Als ich in den Wald verschwand - Viktor Kamerer - E-Book

Als ich in den Wald verschwand E-Book

Viktor Kamerer

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Beschreibung

Die junge Sarah flieht aus einem Heim in den Wald. Dort trifft sie auf Hermes, einen Wolf, der sie unter seine Fittiche nimmt. Ein Schmetterling führt sie sicher bis zu einer Hütte. Dort stoßen sie auf eine Leiche. Ein Bär greift sie an, doch sie können ihn zähmen. Die kleine Gruppe kommt in die Stadt Boulevard. Dort nehmen sie einige Menschen auf und begeben sich erneut in den Wald. Unter ihnen befindet sich Kurt. Hat er nur Gutes im Sinn? Wird die Gruppe überleben?

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Zum Autor

VIKTOR KAMERER, geboren 1976, absolvierte kaufmännische Schulen bis zum Mittleren Management und arbeitete in einem Großhandel, bis er sich dem Schreiben widmete. Seit 2017 veröffentlicht er Gesellschafts- und Mysteryromane, alles beim Twentysix Verlag.

Zum Buch

Die junge Sarah flieht aus einem Heim in den Wald. Dort trifft sie auf Hermes, einen Wolf, der sie unter seine Fittiche nimmt. Ein Schmetterling führt sie sicher bis zu einer Hütte. Dort stoßen sie auf eine Leiche. Ein Bär greift sie an, doch sie können ihn zähmen. Die kleine Gruppe kommt in die Stadt Boulevard. Dort nehmen sie einige Menschen auf und begeben sich erneut in den Wald. Unter ihnen befindet sich Kurt. Hat er nur Gutes im Sinn? Wird die Gruppe überleben?

Inhaltsverzeichnis

Flucht

Kapitel 1

Kapitel 2

Im Wald

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Hütte

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Boulevard

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Liebe Und Verfolgung

Kapitel 17

Kurt

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Angreifer

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Familie

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

FLUCHT

Kapitel 1

An einem Abend im September verdunkelte sich der zuvor frische Himmel im Lande Sankt Frontier. Das Land hatte kaum einen bedeutenden Einfluss auf die gesamte Welt. In einem Haus aus dem 18. Jahrhundert, war die Atmosphäre zum Greifen. Im Wohnzimmer dieses Heimes saßen ein Dutzend Kinder zusammen. Ich ließ es mir auf einer kleinen, beigen Couch gutgehen. Daneben stand ein buntes Sofa, auf der Megan hin- und her rutschte. Sie sprach mich an: »Du dummes Huhn. Hast keinen Grips. Bist hässlich. Zudem kann dich keiner hier leiden«.

Ihre Anklage war aus der Luft gegriffen und ich hatte Selbstbewusstsein genug. Das leicht gelockte, braune Haar. Mein Stupsnäschen. Alles war perfekt an mir.

Das Mädchen mir gegenüber hatte einen gewaltigen Dachschaden.

Ich erhob meine Glieder und baute mich frech vor ihr auf. Sie schmunzelte, dann war eine Unsicherheit auf ihrem Gesicht zu erkennen. Dennoch würde ich vorsichtig sein. Ihr war alles zuzumuten. Neben ihrem Mut griff sie schon mal zu Waffen. Messer und körperliche Gewalt waren ihr nicht fern.

Und so stand Megan auf und bot mir ihre Faust an. Ich war kein Kind von Traurigkeit und schubste sie auf das Sofa zurück. Sie erschrak, war sie es denn nicht gewohnt Paroli geboten zu bekommen? Sie war ein typisches Heimkind. Wie ich. Da setzte man sich durch mit aller Macht, die wir hatten. Und erhielten keinerlei Nähe. Ohne Berührungen, kaum Zärtlichkeiten. Ich verlor meine Eltern mit zwei Jahren. Da dürfe es kein Wunder sein, dass ich bockig war. Für Pflegeeltern waren wir zu alt. Welche Familie nahm 16-Jährige auf? Wenn sie zudem frech und unbelehrbar sind erst recht nicht.

Megan fing sich abrupt und maulte ein paar Worte, die kaum verständlich waren. Was ich an ihr sah, war zunächst eine geschlagene, sogleich zunehmend selbstbewusste junge Frau. Sie konterte mit einem Hieb auf meine linke Seite und schrie sich die Kehle aus dem Leib. »Du hirnverbrannte Tussi. Hast null Respekt. Das gehört bestraft«.

