Anbruch einer neuen Zeit - Jaron Lanier - E-Book

Anbruch einer neuen Zeit E-Book

Jaron Lanier

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Beschreibung

»Pflichtlektüre für alle, die wissen wollen, warum unsere Gesellschaft so ist, wie sie ist, und wohin sie steuert.« The Economist BOOK OF THE YEAR 2017: The Wall Street Journal & The Economist Jaron Lanier, Tech-Guru und Vater der Virtual Reality, gibt einen faszinierenden Einblick in sein Leben, die Anfänge des Silicon Valleys, den großen Traum von der virtuellen Realität, und warum sie in Kürze unser aller Leben grundlegend verändern wird. In einem fesselnden Mix aus Autobiografie, Fachwissen und philosophischen Überlegungen schildert er seinen außergewöhnlichen Werdegang – von seiner ärmlichen Kindheit als Kind von Holocaust-Überlebenden in der Wüste New Mexicos, über die ersten Schritte in der virtuellen Realität bis hin zu ihren modernen Einsatzmöglichkeiten. Sein neues Buch ist eine visionäre Liebeserklärung an eine Technologie, die ungeahnte Chancen bietet und gleichzeitig ein immenses Missbrauchspotential birgt. Dabei wirft er einen unvergleichlichen Blick darauf, was es im Angesicht unbegrenzter Möglichkeiten heißt, heute Mensch zu sein.

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Seitenzahl: 612

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Jaron Lanier

Anbruch einer neuen Zeit – Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert

Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Schlatterer und Sigrid Schmid

Hoffmann und Campe

Gewidmet allen, die in diesem Buch erwähnt werden, und den vielen weiteren, die ich nicht erwähnen konnte: Danke, dass ihr mir mein Leben gegeben habt.

Inhalt

Vorwort Die Stunde der virtuellen Realität

Einleitung

Was VR ist

Was ein Buch kann, VR aber (noch) nicht

Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Ein Gespräch mit meinem jüngeren Ich

1. Die sechziger Jahre:Die Schrecken von Eden

Grenze

Fenster

Dreierpack

Stimmung

Drehmoment

Unerreichbar

Schweigen

Ausdauernde Grausamkeit

Erstes Experiment

Abgebrannt

2. Rettungsraumschiff

Gelandet

Wo im Universum?

Herkunft

Genehmigung

Bau

Habitat

3. Batch-Verfahren

Von Atomen zu Bits und wieder zurück

Zutritt

Böse Bits

Ziegen

Pixels im echten Leben

Stapel

Preis

Fremde mit Ivan nerven

4. Warum ich VR liebe(Grundlagen)

Was der Spiegel zeigt

Kein Substantiv, sondern ein Verb

Ein Laster, das man vermeiden sollte

Selbsterkenntnis durch Technologie

5. Fehler im System(Die Schattenseite der VR)

Terrorgleichung

Bipolare Bits

6. Wege

Der vollendete Dom

Cineastisches Phrasendreschen

Zum ersten Mal in der Stadt

Abwärtsspirale

Rückkehr in Flammen

Außenposten der Azteken und ein fahrbarer Untersatz

Gerichtsverhandlungen

Konsens und Dissens

7. Küste

Beinahe dazugehörig

Stadt im Rausch

Die Schwerkraft des Regenbogens

Proto-Google

Publikum

Transkript

8. Tal der überirdischen Lüste

El Paso del Cyber

Die Guten und die Bösen

Endliche und unendliche Spiele

Luke Skywalker in Endlosschleife

Man muss schrecklich schräg sein, wenn man kein Behaviorist werden will

Geerdet

Ein Club, der mich als Mitglied aufnahm

Die Kultur der Codes

9. Begegnungen mit Außerirdischen

Der grundlegende Fehler

Rent-a-Mom

Junger Guru der Einsamkeit

Erkenntnis

Trotz meiner Wenigkeit

Mathematik gegen Einsamkeit?

10. Versenkung

Frauen als soziale Stammzelle

Unmögliche Vorhaben

Triptychon

Eine Beschleunigung für die Reality Engine

Der besondere Touch

Haptische Possen

11. Die Ausrüstung für eine neue Zeit(Ein Wort über Haptik und Avatare)

Aufs Sehen fixiert

Handreichungen und digitale Schnittstellen

Passive Haptik

Die passende (Aus)Rüstung

Haptische Limonade

Das erste massentaugliche VR-Produkt

Artübergreifende Verdauungshaptik

Der Oktopus-Butler-Roboter

Zungenfertig Probleme lösen

Die tiefreichende Zeitmaschine

Haptische Intelligenz

Als ob eine Obsession nicht reichen würde

Verletzung und Heilung

12. Nautische Morgendämmerung

Andere Seufzer

Das andere Alles

Das vorherige Alles

Stim City

Legitimität, Haare und die Schulter eines Riesen

Dixie-Futurismus

Ameisen auf Weltraummission

Auf Kurs

13. Sechs Grad(Einige Bemerkungen über Sensoren und VR-Daten)

Das Auge muss reisen

Die integrierende Funktion des Gehirns

Eine bewegende Erfahrung

Seekrank in der VR

Virtueller Realismus versus virtueller Idealismus

14. Gefunden

Vor dem Haken anbeißen

Volkes Stimme bei Erdnuss-Soße

Gestrichelte Linien

Der runde Horizont

Stellvertretender Top-Chef

Fußabdruck

Wir liefern aus!

