Amalie Dietrich - Charitas Bischoff - E-Book

Amalie Dietrich E-Book

Charitas Bischoff

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Beschreibung

Amalie Dietrich war Deutschlands bedeutendste Australien- und Naturforscherin, Botanikerin, Zoologin und Pflanzenjägerin im 19. Jahrhundert. Ihre Tochter Charitas Bischoff schrieb diese Biografie über ihr Leben und Wirken.

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Amalie Dietrich

Charitas Bischoff

Inhalt:

Amalie Dietrich

Erster Teil

1 - Ein Trumpf drauf

2 - Der kleine Fritz

3 - Amalie im Elternhaus

4  -Gevatter Krummbiegeln

5 - Amaliens Traum

6 - Waldeszauber

7 - Natürlich ein Hexenmeister

8 - Die Werbung

9 - Familie Dietrich

10. - Vor und nach der Hochzeit

11 - Wilhelm Dietrich als Amaliens Führer und Lehrer

12 - Geburt und Tod

13 - Nach der Mutter Tod

14 - Die Stütze

15 - Stirb und werde

16 - Nach Bukarest

17 - Ankunft in Bukarest

18 - In der »Freudenstadt«

19 - Siebenbürgen

20 - Heimkehr von Bukarest

21 - Sie nimmt die Last

22 - Amalie an Karl

23 - Alles umsonst

24 - Ein Wandern im Nebel

25 - Die Nebel verdichten sich

26 - »Und ob es währt bis in die Nacht –«

27 - Die Nebel zerreißen – Der Himmel wird helle!

28 - Cäsar Godeffroy

29 - Charitas

30 - Abschied von der Heimat

Zweiter Teil

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27

28

29

30

31

32. - Heimkehr

33 - Die letzten Jahre

Amalie Dietrich, C. Bischoff

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849623036

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Amalie Dietrich

Erster Teil

1 - Ein Trumpf drauf

In dem kleinen sächsischen Bergstädtchen Siebenlehn saßen im Jahre 1823 vier Männer in einer ärmlichen Stube und spielten beim Schein einer hochbeinigen, zinnernen Öllampe Karten.

»Gottlieb,« riefen sie einem langen, hageren Manne zu, »Gottlieb, du bist am Geben!«

Der Angeredete sah aber nicht in sein Spiel, er hielt den Kopf lauschend nach dem Fenster und horchte gespannt auf den eiligen Tritt, der sich auf dem holprigen Steinpflaster hören ließ. Jetzt wurde die Tür geöffnet.

Eine kleine untersetzte Frau erschien, und ehe man sich das rotbackige, runde Kindergesicht, das auffallenderweise von schneeweißen Scheiteln eingerahmt war, genügend betrachten konnte, war sie resolut an den Tisch herangetreten. Sie hatte eine große Stallaterne in der Hand, und auf dem Arme trug sie ein Kind, ein kleines rotbackiges Mädchen, das aus großen blauen Augen klug und verwundert um sich blickte. Die Frau setzte die Laterne auf die Diele, schob die Lampe auf dem Tische beiseite, setzte das Kind behutsam in die Mitte, und sagte fest, aber nicht unfreundlich: »So, da habt ihr einen Trumpf drauf.«

Dieser kleine Vorfall hatte sich so schnell abgespielt, daß die Männer noch ganz verblüfft und wortlos dasaßen, als man schon wieder von draußen das Aufklappen der Lederpantoffeln hörte.

Das Kind sah der Reihe nach die vier Männer an, das Gesicht verzog sich zum Weinen, da neigte sich der hagere Mann mit verlegener Zärtlichkeit zu dem kleinen Mädchen und redete ihm freundlich zu, während er das rosige Gesichtchen gegen seine grobe, braun gewirkte Jacke drückte.

»So, so, Malchen,« sagte er tröstend, »nur nicht weinen, bis doch nich bange! Komm, wir wollen zur Mama, die legt dich in die Baba!«

»Baba – Mama!« lallte das Kind und legte die runden Ärmchen um den mageren Hals des Vaters. Gottlieb nahm Kind und Laterne und verließ mit kurzem Kopfnicken das Stübchen.

»Na, was ist denn das für eine böse Sieben, daß die uns hier das Spielchen verdirbt, 's is die Möglichkeit! Setzt uns den kleinen Balg wahrhaftig mitten in die Karten!«

Der das rief, war der Bader oder wie ihn die Niederstädter auch nannten, der »Balbier«. Er war erst seit einigen Tagen im Städtchen. Daß er sich für feiner und klüger hielt als seine Umgebung, das sah man schon seinem äußeren Menschen an; er trug nicht wie die anderen die gewirkte Wolljacke, sondern einen langen, kaffeebraunen Tuchrock; aber auch die geschraubte, überlegene Art, wie er mit den anderen umging, zeigte, wie hoch erhaben er sich neben den Siebenlehnern fühlte.

Noch ehe die Spielgefährten eine Antwort auf die Bemerkung des Baders fanden, bewegte sich beim großen Kachelofen der bunte Kattunvorhang, der nach sächsischer Sitte damals bei der ärmeren Bevölkerung den Wirtschaftsraum von der Wohnstube trennte und den man Hölle nannte. Eine Frau erschien, sie setzte sich auf den verlassenen Stuhl, schlug die Arme über der Brust zusammen und sagte in sächsischem Dialekt: »Wartet doch, bis Ihr die Leite kennt! Ene bese Sieben soll die Gevatter Cordel sin? Nee! das laß ich ni uf'r sitzen. Die beste Frau in der ganzen Niederstadt habt Ihr hinte gesehen. Freilich: Saufen, Spielen, Faulenzen, Schlechtes von seinen lieben Nächsten reden, nee das kann de Cordel ni leiden, aber hat se Eich e beses Wort gesait? Ich hab' nischt geheert, un ich bin ooch drinne gewest. De Cordel, wie die is! Resolut – ja! aber daderbei ni grob, ni ausfallend. Die war beese, daß der Gottlieb spielte; aber die hat 'ne Art! Von der können mer alle lernen!«

Der Bader lenkte ein und meinte: er als Fremder könne es ja nicht wissen, aber er ließe sich ja gern belehren, ihm könne es doch nur lieb sein, wenn er gute Nachbarn bekäme und sie möge ihm doch mehr von der Cordel erzählen, sie sei ihm gleich aufgefallen durch das weiße Haar, sie sei doch noch nicht so alt.

»Ach,« sagte die Frau, »von der Cordel kann man viel erzählen. Der Gottlieb hat se sich aus Scherme geholt, da war se viele Jahre Köchin in der Pfarre. Die hat von Pasters viel gelernt, die vielen Sprüche und Gesangbuchverse. He, wie die ihre Worte zu setzen weeß, da werd unsereener ganz kleene drneben. Un vun ihr, vun der Pastern, hat se das Salben- un Pflasterkochen gelernt. Was die alles weeß! Die kann gerade so gut wie Ihr Schröppköpfte un Blutegel setzen. Wenn man krank is, un se kummt mit en Krankensüppchen, da kriegt man noch en Bibelspruch oder sunst e gutes Trostwort mit. Und wie die Pastersleite viel uf se gehalten haben! Wie se Braut gewesen is, hat de Frau Pastern se selber geschmückt, hat ihr den Kranz ufgesetzt, un um den Hals hat se ihr en Duppeldukaten gehängt, den hat de Frau Pastern selber als Braut getragen. 's warn eben keene Töchter da, nor Söhne. Ja, de Cordel hat damals, so hört man, andere Träume gehabt; aber so junge Herren! Wenn se in de große Stadt kommen, da sin alle Schwüre vergessen! Die find't sich aber in alles, ob hoch oder niedrig! Die fercht' sich ooch vor niemanden, die red't mit'm Stadtrichter oder mit'm Pfarrer wie mit unsereenen! Vor e paar Jahren werd bei uns Einquartierung angesagt, ich kann aber grade gar keene gebrauchen, denn ich erwartete das Fränzchen. Das klagt ich der Cordel. Die geht heem, bind sich ne reene blaue Scherze vor un geht wahrhaftig ruf ufs Stadthaus, da red't se mit den Herrn; un nach 'ner Weile kommt se bei mir rein un sagt: ›Jette, deinen Soldaten nehm' ich dir diesmal ab, die Herren auf dem Rathaus sind einverstanden. Du bittest mich doch zu Gevatter, wenn du taufen läßt?‹ ›Ach ja, Cordel,‹ sagte ich, ›un wenn's e Mädel werd, da sull se Cordel heeßen,‹ aber 's wurde 's Fränzchen.«

»Hat sie denn damals, als sie den Pastersohn nicht kriegte, das weiße Haar bekommen?«

»Nee, o nee! Das is die Geschichte mit dem kleenen Fritz. Dadrzu is es aber hinte zu späte, das erzähl' ich Eich e andermal.«

2 - Der kleine Fritz

Wie war die Cordel zu ihrem weißen Haar gekommen? – Ach, das war eine traurige Geschichte.