Die Antwort kam: »Du bist nicht besser als ich. Das sollte dir klar sein. Führst dich auf, als wärst du die Prinzessin von Sankt Frontier«.

»Ich bin ein fesches Mädchen. Du strahlst gar nichts aus. Bist eine Wilde. Du gehörst in die Wälder dieser Stadt«.

Sie sah mich ungestüm. Ich war realistisch genug, es in Betracht zu ziehen.

Und dennoch würde ich dagegenhalten. Ein Heimkind hat es schwer. Ohne Eltern umso mehr. Ich hatte nur wenige Bilder von Mama und Papa. Und das nur in meiner Vorstellung. Weshalb hatten sie mich hier ausgesetzt? Vor vierzehn Jahren? Gemeldet hatten sie sich nie wieder. Karten zu Weihnachten fehlten. Keine lieben Worte am Geburtstag.

Und doch musste ich kräftig und bestimmend dagegenhalten.

Ich sah immer wieder Bilder von meinen Eltern, doch nur in der bizarren Vorstellung. Sie hatten mich vor vierzehn Jahren hier, im Heim, ausgesetzt, wie ein wildes Tier. Und sie hatten sich nie mehr gemeldet. Keine Karte zu Weihnachten. Kein Gruß, keine Gratulation zum Geburtstag. Es war, als hätten sie mich aus ihrem Leben herausgestrichen. Aus einer To-do-Liste. Würden Sie die Kurve ohne mich kriegen? Oder war ihr Leben auch ohne mich eine Katastrophe?

Meine Wenigkeit packte Megan am Kragen. »Geh mir aus dem Weg«, sagte ich. Dann hörte ich eine weibliche Stimme rufen. »Was ist denn jetzt schon wieder? Könnt Ihr nicht für zwei Stunden Ruhe geben? So haben wir euch nicht erzogen«.

»Ihr habt uns gar nichts beigebracht«, schmunzelte ich. Die Erzieherin sah sich gedemütigt, kam forsch herbei und griff sich mein Haar. »Euch gebe ich es schon. Ihr werdet lernen gehorsam zu sein. Sag: Lachst du mich immer noch aus?«

Perplex, aber mutig nahm ich ihren Arm und die Hand und drückte sie zu Boden. Wer war es hier, der als Letzte lachte? Die Erzieherin verstummte und krümmte sich vor Schmerzen. Dann wurde sie mutig und laut, schrie das andere Personal herbei. Zwei weitere Angestellten rannten herbei und trafen auf einen Tumult.

Von liebevoller Wärme war jetzt gar nicht zu sprechen. Ein Heim ohne Vernunft und Liebe, war für mich ein Ort des Grauens. Gerne hätte ich anderes gesagt. Doch ich spreche die absolute Wahrheit. Der Unterricht unten in der Stadt war hart, die Pausen kurz. Und die Lehrerinnen dort zeigten kaum Manieren. Die paar Stunden in der Schule waren ein Ausgleich, aber keine vorbildliche Erziehung.

Die beiden Erzieherinnen packten mich. Eine von hinten, die andere verpasste mir einen Klaps ins Gesicht. »Du verdammte Hure. Wer nicht gehorcht, muss fühlen. Glaubst, kannst alles mit uns machen. Megan hat eine große Klappe. Aber Gewalt ist unangebracht«. Die Erzieherin sah nicht, dass sie selbst grob war. Gegen die Heimkinder. Die Ohrfeige hatte gesessen. Es klatschte und mir kamen ein paar Tränen. Ich saß in die Hocke und ließ den Kopf hängen. Ja, das war Demütigung. Mentale Kraft hatte uns alle vorangebracht, aber die Gewalt der Erzieherinnen war größer. Ich lag auf dem Boden und streckte meine Arme aus. Dann zog sich der Körper zusammen.