15. Das eigene Pyramidion werden(Visuelle Displays für die VR)

Erinnerungen an das EyePhone

Das Ding auf deinem Kopf

Wann man passen sollte

Der lächerliche Irrtum, der in der Luft um uns herum schwebt

Das Spektrum der VR-Geräte

Das innere Extrem auf dem Spektrum

Das äußere Extrem

Reichweite ist das Ding mit Federn

Étendue

Das Duplex-Problem

16. Die VPL-Erfahrung

Im Strudel

Veeple

Anwendungsbereiche der VR

Chirurgische Ausbildung

Internationale Niederlassungen

Einige amerikanische Projekte

Soldaten und Geheimagenten

Figuren

Spin-offs

17. 3D von außerhalb(VR-Video und -Audio)

VideoSphere

AudioSphere

18. Szene

Jede Menge Demos

Die Kunst der Demo

Die Kunst der Welt

Ratschläge für VR-Designer und -Künstler

Aufgepflanzte Flaggen

Spitzname außer Rand und Band

Party

Weiblicher Querschläger

Düstere Herkunft

Der schmeichelhafte Spiegel

19. Weichen für die Zukunft

Virtuelle Rechte, aber keine virtuellen Wirtschaftsrechte

Der einfache Weg zur Weltherrschaft

Mikrogravitation

Die unsichtbare Hand wird besser, wenn sie als Avatarhand sichtbar wird

Die Geburt einer Religion

Die Arbeit ist toll, der Mythos nicht

Außerirdische virtuelle Realität

20. 1992, Ausstieg

MicroCosm

VR, auf die Leinwand gebannt

Riesige ungenutzte Möglichkeiten

In guten wie in schlechten Zeiten

Der Klang einer Hand

Das Ende eines endlichen Spiels

21. Coda: Ein Kontrast zur Realität

Nachwort

Anhang 1: Postsymbolische Kommunikation(Über die Träumereien in einem meiner klassischen VR-Vorträge)

Fortgesetztes Transkript

Eine Art von Blau

Sprecht, Tentakel!

Poiesis

Faszination contra Selbstmord

Das Ende einer Guru-Karriere

Anhang 2: Phänotropes Fieber(Über VR-Software)

Obligatorische Metamorphose

Grace

Bildlich betrachtet

Trick

Editoren und Abbildungen

Spielarten

Phänotroper Probelauf

Skalierung

Motivation

Vertauschte Rollen

Ausdruck

Die Weisheit des Unvollkommenen

Resilienz

Anpassen

Swing

Trümmer in Platons Höhle

Viele Höhlen, viele Schatten, aber jeder hat nur die eigenen Augen

Anhang 3: Duell der Halbgötter

Nicht künstlich, aber erfunden

Die Banalität der Schwerelosigkeit

Die unsichtbare Hand auf einem Multi-Touch-Screen

Die absurde Forderung, dass KI sich selbst reparieren soll

Die humane Verwendung der menschlichen Systeme

Danksagung

Fußnoten

Über Jaron Lanier

Impressum

VorwortDie Stunde der virtuellen Realität

Ende der achtziger Jahre fiel ein großer Briefumschlag mit einem »BITTE NICHT RÖNTGEN«-Aufkleber durch den Briefschlitz an der Eingangstür eines Startup-Unternehmens in Redwood City, Kalifornien. Der Umschlag enthielt eine Diskette mit dem ersten digitalen Modell einer vollständigen Stadt. Darauf hatten wir schon den ganzen Morgen gewartet.

»Jaron, sie ist da! Komm ins Labor!« Ein Techniker schnappte sich den Umschlag, bevor irgendjemand anders die Gelegenheit dazu hatte, riss ihn auf, rannte ins Labor und schob die Diskette in den Schlitz eines Computers.

Eine nagelneue virtuelle Welt erwartete mich.

Ich blinzelte vor einem wolkenlos blauen Himmel. Ich hob meine Hände. Sie schwebten riesig über der Innenstadt von Seattle. Zwischen Handgelenk und Fingerspitzen lagen gut dreihundert Meter. Offensichtlich ein Bug. Eine Hand sollte die richtige Größe haben, um damit einen Apfel oder einen Baseball aufheben zu können, nicht größer sein als ein Wolkenkratzer. Hände sollte man nicht in Metern messen, schon gar nicht mehreren Hundert Metern.

Die Stadt war abstrakt. Die virtuelle Realität steckte noch in den Kinderschuhen, daher standen in diesem virtuellen Seattle viel zu bunte Knetklumpen anstelle der meisten Gebäude. Der Nebel war unnatürlich gleichmäßig und milchig.1

Ich wollte das Programm anhalten und den Fehler korrigieren, entschied dann aber, erst noch ein wenig zu experimentieren. Ich flog Richtung Erde und versuchte, eine Fähre auf dem glitzernden Puget Sound anzustupsen. Es klappte! Ich konnte sie kontrollieren. Das hatte ich nicht erwartet. Das bedeutete, dass ich meine Hand normal steuern konnte, obwohl sie grotesk riesig war.

Gelegentlich kommt es vor, dass ein Fehler in der VR eine völlig neue Möglichkeit eröffnet, wie Menschen mit der Welt und miteinander in Verbindung treten können. Solche Momente sind die besten. Ich halte immer kurz inne, wenn es passiert, um das Gefühl festzuhalten.

Wenn man ein paar VR-Bugs erlebt hat, stellt man sich die Frage: »Wer ist das, der da im Nichts schwebt und all das erlebt?« Man ist es selbst, aber irgendwie auch nicht. Was bleibt von einem übrig, wenn man praktisch alles am eigenen Körper und an der Welt verändern kann?

Ein Kabelbündel verband mein EyePhone über einen Kabelbaum, der von der Decke hing, mit einem kühlschrankgroßen Computer mit brummender Kühlung. Eine meiner Hände steckte in einem Datenhandschuh – glattes, schwarzes Gewebe, in das Glasfasersensoren eingewebt waren. Weitere dicke Kabel führten vom Handgelenk zu anderen Kabelbäumen an der Decke. Blinkende Lämpchen, flackernde Bildschirme. Die Gummiränder des EyePhones hinterließen rote Abdrücke um meine Augen.

