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Wilfried Schober wurde nahe der Domstadt Naumburg an der Saale geboren, wo er seine Kindheit, Jugendzeit und einen Teil seines Berufslebens verbrachte. Der heutige Diplomingenieur lässt achtzehn Monate seines Lebens Revue passieren. Jene Monate, Anfang der Siebziger Jahre, die er als Soldat auf Seiten der Grenztruppen der NVA der DDR diente. Denn nach 40 Jahren übergab ihm seine Mutter alle von ihm als Grenzsoldat geschriebenen Briefe als Erinnerung mit den Worten zurück: »Ich habe alles unzählige Male gelesen, vielleicht sollten die Menschen heute von dieser aufregenden Zeit deiner Generation erfahren.« So erinnerte sich Wilfried Schober beim Lesen seiner Briefe mehr und mehr. An die Vereidigung, an die Grundausbildung, an den Dienst in unmittelbarer Nähe des Klassenfeindes und nicht zuletzt auch an die EK-Bewegung.
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Seitenzahl: 314
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Wilfried Schober
ALS GRENZSOLDAT IN DER MITTE DEUTSCHLANDS
Briefe, Aufzeichnungen, Gedanken und Erinnerungen eines ehemaligen Soldaten der DDR-Grenztruppen aus den Jahren 1969/1970
Zweite überarbeitete und erweiterte Auflage
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Zur Erinnerung an meine Eltern
Melitta und Berthold Schober
aus Burkersroda
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Zweite überarbeitete und erweiterte Auflage
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Widmung
Impressum
Vorbetrachtung
Ein paar Worte zu meiner Kindheit und Jugendzeit
Lehrjahre und Vorbereitung auf die Dienstzeit bei der NVA
Einberufung und die ersten Tage in der Kaserne
Der erste Brief an meine Eltern und Vorbereitung auf die Vereidigung
Vereidigung auf dem Domplatz in Erfurt und erster Ausgang in Mühlhausen
Ausbildung im Gelände, beim Schießen, unter Tränengas und Napalm
Skatturnier und Objektwache
Tagesablauf, Küchendienst und erster Heimaturlaub
Besuch im Freibad und bei den Eltern eines Kameraden
Fahrt nach Buchenwald und Erfurt, Friseurbesuch und Liebesbrief
Härtetest, Sturmbahn, Nahkampf- und Grenzerausbildung
Die letzten Tage der Ausbildung in der Rosenhof-Kaserne
Versetzung in eine Grenzkompanie im Eichsfeld
Erste Streifengänge an der innerdeutschen Grenze
Vorkommnisse mit Soldaten der Sowjetarmee, Weihnachten und Silvester
Ein strenger Winter
Ein Schäferhund als Lebensretter
Fahrt zur Ingenieurschule nach Unterwellenborn und der verschenkte Urlaub
Neue Verantwortung als Postenführer
Eine Dame mit Hund, ein Panzer und neue Uniformen
Grenzdurchbruch, Festnahme und ein nicht gehaltenes Versprechen
Noch ein Paar Tage und Begegnung mit einem Mönch
Die letzten Stunden als Grenzer
Schlussgedanken
Abkürzungen
Quellenverzeichnis
Glossar
Vor einigen Jahren, 40 Jahre nach meiner Dienstzeit bei den Grenztruppen der NVA und 20 Jahre nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, übergab mir meine Mutti alle von mir als Grenzsoldat an meine Eltern geschriebenen Briefe und Karten.
Schon sichtlich von Krankheit gezeichnet, sagte sie mir: „Diese Briefe habe ich unzählige Male gelesen und da ich nun wegen meiner unheilbaren Augenkrankheit kaum noch etwas sehe, gebe ich sie dir als Erinnerung zurück.“
Möglicherweise sollten davon auch andere Menschen erfahren, wie es damals war, vor allem junge Leute, die die DDR und die NVA nicht mehr kennengelernt haben.
Nachdem ich die mehr als 70 Briefe gelesen hatte, liefen diese 18 Monate an mir vorbei wie ein längst vergangener Film, aber auch so, als ob es erst gestern gewesen wäre.
Ich habe lange darüber nachgedacht, Bücherläden nach Dokumenten durchsucht, die über dieses Kapitel deutscher Geschichte Auskunft geben und eine ganze Anzahl von Grenzmuseen besucht.
Das waren das „Deutsch-Deutsche Museum“ in Mödlareuth, das „Grenzlandmuseum Eichsfeld“, das thüringisch- hessische Grenzmuseum „Schifflersgrund“ und die Gedenkstätte „Point Alpha“ in Geisa. Dabei habe ich feststellen müssen, dass nach meiner Zeit als Grenzsoldat der NVA enorme Anstrengungen unternommen wurden, um die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland undurchdringbar zu machen.
Zu meiner Dienstzeit gab es keinen Streckmetallzaun, keine Selbstschussanlagen oder andere unüberwindbare Sperren. Es markierten 2 Stück fast schon durchgerostete Stacheldrahtzäune von ca. 2,5 Meter Höhe und ein 6 Meter Kontrollstreifen den Grenzverlauf und das war eigentlich schon alles. An einigen Grenzabschnitten wurden jedoch zusätzlich Minen verlegt.
Auch Gespräche mit jungen Leuten über diese Zeit brachten fast nichts, da ich feststellen musste, dass so gut wie keine Kenntnisse darüber vorhanden sind.
Anschließend habe ich wieder alles ruhen lassen und bin dann doch im Juli 2010 nochmals zu meinem ehemaligen Grenzabschnitt gefahren, da im Jahre zuvor ein anderer Kamerad, über die Adresse meiner Eltern, mit mir Kontakt aufgenommen hatte.
Er diente zur gleichen Zeit und in der gleichen Grenzkompanie wie ich.
Nach unserem ersten Treffen, dem Austausch von Fotos und Dokumenten aus dieser Zeit fasste ich den Entschluss, meine Erlebnisse zunächst einmal schriftlich festzuhalten.
An Hand der von mir damals gemachten Fotos und der Briefe an meine Eltern war es mir fast mühelos möglich, diese 18 Monate meiner Dienstzeit nochmals zu erleben und niederzuschreiben.