Eine junge Erzieherin namens Savannah kam unvermittelt hereingestürmt, als sie das Geschrei hörte. Alle liebten Savannah. Sie schien ein wenig verrückt, aber das war ich ebenso. Sie bückte sich, nahm meine rechte Hand und half mir, mich aufzusetzen. Ich winkelte die Beine an und legte den Kopf dazwischen. »Was ist denn passiert?«. Schnell verstand sie, dass ihre Kolleginnen es zu weit getrieben hatten. Sie kannte diese Drei. Savannahs Intelligenz ist hoch. Ihre Menschenkenntnis, mit 25 Jahren, war fundiert. Sie hatte studiert. Psychologie. Nach dem Studium kam sie direkt hierher, zu uns Kindern und Jugendlichen. Alle hatten sie liebgewonnen. Der Blick reichte bis zu Megan hinüber und Savannah erkannte mein Problem. »Megan«, sagte sie. »Du hast keine Freunde, zudem machst du dir Feinde. Wo doch Sarah gut für dich wäre. Sie ist ehrlich. Zwar ein wenig grob und dennoch loyal. Willst du ihr nicht die Hand geben?«.

Megan setzte sich zu mir auf den Boden, streichelte über meinen Rücken und seufzte: »Tut mir leid. Ich bin nicht besser als der Teufel«.

»Jetzt bist du besser als der Teufel«, sagte Savannah. »Sarah. Nimmst du ihre Entschuldigung an?«.

Ich versuchte hochzukommen, dabei half ich Megan beim Aufstehen. Nunmehr lag ihre Hand in der meinen. Sie umarmte mich herzlich und zart. Daraus könne eine Freundschaft entstehen. »Bist ganz dufte«, sprudelte es aus mir heraus.

»Und jetzt geht auseinander«, sagte eine der Drei. Sie hatte den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden.

Ich sah sie wütend und schräg an. Es war Savannah, die meine Hand nahm und mich beruhigte. Wie lange sind diese Tiraden zu ertragen? Bald bin ich erwachsen, dann reiße ich hier aus. Ist doch nicht auszuhalten. Das ist ein Zustand, den ich nicht verkraftete. Seelische Qualen. Und nur wenige Kinder und Jugendliche waren für mich.

Kapitel 2

Savannah nahm meinen rechten Arm. Tröstete mich und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht. Wie ergreifend, eine Freundin zu haben. Sie war zwar neun Jahre älter, und doch verstanden wir uns vorzüglich. Sie kramte in ihrer Hosentasche und es kam ein Bonbon hervor. Ich wertschätzte dies und nahm es an mich. »Danke. Ich esse es später«. »Vergiss nicht. Ich bin immer für dich da, Sarah«.

Meine Stirn fiel auf die ihre. Dann gab ich ihr einen Kuss auf die linke Wange und umarmte sie kräftig. Sie drückte zu und meinte, das alles sei gar nicht so übel. Ich aber sah es anders.

Wie nett sie war. Es lag an mir, dass ich keinem vertraute. Meine eigene Mutter hatte mich aufgegeben. Hatte sich nie mehr gemeldet. Wenn die nahe Familie nicht da war, auf wen setzt man da? Frech zu sein hatte ich mir schon längst angewöhnt. Ansonsten kam man hier und und draußen nicht durch. Die Schule, unten in der Stadt. Hier oben das Heim, das war mein Zuhause, meinte Savannah. Ich aber sah es anders.

Die Dunkelheit setzte ein vor dem Kinderheim. Ein Heim, wo drei Hexen ihr Unwesen trieben. Aber eine, das war Savannah, die schien gerecht und liebevoll. Einige sahen sie gerne wie ihre Mutter an und sie war wie die absolute Unschuld. Doch die drei waren mir eine Lehre: Und so setzte ich auf mein eigenes Glück.

Ich stellte einen Plan auf. Demnach würde ich ausbüchsen, in dieser Nacht, falls eine der Hexen es auf mich absehen würde. Denn ich hatte ein Gespür dafür. Eine der drei würde kommen. Sie würde mir das Kissen aufs Gesicht drücken, wie schon einige Male zuvor. Das wäre der Auslöser. Heute würde ich fliehen.

Ein, zwei Mädchen beteten und so fragte ich stumm, ob dies kopierbar war. Ob ich Gott anbeten solle. Ein Gespür für ihn war da. Zeichen bewirken Großes. Und ich sah sie, jeden Tag. Das hinderte mich nicht daran, grob zu sein. So war ich nun mal. Aber die Mädchen brachten mein Gemüt dazu, sensibel für die wahre Welt zu sein: die der Gefühle.