Ich wunderte mich, wie fremd meine Umgebung auf mich wirkte, als ich wieder zurück im Labor war. Früher waren die Wände in den Gebäuden im Silicon Valley mit Teppichen verkleidet, die Schreibtische waren billige weiße Kunststoff-Furnierteile im Space-Age-Design. Es roch leicht nach Aluminium und Schmutzwasser.

Ein paar exzentrische Technikfreaks kamen dazu und konnten es kaum erwarten, es selbst zu versuchen. Chuck, ein kräftiger, bärtiger Holzfällertyp im Rollstuhl. Tom gab sich professionell und analytisch, hatte mir aber nur wenige Minuten zuvor von seinen irren Abenteuern im nächtlichen San Francisco erzählt. Ann schien sich zu fragen, warum sie mal wieder die Rolle als einzige Erwachsene im Raum spielen musste.

»War es, als wärst du in Seattle?«

»Irgendwie schon«, antwortete ich. »Es, es ist … phantastisch.« Alle drängten sich um die Geräte. Unser Projekt wurde mit jedem Durchgang besser. »Aber da ist ein Bug. Die Avatarhand ist riesig – um ein Vielfaches zu groß.«

Meine Hand in der VR zu bewegen, eigentlich eine ganz simple Angelegenheit, wurde mir nie langweilig. Wenn man den ganzen Körper dort hineinbringen konnte, dann war man kein Beobachter mehr, sondern ein Bewohner. Doch noch war alles ein Kampf – herauszufinden, wie eine virtuelle Hand virtuelle Gegenstände halten konnte, jede winzige Funktionalität.

Die Lösung eines Problems – etwa dass die virtuellen Finger Objekte aufhoben, statt aus Versehen in sie einzudringen – hatte möglicherweise dazu geführt, dass die Hand riesengroß wurde. Alles ist mit allem anderen verbunden. Jede noch so kleine Regeländerung in einer neuen Welt kann zur Ursache für einen überraschenden, surrealen Bug werden.

Bugs waren die Träume der virtuellen Realität. Sie veränderten einen.

Nach diesem Erlebnis, bei dem meine Hand riesig war, fühlte sich nicht nur die virtuelle Realität anders für mich an, sondern auch die physische Welt. Ich sah meine Freunde im Zimmer als pulsierende, durchscheinende Wesen. Ihre transparenten Augen waren mit Bedeutung gefüllt. Das war keine Halluzination, sondern eine verbesserte Wahrnehmung.

Körperlichkeit in völlig neuem Licht.

© Fotos von Kevin Kelly, mit freundlicher Genehmigung verwendet.

 

Der Autor in den späten achtziger Jahren in der VR und außerhalb.

Einleitung

Was VR ist

Die virtuelle Realität besteht aus diesen großen Headsets, mit denen man von außen völlig lächerlich aussieht, wenn man sie trägt. Dennoch löst das Erlebnis drinnen überraschtes Entzücken aus. VR gehört zur Standard-Requisite in Science-Fiction-Filmen. Sie hilft Kriegsveteranen, ihr posttraumatisches Belastungssyndrom zu überwinden. Sie befeuert die Phantasie von Millionen von Menschen in Sachen Bewusstsein und Realität, wenn sie nur daran denken. Sie gehört zu den wenigen Möglichkeiten, wie man derzeit im Silicon Valley auf die Schnelle Milliarden von Dollar aufbringen kann, ohne dass es unbedingt etwas mit dem Ausspionieren aller anderen zu tun hat.

VR gehört zu den wissenschaftlichen, philosophischen und technologischen Grenzgebieten unserer Zeit. Mit ihrer Hilfe kann man die Illusion erzeugen, dass man sich an einem anderen Ort befindet, möglicherweise einem phantastischen, fremdartigen Ort, mit einem Körper, der nichts Menschliches mehr an sich hat. Gleichzeitig ist VR das System, mit dem sich am weitreichendsten Bewusstsein und Wahrnehmung erforschen lässt.

Kein Medium zuvor hatte so viel Potenzial für Schönheit und löste gleichzeitig oft Gruseln aus. Die virtuelle Realität wird uns auf die Probe stellen. Mehr als jedes Medium vor ihr wird sie unseren Charakter verändern und stärken.

Virtuelle Realität ist all das und noch viel mehr.

Meine Freunde und ich gründeten unser erstes VR-Startup, VPL Research Inc., im Jahr 1984. In diesem Buch erzähle ich unsere Geschichte und ergründe, was VR für die Zukunft der Menschheit bedeuten könnte.

© AP Photo/Jeff Reinking.

 

Das erste VR-System, gemäß der ursprünglichen Definition, bei dem sich mehrere Menschen gleichzeitig eine virtuelle Welt teilen: RB2 oder »Reality Built for Two« (deutsch: Realität für zwei) von VPL. Auf den Bildschirmen hinter den Nutzern ist dargestellt, wie sich die beiden als Avatare sehen. Dieses Foto wurde auf einer Fachmesse in den späten achtziger Jahren aufgenommen.

Jüngere VR-Enthusiasten glauben es vielleicht nicht. Aber es ist wahr. Wir schreiben das Jahr 1984.

Von der VR heißt es, die Technologie stecke seit Jahrzehnten in der Sackgasse. Doch das galt nur für die Versuche, eine preisgünstige Unterhaltungsversion für die Massen herauszubringen. Fast für jedes Fahrzeug, das in den letzten zwanzig Jahren hergestellt wurde, egal, ob es rollt, schwimmt oder fliegt, wurde der Prototyp in VR erstellt. Medizinisches Operationstraining in VR ist heute so weit verbreitet, dass man inzwischen befürchtet, es nehme überhand. (Aber niemand schlägt vor, es ganz abzuschaffen. Es war ein Erfolg!)