Zunächst dachte ich nicht daran, daraus möglicherweise ein Buch entstehen zu lassen.
Ein langjähriger Freund von mir ermutigte mich jedoch mehrfach zu diesem Schritt mit dem Hinweis, dass diese Dokumente doch einen unschätzbaren Wert darstellen würden.
Leider besäße er keinerlei Aufzeichnungen mehr über seine Dienstzeit bei den Grenztruppen der NVA. Er musste damals vor ebenfalls über 40 Jahren Autos an einem Grenzübergang zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR kontrollieren. An so manch heikles Ereignis und Situationen konnte aber auch er sich nach über 40 Jahren noch gut erinnern und wird es auch niemals vergessen, so wie er mir sagte. Meine Briefe und Aufzeichnungen würde die Situation an der innerdeutschen Grenze aus einem völlig anderen Gesichtspunkt darstellen als bisher. Nicht wie üblich aus der Sicht der Politiker oder hochrangiger Offiziere, sondern so, wie es damals vor über 40 Jahren ein junger Mensch sah, der ohne das er gefragt wurde plötzlich unmittelbar an der Trennlinie zweier völlig unterschiedlicher Gesellschaftssysteme und der zwei größten Militärblöcke der Erde stand.
Wir standen in den meisten Fällen nicht freiwillig dort, sonder nach der Ausbildung ging es dort hin, so wie der Befehl es vorsah.
Diese jungen Männer so wie auch ich es war, mussten manchmal innerhalb weniger Augenblicke Entscheidungen treffen, die über Leben oder Tod entschieden oder im schlimmsten Falle militärische Konflikte von unvorstellbarem Ausmaß auslösen konnten. Hier half ihnen kein Politiker oder hochrangiger Offizier denn die waren weit weg von dem täglichen Geschehen unmittelbar an der Trennlinie von „Nato“ und „Warschauer Pakt“.
Meine Schilderungen beruhen fast ausschließlich auf der Grundlage der von mir geschriebenen Briefe und der beim Lesen der Briefe wach gewordenen Erinnerungen, welche ich damals aus mancherlei Gründen nicht geschrieben habe. Ein Grund dafür war, dass man anfänglich nicht wusste, ob die Briefe kontrolliert wurden. Ein weiterer Grund bestand darin, die Eltern nicht unnötig zu beunruhigen.
Ich habe auch bewusst auf die Nennung der Namen meiner ehemaligen Kameraden verzichtet, obwohl ich viele noch weiß.
Technische Details stehen ebenfalls nicht im Vordergrund, denn dazu gibt es genügend Literatur.
Dieses Buch über meine Erinnerungen als junger Grenzsoldat möchte ich ganz besonders meinen Eltern, vor allem meiner lieben Mutti, widmen, die sicher in dieser Zeit so manche Angst ausgestanden hat.
Kurz nach Beendigung des 2. Weltkrieges, am 26. September des Jahres 1946, wurde der Vater meiner Mutti, einfacher Dorfschmiedemeister, keiner Partei oder Organisation angehörend, wegen angeblichen Waffenbesitz von den russischen Besatzern verhaftet.
Meine Mutti sah ihren Vater niemals wieder. Man sagte ihr erst im Jahre 1954, dass er irgendwann 1950 gestorben sei.
Erst meine Nachforschungen im Jahre 2008 ergaben, dass mein Opa keine 2 Jahre im KZ Sachsenhausen (damals sowjetisches Speziallager) gelebt hat und am 24.02.1948 an Typhus verstorben ist.
Für diese Informationen möchte ich mich ganz herzlich beim Team der „Stiftung Sächsische Gedenkstätten“ bedanken. Ohne ihr Wirken hätte ich niemals die wahren Umstände der Verhaftung und des Todes meines Opas erfahren.
Mein weiterer Dank gilt den Mitarbeitern der „ Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten“
die mir Kenntnisse über die Inhaftierung im „Sowjetischen Speziallager“ und das Leiden, welches nicht nur mein Opa erfahren musste, vermittelten. Heute bin ich der festen Überzeugung, dass diese Waffen meinem Opa absichtlich untergeschoben wurden, wie man so schön sagt, denn innerhalb von wenigen Sekunden wurden sie an einem Ort gefunden, der jedermann zugänglich war.
Durch fleißige Arbeit gelang es meinem Opa kurz nach dem 2. Weltkrieg für sich und seine Familie bereits im Jahre 1946 ein erträgliches Leben zu ermöglichen und das passte den neuen deutschen Machthabern im Dorf möglicherweise nicht ins Konzept.
Denn woher sollte er, als einfacher Schmiedemeister, eine derartige Vielzahl von Waffen bekommen haben.
Es handelte sich dabei um mehrere Karabiner, zwei Stück Jagdgewehre, ein Kleinkaliebergewehr zwei Revolver und hunderte Schuss Munition.
Nach der Verhaftung meines Opas wurden von den neuen Machthabern und den russischen Besatzern alle Möbel und Wertgegenstände beschlagnahmt und das Haus meiner Großeltern fast vollständig ausgeräumt und mit Flüchtlingen vollgestopft. Was müssen meine Oma und meine Mutti damals alles durchgemacht haben!
Nun sollte auch noch die Dorfschmiede enteignet werden, doch da griff mein späterer Vater ein.
Im Frühjahr des Jahres 1946 hatten sich mein Vater und meine Mutti auf einer Tanzveranstaltung kennengelernt und sich ineinander verliebt.
Mein Vater aus einer Bauernwirtschaft im Sudetenland, nahe dem Altvatergebirge, stammend, wurde im Frühjahr des Jahres 1943 im Alter von 17 Jahren zum Reichsarbeitsdienst und später zur Wehrmacht eingezogen.
Im Spätherbst des Jahres 1944, während der Ardennenoffensive der deutschen Wehrmacht, wurde er am Heiligen Abend schwer verwundet.
Im Juni 1945 kam er aus dem Lazarett in Thale/Harz und wurde in die russische Besatzungszone, nahe der Kreisstadt Naumburg/Saale, im heutigen südlichen Sachsen-Anhalt, entlassen. Er hatte großes Glück und entkam der sowjetischen Gefangenschaft.