Im Lauf der Jahre waren den Nellens vier Jungen geboren. Nun war die Wohnstube, die zugleich als Küche, Werkstatt und Laden benutzt wurde, nicht grade klein, aber als die vier Jungen heranwuchsen, wurde der Platz knapp, und zumal im Winter riß der Cordel oft die Geduld und seufzend entfuhr ihr der Ausruf:

»Warum muß denn grade ich nur solche wilde Spitzbuben haben! Nicht bändigen kann man die Schlingel! Andere haben kleine, sanfte Mädchen, die still sitzen oder der Mutter freundlich zur Hand gehen, aber grade ich muß solche wilde Bande haben!«

Und recht hatte sie: wo ein toller Streich auszuführen war, da waren gewiß die Nelleschen Jungen dabei. Als einen Hauptspaß hatten sie es angesehen, einem Bauer in Breitenbach den Wagen ins nächste Dorf zu fahren, mochte der Eigentümer sehen, wie er ihn wieder bekam. Im Herbst schnitten sie in ausgehöhlte Kürbisse schreckliche Fratzen, steckten sie auf eine Heugabel und ließen sie abends, nachdem sie ein Lichtstümpfchen hineingestellt hatten, in die Oberstuben sehen. Wenn die erschreckten Bewohner aufschrien, jauchzten die Jungen vor Vergnügen. Und wenn Klagen einliefen, jammerte Cordel: »Was ich an euch wohl noch alles erlebe! Nichts Gutes, das ist sicher!«

Eine Ausnahme machte der Jüngste, das Fritzchen.

»Da hat sich die Natur geirrt,« sagte Cordel, »der hätte ein Mädchen werden sollen.«

Fritzchen war ein zutrauliches, anschmiegendes Kind, das sich durch sein fröhliches Geplauder aller Herzen eroberte. Mit besonderer Liebe hing er an der Mutter. Er war immer bei ihr, trieb mit ihr die Gänse an den Bach, holte in seinem kleinen Tragkorb Streu und Futter für die Ziege und hatte für die Neckereien der großen Brüder nur einen traurigen, fragenden Blick aus seinen großen blauen Augen.

Als Fritzchen fünf Jahr alt war, sollte Nossener Markt sein. Nelle holte die große Marktkiste herbei, und geschäftig half das Kind dem Vater.

Mit welcher Freude schleppte er alles herbei, hatte ihm doch der Vater versprochen, er dürfe diesmal mit zum Jahrmarkt. Was kam da alles in die große Kiste! Zuerst die schweren Sachen: Lederhosen, Geldkatzen, schön gesteppte Taschen, die die Frauen an der Seite trugen, ferner Hosenträger und Handschuhe, und ganz oben hin kam das Lustige, Bunte: all die vielen, vielen Lederbälle. Nein, wie die hübsch waren, aus soviel bunten Lederläppchen waren sie zusammengenäht, und Fritzchen kannte sie einzeln, er hatte ja mit geholfen, hatte mit seinen kleinen Händen die Sägespäne hingereicht, die die Mutter hineinstopfte.

»Immer mehr her!« hatte die Mutter gesagt, »solch ein Ball kann gar viel in seinem runden, bunten Bäuchlein haben, ehe er satt ist!«

Und die Mutter mußte von den vielen, vielen Kindern erzählen, die durch ganz Sachsenland Vater Nelles schöne Lederbälle kauften, denn Vater Nelle war berühmt grade wegen der Bälle.

Am nächsten Morgen wurde die Kiste auf den Schiebbock gehoben, und klopfenden Herzens trottete Fritzchen neben dem Vater her. Der Weg war doch weit für den kleinen Jungen. Da war der große Berg von der Niederstadt in die Oberstadt, und wie lang dehnte sich nun die Pappelallee bis zum nächsten Städtchen. Aber nun waren sie da, und Fritzchen sah mit klugen Augen, wie der Vater eine schwarze Rolle entfaltete und sie vor die Bude hing. Er sah nachdenklich auf die weißen Buchstaben und fragte: »Was ist das, Vater?«

»Das ist das Schild,« sagte der Vater, und er las ihm vor: »Gottlieb Nelle. Beutler aus Siebenlehn.« Und das Kind freute sich und fühlte sich wichtig, daß alle die vielen Leute jetzt lesen könnten, wer sie wären. Nachdem die Bude eingeräumt war, wollte Fritzchen zum Schachtelmann, der hatte so schöne Flöten und in den vielen Schachteln die schönsten Häuser und Tiere. Aber noch ehe er den Schachtelmann erreicht hatte, war er müde und übersättigt. Ein plötzliches Heimweh befiel ihn, er fürchtete sich vor den vielen fremden Gesichtern und verlangte stürmisch heim zur Mutter. Nelle übergab seine Bude dem Nachbar und brachte das Kind in den nahen Gasthof. Die Wirtin hatte es eilig, schloß aber eine Stube auf und gab Nelle den Rat, das Kind aufs Bett zu legen.

»Komm, Fritzchen, du bist müde,« sagte der Vater, »leg' dich hin und schlaf, komm, ich bleib' bei dir.«

Und der Vater setzte sich ans Bett und wartete, bis Fritzchen eingeschlafen war. Nun ging Nelle in seine Bude. Nach einer Stunde kam er, um nach dem Kinde zu sehen, – aber – das Bett war leer! Niemand im Hause hatte das Kind gesehen.

»Der ist nun ausgeruht und sieht sich die Buden an,« sagte die Wirtin.

Hastig durcheilte der Vater den Markt, er fragte alle Bekannten, vergebens, niemand hatte das Kind gesehen.

»Bei den Bänkelsängern oder bei den Seiltänzern wird er sein,« so sagte man tröstend, aber auch da war Fritzchen nicht, auch nicht bei den Pfefferkuchen und nicht bei den wilden Tieren. Ach, dann war er wohl nach Hause gelaufen. Eilig warf Gottlieb seine Ware in die Kiste, stellte sie samt dem Schiebbock in den Gasthof und eilte heim. Keuchend trat er in die Stube.

»Wo ist Fritzchen?« fragte er erregt.

»Wo soll er denn sein? Du hast ihn doch mitgenommen?« sagte Cordel erbleichend. Ach Gottlieb! Wo hast du ihn? Er ist doch wohl nicht in die Mulde gegangen?«

»Bewahre!« sagte der Vater, dazu ist er zu groß. Er weiß, daß er nicht ins Wasser darf. Er muß sich verlaufen haben, aber wo soll ich suchen?«

Und Gottlieb suchte. Als der Abend kam, stellte sich Gottlieb ein, aber ohne das Kind. Ach, die lange, bange Nacht! – Mit Tagesgrauen ging der Vater wieder an seine trostlose Aufgabe. Natürlich wieder nach Nossen. Konnte das Kind die Neugasse entlang gegangen sein? Gottlieb verfolgte die Straße weiter, – weiter, bis er nach Marbach kam. Auch hier fragte er, ob man nicht einen kleinen verirrten Knaben gesehen hätte. Im Gasthofe war ein Kind, das sich verlaufen hatte. Zitternd, weinend hastete Gottlieb ins Wirtshaus. Und da war Fritzchen. – Aber sonderbar, er zeigte keine Freude beim Anblick des Vaters, auch nicht als dieser ihn zärtlich an sich drückte. Schlaff ließ er das Köpfchen auf des Vaters Schulter fallen, und als die weiche Wange des Vaters Gesicht berührte, da fühlte der, daß des Kindes Stirn und Bäckchen fieberheiß waren, er hörte, wie die kleine Brust arbeitete und wie der Atem pfiff. Auf alle zärtlichen Fragen sagte das Kind nur: »Heem! Heem!«

Gottlieb hörte wie im Traum, daß die Wirtsleute erzählten, es sei wohl nicht bei sich, es habe nichts genossen und sei doch seit gestern bei ihnen; ganz verstört habe es nur immer das eine Wort gerufen: »Heem! Heem!« Schwere Tropfen liefen dem armen Vater über die Wangen, während er sein krankes Kind nach Hause trug. Nur wenige Tage noch lebte Fritzchen. Der Doktor aus der Oberstadt sagte, der Kleine sei an Gehirnentzündung gestorben.