Was ein Buch kann, VR aber (noch) nicht

Romantische Vorstellungen zur VR gibt es heute so viele wie eh und je. Im Gegensatz zur Realität verschmelzen bei der Idealvorstellung der Technologie Nerd-Träume mit Hippie-Mystik. Sie ist Hightech und gleichzeitig ein Traum von unbegrenzten Erfahrungswelten, wie ein Zaubertrank.

Ich wünschte, ich könnte vermitteln, wie sich diese ersten Jahre der VR anfühlten. Es war, als hätte sich uns eine völlig neue Erfahrungsebene eröffnet. Wir tauchten zum ersten Mal in immersive Avatare ein, sahen einander als Avatare, erlebten unsere Körper zum ersten Mal als nicht-realistische Avatare. Das faszinierte uns. Alle anderen Entwicklungen der Tech-Welt verblassten im Vergleich dazu.

Leider kann ich niemand anderem per VR vermitteln, wie sich das anfühlte, zumindest noch nicht. Derzeit ist VR noch kein Medium für innere Zustände. Das musste ich sehr häufig erklären, aber mit der zunehmenden Verbreitung von VR wird diese Klarstellung immer seltener gebraucht.

Gelegentlich heißt es, in Kürze werde es möglich sein, mit VR beliebige Realitäten telepathisch abzurufen und Gehirne zusammenzuschalten. Toll an VR ist gerade, dass es nicht alles ist, sondern nur das, was es eben ist. Das ist nicht immer leicht zu vermitteln.

Vielleicht entwickelt sich mit der Zeit eine neue Kultur, eine umfangreiche Tradition aus Klischees und Konventionen, und diese Kultur könnte mir ermöglichen, mit Hilfe von VR-Technologie zu vermitteln, wie sich die frühe VR anfühlte. Ich habe viele Stunden damit verbracht, mir vorzustellen, wie eine ausgereifte VR-Ausdruckskultur aussehen könnte. Oft habe ich von einer Mischung aus Kino, Jazz und Programmieren gesprochen.

1. VR-Definition: Eine Kunstform des 20. Jahrhunderts, die die drei großen Künste dieses Jahrhunderts miteinander verbindet: Kino, Jazz und Programmieren.2

Noch kann niemand sagen, welche Ausdruckskraft VR eines Tages erreichen wird, dennoch sorgt die Vorstellung für leichtes Kribbeln. Beliebige Erfahrungen, die man mit anderen Menschen teilt, im Dialog, von uns kontrolliert. Eine ganzheitliche Ausdrucksform. Gemeinsames luzides Träumen. Eine Chance, der üblichen Schwerfälligkeit des Körpers zu entkommen. Wir sehnen uns nach einem Dasein, das nicht an die uns gegebenen Umstände in dieser Welt gebunden ist.

Ich würde lügen, wenn ich so tun würde, als könnte ich leidenschaftslos über VR reden. Für mich geht es bei VR vor allem um Menschen. Doch was VR mir bedeutet, kann ich nur erklären, indem ich meine Geschichte erzähle.

Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Die Geschichte beginnt in den meisten Kapiteln Mitte der sechziger Jahre, in meiner Kindheit, und endet im Jahr 1992, als ich VPL verließ.

Dazwischen sind immer wieder Kapitel eingestreut, die Aspekte der VR erklären oder kommentieren, wie zum Beispiel das Kapitel über VR-Headsets. Diese Kapitel enthalten ein paar Basisinformationen, eine ordentliche Portion harscher Urteile und jede Menge nicht chronologischer Anekdoten. Wer Geschichten lieber mag als Technik oder Kommentare, darf diese Teile gern überspringen. Wen aber vor allem meine Gedanken zur VR-Technik interessieren, kann direkt zu diesen Kapiteln blättern.

Einige meiner Geschichten und Beobachtungen sind in langen Fußnoten zu finden. Sie sollten sich die Zeit nehmen und sie lesen, es lohnt sich, aber Sie können das auch erst einmal zurückstellen. Außerdem enthält das Buch drei Anhänge, in denen ich meine Vorstellungen aus dieser Zeit ausführe, doch letztendlich geht es in diesen Texten mehr um die Zukunft als um die Vergangenheit. Wer wissen will, wie eine Weltsicht von jemandem aussieht, der sich mit dem Thema auskennt, aber nicht erwartet, dass KI jeden Moment die Menschheit auslöschen wird, sollte sie lesen.

Passend zur Periode, in der diese Geschichte spielt, werde ich mehr über die klassische VR sprechen und weniger über Mixed Reality,3 auch wenn ich in den vergangenen Jahren vor allem an letzterem gearbeitet habe. (Mixed Reality bedeutet, dass die reale Welt nicht vollständig von der virtuellen überdeckt wird. Man sieht virtuelles Zeug in der realen Welt, wie aktuell mit dem HoloLens-System zu erleben ist.)

Ein Gespräch mit meinem jüngeren Ich

Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal sehe.

Ich habe es immer befürchtet: Du wirst alt, und jetzt vermarktest du dein jüngeres Ich. Wie alle Autoren.

Damit liegst du so was von falsch. Alles wäre einfacher, wenn ich mich nicht mit dir herumschlagen müsste. Ich habe mich in letzter Zeit mit mir selbst wohler gefühlt als jemals zuvor. Du rufst alte Dämonen in mir herauf, ich werde unsicher und depressiv. Wegen dir drohe ich, rückfällig zu werden. Ich mache das nur, weil ich glaube, dass es anderen Menschen helfen könnte, dich zu kennen.

Wo steht die virtuelle Realität heute? Nennt man sie überhaupt VR?

Ja, die meisten sagen heute VR.

Wir haben den Krieg um die Terminologie also gewonnen?

