. In Fuhrmanns Gasthof haben sie lange Bretter auf Fässer gelegt und den Film «Reitet für Deutschland» mit Willy Birgel gezeigt. Das ist neun Monate her.

Jetzt ist Manfred in Gotenhafen. Und als sie Freiwillige für den Kampfverband der Kleinkampfmittel suchen, tritt er auf dem Exerzierplatz vor, weil er genug hat vom Exerzieren und den Gedanken nicht ertragen kann, dass sein jüngerer Bruder schon an der Front ist. Nun wird Manfred dazu ausgebildet, in einem Ein-Mann-U-Boot Sprengsätze an feindlichen Schiffen anzubringen, ein Einsatz, den man unmöglich überleben kann, ein Himmelfahrtskommando tief unten im Meer.

Dein Vater, Jahrgang 1898, ist Mitte Januar zum Volkssturm eingezogen worden, er hat schon im Ersten Weltkrieg an der Westfront gekämpft, aber das ist etwas anderes gewesen, er war damals sehr jung, gerade siebzehn, und der Krieg erreichte Schlesien nie.

An jenem Montag, dem 22. Januar 1945, als die Rote Armee bei Rosenthal bis an die Oder vorstößt und Deine Mutter vergeblich versucht, die Pferde für die Flucht einzuspannen, sitzt Dein Vater in einer Wachstube in Breslau und schreibt Euch einen Brief. Absender: Volkssturmmann Herbert Hoffmann, Festungsbatterie 3049, Leuthenkaserne, Breslau. An: Frau Olga Hoffmann, Rosenthal, Kr. Brieg.

Liebe Muttel, lieber Adolf.

Adolf, das bist Du.

Es ist ein langer Brief, zumal für einen Bauern, ein Matrosenbrief, voller Sehnsucht nach Zuhause und nach jenem Leben, das ihm gerade abhanden kommt.

Von mir kann ich berichten, dass von Gutgehen keine Rede sein kann, denn nirgends ist es so wie zu Hause. Für einen Alten macht halt das Militärische keinen Spaß mehr.

Mit seinen fast fünfzig Jahren fühlt sich Dein Vater tatsächlich schon alt, er hat mehr als dreißig Jahre vom Morgengrauen bis tief in die Nacht gearbeitet, hat den Hof entschuldet und neues Land dazu gepachtet. Er freut sich darauf, die Landwirtschaft an Gotthard zu übergeben, den mittleren Sohn, der im August siebzehn geworden ist, den Bauern unter den drei Brüdern. Aber nun ist Gotthard seit dem Herbst beim Volkssturm und soll die Oderlinie halten.

Es ist ein Brief voller Sorge um die Söhne an der Front.

Meine Gedanken sind ständig bei Euch und bei den Jungens.

Voller Sorge um den Hof und seine Frau, ein Brief voller schlimmer Ahnungen.

Ich denke immer, Ihr werdet von zu Hause nicht fortbrauchen. Aber wenn es die Not erfordern sollte, dann müsste es eben gehen.

Gauleiter Hanke hat Breslau am Vortag zur Festung erklärt, Hunderttausende Frauen und Kinder müssen die Stadt verlassen, man jagt sie hinaus in den Schneesturm. Der Krieg hat Breslau noch nicht erreicht, aber als Herbert da um drei Uhr morgens in der Wachstube sitzt und seinen Brief schreibt, hat der Drache seine Pranke schon erhoben. Der Drache wird Herbert ergreifen, er wird sein Leben zertrümmern und ihn erst viele Jahre später wieder aus seinen Klauen entlassen, halbtot und am anderen Ende von Deutschland.

Dein Vater wird die Macht über sein Leben verlieren, er wird Befehlen gehorchen, deutschen und sowjetischen, für viele Jahre werden Krieg und Gefangenschaft sein Schicksal bestimmen. Er wird nie wieder nach Rosenthal zurückkehren und nie wieder einen Fuß auf seinen Hof setzen. Seine Mutter, sein Bruder und einer der Söhne werden den Krieg nicht überleben, und seine Frau wird er erst viele Jahre später wiedersehen, nachdem er alles verloren hat und nichts mehr ist wie zuvor.