Von da an war Cordels Haar gebleicht. –

Es sollte noch schlimmer kommen. In der Niederstadt wütete die Halsbräune, auch bei Nellens zog sie ein und raffte in einer Woche den Paul und den Franz hinweg.

Wie war die Stube nun so groß, still und leer!

Auf dem Gottesacker drei Gräber!

Nun war nur der Älteste, Karl, noch da, der, als er herangewachsen war, das Handwerk des Vaters lernte.

Cordel aber, die ein zartes Gewissen hatte, nahm sich den Tod ihrer drei Jungen schwer zu Herzen; da sie manchmal gescholten hatte, fühlte sie ihr Schicksal als Strafe und quälte sich beständig mit Selbstvorwürfen, trieb einen übermäßigen Kultus mit den Gräbern, und die Nachbarn sagten mit bedauerndem Kopfschütteln: »Die arme Cordel! Ach Gott, die wird wunderlich!« – Dann aber überwand sie doch ihr Leid, das war, als ihr nach sechs Jahren wieder ein Kind geschenkt wurde. Und diesmal war es sogar ein Mädchen. In der Taufe erhielt die Kleine den Namen Concordia Amalie. Cordels Augen wurden wieder hell, die Stimme fröhlich und der Gang fest. Das Herz wurde wieder weit; es fühlte die Not und das Glück der anderen noch viel tiefer als ehedem. Wenn sie aber das lachende gesunde Kind ansah, da faltete sie ganz im stillen die Hände und ihre Lippen flüsterten: »Der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen.«

3 - Amalie im Elternhaus

Als Ersatz für die verstorbenen Knaben sah Mutter Cordel das Malchen an. Da der kleine Nachzügler noch dazu ein Mädchen war, so würde sie nach der Meinung der Eltern ein Ausbund von Sanftmut und Milde werden. Sie sollte doch das weichherzige Fritzchen ersetzen! Es war der Mutter daher kaum recht, daß Malchen statt des weichen Blondhaares eine Fülle dunkler Locken hatte. Aber die Augen, die erinnerten an das Fritzchen, die waren groß, graublau, aber viel lebhafter, viel schelmischer; und noch mehr Innigkeit lag in dem Blicke, wenn er zärtlich die Liebe der Mutter erwiderte.

Malchen wuchs heran, und die Eltern wunderten sich über die sonderbare Mischung, die der Charakter des Kindes zeigte. Die Eltern urteilten durchaus verschieden über ihr Kind. Die Mutter, die eine gradezu leidenschaftliche Liebe für ihr kleines Mädchen empfand, behauptete, sie könne Malchen mit einem Blick regieren. Der Vater sagte: »Siehst du denn nicht, wie dickköpfig und eigensinnig das Mädel ist? Was die will, das setzt sie durch! Wenn du nicht beizeiten aufpaßt, werden wir wer weiß was an der erleben.«

Das kränkte Mutter Cordel, und fragend ruhte oft ihr Blick auf ihrem heißgeliebten Kinde, und leidenschaftlich drückte sie dann die Kleine an sich und flüsterte: »Malchen! Malchen! Du wirst uns doch nie Kummer machen?« –

Das Kind kam zur Schule; und nun hatten beide Eltern ihren Spaß daran, wie ernsthaft und ausdauernd ihr Kind lernte, mit welcher Wichtigkeit und mit welchem Eifer sie die biblischen Geschichten wieder erzählte, und wie sie die Mutter mit Fragen nach den fremden Ländern quälte, wo sich diese Geschichten abgespielt hatten.

Der Lehrer staunte über die kleine »Nellen« und sagte oft zu den besser gekleideten Oberstädtern: »Wenn ihr euch nicht zusammennehmt, werde ich die kleine Nellen noch über euch alle setzen!«

Die kleine »Nellen« blieb aber unten sitzen, und das empörte sie, denn sie hatte von klein auf ein scharf ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Sie hatte auch einen großen Glauben an das Wort von Erwachsenen; denn die Eltern sagten ihr stets die Wahrheit; jedes Versprechen erfüllte die Mutter, ja sie ging lieber über das Versprochene hinaus, um nur ja nicht Glauben und Hoffen ihres Kindes zu täuschen.

Am Sonnabend nahm Malchen ihren Sechser Schulgeld mit in die Schule, einmal im Monat drei Pfennige für Benutzung der Gänsefedern, und ebenfalls einmal monatlich einen Pfennig für Tinte. Bücher wurden nicht viel angeschafft. Den »Sächsischen Kinderfreund« erbte Malchen vom Karl, und als sie erst die Geheimnisse des Lesens innehatte, ließ es ihr keine Ruhe, bis sie alle die kleinen rührenden und moralischen Geschichten durchgelesen hatte. Nun verlangte sie mehr. Auf dem Eckbrett lagen Bibel, Gesangbuch und der Freiberger Bergkalender. Der letztere hielt nicht lange vor. Da verwies Mutter Cordel ernsthaft ihr Kind auf Bibel und Gesangbuch und bestand darauf, daß Malchen viele der alten Lieder auswendig lernte. Zufrieden war aber Malchen damit nicht, sie stöberte überall herum, und als die Niederstadt nichts mehr hergab, da setzte sie sich mit dem Kantor-Klärchen in Verbindung. Es fand sich, daß in der Oberstadt der Buchbinder einen Extra-Glasschrank hatte, der ganz voll von Büchern war; für einen Pfennig die Woche konnte man haben, was man nur mochte. Ja dieser Bücherschrank, das war eine Welt! Malchen übertraf das Kantor-Klärchen an Lesefähigkeit, und mit Kopfschütteln sahen Nelles die wunderbarsten Bücher bei sich ein- und auswandern; Ritter- und Räubergeschichten wechselten mit moralischen Jugendschriften und Reisebeschreibungen. Der Vater schalt über das dumme Zeug und sagte: »Ich will froh sein, wenn das Mädel erst konfirmiert ist; dann rührt sie mir keine von diesen Scharteken mehr an; dann setze ich sie an den Werktisch und sie hilft mir im Geschäft. Wenn ich mal nicht mehr kann, nehm' ich mir einen Gesellen, und der mag das Malchen heiraten.« Mutter Cordel seufzte: »Ach wer mag so lange voraus denken, es kommt meist ganz anders, als man glaubt.«

Die Vorbereitungszeit zur Konfirmation begeisterte Amalie. Kein Schimpfen und Schelten wie in der Schule, nur Erbauung und Erhebung! Ja, wer das immer haben könnte! Sie ging eifrig zur Kirche und erzählte mit Begeisterung zu Hause die Predigt. Der Pastor hatte seine helle Freude an ihr, und nach der Konfirmation kam er wahrhaftig in das kleine Haus der Niederstadt und beglückwünschte die Eltern zu einem so gesunden und aufgeweckten Kinde. Ja, er brachte Malchen sogar ein großes Geschenk, zwei Bände: »Stunden der Andacht« von Heinrich Zschokke. Als der Pastor von Nelles hörte, mit welcher Lesewut seine Schülerin behaftet war, da bat er sie ernst und eindringlich, die andern Bücher zu meiden und nur »Stunden der Andacht« zu lesen. Malchen versprach es und begab sich nun mit größtem Eifer an die neuen Bücher. Sie war so begeistert davon, daß sie sich Sonntags in den nahen Wald setzte und ganze Andachten auswendig lernte. Ihre Sprache bildete sich an dieser eigentümlichen Übung und bald sagten die Leute: »Die Nellen-Male redet wie e Buch.«

»Paßt uff,« sagten noch andere, »wenn hier mal Komödianten her kommen, da geht de Male mit, die is ja ganz überspannt!«

Mutter Cordel aber sagte stolz: »Wenn mein Malchen ein Junge wäre, da setzte ich's durch, daß sie auf den Schulmeister studierte, den Kopf dazu hat sie allemal!«

Außer mit dem Kantor-Klärchen ging's nicht recht mit den Altersgenossinnen. Die gingen zu Tanz, unterhielten sich über Putz und schafften sich bald einen Schatz an. Gegen diese Dinge hatte Amalie einen offenen Widerwillen.