Die Müdigkeit übermannte mich, 1,80 Meter zu 90 Zentimeter. So groß waren die Holzbetten, und der eine oder andere genoss das Dunkle im Raum. Was ich nicht liebte, waren die drei. Eine großgebaute Gestalt trat an die Schlafstätte und seufzte. Ich gab kein Geräusch von mir. Es war klar, es ist eine der Hexen. Und da lag schon ein Kissen auf meinem zierlichen Gesicht und die Erzieherin presste. Ich wand mich, erhob den langen Körper und versetzte der Frau einen Schlag gegen den Magen. Sie krümmte sich vor Schmerz und ließ gedankenverloren von mir ab. Ich holte tief Luft, kam aus dem Bett und eilte durch den Flur. Die Hexe folgte mir, doch meine Beine brachten mich schnell vor die Haustüre. Ich schloss diese und rannte beide Stufen an der Veranda hinunter. Ich kam eilig an Sonnenblumen vorbei. Es erschienen Reben mit Trauben, die ebenso hinter mir blieben. Die Kraft verließ den Körper dann, und ich nahm Platz auf einem Hügel, der von Bauern befahren wurde. Jetzt war ich mir sicher, die Hexe abgehängt zu haben. So erhob ich mich und trabte langsam einen Schritt vor den anderen.

Ich pflückte mir einige Trauben, die Ernte war zugegen. Morgen würde der Bauer kommen und diese lesen. Doch heute war ich es, der sie las.

Vor mir sah man den Wald. Ob da Unterschlupf zu finden sei? Ich war nicht abgeneigt. Mein wildes Innere traf auf den rohen Wald.

IM WALD

Kapitel 3

Ich erklomm einen Berg, das war mir bewusst. Dabei sah man die Fichte, Bäume, an denen Zapfen nach unten hingen. Ich pflückte mir einen, da stach mich die Fichte. Der Schmerz war kaum auszuhalten, obwohl ich eine Frau bin.

Stöhnen und jaulen kamen hervor, wie bei einem Wolf, der seine Sippe suchte. Ich nahm Platz auf dem Po und lutschte an meinem Finger. »Dieser verdammte Schmerz muss doch vergehen«. Ich bin nicht zimperlich, aber die Fichte hatte mich ausgeknockt. Jetzt hieß es, abzuwarten, die Wut auszusitzen. Wo war ich überhaupt? Auf einem Berg. Ich sah, dass es nass war auf dem Boden. Ich bemerkte, dass der Po feucht war. »Nur keine Blasenentzündung. Das kann ich gar nicht gebrauchen. Die verfluchten Hexen sind schuld. Wäre ich bloß nicht im Heim gelandet. Jetzt ist Schluss damit. Ich bin mein eigener Herr«.

Der Weg führte steil hinauf, doch ich war schlank und der Schulsport hielt mich fit. Viele Höhenmeter erklomm ich in kurzer Zeit. Sankt Frontier lag einige hundert Meter hoch, der Berg aber ist höher. Das bemerkte ich. Für September ist es kühl und meine Beine schlotterten vor Kälte. Was suchte ich im Wald? Bin ich ein Tier, der Menschen mied? Mir war bewusst, dass Wölfe zugegen waren. Gesehen habe ich zwar keinen. Aber sie waren da. Etwas folgte mir auf Schritt und Tritt. War mein Gefühl wahr? Würde eine Bestie mich reißen? »Verdammt. Ist es ein Raubtier? Bin zu jung zum Sterben. Hätte ich einen normalen Vater, so würde mir dieser das Kämpfen längst beigebracht haben. Aber Papa war verschwunden von der Bildfläche, da ich zwei war. Mutter ist allein geblieben. Deshalb werfe ich es ihr nicht vor, mich abgegeben zu haben.

Ich sah um mich. Kein Raubtier. Aber die Angst war da. Saß in mir. Obgleich meine Härte berüchtigt war, so bin ich jetzt dennoch sensibel. Neu erworbene Gefühle möge man nicht ausschalten. Und das war gut, denn was ist ein Mensch ohne Sensibilität?

Ich hörte Schritte rechts von mir. Aus einem Busch trat vorsichtig ein grauer Wolf vor. Er sah mich an, wie ein Mensch es für gewöhnlich tut. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Er war mir vertraut und ... da sprach er wie ein Mann.

»Liebes Kind. Was suchst du hier? Wir haben im Wald einen Bären, der ist böse und gefährlich. Wenn du möchtest bleibe bei mir. Ich beschütze dich. Ich frage gar nicht, wo du hinwillst. Ich sehe es dir an: Du bist verzweifelt«.