All das weiß Dein Vater nicht, aber er spürt das nahende Unheil, spürt, dass, was ihm vor acht Tagen noch Großes bedeutete, nun ganz in den Hintergrund tritt.

Man darf nur nicht verzagen, sondern auf Gott vertrauen, dann ist auch das Schwerste zu ertragen.

Dir, unserem lieben Adolf, gelten die zärtlichsten Zeilen.

Ich habe ihn immer vor Augen, wie er Schularbeiten macht, draußen rumtollt, dass die Hosen reißen und abends in Papas Bett verschwindet. Hat er das Seemannsbuch schon ausgelesen?

Es ist ein leiser Brief, der nach Vertrautem greift und sich an Kleinem festhält, der Hoffnung auf Post, vielleicht sogar Besuch – mit der 2 oder der 12 müsse sie bis zur Endstation fahren, erklärt er seiner Frau –, Grüße an die Bekannten und Verwandten im Dorf, der Wunsch, dass alles doch nicht so schlimm werden möge, wie er ahnt.

Einmal wird sich alles wieder wenden und wir können friedlich unserer Arbeit nachgehen.

Und am Schluss diese Formel: Alles verrichtet, alles gut.

Wie eine Beschwörung klingt das, denn es ist ja nichts gut, oder eine geheime Botschaft an seine Frau, vielleicht haben sie sich das, wenn sie in Rosenthal nach sechzehn oder achtzehn Stunden Arbeit auf Hof und Feldern ins Bett sanken, noch zugeflüstert: Alles verrichtet, alles gut.

Jener Montag, der 22. Januar 1945 verändert alles. Er wird für lange Zeit unser Schicksal bestimmen, für Jahrzehnte und Generationen, er verändert Dein Leben, Euer Leben, meines und das meiner Kinder. Danach gibt es für unsere Familie für sehr lange Zeit keinen festen Boden mehr.

Auch unter meiner Kindheit wird ein dunkler sumpfiger Grund liegen, wie ein Moor, in dem man leicht versinken kann, man muss sehr gut achtgeben, auf den ausgeschilderten Wegen zu bleiben, immer vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein und nicht zu tief ins Schwarze zu schauen, es kann einen hinabziehen. Das ist die Gewissheit, dass man von heute auf morgen, von einer Stunde zu nächsten, von sechzehn auf siebzehn Uhr alles verlieren kann, Haus und Hof, Söhne, Brüder und Eltern, Heimat und sogar die Erinnerung.

Ihr reiht Euch ein, als der Treck Euren Hof passiert, den letzten, bevor die Felder beginnen. Es heißt, Ihr sollt nur kurz aus dem Beschussbereich, nur für ein paar Tage, bis sich alles wieder beruhigt hat. Das glauben nicht alle, aber die wenigsten ahnen, dass es ein Abschied für immer ist. Vielleicht habt Ihr den Matrosenanzug gar nicht vergessen, vielleicht habt Ihr ihn einfach nicht mitgenommen, weil Ihr glaubt, dass Ihr bald zurück sein werdet. Oder ahnt Ihr doch etwas? Seit wann? Seit dem Vortag, als die ersten Wehrmachtssoldaten ins Dorf gekommen sind? Eine Woche zuvor? Einen Monat? Habt Ihr Angst? Und wann habt Ihr begonnen, Euch zu fürchten? Kann man sich vor dem Unvorstellbaren fürchten?

Und wir, haben wir Angst?