»Ja, was is denn das mit der albernen Nellen-Male? Was will denn die? Die is doch gar ni wie andere Mädel, aber die soll doch ni tun, als wär se was Besseres. Das hat schon manche gedacht, und was hat man an solchen derlebt!? Na! Na! – Man hat Beispiele!« So sagten die Alten kopfschüttelnd in der Niederstadt, und die Jungen gaben ihnen recht. Denn neulich bei Schwenkes, wo Malchen mit ihren Gefährtinnen zusammen gewesen war, da hatten sie auch lachend über Liebesgeschichten gesprochen, da war mitten in der Unterhaltung Malchen aufgestanden, hatte sich in der Tür umgedreht und entrüstet gerufen: »Schämt euch! Wißt ihr nichts Besseres als ewig eure Liebeleien?« und dann war sie verschwunden.

Ja Besseres? Gab es denn etwas Besseres als einen Schatz? Sie wollten doch mal sehen, wenn sie, die Male, erst mal einen hätte, ob sie dann so spräche? Oder waren etwa die Trauben sauer? Die war doch gar nicht wie ein Mädchen, da sie an nichts Freude hatte, was den anderen das Schönste und Liebste deuchte? Aber wart, ihre Stunde würde auch noch schlagen, und dann sollte sie's zu hören bekommen!

Amalie und Kantor-Klärchen gaben sich das Wort, sie wollten nie, niemals heiraten, es sei denn, es käme mal einer, der hoch über ihnen stände, den sie als ihren Herrn anerkennen könnten. Allerdings, dann wollten sie »ja« sagen und oh, so glücklich werden.

Klärchen fand sehr bald in einem Registerschreiber, der beim Bergamt angestellt war, ihr Ideal. Trotz des schroffen, ablehnenden Wesens, das Amalie den jungen Burschen offenkundig entgegen brachte, bemühten sich doch manche Handwerker um das frische, lebhafte Mädchen; aber weder der Leineweber noch der Sattler, weder der Bergmann noch der reiche Mehlhändler aus der Oberstadt fanden günstiges Gehör; sie schickte einen nach dem andern heim. Die Eltern schüttelten den Kopf, was sollte daraus werden? Wenn ein Mädchen in die Zwanzig kommt, und es werden ihm Anträge gemacht, da zieht man es doch in Erwägung. Worauf wartete sie denn? »Das kommt von der ewigen Leserei und Lernerei!« knurrte der Vater; die Mutter meinte seufzend: »Man muß doch Geduld mit ihr haben!« »Geduld! Jawohl Geduld!« sagte der Vater. »Wartet sie etwa, daß ein Studierter hier herunter steigt, vielleicht ein Advokate oder ein Pfarrer? Die läuft noch mal tüchtig an, aber du läßt ihr auch immer in allem ihren Willen!«

Karl war lange weg, der war auf die Wanderschaft gegangen, nachdem er das Handwerk des Vaters gelernt hatte. Seinen Platz sollte Amalie ausfüllen. Sie tat es seufzend; denn den ganzen Tag in Leder nähen, und noch dazu unter den strengen Augen des Vaters, das war wahrlich kein Spaß. Meist hatte sie doch in der Schieblade, wo sie Wachs, Zwirn und Nadel hatte, heimlich auch ein Buch – es war nicht mehr Zschokke – in dem sie las, wenn der Vater einen Geschäftsgang machte.

Das Einerlei dieses ruhigen Lebens wurde unterbrochen durch das jährlich wiederkehrende Königschießen, durch die Jahrmärkte, die Vater Gottlieb regelmäßig besuchte, und durch die Briefe, die vom Karl aus der Fremde kamen. So ein Brief wurde nach und nach Eigentum der ganzen Niederstadt. Zuerst ging Mutter Cordel, den Brief in ein weiß und blau kariertes Schnupftuch gewickelt, zum Pastor, der las ihn noch einmal laut vor und machte seine Bemerkungen dazu. Gewöhnlich holte er eine Landkarte herbei und zeigte der Mutter Cordel ein kleines Pünktchen, mit dem Bemerken, da sei jetzt der Karl. Mutter Cordel nickte; sie konnte sich gar keine Vorstellung machen, was die Punkte und die bunten Linien mit Karls Aufenthalt zu tun hatten; aber sie ließ die Sache auf sich beruhen.

Eines Tages kam ein Brief, der brachte große Aufregung in das kleine Häuschen der Niederstadt. Karl war bis Bukarest gekommen, er hatte die Tochter seines Meisters geheiratet, und die war katholisch. »Katholisch!« rief Mutter Cordel entsetzt. Ach, das mochte sie dem Pastor ja gar nicht sagen! Sie hatte sich doch so viel darauf zugute getan, daß die Sachsen gut evangelisch waren, und nun nahm sich der Karl eine katholische Frau!

Aber wissen mußte der Pastor das, vielleicht konnte er etwas zum Troste und zur Beruhigung sagen. Kurz entschlossen schritt sie in die Pfarre, und wer sie zurückkommen sah, konnte bemerken, daß sie still und nachdenklich, ohne bei den Nachbarn vorzukehren, wieder nach Hause ging. Was der Pastor zu der Heirat ihres Ältesten gesagt hatte, das blieb ihr Geheimnis.

4  -Gevatter Krummbiegeln

Gottlieb Nelle war mit seinen Lederwaren nach Freiberg zum Herbstmarkt gefahren. Mutter Cordel war mit Malchen allein. Als sie sich grade zum Nachmittagskaffee setzen wollten, klopfte es. Auf ihr »Herein!« trat eine frühere Nachbarin, die verwitwete Krummbiegeln, herein. Die »Frau Gevattern« wurde von Mutter Cordel mit großer Herzlichkeit empfangen und zum Kaffee genötigt.

Die Krummbiegeln war ein vertrocknetes Weibchen, deren lebhaftes, neugieriges Gesicht eulenartig aus der Umrahmung der weißen Mütze herausschaute. Auf der stark entwickelten Nase saß eine große, schwarze Hornbrille, hinter der die dunklen, glänzenden Augen in beständigem Wechsel den Beschauer anblitzten. Ach ja, die Krummbiegeln! Die »derlebte« immer so viel und so wunderbare Dinge. Wenn man der zuhörte, war es fast, als wenn man ein spannendes, geheimnisvolles Buch läse. So dachte Malchen, als sie die goldberänderte Tasse von der Kommode holte.

»Ich will mich gar nich aufhalten, habe weder meinen Spinnrocken noch die Laterne mitgebracht, muß deshalb bald wieder fort, denn ich geh ni gern im Finstern den buckligen Berg rauf. Von euch könnt auch mal eine in die Oberstadt kommen. Ihr wißt wohl gar nichts von da oben, wißt nich, daß ich meine Oberstuben vermietet habe?«

»So? – Nein, wir wissen von nichts. Hast du denn hübsche Leute herein gekriegt?«

Die Krummbiegeln setzte sich in Positur und sagte langsam und wichtig: »Ich habe einen Herrn!«

»Einen Herrn?!« riefen Mutter und Tochter überrascht. »Einen Herrn? Ja, wo kommt denn der her?«

»Der kommt nich her, der is schon lange hier, und wenn ihr nur mal aus eurer alten Niederstadt heraus fändet, da könntet ihr ihn schon gesehen haben. Er war doch in der Apotheke beim alten Kleeberg; aber weil du immer selbst die Pflaster und Tees zurecht machst, kommst du ja in keine Apotheke.«

»Du hast recht. Ich wüßt nicht, wann einer von uns in der Entengasse gewesen wäre.«

»Der is lange aus der Entengasse weg, hat bei der Metzeln gewohnt, da war's ihm nich groß genug; nun is er zu mir gezogen.«