In einem späteren Kapitel des Buches werde ich noch ausführlicher darüber berichten.
Bei einem ansässigen Bauern untergekommen, verdiente er sich sein Brot, denn wo seine Eltern und Geschwister bereits waren, wusste er nicht. Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und dem Sudetenland war schon in vollem Gange.
Nach Hause konnte er nicht mehr.
Anfang September hatte er den Vater meiner Mutti, den damaligen Dorfschmiedemeister Hugo Meier, mit Handschlag versprochen, den Beruf eines Schmiedes zu erlernen und damit die Schmiedetradition im Ort und in der Familie fortzusetzen.
Zwei Wochen später wurde mein Opa wegen angeblichen illegalen Waffenbesitzes verhaftet und die Enteignung begann.
Als man nun auch noch an die Schmiede wollte, denn alles andere war bereits beschlagnahmt, mein Vater aber versprochen hatte die Tradition fortzusetzen, nahm er allen Mut zusammen und sprach in der russischen Kommandantur in der Kreisstadt Naumburg/Saale vor.
Die Besprechungen beim Bürgermeister und anderen deutschen Verwaltungseinrichtungen hatten bisher nichts gebracht. Man lachte ihn einfach nur aus und sagte, er solle doch verschwinden.
Vor diesem Schritt hatte mein Vater eine panische Angst, denn der Krieg war kaum ein Jahr zu Ende und die meisten Russen waren auf die Deutschen nicht gut zu sprechen.
Zumal er einige Wochen zuvor bereits eine Begegnung mit einen russischen Offizier hatte, die beinahe tödlich geendet hätte.
Das geschah folgendermaßen:
Er hatte gerade zwei Wochen vorher seine Lehre als Schmied in einer kleinen Stadt mit Namen Eckartsberga begonnen, etwa 10 Kilometer vom Wohnort entfernt.
Täglich musste die Strecke zweimal zurückgelegt werden. Dazu hatte sich mein Vater ein altes Fahrrad, mit dutzenden Flicken auf den Reifen, wieder flott gemacht, um diese Strecke nicht noch laufen zu müssen. Das Fahrrad war sein ganzer Stolz.
Als er nun Eckartsberga am Abend verlassen hatte, es ging bergauf und es war schon fast dunkel, denn es war ja bereits September, geschah es.
Plötzlich und unerwartet sprang jemand vor ihm aus dem Straßengraben und forderte mir einem „ Stoi, ruki werch“ dazu auf, sofort stehen zu bleiben und die Hände hoch zu nehmen. Durch dieses Wort wusste mein Vater nun genau, dass es sich um einen Russen handelte.
Er folgte der Aufforderung, denn weiterfahren hätte das Leben kosten können. Damals zögerte man nicht lange, um zu schießen.
Als er nun so da stand, forderte der Russe ihn in schlechtem Deutsch auf, ihm das Fahrrad zu überlassen. Mein Vater versuchte ihm zu erklären, dass er das Rad braucht, um täglich zur Arbeit fahren zu können.
Als das den Offizier nicht im Geringsten interessierte und er weiterhin auf seiner Forderung beharrte und nun auch noch versuchte, sein Pistolentasche zu öffnen, schlug mein Vater blitzschnell mit der Handkante zu, so wie er es keine drei Jahre zuvor bei der Nahkampfausbildung in der deutschen Wehrmacht gelernt hatte.
Der Offizier fiel um wie ein Stein. Mein Vater wusste jedoch von seiner Ausbildung, dass die Bewusstlosigkeit nur eine kurze Zeit dauern würde. Er hätte auch die Halsschlagader treffen können, aber dann bestände die Gefahr des Todes, und das wollte er auf jeden Fall nicht riskieren.
Blitzschnell nahm er sein Fahrrad und trat in die Pedalen, so schnell es ging.
Er hatte recht mit seiner Vermutung. Nach wenigen Sekunden wurde der Offizier wieder wach, fluchte und schoss mit seiner Pistole in die Richtung, wo mein Vater zu verschwinden versuchte. Die Schüsse verfehlten alle ihr Ziel. Entweder war der Russe vom Schlag noch so benebelt oder in der Dunkelheit konnte er nichts erkennen.
Wochenlang hatte mein Vater nun jeden Tag Angst, wenn er nach Eckartsberga fuhr. Wäre er den Offizier erneut begegnet und der hätte ihn erkannt, dann gäbe es mich mit Sicherheit nicht.
Nun stand er erneut vor einem ranghohen Offizier der sowjetischen Armee bei dem Versuch, die Schmiede zu erhalten.
Eine Flucht wie damals wäre beim Scheitern seines Anliegens diesmal nicht möglich gewesen.
Der Offizier hörte sich das Anliegen in Ruhe an, verstand wahrscheinlich jedes Wort, denn einen Dolmetscher benötigte er nicht. Als mein Vater mit seinen Vortrag fertig war, lächelte der Offizier ihn an und brüllte plötzlich einige Sätze in russischer Sprache, welche mein Vater nicht verstand, nun ist alles vorbei, gleich geht die Tür auf, und es stürzen Soldaten mit Maschinenpistolen ins Zimmer und du siehst das Tageslicht niemals wieder und auch deine Familie und Schmiede nicht mehr, durchfuhr es in am ganzen Körper.
Mit der ersten Vermutung hatte er Recht.
Die Tür flog auf, ein weiterer Offizier trat herein und sagte ebenfalls etwas auf Russisch.
Als sich beide Offiziere einige Zeit unterhalten hatten, verließ der Hereingekommene wieder den Raum.
Nun herrschte eine Totenstille.
Nach einigen Minuten, die wie eine Ewigkeit erschienen, trat der Offizier erneut ins Zimmer.
Zuerst dachte mein Vater, dass es sich um das Schriftstück für seine Verhaftung handelt, welches der Offizier in den Händen hielt und seinen am Tisch sitzenden Vorgesetzten übergab.
Aber weit gefehlt. Der Sitzende unterschrieb das Dokument und reichte es meinem Vater, natürlich erst, als es einen großen Stempelaufdruck erhalten hatte.