Wenn uns die Luft unter Großmutters Küchentisch zu schwer wurde, kamen wir hervor und stellten uns oben zwischen die Erwachsenen an die Tischkante. Und während wir an der bläulichweißen Resopalverschalung herumpuhlten, die sich vom Sperrholz des Küchentisches zu lösen begann, versuchten wir, den Gesprächen über die Heimat etwas Interessantes, etwas Greifbares abzugewinnen. Wie viele Schweine und Kühe es auf dem Hof gegeben hatte oder ob man im Winter auf dem Dorfteich Schlittschuh laufen konnte. Aber was uns interessierte, war nicht das, woran sich die Erwachsenen seufzend erinnerten. Großmutter schwieg ohnehin. Nur Dein Bruder Manfred geriet manchmal ins Erzählen. Der Dorfteich war wirklich jeden Winter zugefroren gewesen, sagte er, aber Schlittschuhe hatten sie nicht gehabt. Er erzählte vom Haus, dem Haupthaus und dem Auszugshaus, das Dein Vater selber gebaut hatte, dort lebte der lahme Onkel Walter, erzählte von der guten Stube, die nur an Feiertagen benutzt wurde, und davon, wie hart Eure Eltern gearbeitet hatten.

Aber wenn wir wissen wollten, wie die Pferde hießen und der Hofhund, begannen die Erwachsenen wieder über die anderen Rosenthaler zu sprechen, Menschen, die wir nie gesehen hatten, wer mit wem wohin geflüchtet war, wo man wen zurückgelassen und aus den Augen verloren hatte, wer auf der Flucht umgekommen und wer in Rosenthal zurückgeblieben war.

Gleich hinter der Grenze suche ich im Autoradio einen polnischen Sender, ich will sehen, wie viel die letzten Monate mit Urszula, meiner Polnischlehrerin, gebracht haben. Das Ergebnis ist ernüchternd. Ich zappe durch die Sender auf der Suche nach einem Wortprogramm, das ich verstehe. Immer, wenn Musik kommt, drehe ich weiter, keine polnischen Schnulzen, nicht The Final Countdown. Ich verstehe nie wirklich, worum es geht, aber ich kann die Wettervorhersage von den Verkehrsnachrichten unterscheiden oder einer Predigt auf Radio Maryja. Ich verstehe: Stau auf der A4 Richtung Wrocław, aber bin ich nicht auf der A4 Richtung Wrocław? Auch Werbung erkennt man am Tonfall, aber Werbung wofür? Die Kopfschmerzen werden stärker, obwohl die Betonplatten zu Ende sind, auf der Gegenfahrbahn ist jetzt Stau, es ist heiß und schwül, alle paar Kilometer zeigen große Tafeln die Außentemperatur an, 32 Grad, und die Temperatur des Asphalts, 52 Grad. Wer will wissen, wie heiß der Asphalt ist?

Kurz vor Wrocław der Triumph: Ich fahre in den Stau, ich bin überglücklich, ich kann Polnisch. Und als es endlich weitergeht, biege ich vor lauter Begeisterung am Autobahnkreuz falsch ab und komme auch noch in den Stau auf der Gegenfahrbahn.

Aus der Ferne ist Rosenthal Heimat, ein Dorf wie aus einem Kinderbuch, es schmiegt sich in das Land unter dem hohen Himmel, der weiße Kirchturm leuchtet im Grün, fest und viereckig wacht er über die Häuser und Scheunen mit ihren roten und braunen Ziegeldächern, seine blecherne Spitze glänzt in der Sonne wie eine Hellebarde, bereit, sich auf jedes Unheil zu stürzen, das sich ihnen nähern wollte. Alles stimmt. Eichen wurzeln tief, das Land ist freundlich, weit und sanft hügelig, ein Land, wie man sich Eltern wünscht, behütend und großzügig.

Rosenthal: Der Dorfname ist ein Rätsel, ein Tal gibt es hier nicht, flach ziehen sich die Äcker hinunter zu Oder und Neiße. Wenn überhaupt, liegt Rosenthal auf einer leichten Anhöhe. Das Rätsel hat die Rosenthaler im Laufe der Jahrhunderte beschäftigt, sie haben eine Reihe von Theorien entwickelt, der Name, heißt es, leite sich von Rodeland ab, weil die Gegend noch dicht bewaldet war, als das Dorf 1238 von Johannitern aus Lossen gegründet wurde, um das Land zu kolonisieren. Andere behaupten, Postkutscher hätten früher im Dorf die Pferde gewechselt, weshalb der Ort Ruhstall, schlesisch: Rustl, genannt worden sei. Unstrittig ist, dass es im Volksmund Kucherustl hieß, weil es Sitte war, bei großen Festen wie Hochzeiten im ganzen Dorf großzügig Kuchen zu verteilen. Angeblich wurde hier der beste Mohnstreusel Niederschlesiens gebacken, aber vielleicht ist Rosenthal auch nicht das einzige Dorf, das das für sich in Anspruch nimmt.