»Einen Apotheker hast du! Das ist aber was Feines und Apartes!«

»Freilich, fein und apart, aber doch eben nicht mehr Apotheker.«

»Nicht? – Ja, was tut er denn, wenn er doch beim Kleeberg war?«

»Das is ja grade die Sache! Was tut er, – was is er! – An seiner Tür is ein schwarzes Schild mit gelben Buchstaben, darauf steht:

A. W. S. Dietrich, Naturforscher.«

»Na–tur–forscher?!« – rief Malchen interessiert, »ach Pate, was ist denn das?«

»Bist doch sonst so klug und weißt das nich? Soll ich's euch sagen?« – – sie hob sich in der Erregung halb vom Stuhl auf, hielt die Hand seitwärts an den Mund und sagte in lautem Flüsterton: »Ein – Hexenmeister!«

»Ach,« sagte Malchen lachend und doch zusammenschauernd: »Das gibt's ja gar nicht. Vor ein paar hundert Jahren hat man so was geglaubt, und da hat man solch arme Leute verbrannt. Aber das ist doch Aberglaube!«

»So? Da hast du's, Cordel! Dein Mädel glaubt nichts mehr. Die hat zu viel gelesen. Man liest sich um alle Religion, wenn man immer die Nase in die neumodischen Bücher steckt. Cordel, du sollst sie mehr in der Bibel lesen lassen, hast du nie von der Hexe zu Endor gelesen? Siehst du? Gibt's Hexen, oder gibt's keine?«

»Aber,« sagte Cordel vermittelnd, »was tut denn dein Herr – –«

»Dietrich!« ergänzte die Krummbiegeln. »Was er tut? Kommt nur mal rauf und seht euch mal seine Stuben an, wenn er mal nich zu Hause is! Er schließt nich ab; er weiß wohl, daß ihm niemand seine Drachen und Molche stiehlt! Aber davon abgesehen, er hat doch den Mendler Fritz dazumalen verhext! Den kennt ihr wohl auch nich? Nach der Konfirmation sollte der Fritz beim Einzelmann das Schneiderhandwerk erlernen. Da kommt er eines Tages vom Dreierhäuschen – ihr wißt, man kriegt da immer die gute Semmelmilch, die reine Sahne, sag' ich euch, – na, wie er da durch den Wald geht, kommt er an den Teich, wo die Mönche von Zella all ihr vieles Gold und Silber versenkt haben, damals, wie die neue Lehre kam. Seitdem geht's da um. Na, wie der Fritz an den Teich kommt, kniet da Herr Dietrich, hat auf dem Rücken eine grüne Blechtrommel, neben sich hat er einen langen Stock in die Erde gesteckt, daran baumelt ein langer, weißer Mullbeutel. Wie der Fritz näher kommt, steckt Dietrich gerade eine feuerrote Hutschje (Kröte) in die Blechtrommel. Der Fritz is neugierig und tritt näher heran, da macht Dietrich so wunderliche Zeichen, murmelt einen Zauberspruch, und seitdem is der Fritze verhext. Glaubt ihr, der wollte dann noch Schneider werden? Kein Ge–dan–ke! Der Mann braucht ihn nur anzusehen, da muß der Fritze hinter ihm her, immer hinter ihm her, schon jahrelang; und was Dietrich will, das muß er tun; er kriegt nichts dafür, höchstens dürftiges Essen. Denkt euch, Dietrich geht weit hinaus, in ganz fremde Länder; und der Fritz muß mit und muß auf seinem Buckel all das giftige Kräuticht und die schrecklichen Tiere tragen. Ja, weit, weit kommen sie herum, ich glaub' zu Türken und Heiden kommen sie. Der Fritz hat erzählt, er hätte so viel Wasser gesehen, wie wir hier Himmel sehen, und Schiffe hat er gesehen! Hitze und Kälte hält er aus, und Hunger und Durst, wenn er bloß bei dem Manne sein darf. Ihr könnt euch denken, daß seine Schwester ganz außer sich darüber ist. Sie hat mich händeringend gefragt, wie sie den Bruder loskriegen könnte; da hab' ich ihr geraten, irgend etwas, was Dietrich dem Fritz geschenkt hat, heimlich wegzunehmen und zu verbrennen, dann hat die Flamme den Bann durchgebrannt. Das hilft sonst immer, aber die Ginzelmann sagte, als sie des Bruders Arbeitsschürze verbrannt hätte, die er vom Dietrich hat, hätte es nur einen furchtbaren Gestank und Qualm gegeben, der sei stundenlang in der Wohnung gewesen; aber dem Fritz sei nichts anzumerken, der sei grade so erpicht auf den Dietrich wie vorher. Jetzt lass' ich meine Hände aus dem Spiel. Der ist mir über! Denkt euch, all das schreckliche Viehzeug kocht er mit einer blauen Flamme in großen Pfannen und Tiegeln ein und setzt es in der Brühe hin, in Glashäfen, grade wie wir Quitten oder Preißelbeeren. Schrecklich! Das sind natürlich die Zaubertränke! Und denkt euch, beim Gastwirt Otto, da hat er manchmal den Saal gemietet, und da hält er Predigten; da kocht er auch manchmal.«

»Ach, davon hab ich nie gehört. Wer sollte denn da hingehen?«

»Na, du und ich freilich nich, aber da sollen ganz vornehme Herren zuhören. Von Reinsberg, von Biederstem, von Hirschfeld, von Neukirchen, na von der ganzen Umgegend kommen Hauslehrer, junge Landwirte, Schullehrer, Apotheker und sogar Pfarrer und hören ihm zu. Sie sollen alle ganz versessen auf ihn sein. Die Otto'n hat an der Tür gehorcht, hat aber nichts klug gekriegt, kann nichts wieder erzählen. Na, das mögen schöne Predigten sein! – Malchen verschling mich nich mit deinen Blicken.«

»Zu gern möcht' ich den kuriosen Mann mal sehen!« sagte Malchen halb lachend, halb erschauernd.

»Wünsch' dir's nicht!« sagte die Krummbiegeln feierlich. »Stell' dir doch nur mal vor, wenn er dich auch verhexte, und wenn du hernach egal Molche und Drachen auf deinem Buckel durch die Welt schleppen müßtest!! Denk, könntest nie los, müßtest immer und immer nur hinter dem Manne her!! Nicht wahr, Cordel, das wäre ein Schicksal!«

»Denkt doch, daß es Abend ist. Ihr macht uns ja gruseln, und wir beide sind doch ganz allein.«

»Ja, ja,« sagte die Krummbiegeln, während sie sich das Tuch umband, »ich könnte euch noch den ganzen Abend erzählen. Das hab' ich noch gar nich gesagt, den Schlangen, die er fängt, kann er das Gift weg hexen; er greift sie mit bloßen Händen an, und keine tut ihm was! Ach ja, was ich alles derleb! Ich hab' jetzt solche schöne Aussicht von meinem Fenstertritt aus. Denkt euch nur, neulich wurde die Spritze probiert; ganz bis zum Kirchturm hin ging der Strahl, alle Leute traten vor die Türen, und der ganze Markt stand voll von Kindern!« Draußen sagte sie zu Malchen: »Wenn du mal kommst, zeig' ich dir all das Teufelszeug. Gute Nacht, schlaft gut!« Mutter und Tochter verharrten ein Weilchen in Schweigen; dann setzte Amalie die hochbeinige Blechlampe auf den Tisch und machte Licht. Beim matten Schein des Öllämpchens sah Cordel, wie Amaliens Gesicht glühte, wie ihre Augen strahlten und wie um ihren Mund ein anmutiges, versonnenes Lächeln spielte. Einem unbestimmten Angstgefühl nachgebend, sagte sie mit Nachdruck: »Malchen, daß du dich nicht unterstehst und zur Krummbiegeln gehst, hörst du?!«

»Ja, was denn, Mutter?« fragte Amalie, wie aus einem Traum erwachend.

»Ach, ich bin ganz ärgerlich! Meinst, ich seh' dir's nicht an, daß dir die Krummbiegeln mit ihren albernen Hexengeschichten den Kopf verdreht hat? Nur gut, daß Vater gar nicht zu Hause war, der kann so was nicht ausstehen. Jetzt komm, laß uns den Abendsegen lesen; und dann vergiß den Unsinn.«

»Hm,« sagte Amalie lächelnd, »ich streit' mich freilich mit der Pate, und da meint sie, ich wäre ihr entgegen. Sie sollte nur wissen, wie gern ich ihr zuhöre, denn, Mutter, das mußt du doch sagen, so spannend wie sie, kann niemand sonst erzählen. Mir ist, als wolle der Kopf auseinander,« und Malchen fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfe.