Auf Deutsch erhielt er noch die Aufforderung, dieses Schreiben unverzüglich seinem Bürgermeister zu übergeben. Das gleiche Schreiben wäre bereits zur deutschen Kreisverwaltung in Naumburg/Saale unterwegs.
Er wünschte noch alles Gute und viel Erfolg als zukünftiger Schmied von Burkersroda und verabschiedete sich mit einem kräftigen Handschlag.
Zuerst konnte es mein späterer Vater nicht begreifen was eigentlich geschehen war und fand keine Worte, sich bei dem Offizier zu bedanken. Er glaubte immer noch, dass draußen Soldaten stehen würden, um ihn zu verhaften.
Nachdem er die Kommandantur verlassen hatte, begriff er erst sein Glück und fuhr auf dem schnellsten Wege mit dem Fahrrad glücklich und stolz nach Hause.
Die Schmiede war gerettet, auch wenn weiteren Beschlagnahmungen fortgesetzt wurden.
Seit diesem Tag hatte mein Vater sehr großen Respekt vor diesem Offizier. In seinem späteren Berufsleben als Werkstattleiter einer LPG folgten weitere angenehme Begegnungen mit sowjetischen Soldaten und Offizieren.
Den ranghohen Offizier von damals sah er leider niemals wieder.
Gern hätte er sich noch bei ihm bedankt.
Viele Jahre später, die Wunden der Nachkriegszeit waren verheilt denn das Leben musste ja weitergehen, wird vieles plötzlich wieder wach.
Nun im Jahre 1969 wird der einziger Sohn ausgerechnet an die Grenze zwischen den beiden mächtigsten Militärblöcken der Erde versetzt, und das mitten im „Kalten Krieg.“
Meine Mutter hatte eine Riesenangst um mich, wie sie mir einmal viele Jahre später anvertraute.
Sie wollte nicht noch einmal so eine Situation erleben wie im Jahre 1946, die unsere Familie noch viele Jahre danach spüren sollte, als ihr Vater verhaftet wurde und sie ihn niemals wiedersah.
Meine Mutti war eine Frau mit unermüdlicher Kraft und Energie und immer für meine Schwester und mich da. Viele Jahre später, wiederholte sich ihre Fürsorge für meine Kinder und ihre Enkel, obwohl sie manchmal die Arbeit fast erdrückte.
Eigentlich war sie ständig mit Arbeit beschäftigt, hatte aber immer für mich und meine Schwester Zeit, war immer für uns da, wenn wir sie brauchten.
Dafür möchte ich meiner Mutter nochmals von ganzen Herzen danken.
Aber was für eine Zeit war das damals Ende der 60er Jahre, wie sah meine Generation als Jugend diese Zeit!
Der Vietnamkrieg ist auf seinen Höhepunkt angelangt, im Sommer 1968 erfolgt der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei und beendet damit gewaltsam den „Prager Frühling“.
Die Welt steht erneut kurz vor einem Weltkrieg.
In der Bundesrepublik Deutschland kommt es zu den bislang größten Studentenunruhen, der sogenannten „ 68er Bewegung“
Rockgruppen schossen wie Pilze aus der Erde, manche verschwanden genau so schnell wie sie gekommen waren und andere wurden bis heute zur Legende wie:
The Beatles
The Bee Gees
The Rolling Stones oder die deutsche Band „Scorpions“, welche ihre Konzerte noch in der ganzen Welt geben und deren Fan ich noch bis zum heutigen Tage bin.
Im Jahre 1969 fand in Woodstock in den USA das größte Rockfestival aller Zeiten statt.
Der Wettlauf im All erreicht einen neuen Höhepunk.
Während die Sowjetunion einige Jahre zuvor mit den Kosmonauten Jury Gagarin den ersten Menschen in den Weltraum schoss, landet am 20.07.1969 der US-Amerikaner Neil Amstrong als erster Mensch auf dem Mond.
Im Oktober eröffnete Walter Ulbricht ein zweites Fernsehprogramm der DDR als Gegenpol zum ZDF der Bundesrepublik Deutschland, welches bei den DDR Bürgern sehr beliebt war.
In der DDR, in der ich damals zu dieser Zeit meine Jugend verbrachte, versuchte man, dies alles auch mitzuerleben, so gut es eben möglich war.
Für Fotos, Schallplatten und Plakate bedeutender Rockgruppen und Sänger aus dem Westen wurden Höchstpreise gezahlt. Es wurden eigene Rockgruppen gebildet, zu einer gehörte ich ebenfalls für eine kurze Zeit. Sie wurden wieder verboten da ihre Musik nicht den Vorstellungen der damaligen Machthaber entsprach und nicht ins System des Sozialismus passte oder sie wurden ebenfalls zur Legende des Ostens.
Aber man wollte seine Jugend leben. Ich und viele junge Leute meiner Generation, wir haben sie gelebt.
Nun plötzlich wurde man mit dem Einberufungsbefehl zur NVA aus seinen Träumen, seinen Zielen und seiner Arbeit gerissen.
Plötzlich stand man vor unzähligen Fragen und der Ungewissheit, was nun alles auf einem zukommt. Von Freunden, für welche diese Zeit bereits Geschichte war oder die mitten drin waren, hörte man in der Regel nicht viel positives. Der tägliche Drill der Ausbildung, maximal einmal in der Woche für wenige Stunden Ausgang und im Jahr meist nur drei bis vier kurze Wochenendurlaube von wenigen Tagen. Für einen Freund von mir, welcher seinen Dienst an der Ostseeküste bereits abgeleistet hatte, war es besonders schwer. Manche Heimaturlaube verbrachte er fast ausschließlich bei stundenlanger Fahrt mit der Deutschen Reichsbahn.
War er schließlich zu Hause angekommen, musste er fast schon wieder zurück zu seiner Einheit, da die Zeit des Urlaubes bereits fast vorüber war. Wenn ich an seine Erzählungen dachte, kam mir manchmal das gruseln an den Gedanken, hoffentlich musst du nicht so weit von zu Hause weg. Einen Einfluss darauf hatte niemand, es sei denn, man verpflichtete sich für 3 oder mehr Jahre zum Dienst in der NVA. Das hatte ich aber niemals vor, denn mein Ziel bestand darin, nach meinem Dienst einige Jahre zur See zu fahren oder zu studieren.