Ich fand einen Freund, der weise erschien. Sah er mir doch meine wilde Verzweiflung an. Ich antwortete ihm: »Ich bin auf der Flucht. Die Hexen im Heim haben es mir schwergemacht. Ich hielt es nicht länger aus und bin ausgebuchst. Bitte verrate mich nicht. Bist du mein Freund?«

Der Wolf grinste, setzte sich neben mich und sagte: »Zuerst nenne ich dir meinen Namen: Hermes. Bin kein Gott, aber groß genug für diesen Namen. Und du bist?«

»Sarah. Die Zivilisation kann mich mal. Darf ich eine Weile bleiben? In deinem Wald? Ist doch kein Problem, oder?«

»Gar kein Problem, liebes Kind. Bist willkommen. Ich habe sonst keine Freunde. Und kein Rudel Wölfe. Bin schon im dritten Jahr und deshalb auf mich selbst gestellt. Wo meine Eltern sind weiß ich nicht. Und eine Partnerin habe ich nicht. Früher oder später kommt es dazu«.

Ich sah ihn verträumt an und sagte, eine eigene Familie wäre toll. »Meine Kinder werden es gut haben mit mir. Ich werde mich um sie kümmern. Und ein Mann wird es schön haben mit mir. Bin nicht anspruchsvoll«.

Hermes mahnte: »Das solltest du aber. Denn du bist wunderbar. Und du mögest das Beste haben«.

Der Wolf erhob sich, ich tat es ihm gleich. Wir liefen einige Schritte und er spickte immer wieder zu mir herüber. Ich war froh und fühlte mich in seiner Nähe verstanden und geborgen. Dann sprach ich: »Ich war niemals dankbar für mein Leben, aber das hier, mit dir, ist einfach wunderbar«.

Er antwortete: »Dies ist der erste Schritt. Ich sehe ein Rest an Wut in dir, aber wir kriegen das schon hin«.

Kapitel 4

»Meine Wut siehst du recht. Ich musste mich im Heim durchsetzen. Was ist so schlimm daran? Hast du einen Ausweg für mich?«

Hermes, der Wolf, stellte sich groß hin, versperrte mir den schmalen Weg. Sodann meinte er: »Bleibe für eine Weile bei mir, dann wirst du schon alles erfahren«.

Diese Antwort war intelligent. Was werde ich sehen? Und wen sah er in mir? Tiefgründig bin ich ja. Aber schlau wie der Wolf?

Ich nahm auf der Stelle auf dem erdigen Boden Platz. Trotzte dem Wolf. »Ich will es jetzt wissen? Was kann ich hier lernen? Und verschaukle mich nicht. Ich bin schlauer als du, und bemerke wenn du lügst«.

Der Wolf vergrub seinen Kopf zärtlich in meinen Armen. Dann setzte er seine Pfote auf meine linke Hand und streichelte mich. Mir war, als habe ich einen Vater, der seine Tochter liebt und sich um sie kümmert.

»Hätte ich dich nur früher kennengelernt, Hermes. Du bist ein Freund und Helfer. Wie kommt das, wo du doch ein Wolf bist? Haben Tiere wie du eine soziale Ader?«

Hermes legte seinen Kopf auf meinen Schoß und sprach: »Ich war nicht immer ein Wolf. Vor diesem Leben war ich ein Mensch wie du«.

Einen Spaß konnte ich mir nicht verkneifen und so sagte ich: »Es ist möglich, dass du mein Vater bist. Aber der war doof, soviel ich weiß. Hat beim kleinsten Problem die Biege gemacht. Ich war oft schwierig, und meine Mutter hatte damals mir die Schuld gegeben, dass Vater uns verlassen hatte. Und da hatte sie mich abgegeben, wie einen Hund«.

»Für mich bist du ein Goldstück«, meinte Hermes und grinste breit. »Mit keinem Geld der Welt zu bezahlen«.

»Wenn du so weitermachst, dann musst du mich adoptieren«, sagte ich.

»Wenn das denn ginge, würde ich es glatt tun. Ich würde dir eine Menge Liebe geben, wie es in einer Familie sein soll. Du kennst das nicht. Ich schon. Ich hatte eine wundervolle Frau und bei der Geburt meiner Enkelin war ich entzückt und verliebt«.