»Ach, du bist ein unverständiges, aufgeregtes Mädel,« schalt die Mutter.

5 - Amaliens Traum

»Na Malchen, weil der Vater nicht zu Haus ist, habe ich dich mal in den hellen, lichten Tag schlafen lassen. Ich hab' derweile das Vieh beschickt, Ziege gemolken, Schwein, Gänse und Hühner gefüttert. Ich bin heute extra früh aufgestanden, ich hatte gar keine Ruhe mehr im Bett; immer mußte ich an den Karl denken! Wie halt' ich's nur aus, daß ich den Jungen in meinem ganzen Leben nicht wieder sehen soll! Und eine Griechisch-Katholische nimmt er sich! Ach Malchen, wie hätt' ich wohl denken können, daß ich so was an meinem Kinde erlebe! Was wird denn nun aus all den schönen Betten, die ich in Jahren aufgespart habe, wenn der Junge gar keine abkriegt! Wenn mal jemand da herunter reiste, da würde ich bitten und betteln, daß er sie ihm mitnähme. Wenn man nun in einer so großen Stadt wie in Freiberg wohnte, da könnte man wohl eher einen auffinden, und wenn ich's ins Wochenblättchen setzen lassen sollte. Die schönen Betten! Alle von selbstgeschlachteten Gänsen, und die Federn hat man selbst geschliffen, der Vater hat so treu dabei geholfen. Na, wenn's durchaus nicht anders ist, mußt du sie mal alle allein haben. Aber du bist ja wohl noch gar nicht wach, du hörst ja gar nicht zu! Wo sind denn deine Gedanken?«

»Ach Mutter, sei nur nicht böse, ich hab' freilich kaum zugehört, oder doch, ja, ich hab' gehört, daß du egal von Gänsen und Betten gesprochen hast und vom Karl, und ich war mit meinen Gedanken noch ganz bei meinem Traum, der war sonderbar, und ich habe so lebhaft geträumt, daß ich mich noch gar nicht zurechtfinden kann. Bleib nur noch ein bißchen sitzen, mein gutes Mutterchen, ich helf' dir nachher, da werden wir fix fertig; und ans Nähen brauch' ich heut nicht.«

»Hat der Vater denn nichts Zugeschnittenes zurückgelassen?«

»Nein, laß nur. – Wie schade, so deutlich und so merkwürdig war mein Traum. Aber ob ich ihn dir so erzählen kann? Ich weiß nicht, ob ich die Worte so setzen kann!«

»Du? Da ist mir nicht bange! Wenn du nur erst den Anfang hast.«

»Ja, ja,« sagte Amalie ernst sinnend, und fing dann zögernd an, überwand aber bald jede Scheu und Befangenheit und erzählte so lebendig, daß die Mutter ihr staunend folgte.

»Mir träumte, ich stand in einem großen, dunklen Raume. Weißt du, Mutter, ich habe einmal einen verlassenen Schacht gesehen. Nun so etwas war es, wo ich stand. Eine düstere Ebene, wo in weitem Umkreis nichts Grünes wuchs, nur taubes Geröll. Aber mir war kein blauer Himmel, sondern eine graue, kalte Steindecke; und ebenso graue Wände schlossen die Ebene ab. Von den Wänden tropfte trübes Wasser. Ich sah mich lange um, bis ich überhaupt das graue Gestein sehen konnte. Ich war nicht allein in diesem großen, unheimlichen Gewölbe, ich merkte, du warst gar nicht weit von mir; ich tastete nach dir, da preßtest du mich heftig an dich und ich fühlte, daß dein Gesicht naß von Tränen war. Als du sprachst, klang mir deine Stimme hohl und fremd; und ich verstand nicht, was du sagtest. Vor mir war ein großer Haufen Steine aufgerichtet, ich machte mich los von dir und tastete an dem Steinhaufen herum. Ich versuchte, ob ich nicht hinaufreichen könnte. Wenn ich mich auf die Zehen stellte, da ging es. Bei dem Tasten kam meine Hand an ein Gefäß, eine Schüssel oder Schale war es. Ich gab dir die Schale und sagte: ›Halt doch mal, ich muß sehen, was darin ist.‹ Ich tat einen Griff hinein und wurde gewahr, daß lauter Ringe darin waren. Ich ließ sie spielend durch die Finger gleiten, und obgleich ich nur schlecht sehen konnte, hatte ich die bestimmte Empfindung, daß sie alle schwarz und rostig waren. Ich schob dir das Gefäß zu, und da sah ich plötzlich, daß doch einer der Ringe blank war und im Dunkeln aufblitzte. Da suchte ich den heraus. O, die Freude über den glänzenden Ring! Ich steckte ihn an den Ringfinger der rechten Hand, hielt glücklich prüfend die Hand nach unten und sagte: ›Mutter! Sieh doch nur!‹ ... O, mir wurde so warm und wohl in dem kalten Gewölbe; und die Wärme und das belebende Gefühl ging von dem Ring aus. Übermütig bewegte ich die Hand auf und ab, und da –! Der Ring fiel in das Geröll. ›Ach mein Ring!‹ rief ich angstvoll, ›komm, Mutter, hilf mir doch suchen‹. Ich hörte keine Antwort von dir. War ich denn in dieser Einöde allein? Wo warst du denn? Ich tastete nach dir, ich rief dich, und da sah ich wie halb durch Nebelschleier freilich wieder eine Gestalt, aber du warst es nicht. Es war ein Kind, das deine Züge trug, es war blaß und traurig und schien in seinem dünnen Hemdchen zu frieren. Ich wollte immer näher heran an das Kind, aber ich konnte nicht. Was eigentlich zwischen uns war, das konnte ich nicht sehen, aber da es auf feuchten, spitzen Steinen zu stehen schien, rief ich heftig hinüber: ›Was stehst du da? Geh doch fort von da! Geh doch hinaus ins Freie, in den Sonnenschein! Geh, geh!‹ Ich wollte es fassen, aber es zerfloß, und meine Hände fühlten nur kalten, feuchten Nebel. Ach, wie konnte ich mich auch mit dem Kinde aufhalten. Ich mußte doch den Ring suchen. Ach wie hoffnungslos in dem dunklen Raume einen so kleinen Gegenstand zu suchen! Wie konnte ich ihn zwischen dem Geröll wohl wieder finden? Aber suchen mußte ich! O, ich fühlte einen solchen Eifer, eine so brennende Unruhe in mir. Ich achtete nicht darauf, daß ich mir an den spitzen Steinen die Hände blutig ritzte. Erschreckt fuhr ich oft zusammen, denn ich hatte beim Tasten ekles Gewürm berührt. Molche und Kröten sahen mit starren, verglasten Augen meinem Treiben zu. Ich aber ging gebückt und mußte suchen, immer, immer suchen! Und ich blieb immer in dem dunklen Raume, und ich kroch immer auf den glitschigen Steinen herum. Kniee und Rücken schmerzten, die Hände bluteten, aber es half nichts, ich suchte den Ring! Daß die Höhle gar keinen Ausgang hatte! Daß man gar kein Stückchen Himmel sah! – Müde richtete ich mich auf, – da war's mir, als würden die riesigen Steinwände auseinander geschoben und Licht – und Himmel winkten. Ich wankte dem Licht entgegen, und o, wie weit und hell wurde es! Und was sah ich alles! Als ich in die Schule ging, hat uns der Lehrer mal ein Bild gezeigt: Adam und Eva im Paradiese. So war das, was ich im Traume sah, hohe Palmen, große, bunte Vögel, in der Ferne Berge, Wasser, und auf dem Wasser Schiffe, und in dieser merkwürdig schönen Gegend liefen fremdartige Menschen herum, schwarz waren sie, so wie ich es in Reisebeschreibungen gelesen habe. Hier in dieser glühenden Sonne wanderte ich frei und glücklich umher, und ich wäre wohl noch da, wenn du mich nicht plötzlich gerufen hättest.«