An den Krieg erinnert sich keiner mehr. Er ist allen egal. Das sind nur Worte.

Aber taugt VR etwas?

Wir sind noch dabei, das herauszufinden. Wahrscheinlich erscheint dieses Buch zu einer Zeit, in der VR alltäglich wird.

Oh, Mist. Hoffentlich vermasseln die es nicht.

Ja, mal sehen. VR gut hinzukriegen, ist nicht einfach, wie du weißt.

Hoffentlich wird VR nicht mehr so – wie heißt das gleich? – gepuscht von diesen psychedelischen Typen.

Oh, du würdest sie vermissen. Du wirst es kaum glauben, aber den größten Einfluss in der heutigen Tech-Kultur hat eine Kreuzung aus Singularitäts-Freaks und Libertären und deren fanatischen Nachkommen.

O nein, das nervt. Das ist schlimmer, als ich erwartet habe.

Ich finde es peinlich, dass du mit einer perfekten Welt gerechnet hast.

Ich finde es peinlich, dass du dich für edel oder erleuchtet hältst, nur weil du gelernt hast, mit dem ganzen Mist zu leben.

Ach, lass uns nicht streiten. Zum Zanken gibt es draußen mehr als genug Leute.

Okay, dann erzähl mir mal von dieser billigen VR, die bei dir gerade in die Läden kommt. Erfinden die Leute ihre eigenen VR-Welten?

Normalerweise nicht, während sie in der VR sind. Aber ja, wahrscheinlich werden viele Leute die Möglichkeit haben, Welten zu erfinden.

Aber wenn man die Welt nicht von innen improvisieren kann, was soll das Ganze dann? Das sind dann nur noch mehr Phänomene, die die Sinne verstopfen und die nicht einmal so gut sind wie die natürliche Welt. Warum interessiert sich jemand dafür? Du musst verhindern, dass sie den Schrott herausbringen. Was ist bloß los mit dir?

He, Mann, ich bin nicht die VR-Polizei. Ich schmeiße den Laden nicht.

Warum nicht? Du solltest den Laden schmeißen!

Ich finde es toll zuzusehen, wie die Kids VR neu erfinden. Es gibt viele niedliche VR-Startups und -Teams in den großen Unternehmen. Manche von denen erinnern mich an dich und VPL, sie sind nur ordentlicher angezogen.

Wenn dich jemand, der VR für ein Spektakel hält, an mich erinnert, bin ich aber beleidigt. Ist denen nicht klar, dass das ganz schnell zum Klischee verkommt? Was wurde aus dem Traum von einer improvisierten Realität? Gemeinsamem luzidem Träumen? Was für einen Zweck soll eine schrillere Variante von Filmen oder Videospielen haben?

Hör mal, du kannst den Menschen nicht dienen, wenn du dich für besser hältst als sie. Die VR wird lausig sein, aber auch irgendwie toll, und sie wird sich entwickeln und hoffentlich großartig werden. Du musst das entspannter sehen. Genieß den Prozess. Respektiere die Menschen.

Was für ein Quatsch. Posaunst du das wenigstens in die Welt hinaus?

Nun ja, schon … mit diesem Buch …

Okay, wer bringt diese billige VR heraus? VPL?

Nein, VPL gibt es schon lange nicht mehr. Microsoft hat ein komplettes Mixed-Reality-Headset herausgebracht, das keine Basisstation braucht und mit dem man alles machen kann. Du würdest staunen.

Microsoft? O nein.

Ähm, ich arbeite jetzt in einem Forschungslabor von Microsoft.

Sag mal, bist du reif für die Klapse? Oh, warte, du hast ja gerade gesagt, dass du schon drin bist.

Jetzt mach mal halblang. Auch klassische VR-Ausrüstung wird verkauft, die dem, was wir verkauft haben, ganz ähnlich ist. Ein Social-Media-Unternehmen hat diese kleine Firma namens Oculus für zwei Milliarden Dollar aufgekauft.

Wie bitte? Zwei Milliarden für eine VR-Firma, die noch nichts ausgeliefert hat? Wow, die Zukunft klingt paradiesisch. Und was ist ein Social-Media-Unternehmen?

Oh, mit Social Media kommunizieren die Menschen und bewahren dort ihre persönlichen Erinnerungen auf. Die Nutzer werden mit Algorithmen abgebildet, damit man ihnen gezielte Angebote unterbreiten kann. Mit Hilfe dieser Algorithmen können die Betreiber Menschen traurig machen oder die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sie wählen gehen. Das Leben vieler Menschen dreht sich um diese Algorithmen.

Aber wenn man das mit VR verbindet, dann ist das wie in einem Roman von Philip K. Dick. O Mann, die Zukunft klingt höllisch.

Sie ist gleichzeitig Paradies und Hölle.

Aber intelligente, rebellische junge Menschen wollen ihr Leben doch nicht über den Computer eines Unternehmens führen …

Es ist seltsam, aber angeblich fühlen sich die jungen Leute ganz wohl damit, dass Unternehmen die digitale Gesellschaft unter Kontrolle haben, anders als die Generationen vor ihnen.

So wie du das sagst, klingt es, als sei das das Alltäglichste von der Welt. Wird man damit nicht zum Leibeigenen? Leben die einfach länger bei ihren Eltern, oder was? Die Welt hat den Verstand verloren. Alles steht auf dem Kopf.

Aber das ist für die Welt normal. Das geschieht im Lauf der Zeit.

Ich würde dir am liebsten eine runterhauen.

Vielleicht solltest du das tun.

1.Die sechziger Jahre:Die Schrecken von Eden

Grenze

Kurz nach meiner Geburt flüchteten meine Eltern aus der Großstadt. Eine Zeitlang zogen sie umher und ließen sich an einem damals noch obskuren und lebensfeindlichen Ort nieder. Der äußerste Westen von Texas, jenseits von El Paso, wo New Mexico und das eigentliche Mexiko aufeinandertreffen, war damals tiefstes Hinterland, galt kaum als Teil der USA. Die Gegend war arm, relativ gesetzlos und für den Rest des Landes von unübertroffener Belanglosigkeit.