Ich sagte mir immer, nur keine Freundin zurück lassen, obwohl ich ja auch eine hatte.
Man wusste genau, geht hinter dir das Kasernentor zu, dann bist du für die kommenden 18 Monate den Fängen der NVA hilflos ausgeliefert.
Dieser Tag wurde immer und immer wieder verdrängt, obwohl man wusste, einmal wird er kommen, denn kaum ein junger Mann dieser Zeit hatte die Möglichkeit der NVA zu entfliehen.
Dann am 2. Mai des Jahres 1969 war der Tag für mich gekommen, als das Kasernentor der ehemaligen „Rosenhofkaserne“ in Mühlhausen hinter mir zufiel.
Nun war ich Grenzsoldat.
Das Licht der Welt erblickte ich an einem der letzten Tage im August des Jahres 1949, in einem kleinen Dorf des damaligen Kreise Naumburg/Saale, im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt.
Der Ort mit Namen Burkersroda zählte keine 500 Seelen.
Nicht etwa im Kreissaal einer Klinik, umgeben von Ärzten, Schwestern und Hebammen fand meine Geburt statt, sondern auf dem Sofa im Wohnzimmer meiner Eltern. Dabei anwesend waren eine Hebamme, mein Vater, meine Oma und natürlich meine Mutti.
Mein Opa wurde wie bereits erwähnt im Jahre 1946 in das sowjetische Speziallager nach Sachsenhausen deportiert und war bei meiner Geburt schon fast 2 Jahre verstorben, was zu diesem Zeitpunkt jedoch niemand von uns wusste.
Meine Mutti war Tags zuvor noch damit beschäftigt, für ansässige Bauern im Ort Getreide zu ernten, einzufahren und zu dreschen, und sie sollte es keine zwei Wochen nach meiner Geburt erneut tun. Wollte man im Jahre 1949, vier Jahre nach Beendigung des 2. Weltkrieges, etwas zu essen auf dem Tisch stehen haben, hatte man keine Alternative, denn es war August, Haupterntezeit, und jede Hand wurde gebraucht.
Bereits bei meiner Geburt gab es ein Vorkommnis, was auf ein interessantes Leben hin deutete, obwohl im Nachhinein mein Leben nicht übermäßig anders verlief, als bei den meisten Menschen auch. Etwas turbulenter vielleicht!
Über das besagte Vorkommnis werde ich später noch berichten.
Die Kindheit und Jugendzeit verliefen wie bei den meisten Menschen in der DDR: Kindergarten, Schule, Lehrzeit, NVA und danach das Berufsleben.
In den über 20 Jahren meines Berufslebens in der DDR wechselte ich einmal die Firma und das auch nur aus dem einen Grund, um eine eigene Familie zu gründen. Wir zogen aufs Land und schafften uns eigenen Wohnraum.
Der Weg für die meisten Menschen war damals nach gewissen Kriterien bereits festgelegt, so auch für mich.
Nach Abschluss meiner Lehre als Werkzeugmacher ging es für 18 Monate zu den Grenztruppen NVA, danach ein Studium der Ingenieurwissenschaften und anschließend in einen volkseigenen Betrieb. (VEB)
Dort blieb man meist bis zur Pensionierung oder bis zum Erreichen des Rentenalters.
Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 ging es dann aber wesentlich turbulenter zu, so auch für mich.
Im Herbst des Jahres 1991 wurde meine Firma von der Treuhand abgewickelt, und man stand das erste Mal im Leben auf der Straße.
Nach kurzem Schock und einer sogenannten „Anpassungsqualifizierung“ kam ich bei einem Unternehmen aus den alten Bundesländern unter.
Man hatte große Pläne, wollte eine neue Fertigung im südlichen Sachsen-Anhalt aufbauen.
Zunächst erschloss ich als Repräsentant der Firma neue Absatzmärkte in den neuen Ländern. Ich sollte nach Fertigstellung der neuen Produktionsanlage auf Grund meiner guten Ausbildung und Berufserfahrung eine führende Position erhalten.
Daraus wurde jedoch nichts, denn zu einem Bau einer Fabrik ist es niemals gekommen, und auch die Firma zog sich weitestgehend aus Mitteldeutschland zurück.
Ich musste mich neu bewerben.
Auf Grund meiner bis dahin gesammelten neuen Erfahrungen im Verkauf bekam ich sofort eine Stelle als Vertriebsleiter für Thüringen in einer Firma die Bau- und Wohncontainer fertigte und vertrieb.
Der Hauptsitz des Unternehmens lag jedoch im Bundesland Bayern.
Nach kurzer Zeit und abgeschlossenen Verträgen auf der Hannovermesse und auf regionalen Messen, wurde ich zum Verkaufsleiter für Mitteldeutschland ernannt.
Nur durch Zufall konnte ich den kriminellen Machenschaften der obersten Führungsetage entkommen und die Firma verschwand genau so schnell, wie sie gekommen war.
Danach im Baugewerbe Fuß gefasst, begann das „Abenteuer“ einer selbständigen Tätigkeit, welches jedoch aus verschiedenen Gründen und einer Kette unglücklicher Umstände misslang.
Ich bekam gerade noch die Kurve, um nicht noch mit Schulden aus diesem Abenteuer zu gelangen.
Im Anschluss daran verkaufte ich für ein Versicherungsunternehmen alle Arten von Versicherungen und begann eine Ausbildung zum Versicherungsfachmann.
Dann zerbrach nach 23 Jahren auch noch meine Ehe.
Nun verdiente ich mir meinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf und dem Einbau von Fenstern.
Dabei fragte ich mich oft, ob das nun mein Leben gewesen sein sollte.
Mittlerweile hatte ich wieder eine neue Lebenspartnerin gefunden. Ich bewarb ich mich bei verschiedenen Firmen in Mitteldeutschland und aus den alten Bundesländern um eine neue Tätigkeit.