Seit dem Ende des Kommunismus haben die Bewohner viel getan, damit das Dorf seinen Namen verdient. Sie haben Rosen gepflanzt, überall in den Gärten blühen sie mannshoch, weiß, rot, gelb, apricot. Gartenzäune sind verziert mit schmiedeeisernen Rosenblüten, und dem steinernen Engel am Dorfeingang legten sie Plastikrosen in den Arm.

Gegen fünf Uhr nachmittags komme ich in das Dorf, stelle das Auto an der Lehmgrube ab und gehe hinüber zum Hof. Jana sitzt mit den Söhnen unter dem Holzdach, dort, wo früher das gemauerte Mistloch war.

Nachdem Großvater das Auszugshaus gebaut hatte, hatte er den Misthaufen von der Mitte des Hofes hinter die Scheune verlegen wollen, aber er war nicht mehr dazu gekommen. So blieb der Mist weitere Jahrzehnte, wo er war. Erst nach dem Ende des Kommunismus verschwand er irgendwann, und als wir nach der Jahrtausendwende wiederkamen, stand an seiner Stelle ein weißer Baldachin aus Zeltstoff, wie es sie damals überall gab, als ganz Mitteleuropa ein Zeltlager von weißen Baldachinen war. Darunter saßen Jan und Jadwiga, tranken Kaffee und warteten auf uns. Jetzt steht dort ein Holzdach auf festen Pfählen mit einem gemauerten Grill und einer Schaukel am Querbalken.

Was wollen Sie hier? fragt Jana von der anderen Seite des Zauns.

Der Hund bellt und springt, der Junge auf ihrem Arm verbirgt sein Gesicht an ihrem Hals. Sie schaut mir gerade in die Augen, prüfend, eher neugierig als misstrauisch.

Mein Vater wurde hier geboren, sage ich.

Sie bringt den Hund mit einem Zuruf zum Schweigen, ohne den Blick von mir abzuwenden.

Sie waren schon einmal hier.

Sie hat recht. Sogar mehr als einmal. Zum ersten Mal bin ich 1978 in Rosenthal gewesen, ich kenne das Dorf unter dem Kommunismus, als Fuhrmanns Gasthof ein Kulturhaus wurde und es im Laden nur Zwiebeln und Kartoffeln gab, und unter dem Kapitalismus, in der Zeit der weißen Baldachine, als der Kindergarten geschlossen wurde, die Männer in Irland in den Schlachthöfen arbeiteten und die Frauen in Deutschland die Alten pflegten. Ich bin immer wieder nach Rosenthal zurückgekehrt, zuletzt vor drei Jahren mit meinen Kindern und nun zum ersten Mal allein.

Und was wollen Sie hier? fragt Jana noch einmal.

Bleiben. Für ein paar Tage. Könnte ich hier irgendwo übernachten?

Bist du allein?

Allein.

In Brzeg gibt es ein Hotel.

Und hier im Dorf?

Lass mich überlegen.

Sie hat recht: Was will ich hier?

Ich gehe die Dorfstraße hinunter, in Richtung Kirche, wo an der Kirchmauer noch ein paar steinerne Kreuze mit deutschen Inschriften in der Erde stecken, schief. Vorbei am Dorfladen, vor dem sich die Trinker versammeln. Es riecht nach Sommerhitze, nach Staub und trockenem Gras und dem Stroh der Felder, das gerade eingebracht wird, Trecker brettern die Dorfstraße entlang, sie ziehen riesige offene Hänger mit Strohrollen. Es riecht nach Mist, obwohl es nur noch wenige Bauern im Dorf gibt und gar kein Vieh, nur ein paar Hühner und Pferde.