»Na, dann war's in einer Weise ja gut, daß ich dem Wandern ein Ende machte. Aber Malchen, wie du erzählen kannst! Wenn ich nun ein Traumbuch hätte, könnten wir mal nachsehen. Der Ring?! – Hm. – Ach was sitzen wir hier und simulieren! Das Ganze kommt doch natürlich alles von der Krummbiegeln. Ich sag's dir noch mal, geh du ja nicht zu ihr. Ich geh' lieber gelegentlich mal hin, ich hab' ruhigeres Blut, mir macht ihr Reden keine bunten Träume. Aber wo denkst du hin! Sieh doch nur mal nach der Uhr. Mein schönes Frühaufstehen ist ganz drauf gegangen.«

6 - Waldeszauber

Es war Herbst. Mutter Cordel und Amalie gingen in den Zellwald, um Pilze zu suchen. Die Mutter mahnte zur Vorsicht. »Nur Pfifferlinge und Steinpilze!« sagte sie warnend, »und zeig' sie mir, eh' du sie in den Korb tust, man kann sich sonst den Tod nach Hause tragen. Paß auf, wenn du Arnika-Blumen oder Baldrian findest, die laß uns mit nehmen.«

Und als sie im Walde waren, bückte sich die weißhaarige Frau mit jugendlichem Eifer, um aus dem grünen Moos und Rasen die hübsch geformten gelben Schwämme zu pflücken. Nun stiegen sie den sanft gebogenen Hügel hinauf; oben angekommen, fällt der Blick auf den klaren Waldbach. »Die gute Bache« nennen ihn die Leute. Von oben sahen sie, daß jemand am Ufer im grünen Moos lagerte. Ein Herr war's. Über den dunkelgrünen Tuchrock fiel ein breiter weißer Kragen mit Hohlsaum bis herab auf die Schultern. Das braun gewellte Haar war ihm über die Stirn gefallen, denn er hielt den Kopf vornüber gebeugt. In der linken Hand hielt er ein winziges Zweiglein Moos, das er durch ein großes Augenglas aufmerksam betrachtete. Jetzt richtete er den Kopf in die Höhe, und die beiden Frauen sahen, daß er ein feines, blasses Gesicht hatte. Neben ihm lag eine grüne Blechkapsel und der leichte Strohhut, am nächsten Stamme lehnte »der lange Stock mit dem Mullbeutel«.

Beide wußten, das ist »Herr Dietrich«, das ist »der Zauber- und Hexenmeister«, von dem die Krummbiegeln an jenem Nachmittag so wunderliche Dinge erzählt hat. Also das ist er! So sieht er aus! So schmächtig und fein! Das Gesicht kann man ja noch nicht recht sehen. Wie lächerlich, von ihm solche Geschichten zu erzählen. Wenn er sie nicht sieht, können sie ihn ja ruhig von hier aus beobachten. Er sieht ganz anders aus, als andere Leute.

Aber jetzt griff er nach dem Hut, und dabei fiel sein Blick auf die beiden Frauengestalten. Ein Lächeln flog über sein feines Gesicht, und lebhaft rief er: »Ei, da haben Sie Arnica montana und Valerina officinalis? Hoffentlich haben Sie noch einige für mich stehen lassen, ich will heute auch noch welche haben.«

Mutter und Tochter sahen einander verlegen an: was sagte er außer »Arnika« noch? War das etwa einer der Zaubersprüche, von denen die Krummbiegeln gesprochen hatte?

Mutter Cordel sagte zögernd: »Nein, wir haben sie nicht alle abgepflückt. Wollen Sie meinen Strauß haben? Wir finden wohl wieder welche.«

Mit ausgestrecktem Arm ging Mutter Cordel auf den Herrn zu und Malchen folgte ihr.

»Da!« sagte Mutter Cordel und reichte ihren Strauß hin.

»Was soll ich denn damit?« sagte der Herr hochmütig und mißbilligend; »die Blumen sind ohne Sinn und Verstand gepflückt! Ganz gedankenlos abgerissen! Keine Wurzelblätter! Was wollen Sie denn damit? Ein hübscher Strauß ist's doch auch nicht?«

Mutter Cordel zog errötend die gescholtenen Blumen zurück und sagte gekränkt:

»Was brauch' ich denn Wurzelblätter! – Ich setz' die Blumen auf Spiritus. Arnika ist gut gegen das Reißen, und den Baldrian trockne ich zu Tee. Ich hab' schon manchem damit gut getan.«

»So, so!« sagte der Herr, »haben Sie denn noch mehr Kräuter da in Ihrem Korbe?«

»Da haben wir Pilze.«

»Na, damit nehmen Sie sich in acht! Kennen Sie sie auch genug?«

»Wir nehmen nur Pfifferlinge und Steinpilze.«

»Es gibt hier viele eßbare Sorten, aber sicher muß man sein.«

»Na, ich nehme immer eine Zwiebel oder – –«

»Oder einen silbernen Löffel,« fiel der Herr der Cordel in die Rede, »das ist ja alles Unsinn und Aberglaube! Kennen lernen, kennen lernen, das allein schützt vor Irrtum!«

Der Herr hatte sich erhoben, hing sich die Kapsel über den Rücken und nahm das Netz, dann sagte er, und zog dabei die Augenbrauen hoch:

»Ich weiß aber, wo Pilze stehen! An der Stelle heißt's: Pilze, Pilze überall! So viel verschiedene Sorten! Einen Tragkorb könnten Sie füllen; der Handkorb, so groß er ist, faßt sie nicht. Kommen Sie, ich zeig' sie Ihnen.« Und als die beiden zögerten, sagte er lebhaft: »Sie trauen mir wohl nicht? Nur ganz ruhig, ich kenne sie! Also vorwärts!«

»Nein, bange bin ich nicht, daß Sie sie nicht kennen, denn wir können uns ja denken, wer Sie sind: Sie sind der Herr Dietrich, der bei der Krummbiegeln oben wohnt. O, die hat uns viel von Ihnen erzählt.«

Dietrich lachte auf und sagte: »Die Krummbiegeln hat Ihnen von mir erzählt, na, das möchte ich gehört haben! Ich bin ein Hexenmeister und so weiter!« Und nun wandte er sich an Malchen und sagte: »Was hat denn die Alte erzählt? Ach ich kenne ihre Rederei; Mendler lacht sich ja halbtot über die Alte.«

Malchen wagte einen scheuen Blick nach Dietrich hinüber. Er war ja schön! Das hatte die Krummbiegeln gar nicht gesagt. Das Gesicht war fein und vornehm, die blauen Augen so groß und klug; wenn er sprach, hatte er ein so lebhaftes Mienenspiel. Wie gern sah man ihn an! Aber ein bißchen Furcht hatte sie vor ihm, das hing wohl mit dem großen Respekt zusammen, den sie in seiner Nähe empfand. Nur vorm Pastor hatte sie solchen Respekt. Den jungen Burschen ihrer Bekanntschaft gegenüber hatte sie nichts von Verlegenheit oder von Schüchternheit empfunden.

Merkwürdige Pfade führte er sie. Hier waren sie früher nie gegangen. Der Weg war dicht verwachsen von nicht allzu hohen Fichten, die in ihrem Wachstum gehemmt schienen. Durch dürre Zweige mußten sie sich hindurcharbeiten, die mit lang herabhängenden grauen Flechten bewachsen waren. Und unter ihnen ein elastischer Teppich von grauen Flechten, soweit das Auge reichte. Aber der Blick reichte nicht weit, immer hatten sie mit dem Auseinanderbiegen der dürren Zweige zu tun, dabei kamen ihnen beständig Spinneweben und Sommerfäden ins Gesicht, so daß Amalie ganz ungeduldig mit beiden Händen ihr Gesicht wischte und abwehrend die Hände nach vorn bewegte. Ab und zu sah sie in dem einfarbigen Grau einen Pilz, der sich durch seine dunklere Färbung von der grünlichgrauen Flechtenfläche abhob. Einmal blieb sie stehen und zeigte darauf.