»Ich habe dich gern, Hermes. Bislang bin ich davon ausgegangen, dass Wölfe böse seien. Aber du zeigst es mir. Du zeigst dein Herz und deinen Verstand. Ich bin erst 16. Du hast schon mehr erlebt. Wenn du mich die Liebe und den Verstand lehrst, dann wäre ich dir dankbar. Ich habe keinen getroffen wie dich. Ich sehe in deine Augen und erkenne, dass du mich magst. Und dein Gesicht hat eine Wärme, wie die eines Menschen der Liebe gibt und Liebe nimmt«.

In diesem Moment wurde ich geliebt und verstanden. Hatte eine Göre das verdient? War ich Mensch genug, um mehr davon zu erhalten? Hermes sah mein Grübeln. Ich riss mich aus den Gedanken.

Ich sagte: »Habe mich eben selbst gefragt, ob ich gut genug bin. Verzeih mir«.

»Kein Problem. Jeder grübelt mal. Und du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Alles wird wieder gut. Jetzt bin ich mit dir, und ich lasse dich in dem Zustand nicht weg. Du stehst auf der Schwelle zum Erwachsensein. Du brauchst den richtigen Pfad zum guten Dasein. Wenn du ein Mensch sein willst, dann nehme dir meine Ratschläge zu Herzen«.

Was für ein weiser Zeitgenosse. Er ist mehr denn nur ein Wolf. Er war früher ein Mann, mit Gefühlen und Weisheiten. Und ich bin offen. Bin offen wie ein Buch für ihn. Er liest meine verschiedenen Ausdrücke. Und bald würde er mich kennen. Und wenn dies eintrifft, dann könnte er mir einen Spiegel zeigen, damit ich zur Selbsterkenntnis komme. Das fehlt mir. Das Bewusstsein darüber wer ich bin und wie ich bin.

Kapitel 5

Wir liefen steil bergauf. Wie weit ist es bis zum Himmel? Zur Sonne? Ich war entzückt darüber, dass Hermes so friedfertig an meiner Seite war. Und doch vermutete ich ein Geheimnis hinter seiner Stirn. Eine Sache, die er mir bald auftischen würde. Was es ist, konnte ich mir nicht ausmalen. War ja keine Gedankenleserin. Er aber schon. Er war mir einen Schritt voraus. Er nickte, bevor man was sagen konnte. Ja, das ist Gedankenlesen. Und ich war froh, dass Hermes mich baldigst in- und auswendig kennen würde.

»Ich sehe, dass du dich frei fühlst«, sagte er. »Dabei kennst du nicht mal mein Geheimnis. Das hüte ich wie ein Ei. Aber bald wirst du alles erfahren. Sei geduldig, die Zeit ist bald reif.«

Ich stampfte auf den Boden. War unbeherrscht: »Meine Güte, Hermes. Da wird man ja verrückt mit dir. Wenn du was auf dem Herzen hast, dann nur raus damit. Wir sind hier nicht zwischen Hellsehern, oder doch?«

»Doch das sind wir. Ist es ein Wolf, der hier mit einem Menschen spricht? Das ist eine Welt voller Phantasie. Du kennst es nicht. Aber ich führe dich ein. Alle Tiere dieses Landes sprechen wie du, wie ein Mensch. Du warst niemals im Wald, oder?«

Ich runzelte erstaunt die Stirn. Ja, dass Tiere sprachen, war mir was Neues, und doch war ich froh darüber. Denn mit wem sollte man hier im großen Wald reden? Hermes schien mein persönlicher Retter zu werden. Bislang gab es keine weiteren Gestalten auf dem Berg außer ihm. Hatte der Wolf nicht von einem Bären gesprochen? Ich hoffte, ihm nicht zu begegnen, denn er ist, laut Hermes, unausstehlich.

»Ich sehe Furcht in dir, Sarah. Wenn es wieder bergab geht, werden Gefahren kommen. Jetzt aber sind wir sicher. Sei unbeschwert. Das ist die erste Lektion. Eine Lehre, die weit verbreitet ist in Sankt Frontier. In deinem Heim gibt es keine Lektionen, nur die der Härte und Wut. Du kennst es nicht anders, und deshalb drehe ich dir keinen Strick daraus«.