In den Gärten und an den Giebeln der Häuser wehen rot-weiße polnische Fahnen, im Blumenkübel an der Bushaltestelle blühen Geranien weiß und rot. Über den Gedenkstein für die Gefallenen von Vierzehnachtzehn neigt sich der Gekreuzigte, und die Kirche ist frisch renoviert, geweißt und gemalt und neu gedeckt, so wie alle Kirchen in allen Dörfern hier. Die Dörfer können noch so heruntergekommen sein, die Kirchen sind tipptopp, und in jedem zweiten Ort ehrt ein Denkmal den polnischen Papst.

Ich gehe die Dorfstraße hinunter, gut einen Kilometer bis zum letzten Haus. Von oben gesehen, auf google maps, sieht das Dorf aus wie eine Kellerassel, die Grundstücke wie die Schuppen des Insektenpanzers lang und schmal, in der Mitte die Dorfstraße. Vorne, zur Straße die Häuser, dahinter ein Acker, begrenzt vom Feldweg, der «Hinterm Zaun» genannt wurde, jenseits des Weges beginnen die Felder.

87 Hausnummern hat Różyna, Rosenthal hatte 84. Auch sonst hat sich seit damals kaum etwas geändert, Różyna sieht noch aus wie Rosenthal, so wie Ihr es an jenem Nachmittag im Januar 1945 verlassen habt. Geräumige Bauernhäuser, meist zwei auf einem Grundstück: das Auszugshaus und das Haupthaus, an das sich der Stall anschloss, man lebte mit den Tieren unter einem Dach. Aufrechte, selbstbewusste Häuser, stolz noch im Verfall, gemauert und verputzt, die Stirnseiten zur Straße. Kein Reichtum, aber bescheidener Wohlstand. Dahinter, noch größer, die Scheunen, mit ihren zwei Toren, eines nach vorne zum Hof und eines nach hinten hinaus zu den Feldern.

So sah Rosenthal damals aus, so ist es bis heute. In den Jahrzehnten des Kommunismus blieb das Dorf wie es war, die Kirche wurde katholisch, die Höfe wurden geteilt, auch in die Nummer 84, in Euren Hof, zogen zwei Familien ein, die Furmans in das Haupthaus und die Piwińskis in das Auszugshaus, die gepflasterte Dorfstraße wurde irgendwann geteert, aber jetzt ist der Asphalt auch schon wieder brüchig. Hier tat sich weniger als in jedem Dorf westlich von Oder und Neiße.

Alles ist noch da, die alten Scheunen, in denen kein Heu mehr lagert, die Ställe, in denen keine Kühe mehr gemolken und keine Schweine mehr gemästet werden, und die Häuser, die leer stehen, nachdem die Jungen fortgezogen und die Alten gestorben sind. Kaum etwas kam hinzu: kein Supermarkt, kein Schulgebäude mit Turnhalle und keine Garage für die freiwillige Feuerwehr.

Das war das Wunder von Rosenthal: Wir konnten dorthin zurückkehren. Wir konnten zurückreisen in die Vergangenheit und sie war noch da. Während andernorts in Europa die Moderne in den Dörfern Einzug hielt, die Scheunen Boxenlaufställen und Biogasanlagen wichen, Stadtbewohner alte Bauernhäuser renovierten und neue Villen bauten, schlief Rosenthal seinen Dornröschenschlaf und wartete, im Vorkriegszustand konserviert, auf unseren Besuch.

Sie sind nicht aus Różyna?

Ein alter Mann schaut über den Zaun auf die Straße. Shorts, T-Shirt, kurze weiße Haare, Kippe im Mundwinkel. Freundliche flinke Augen.

Aus Deutschland, soso. Aus Berlin, soso. Heiße Kazik.