Von einer kleinen Firma nahe der Großstadt Frankfurt am Main, erhielt ich eine positive Zusage auf meine Bewerbung.
Nun begann der wöchentliche Pendelverkehr zwischen dem kleinen Ort Crossen an der Elster in Ostthüringen, nahe der Stadt Gera, und Frankfurt am Main.
Montags gegen 02.00 Uhr begann die Anfahrt zur Arbeitsstelle, und am Freitag erfolgte gegen 14.00 Uhr die Rückreise in die Heimat.
Nach Herstellung und Festigung vieler Kundenkontakte in Mitteldeutschland entschloss sich der Inhaber seine Firma aus Altersgründen zu verkaufen.
Er bot mir zunächst den Kauf an, aber bei meinem Alter von über 50 Jahren wäre eine Finanzierung niemals möglich gewesen.
Dazu hätte ich fern der Heimat nochmals völlig neu anfangen müssen und dazu fühlte ich mich nicht mehr stark genug und sah auch keinen Sinn mehr darin. Meinen Eltern ging es in dieser Zeit bereits gesundheitlich sehr schlecht und aus Frankfurt/M. hätte ich ihnen kaum helfen können. Daher lehnte ich das Angebot ab.
Danach verkaufte der Firmeninhaber sein Unternehmen an einen anderen Interessenten, obwohl er es jedoch sehr bedauerte, da er mir eine erfolgreiche Weiterführung der Firma zutraute, wie er mir sagte.
Der neue Besitzer jedoch brach, aus welchen Gründen auch immer, fast sämtliche Kontakte zu Firmen aus Mitteldeutschland ab, für deren Aufbau und Festigung ich viel Zeit und Kraft investiert hatte.
Dann brachte er es sogar fertig, dieses seit Jahrzehnten gefestigte Unternehmen, in nicht einmal zwei Jahren in den Ruin zu führen.
Nun stand ich wiederum auf der Straße.
Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit und einer nochmaligen Qualifizierung für ältere Arbeitnehmer, obwohl ich bereits einen Universitätsabschluss sowie ein Hochschuldiplom in Maschinenbau und Feingerätetechnik und mehrere Zertifikate mein Eigen nennen durfte, bewarb ich mich nochmals bei vielen Unternehmen in Thüringen, Sachsen und Sachsen- Anhalt.
Wahrscheinlich hatten alle die in der DDR erworbenen Abschlüsse keinerlei Wert mehr und auch meine jahrelange Berufserfahrung und erworbenes Wissen interessierte niemanden so richtig.
Plötzlich war es nur noch wichtig einen Computer vollständig zu beherrschen, der englischen Sprache mächtig zu sein und vor allem jung zu sein. Alles das konnte ich jedoch nicht vorweisen und deshalb hatte ich das Gefühl, man wollte mir sagen, dass ich mich doch lieber langsam auf die Rente vorbereiten sollte.
Das war jedoch nicht mein Ding. Dazu fühlte ich mich mit meinen 55 Jahren doch noch nicht alt genug.
Das Wunder gelang, und ich fasste nochmals in der alten Heimat Fuß und bekam einen Job in einem metallverarbeitenden Unternehmen in Jena.
Diese Erlebnisse hinterließen natürlich Spuren, die niemals mehr zu beseitigen sind.
Bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990 spielte Geld nur eine Nebenrolle. Andere Werte besaßen einen viel höheren Stellenwert.
Es tut einem schon sehr weh, wenn man sieht, wie diese Werte langsam aber sicher den Bach hinunter gehen und sich alles nur noch um Geld, Wohlstand und Kariere dreht.
„Mein Haus, mein Auto. Meine Jacht.“
Dafür haben wir aber die Freiheit zurück, auch wenn mein Preis, den ich dafür gezahlt habe, sehr hoch war.
Aber das soll ja nicht Thema dieses Buches sein, denn darüber gibt es genügend Literatur und viele gleiche oder ähnliche Schicksale.
In diesem Buch soll es vorwiegend um keine zwei Jahre meines Lebens gehen, die Jahre 1969/70, wo kaum jemand an eine Wiedervereinigung Deutschlands dachte und ich als Grenzsoldat der damaligen NVA, an der Nahtstelle der zwei mächtigsten Militärblöcke der Welt, seinen Dienst versehen musste. Damals, mitten im Kalten Krieg, wurde niemand gefragt, ob er es wolle oder nicht. Es galt einfach nur der Befehl.
Aber nun, wie bereits schon angekündigt, ein paar Sätze zu meiner etwas turbulenten Geburt.
Ich wüsste sicher nichts von alle dem, wenn nicht viele Jahre später, meist immer zu gemütlichen Anlässen in der Familie, der Dorfgaststätte, der Feuerwehr, beim jährlichen Hausschlachten eines Schweins oder weiteren Anlässen mein Vater angesprochen worden wäre und das immer mit den gleichen Worten: „Bert erzähle doch noch einmal die Story bei der Geburt deines Sohnes Wilfried“.
Obwohl es die meisten Mitglieder meiner Familie und fast die gesamte Dorfbevölkerung unzählige Male gehört hatten, wollte man es immer und immer wieder hören.
So muss es sich in etwa damals zugetragen haben. Ich hatte ja noch nichts davon mitbekommen, obwohl es sich nur einige hundert Meter von meiner Geburtsstätte ereignet hatte.
Zur gleichen Zeit meiner Geburt erwartete eine andere Familie im Nachbarort, etwa 2 Kilometer von Burkersroda entfernt, ebenfalls Nachwuchs. Weder ich noch das andere Baby, was ein Mädchen werden sollte, konnten sich recht entscheiden, das Licht der Welt zu erblicken.
So musste wohl mein Vater mit der Hebamme und ihren schweren Geburtshelferkoffer mindestens zweimal zwischen den beiden Dörfern hin und her gependelt sein. Das aber nicht mit einem Auto, Motorrad oder Fahrrad, denn das alles gab es nicht, sondern per Fuß. Als es bereits Nacht war habe ich mich als Erster entschieden, dass Licht der Welt zu erblicken. Kurze Zeit später war mein Vater mit der Hebamme wieder auf dem Weg zur nächsten Geburt.