»In der Schule werden wir immer hart angegangen. Die Lehrer sind streng. Wir werden auf Leistung getrimmt. Ich bin froh, ausgerissen zu sein. Das kann keiner ertragen. Hier aber ist es schön, obwohl ich manchmal ängstlich bin«.

Hermes lief vorneweg, ich folgte ihm auf Schritt und Tritt. Er hatte recht, es gab keinen Grund zur Sorge. Wenn selbst ein Wolf fröhlich ist, was kann es dann Schlimmes geben?

Er pfiff wie ein Mensch. Aus lauter Freude. Und ich tat es ihm gleich. Ängste, sie verschwinden wieder. Man braucht nur den richtigen Einfall. Das Pfeifen war das. Ich trat auf kleine und große Äste. Hermes sagte ja, es sei sicher hier. Deshalb trottete ich unbeschwert über das Geäst.

»Jäger. Gibt es solche hier, in diesem Wald? Sie würden dich erschießen, oder?«

»Nein nein, Sarah. Nur wenn ich Schafe reißen würde. Aber das tue ich nicht. Sei getrost. Es wird derlei nicht passieren«.

»Was isst du denn, Hermes? Tiere oder Gräser?«

»Es gibt einen Bauern hier, der mir an jedem Tag etwas Fleisch abgibt. Ich brauche nur am Hof des Bauern Schmidt vorbeizuschlendern. Ich glaube er würde dir ein Stück geben. Du musst bald hungrig sein. Und hier gibt es nur Fichten und Pilze. Oder magst du Pilze?«

»Ich mag Champignons. Aber die gibt es hier nicht. Hab als Kind die Sorte ›Hallimasch‹ gesammelt, aber die muss man kochen. Roh darf man sie nicht essen. Gibt es keine Beeren? Nichts gegen das Fleisch von Bauer Schmidt. Wo ist denn sein Hof?« »Unten im Tal. Es liegt auf unserem Weg. Und Beeren kriegst du gleich«. Hermes streichelte sich die Nase und nieste laut. »Können Wölfe niesen?«

»Ich kann es. Ich kann alles. Diese Welt ist dir fremd. Aber ich werde dich weiterhin einführen. Sieh nur, ein Eichhörnchen. Da huscht es über den Baum. Das sind die schönen Seiten hier«.

»Ich mag Eichhörnchen. Sie sind putzig und ungefährlich. Sieh nur, wie es die Nuss in den Händen hält«.

Der Wolf pflückte mir ein paar Beeren. »Heidelbeeren gibt es nur im Sommer. Nimm sie und iss. Sie schmecken wundervoll. Satt wirst du nicht davon, aber probiere sie einmal. Und dann gehen wir zu Bauer Schmidt hinunter«.

Ich nahm ein paar in meine Hände und kostete sie. Sie waren angenehm und ich dankte Hermes dafür. Er wurde mir zum Freund, kümmerte er sich doch so um mich. Es schien mir, dass ich sein Rudel bin, welches er früher bei sich hatte. Das er vor kurzem verlassen hatte. Er war einsam, das spürte ich. Und so waren wir füreinander da. Eine win-win Situation.

Kapitel 6

Wir erreichten die Spitze des Berges und Hermes ließ sich den Wind über die Nase wehen. Das ist Freiheit. Ich kannte das nicht, der Wolf aber schon. Und wir beide waren froh, uns hier im Wald getroffen zu haben. Er war mein Ersatzpapa. Hermes, der sprach und ein fühlendes Wesen war. Der eine Weisheit hatte wie ein alternder Mann.

Ein Foto von meinen Eltern hatte ich nicht. Ich würde sie gerne Mama und Papa nennen. Aber das war unpassend. Sie waren mir nicht nahe genug. Sie waren wie Fremde. Der Wolf war für mich mehr, denn sie es waren. Und Hermes hatte das bemerkt. Sein Gesicht strahlte.

Er erkannte das gute Gefühl, welches ich für ihn hatte, und das üble, das in mir für Vater und Mutter drin war. Ich würde sie gerne lieben. Melden sie sich? Bekäme ich die Chance sie heute zu erleben? Oder war der Wolf jetzt mein Zuhause?

»Hier oben ist es wundervoll, Sarah. Ich bin jeden Tag hier und genieße die Aussicht«.

Ich war für die Schönheit der Natur immer mehr zu haben. Der Wolf beruhigte mich mit