Warum dort? Darauf gaben mir meine Eltern nie eine klare Antwort, aber wahrscheinlich liefen sie einfach davon. Meine Mutter stammte aus Wien und hatte ein Konzentrationslager überlebt. Die Familie meines Vaters war bei Pogromen in der Ukraine fast vollständig ausgelöscht worden. Ich weiß noch, dass wir so unauffällig wie möglich leben mussten. Aber ein Leben allzu weit von einer guten Universität entfernt war auch nicht akzeptabel. Meine Eltern entschieden sich dann für den Süden von New Mexico. Ein Kompromiss – denn ganz in der Nähe, in Mexiko, gab es eine gute Universität.

Meine Mutter sagte, die mexikanischen Schulen wären eher wie die europäischen, mit einem fortschrittlicheren Lehrplan als jenem, der im ländlichen Texas zu jener Zeit unterrichtet wurde. Die mexikanischen Kinder waren den US-amerikanischen in Mathe um zwei Jahre voraus.

»Aber Europa wollte uns alle töten. Was ist gut an Europa?« Sie antwortete, es gebe überall Schönes, sogar in Europa, und man dürfe sich nicht vom Bösen in der Welt vereinnahmen lassen. Außerdem war Mexiko ganz sicher nicht Europa.

Ich überquerte also jeden Morgen die Grenze und besuchte eine Montessori-Schule in Ciudad Juárez, Mexiko. Heute klingt das seltsam, weil die Grenze inzwischen aussieht wie das berühmteste Gefängnis der Welt, aber damals war die Grenze unauffällig, waren die Kontrollen locker. Quietschende Schulbusse überquerten sie praktisch pausenlos.

Meine Schule war mit der, die ich in Texas besucht hätte, nicht zu vergleichen. Auf den Umschlägen unserer Schulbücher waren phantastische Bilder aus der aztekischen Mythologie zu sehen. An den Feiertagen putzten die Lehrer uns heraus. Farbenfrohe Stoffe, Mod-Schnitte der sechziger Jahre, mit großen, schillernden, lebendigen Käfern an Silberketten, die über unsere Schultern krabbelten. Einmal die Stunde bekamen die Käfer mit der Pipette grell bunt gefärbtes Zuckerwasser.

Es war eine Montessori-Schule, daher durften auch wir Schüler umherstreifen wie Käfer, und ich machte eine Entdeckung. In einem zerfledderten alten Kunstbuch auf einem unteren Regal in unserem leeren Schulhaus stieß ich auf ein Bild von Hieronymus Boschs Triptychon Der Garten der Lüste.

Fenster

Ich erinnere mich, dass man mich in der Schule rügte, weil ich im Unterricht nicht aufpasste. Ich starrte gern stundenlang aus dem Fenster, als wäre ich hypnotisiert. Aber ich träumte nicht vor mich hin. Ich dachte angestrengt nach.

¡Atención! »Hier spielt die Musik!«

Der Garten der Lüste hatte mich verändert. Ich stellte mir vor, ich wäre dort, streichelte die weichen, riesigen Vögel mit den Samtfarben, kroch in den fleischfarbenen Kugeln herum, zupfte und blies die gigantischen Musikinstrumente, die einander durchdrangen und schließlich auch mich. Ich stellte mir vor, wie sich das wohl anfühlen würde. Eine intensive, kribbelnde Wärme breitete sich in mir aus.

Ein paar wenige Figuren schauen aus Boschs Bild heraus. Was, wenn ich einer von ihnen wäre? Wenn ich aus dem Fenster starrte, blickte ich aus dem Gemälde auf unsere vermeintlich normale Welt hinaus. Das war keine leichte Aufgabe. Ich brauchte viele Stunden dafür, was die Lehrer erboste.

¿Qué es lo que estás mirando? »Was starrst du da bloß die ganze Zeit an?«

Manchmal sah ich, ganz ähnlich wie im Bild, ein nacktes Kind in den kleinen Sandkasten klettern und dort herumstolzieren, bis es erwischt wurde. Aber mein Blick wanderte auch über das gelbe Gras im Schulhof, durch den Maschendrahtzaun auf eine staubige und chaotische Straße hinaus.

Männer mit ausgefransten Strohhüten und grauem Haar in den Glaskabinen riesiger LKWs in Karnevalsfarben, rasend schnell, schwarze Abgaswolken. Verwitterte pastellfarbene Straßenviertel verschwanden in den gefolterten Felsspalten der fernen Berghänge in der Wüste. Am Himmel silberne Flugzeuge voller Menschen. Auf der anderen Straßenseite prangte an der Mauer eines Parkhauses ein heroisches, zwei Stockwerke hohes Wandbild von Quetzalcoatl.

Estoy viendo maravillas. »Ich sehe Wunder.«

Aus der Nähe, von der anderen Seite des Zaunes aus, entdeckte ich weitere Details: Krauses Haar auf der Brust eines Bettlers. Der torkelnde Gang eines Polio-Überlebenden, der einen Stapel neuer Zeitungen auslieferte. Schmutzränder am grünen T-Shirt eines Teenagers. Auf dem Lenker seines wackligen Fahrrads lagen grüne, zu einer Pyramide aufgetürmte Kaktusstücke. Einmal erhellten blendende Scheinwerfer die Narben im Gesicht eines mürrischen Gefangenen auf der verrauchten Rückbank eines vorbeirasenden mexikanischen Polizeiautos.