»Den lassen wir; es ist nur ein Habichtschwamm. Nur weiter!«

Aber endlich gab's Luft! Eine weite Lichtung mit viel abgehauenen Baumstümpfen lag vor ihnen. Durch den Gegensatz wirkte dieser Platz ganz überraschend. Keine grauen Flechten mehr, sondern smaragdgrünes, glänzendes Moos, dazwischen schwankende Gräser und o, so viel Pilze! Es war, als könnten sie sich nicht genug tun! Nicht nur daß sie auf der flachen Ebene wuchsen, – nein, – auch die abgehauenen Baumstümpfe zeigten eine Fülle von Schwämmen in fast allen Farben. An den Stämmen drängten sie sich förmlich, einer schien über den andern zu purzeln, alte und junge, große und kleine. Hier machten sie aufatmend halt. Die Sonne warf spielende Lichter durch das kurze Gestrüpp, das hie und da die Ebene unterbrach. Dietrich sah so glücklich aus; sein Gesicht hatte fast einen verklärten Ausdruck, als sein Blick über diesen saftig grünen Platz schweifte. Er machte eine einladende Handbewegung, etwa als sei er hier Herr, und biete das, was sich hier fand, zum gefälligen Gebrauch an. »Sehen Sie? Da! Dieser Anblick war die kleine Unbequemlichkeit durch das Dickicht doch wohl wert! Sammeln Sie; aber zeigen Sie mir alles, denn hier wächst Gut und Böse friedlich nebeneinander. – Bist du auch hier?« rief er lebhaft und bückte sich; und Amalie, die wie gebannt an seiner Seite blieb, sah mit Staunen, daß er mit zarter Sorgfalt ein kleines Etwas aus dem Boden löste, es auf seine flache Hand legte und es mit glücklichem Ausdruck betrachtete. Er sah Amaliens fragenden Blick und sagte: »Sehen Sie her, das ist ein Erdstern. Sie sehen die Form des Sternes?«

»Ach wie hübsch!« rief Amalie interessiert, »ein Erdstern? Den habe ich nie früher gesehen!«

»Sie haben noch vieles nicht gesehen! Die Menschen haben ja Augen und sehen nicht. Nichts sehen sie, als ihren kleinlichen, eitlen Kram! Aber hier ist's schön! Können Sie etwas Entzückenderes sehen als diesen Baumstumpf? Die Waldfee hat ihn hergerichtet, das reine ›Tischchen deck' dich!‹ Sehen Sie hier zwischen Moos und Gras die kleinen blauen Glockenblumen, und das zierliche weiße Hungerblümchen. Und in diesem Zwergen- Urwald spazieren gravitätisch allerlei buntschillernde Käfer, dazwischen stehen kleine rote Täublinge; und hier diese dicke Spinne zieht über das Ganze ihr feines Netz wie einen duftigen Schleier.«

Dietrich kniete am Stamm nieder, holte sein Augenglas hervor und betrachtete interessiert jede Einzelheit dieses Stückchens Waldzauber. Er schien die beiden vergessen zu haben, so vertieft war er in die kleine Wunderwelt. Die beiden standen staunend da und beobachteten ihn. Da blickte er plötzlich auf und rief lebhaft: »Aber so sammeln Sie doch! Hier, hier, Hallimasch, nicht der hellgelbe, sondern dieser bräunliche, er sieht aus wie mit feinem Zimmt bestreut; wenn Sie sich dieses Kennzeichen merken, können Sie gar nicht irren, dann können Sie ihn nicht mit dem Schwefelkopf verwechseln, der sonst die Geselligkeit ebenso liebt. Lassen Sie den schwarzen Einsamen nur stehen, es ist die Totentrompete, er ist nicht eßbar. Aber diese Kapuziner und die Schmerlinge nehmen Sie ja mit, die sind gut.«

Malchen brachte noch einen schönen, festen Pilz und fragte: »Das ist doch ein Steinpilz?«

Dietrich nahm ihn ihr aus der Hand, drehte ihn um, zog sein Taschenmesser hervor und schnitt ihn an.

»Passen Sie auf,« sagte er. Mit einem Ausruf des Staunens trat sie einen Schritt zurück und beobachtete sein Gesicht. Aber die soeben noch helle Fläche des angeschnittenen Pilzes huschte ein schwarzer Schatten; und die dunkle Färbung blieb, sie schien sich sogar zu vertiefen. War das seine Hand, die diesen Schatten auf den Pilz zauberte?

»Das ist Boletus Satanas, ein ganz gefährlicher Mordgeselle! Achten Sie auf das hübsche rote Polster unter dem Hut; und wo Sie ihn finden, da rotten Sie ihn aus; ein kleines Stück davon kann eine ganze Familie verderben.«

Er trat mit dem Fuß auf den Pilz und sah sehr ernst aus.

Solange die drei im Walde waren, kamen sie nur langsam vorwärts; denn jede Erscheinung, jeder Laut nahm Dietrichs Interesse in Anspruch. Aber endlich hatten sie den Wald hinter sich, und bald trennten sich ihre Wege.

Mutter Cordel setzte den schweren Korb nieder und sagte verlegen und zögernd:

»Ihnen haben wir nun die vielen Pilze zu danken. Sie müßten sie doch eigentlich mit uns essen.«

Dietrich überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Nun, warum nicht! Aber ich weiß noch gar nicht, wer Sie sind, wohin soll ich denn kommen?«

»Wir wohnen in der Niederstadt, ungefähr das letzte Haus, wenn Sie ins Muldental gehen. Beutler Nelle! Im Fenster liegen bunte Bälle, lederne Puppenbälge und dergleichen. Jedes Kind kennt uns. Sie können uns nicht verfehlen.«

»Gut. Ich komme morgen abend.«

7 - Natürlich ein Hexenmeister

Als die beiden nach Hause kamen, lehnte Gottlieb über der quer durchteilten Tür und erwartete die Seinen. Etwas erstaunt sah er der Cordel in das erregte Gesicht, während er lächelnd die Schwere des Pilzkorbes prüfte.

»Na,« meinte er vergnügt, »das hat heute geschafft. Den ganzen Korb voll, da können wir tüchtig dörren. Du hast dich ordentlich abgeschleppt, hat denn das Mädel den Korb nicht getragen?«

»Ja doch, ja! Natürlich. Gottlieb, komm mal in die Stube. Malchen, beschick' du das Vieh, und koch' die Abendsuppe, ich bin doch recht müde von unserm Pilzgang!« Und als Malchen draußen war, sagte sie: »Gottlieb, ich hab' vielleicht was Dummes gemacht, ich hab' der Krummbiegeln ihren Mieter, den Herrn Dietrich, für morgen abend zum Pilzeessen eingeladen.« Und nun erzählte sie eingehend von ihrer sonderbaren Begegnung. Gottlieb brauchte einige Zeit, bis er sich dieses Ereignis zurecht gelegt hatte, dann sagte er:

»Cordel, nimm mir's nich übel, aber ich meine, du hast diesmal eine Dummheit gemacht.«

»Ja, das sagte ich ja eben schon,« meinte Cordel seufzend, »aber es kam mir doch so natürlich; denk doch, der Mann ging einen langen Weg unsertwegen. Und – na – die Pilze verdanke ich doch ihm.«

»Ja,« sagte Gottlieb, »ich versteh' dich ja, aber was wird die Niederstadt sagen? – Das fällt doch auf, wenn der Mann, über den so wie so schon die ganze Stadt spricht, plötzlich zum Besuch zu uns kommt. Der wird doch gesehen von den Nachbarn.«

»So, du hast also auch schon von ihm gehört?«

»Ja, ja. Es fällt ja doch auf, was der alles tut! Ich wollt' noch nichts sagen, wenn nicht die Male im Hause wär'.«

»Ach, aber Gottlieb! Gleich an so was zu denken!«

»Na, wenn ich's nich denk', dann denken's die Nachbarn. Ich kann's für den Tod nich ausstehen, wenn man ins Gerede kommt. Wir sind wohl noch nich genug im Munde der Leute mit dem Karl? Darüber können sie sich ja gar nich beruhigen, daß der so weit da drunten ist, und daß man den nie wieder sieht.«

»Na, der Abend wird ja vorübergehen, und dann hört die Sache von selbst auf.«

»Oder nich. Was sollen wir denn mit ihm sprechen?«

»Das wird der schon besorgen, der läßt nichts anbrennen.«

»Na,« sagte Gottlieb und seufzte, »dann muß die Sache ja ihren Gang haben.«

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Als Amalie im Bett lag, dachte sie auch an den morgenden Abend. Mit fieberhafter, freudig banger Erregung