Nun waren aber die Nacht zuvor von Dieben bei reichen Bauern unseres Ortes die Wurstkammern ausgeraubt worden und die Spuren führten in Richtung des Nachbarortes.
Der damalige Dorfpolizist und ein Gehilfe hatten sich daher in einem Getreidefeld auf die Lauer gelegt und wollten die Täter auf frischer Tat ertappen. Sie glaubten an eine Wiederholung der Einbrüche mit den gleichen Tätern.
Davon wusste jedoch mein Vater nichts.
Als er nun mit großen und schnellen Schritten, an der einen Hand die Hebamme und in der anderen Hand den schweren Geburtshelferkoffer, die Straße, besser gesagt den Feldweg, entlang schritt, standen plötzlich zwei Gestalten vor ihm und leuchteten ihn mit einer Taschenlampe ins Gesicht mit der Aufforderung, sich beide auf die Straße zu legen. Als mein Vater sein Gegenüber ebenfalls aufforderte, seinen Namen und den Grund dafür zu sagen und beim zweiten Mal keine Antwort bekam, sondern nur weitere Drohungen, schlug er blitzschnell auf die Taschenlampe, und eine Sekunde später wälzten sich drei Männer auf dem Feldweg. Irgendwann erkannte der Polizist meinen Vater und auch mein Vater den Dorfpolizisten, und man stellte den Kampf ein.
Der Polizist dachte, dass es sich bei der schweren Tasche der Hebamme um die mit Wurst gefüllte Beute handele, sagte er später lachend und dass mein Vater und die Hebamme die gesuchten Wurstdiebe seien.
Als man sich wieder orientiert hatte und das eigentliche Anliegen meines Vaters geklärt war, war jedoch die Hebamme spurlos verschwunden. Sie war einige hundert Meter ins Getreidefeld gelaufen und hatte sich dort versteckt.
Viele Minuten war sie auch durch Zurufe nicht zu bewegen, dass Getreidefeld zu verlassen.
Man muss bedenken, dass zur damaligen Zeit oftmals sowjetische Soldaten oder auch Diebe unterwegs waren, denen ein Menschenleben nicht unbedingt viel bedeutete und die auch vor einer Vergewaltigung nicht zurück schreckten.
Erst nach fast einer halben Stunde wurde die Hebamme wieder gesichtet. Als Strafe durfte der Dorfpolizist mit seinen Gehilfen die Hebamme zur nächsten Geburt begleiten.
Fast hätte die zweite Geburt dieser Nacht ohne Hebamme ablaufen müssen, was zu dieser Zeit auch keine Seltenheit war.
Dieser Vorfall war lange Zeit Gesprächsthema Nummer 1 in meinem kleinen Heimatort und den angrenzenden Gemeinden.
An die ersten Jahre meines Lebens kann ich mich nicht erinnern. Auf den wenigen Fotos dieser Zeit ist jedoch zu erkennen, dass ich gut behütet die ersten Jahre verbrachte, fasst immer in der Obhut meiner Oma, denn meine Mutti war meist von früh bis spät mit Feldarbeit und Arbeit in den Ställen beschäftigt und mein Vater arbeitete als selbständiger Schmiedemeister in seiner Dorfschmiede.
Auch viele Jahre später, eigentlich bis vor wenigen Jahren, sah ich meine Eltern, vor allem meine Mutti, fast immer arbeiten, sich um die Familie kümmern, um für jeden da zu sein.
Plötzlich war der Tag gekommen, als man mit einer Zuckertüte in der Hand in die 1. Klasse der Dorfschule gehen musste. Von der 1. bis zur 3. Klasse waren alle in einem Raum untergebracht und wurden von einer Lehrerin unterrichtet.
Hier kann ich mich nur an ein Erlebnis erinnern.
Es war damals im Jahre 1956 oder 1957, als Algerien im Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialmacht Frankreich stand.
In der Mitte unseres Klassenzimmers war auf einem großen Plakat ein Mann abgebildet, der entschlossen zum Kampf gegen Frankreich ein Jagdgewehr in der Hand hielt.
Das Foto muss mich wohl so beeindruckt haben, dass ich es am Abend meinem Vater erzählte. Er lächelte nur, muss sich aber seinen Teil dabei gedacht haben.
Abends hörte ich ihn nur, als er sich mit meiner Mutti unterhielt und sagte: „Wie können sie nur den Kindern so einen Unsinn erzählen. Was kann ein solch junger Mann gegen eine gut ausgerüstete und ausgebildete Armee schon ausrichten.“
Ich habe damals nicht weiter darüber nachgedacht, habe es aber bis heute auch nicht vergessen.
Die weiteren Jahre vergingen wie im Fluge.
Die Landwirtschaft prägte das Dorfleben. Dazu gab es einige kleine Handwerksbetriebe wie unsere Schmiede, eine Tischlerei, einen Bäcker, einen Dorfkonsum und natürlich eine Dorfgaststätte mit Tanzsaal, wie damals in fast allen Dörfern.
Im Ort war eigentlich immer etwas los. Es wurden Feste gefeiert wie der 1. Mai, der Kindertag, Fasching, Erntefest, Veranstaltungen der Freiwilligen Feuerwehr, einzelner Arbeitsbrigaden, der LPG und natürlich die jährliche Kirmes über mehrere Tage.
Damals, Ende der 50er Jahre stand die Kollektivierung der Landwirtschaft nach dem Vorbild des großen Bruders Sowjetunion mit an erster Stelle als Auftrag von Partei und Regierung der DDR.
Es wurde sehr darauf geachtet, dass die Dorfbevölkerung bei Laune gehalten wurde und die Kollektivierung und Umgestaltung gelangen.
Da wurde zum Beispiel mehrmals ein sogenanntes „Maisfest“ organisiert. Die Nutzpflanze Mais, als Pflanze aus der Sowjetunion kommend, sollte die gesamte Landwirtschaft der DDR revolutionieren.
Zu solchen Festen kamen Schausteller mit ihren Schießbuden, Losbuden, Luftschaukeln und sogar Gespensterbahnen in solch kleine Orte wie Burkersroda.