Dreierpack

Waren alle anderen in der kleinen Schule blind und taub? Warum reagierten sie nicht? Warum waren sie nicht genauso vom Blitz getroffen? Ich verstand es nicht. Warum ging es ihnen nicht genauso wie mir?

Ich beschäftigte mich obsessiv mit nutzlosen Spekulationen. Was, wenn ich auf der anderen Flussseite in Texas zur Schule gegangen wäre? In Texas ist alles strenger geregelt. Würden die kleinen Leute aus Der Garten der Lüste auch in Texas eine eigenartige Welt sehen, wenn sie hinausschauten, oder würden sie sagen: »Wow, wir hatten keine Ahnung, dass es irgendwo so langweilig sein kann!«

Oder war es so, dass jeder Ort im ganzen Universum wunderbar war, dass die Wahrnehmung nur zu anstrengend war und die Menschen ermüdete? Saßen alle anderen Kinder deswegen einfach nur da und taten so, als wäre alles normal?

Natürlich hätte ich das damals nicht in Worte fassen können. Ich war noch ganz klein.

Ich starrte stundenlang das Gemälde an und sah dann aus dem Fenster und wieder zurück. Jedes Mal veränderte sich meine innere Farbe, als würde das Blut in den Kopf strömen und dann wieder hinaus. Warum war das Gemälde so sinnlich? Was zog mich dort hinein?

Eine noch größere Wirkung hatte das Bild, wenn ich beim Betrachten der Musik von Bach lauschte. Im Schulzimmer stand ein alter Plattenspieler. Es gab eine Platte, auf der E. Power Biggs Orgelmusik von Bach spielte, auf einer anderen war Glenn Gould am Klavier zu hören.

Am liebsten hörte ich laut Bachs Toccata und Fuge in d-Moll, während ich den Garten der Lüste anstarrte und aus einer Schüssel mexikanische Zimtschokolade aß. Erlaubt war das nicht.

Stimmung

Aus frühester Kindheit erinnere ich mich an ein überwältigendes Gefühl der subjektiven Wahrnehmung. Alles hatte seine eigenen Qualitäten, abhängig von der Stimmung, mit zahllosen Varianten. Jeder kleine Ort und jeder Moment fügte der Gewürzpalette ein neues Aroma hinzu, war ein neues Wort in einem unendlich großen Wörterbuch.

Mich überrascht immer wieder, wie schwierig es manchmal ist, einen Bewusstseinszustand jenen zu beschreiben, die ihn nicht kennen. Stellen Sie sich vor, Sie wandern im Licht des Vollmonds um Mitternacht einen Bergrücken in New Mexico entlang und blicken auf ein Tal hinunter, das mit Neuschnee bestäubt zu leuchten scheint. Jetzt stellen Sie sich ein Gespräch zwischen zweien ihrer Begleiter vor, der eine ein Romantiker, der andere ein sachlicher Analytiker. Der Romantiker sagt: »Ist das nicht magisch?« Worauf sein Gegenüber entgegnet: »Na ja, wir haben ungewöhnlich gute Sicht, und wir haben Vollmond.«

Als Kind war ich ein totaler Romantiker. Damals konnte ich mit pragmatischen Dingen wie »gute Sicht« nichts anfangen, weil mich die »Magie« völlig überwältigte, sodass ich so gut wie nichts anderes mehr wahrnahm. Als ich klein war, beherrschten für mich die sinnlichen Eindrücke immer die Form, hatten immer Vorrang vor Erklärungen.

Mit der Zeit lernte ich, normaler zu werden, oder langweiliger. Früher ertrug ich Flugreisen kaum, weil die andere Stimmung und Qualität eines neuen Ortes mich überwältigte. Auch beim hundertsten Mal verblüffte mich das Gefühl nach der Landung in San Francisco, wenn ich aus New York kam. Die Luft war erfrischend, mit einem Hauch von Benzin und von Meer. Sie war dünner, nicht so satt. Manchmal brauchte ich mehrere Stunden, um solche Stimmungsänderung zu verarbeiten.

Über viele Jahre hinweg arbeitete ich daran, diese überwältigende Last der subjektiven Stimmungen zu unterdrücken, und mit Ende dreißig machte ich dabei endlich Fortschritte. Heute bereitet es mir keine Probleme mehr, von einem Ort zum anderen zu fliegen. Die Flughäfen fühlen sich inzwischen alle ähnlich an.

Drehmoment

Ich nannte meine Eltern beim Vornamen. Lilly wurde in eine gutbürgerliche jüdische Familie in Wien hineingeboren und galt als musikalisches Wunderkind. Sie spielte Klavier. Ihr Vater war Professor und Rabbi gewesen und hatte mit Martin Buber zusammengearbeitet. Sie hatten in einem hübschen Haus komfortabel gelebt. Meine Großeltern waren entschlossen gewesen, die damals bedrohliche politische Lage auszusitzen. Sie glaubten, es gebe eine Grenze, wie weit Menschen sinken konnten.

Lilly war ein frühreifer und einfallsreicher Teenager. Sie war blond und hatte sehr helle Haut, worüber sich unter normalen Umständen niemand Gedanken gemacht hätte, was sich später aber als lebensrettend erweisen sollte. Sie gab sich als arisch aus und redete sich so aus einem provisorischen Konzentrationslager heraus. Danach erreichte sie mit gefälschten Papieren die Freilassung ihres Vaters, kurz bevor er ermordet werden sollte.

So etwas war aber nur in der Anfangszeit des Holocausts möglich, bevor die Mordmaschinerie optimiert war. Am Ende des Krieges hatten die Nazis den Großteil der Familie meiner Mutter ermordet.

Ein paar wenige schafften es, das Land zu verlassen und nach New York zu fliehen. Zunächst schlug sich Lilly als Näherin durch, doch bald schon hatte sie ihre eigene Unterwäschemarke. Sie studierte Malerei und war auch noch jung genug für eine Tanzausbildung. Sie verdiente ihr eigenes Geld, um sich diese Träume verwirklichen zu können. Auf Fotos sieht sie aus wie ein Filmstar.