Er kommt raus auf die Straße. Er kennt Berlin, seine Tochter, sagt er, pflegt dort einen alten Mann, irgendwo an einem See, alt wie er, der hier allein lebt und mehr trinkt, als ihm guttut. Sein Enkel, in Berlin geboren, studierte in Kiew Medizin, versorgte dann in Charkow Verwundete.

Du weißt schon, die Ostukraine, der Krieg. Jetzt ist er tot. Ermordet.

Von wem?

Ukrainer eben.

Warum?

Ermordet eben. Du weißt schon, der Krieg.

In wie vielen Kriegen war Rosenthal schon verheert und geplündert worden, hatte die Kirchturmhellebarde nichts ausrichten können, in den Hussitenkriegen, im Dreißigjährigen Krieg, im Schlesischen Krieg, in den Napoleonischen Kriegen? Wie oft waren Soldaten die Dorfstraße entlanggezogen, hatten die Rosenthaler die Hoftore verrammelt und die Hunde von den Ketten gelassen, wie oft hatten sie das gehört: die Tritte der Stiefel, das Gewieher der Pferde, die Schreie der Frauen und das Knacken, wenn sie den Hühnern die Hälse umdrehten, leise, viel leiser, als das angstvolle Gackern davor.

Aber vielleicht war Rosenthal auch verschont geblieben, mir schien das sogar wahrscheinlicher, das Dorf lag abseits der großen Straßen, über Rosenthal führte nur eine Nebenstrecke nach Frohnau, im Süden die Glatzer Neiße, im Osten die Oder und jenseits des Flusses waren es kaum noch 60 Kilometer bis zum Ende des Deutschen Reiches, Rosenthal lag am Rand, abgelegen, und es schien mir kein Zufall zu sein, dass eines Deiner Lieblingsgedichte den Titel Abseits trug, von Theodor Storm. Es ist so still.

Als ich von meinem Spaziergang zurückkomme, hat Jana sich entschieden. Ihre Großmutter ist vor ein paar Monaten gestorben. Ein Zimmer ist frei.

Jana hat das Bett schon bezogen, sie nimmt mich auf, einfach so, weil es ihr richtig erscheint, als sei es selbstverständlich, eine Fremde hereinzulassen, nur weil sie angeklopft hat. Sie lässt mich ein in das Haus, das Dein Vater gebaut hat, mein Großvater, abends sitze ich an ihrem Küchentisch, ihren Sohn auf dem Schoß, und tue so, als verstünde ich Polnisch. Sie nimmt mich auf, so wie andere Euch damals aufgenommen haben auf Eurer Flucht. Sie begegnet mir ohne Arg, obwohl sie nicht weiß, was ich hier will, freundlich und wohlwollend, sie gibt mir zu essen, sie will, dass ich mich wohlfühle, sie bemüht sich, meine Fragen zu beantworten, sie leiht mir ihr Fahrrad, damit ich nach Kopanie und Wronów fahren kann, sie lacht und schüttelt den Kopf, wenn ich zu Fuß zur Bahnstation nach Łosiów gehe, weil Ihr damals nach Lossen zu Fuß gegangen seid. Und in der Hitze der Nachmittage sitzen wir im Hof unter dem Holzdach und sprechen über unsere Großväter, die den Drachen gesehen haben, zwei Nachfahrinnen, verbunden durch das verfluchte Zwanzigste Jahrhundert, Jana Wołoszyn, Enkelin von Jan Piwiński, einem Bauern aus der Nähe von Lemberg in der Westukraine, und ich, Enkelin von Herbert Hoffmann, einem schlesischen Bauern. Und mit der Zeit beginnt sie zu verstehen, warum ich hier bin. Und ich auch.

Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Häuser sind fest, sie bleiben, Menschen kommen und gehen, werden vertrieben. Menschen kann man umsiedeln. Aber das war nicht immer so. Früher war es anders in Schlesien, früher blieben die Menschen, unsere Familie seit 1238, seit sie das Land urbar machten, die Wälder rodeten, Siedler aus Franken und dem Rheinland.