Am Abend traten in Tanzsälen, die kaum 200 Personen Platz gaben, namhafte Künstler der damaligen DDR-Unterhaltungsbranche auf, wie Helga Brauer, Julia Achsen, Bärbel Wachholz oder Peter Wieland.
Einige von ihnen waren damals auch in Burkersroda präsent und nicht nur in großen Städten wie Berlin oder Leipzig.
Von staatlicher Seite her wurde sehr großer Wert darauf gelegt, die Dorfbewohner von den Plänen der Partei und Regierung davon zu überzeugen, dass nur die Bildung von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nach dem Vorbild der Sowjetunion, die Zukunft auf dem Lande sein kann.
Dafür wurden keine Kosten und Mühen gescheut und sogar Industriearbeiter mit guten Verdienstmöglichkeiten und besserem kulturellen Leben als in der Stadt aufs Land gelockt.
Für uns Kinder brachte das viele Vorteile.
Zum ersten waren unsere Eltern von der sonst so schweren Arbeit für ein paar Tage entbunden, und wir brauchen somit auch nicht auf den elterlichen Feldern und in den Ställen mit zu helfen.
Zum anderen brachten die Schausteller für uns Kinder ein herrliches Freizeitvergnügen, denn die Eintrittspreise und Fahrtkosten betrugen meist nur wenige Pfennige, so dass sich jeder auch noch so arme Landarbeiter, diese Vergnügen leisten konnte.
An ein Erlebnis kann ich mich noch besonders gut erinnern.
Mein Vater besaß ein Motorrad des Typs „Zündapp KS 600“ mit Seitenwagen.
Es hatte eine weinrote Farbe und leistete mit seinen Hubraum von 600 ccm, 28 PS.
Das angegebene Baujahr war 1940, und mein Vater hatte es im Mai 1956 für 1500,- DM erworben.
Es war sein ganzer Stolz, wurde gehegt und gepflegt. Es wurden manche gemeinsame Sonntagsausflüge unternommen.
Manchmal in den Harz, nach Thüringen, zum Kyffhäuserdenkmal bei Bad Frankenhausen oder zu weiteren Sehenswürdigkeiten in der DDR.
Im Sommer des Jahres 1957 war aber ein besonderes Ziel auserwählt worden.
Es ging mit dem Motorrad nach Buseck ins Bundesland Hessen. Wir besuchten die Mutter und die Geschwister von meinem Vater.
Sie waren im Jahre 1946 ebenfalls aus dem Sudetenland vertrieben worden und hatten sich bereits 1957 wieder einen gewissen Wohlstand geschaffen. Das war natürlich ein unvergessenes Erlebnis für mich und ich konnte mich an den vollen Geschäften kaum satt sehen, besonders an den Geschäften mit Spielzeug.
Voll bepackt ging es nach einigen Tagen zurück in die DDR. Unterwegs erwischte uns noch ein schweres Gewitter auf der Autobahn und alle waren nass bis auf die Haut.
Meine Schwester und ich im Seitenwagen wurden jedoch weitestgehend davon verschont.
Das war der erste und auch letzte gemeinsame Ausflug nach Westdeutschland, denn vier Jahre später stand die Mauer. Die Grenzen wurden vollständig abgeriegelt, bis zum November des Jahres 1989.
Die folgenden Jahre vergingen sehr schnell. Mit 12 Jahren wurden die ersten Fahrversuche mit dem Moped des Vaters unternommen. Unser Dorfpolizist (ABV) wusste natürlich davon, aber hat niemals auch nur ein Wort darüber verloren oder eine Anzeige erstattet, wie auch viele Jahre später nicht, als wir schon fast erwachsen waren.
Von Einwohnern des Ortes darauf angesprochen sagte er nur immer: „Wo und wie sollen sie es denn sonst lernen? Außerdem fahren sie ja nur auf Feldwegen.“
Autoverkehr war Anfang der 60er Jahre im ländlichen Gebiet sowieso kaum vorhanden und so stellten wir keine Gefahr für den Straßenverkehr dar. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurde das Fahren trainiert.
Als wir dann mit 15 Jahren dem Moped - Führerschein machen durften, waren wir fast perfekte Fahrer.
Unser ABV gab uns zwar öfters Hinweise für ein korrektes Fahren wusste aber genau, dass wir als junge Menschen noch andere Vorstellungen davon hatten.
Zu größeren Unfällen ist es jedoch niemals gekommen.
Das gleiche Spiel wiederholte sich 2 Jahre später vor der Ablegung der Motorradprüfung.
Mein Vater ließ mich sogar mit seiner Zündapp KS 600 und Seitenwagen fahren. Er hatte wirklich sehr viel Vertrauen in mich und ich habe ihn auch niemals dabei enttäuscht.
Plötzlich war man in der 9.Klasse der Polytechnischen Oberschule und stand vor der Berufswahl.
Bis Ende des 9. Schuljahres musste sich jeder Schüler für einen Beruf entschieden haben und einen Lehrvertrag abschließen, außer Schülern, die das Abitur ablegen wollten.
Für das Abitur hatte ich keine richtige Lust, obwohl mir mein Klassenlehrer dazu riet.
Er sprach sogar mehrfach bei meinen Eltern vor mit der Bitte, sie möchten mich doch dazu überreden. Aber auch sie schafften es nicht. Ich wollte als erstes einen ordentlichen Beruf erlernen und dann weiter entscheiden, obwohl es aus heutiger Sicht ein Fehler war.
Deshalb stand ich nun auch vor dem Problem, was willst du eigentlich einmal werden?
Vorstellungen gab es genügend, aber wie sah es mit der Umsetzung aus?
Autor im Winter 1953
Autor mit seiner Schwester im Jahre 1957 im Faschingskostüm als Sowjetischer Sputnik, der als erster die Erde umkreiste.
1. September 1956
September 1956
Sommer des Jahres 1957 in Buseck nahe der Stadt Gießen (Autor im Seitenwagen der Zündapp KS 600)
Autor mit seinen Eltern und seiner Schwester im Jahre 1965
Schlachtefest bei Familie Schober in Burkersroda, Januar 1969
Wurstherstellung beim Schlachtefest