Wir standen uns so nahe, dass ich sie kaum als eigenständige Person wahrnahm. Einmal spielte ich am Klavier Sonaten von Beethoven für sie und ihre Freunde, und es fühlte sich so an, als spielten wir gemeinsam mit demselben Körper. Unsere Interpretation war getragen und recht pathetisch.

Meine Eltern hatten mich gerade neu an einer staatlichen Grundschule in Texas angemeldet. Dort gab es keine Kunstbücher, und draußen vor dem Fenster war nichts Interessantes zu sehen. Sie befürchteten, ich würde in der anderen Schule nicht alles lernen, was ich brauchte, um mich in Amerika zu integrieren.

Wie recht sie hatten! Mein neuer Schulweg führte mich durch das Revier einer Schlägerbande. Diese Jugendlichen sprachen wie Cowboys und trugen schmutzige Stiefel. Ich war schockiert, als meine Eltern mich zum Karateunterricht anmeldeten.

Ich hasste alles am Karate, nur die Anzüge fand ich irgendwie cool. Eines Tages kam meine Mutter in unser Dojo, um mir beim Training zuzusehen, und ich stand einfach nur da, während ein anderer Junge auf mich eintrat und -schlug. Ich hatte keine Angst, und es lag auch nicht an meiner Schüchternheit, aber ich fand es nur dumm, mit dieser anderen Person zu kämpfen. Es fühlte sich einfach falsch an und schlecht. Außerdem konnte der andere gar nicht wirklich kämpfen, und seine Schläge und Tritte taten mir nicht wirklich weh. Aber meine Mutter war schockiert. Zum ersten Mal in meinem Leben wirkte sie enttäuscht von mir. Für mich brach eine Welt zusammen.

Am nächsten Morgen ging ich über den harten Boden und das gelbe Stoppelgras in unserem Vorgarten zur Schule, als mich ein paar große Schlägertypen einkreisten. Ich hatte ein Euphonium bei mir, eine Art Minituba. Aber für einen Neunjährigen war sie so groß wie eine richtige Tuba, und in meinem Kopf entstand ein Plan.

Ich begann mich schnell im Kreis zu drehen und hielt das Euphonium dabei vor mich wie einen Schild, auch wenn es eher als Rammbock fungierte. Die Schläger hatten anscheinend von Schwungkraft noch nie gehört und griffen mich mehrmals direkt von vorn an. Sie wurden jedes Mal seitwärts zu Boden geworfen, aber sie hielten nie inne, um ihre Angriffstaktik zu überdenken. Ich glaube, sie waren zu dritt. Jedenfalls hatten sie bald blaue Flecke und rannten davon. Mir war schwindlig, aber die Musik hatte mich gerettet.

Ich war sehr stolz auf mich, aber ein lauter Schrei vertrieb das Gefühl schnell. Lilly stand hinter unserer Haustür, die einen Spalt geöffnet war, und heulte, als wären die Nazis gekommen, um mich zu holen. Sie war noch nicht angezogen und kam nicht heraus. Erst Jahre später verstand ich, dass sie sich nach Wien zurückversetzt gefühlt haben musste.

Damals verstörte mich ihre Reaktion. Sie war unzufrieden gewesen, als ich im Karatestudio nicht gekämpft hatte. Heute hatte ich gekämpft, und das ließ sie panisch werden. Plötzlich fühlte ich mich von ihr getrennt. Das Gefühl war so verwirrend und unangenehm, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. Schließlich rannte ich davon, Richtung Schule. Ich habe sie nie wiedergesehen.

Unerreichbar

Ein bedrückt wirkender Mann mit kantigem Gesicht in einer perfekt gebügelten Militäruniform klopfte an die Tür des Klassenzimmers und fragte nach mir. Ich war froh, einem eintönigen Vortrag über die Schlacht von Alamo zu entkommen, aber irgendetwas fühlte sich furchtbar falsch an.

Die Schulrektorin stand ebenfalls da, und der Uniformierte bat mich so förmlich, wie ich noch nie jemanden hatte sprechen hören, ihm ins Büro der Direktorin zu folgen, das ich noch nie betreten hatte. In dem Raum sah ich eine Flagge und ein gerahmtes Foto von Präsident Johnson. Bekam ich jetzt Ärger, weil ich die Rowdys mit dem Euphonium geschlagen hatte?

Dann erfuhr ich von diesen Fremden, dass meine Mutter tot war und mein Vater im Krankenhaus lag.

An jenem Tag hatte Lilly ihre Führerscheinprüfung. Die Führerscheinstelle war etwa eine Stunde entfernt, nahe der Innenstadt von El Paso. Mein Vater, Ellery, fuhr sie dorthin. Sie bestand die Prüfung.

Auf dem Rückweg fuhr Lilly auf der Autobahn, als sie die Kontrolle über den Wagen verlor, der sich überschlug und von einer hohen Brücke stürzte. Zumindest stand das in einem Zeitungsartikel, den die Rektorin mir gab, als könne mir das helfen.

Jahrelang befürchtete ich, der traumatische Flashback an jenem Morgen habe Lilly auf der Straße so sehr beschäftigt, dass sie unaufmerksam geworden war. Ich litt unter extremen Schuldgefühlen. War ich Teil des Problems gewesen?

Jahrzehnte später las ein befreundeter IT-Spezialist von einem möglichen Baufehler bei dem Automodell in jenem Jahr. Das passte zu dem, was bei dem Unfall passiert war. Damals war der Fall längst verjährt, aber ich fragte mich, warum meine Eltern überhaupt einen Volkswagen gekauft hatten. Es war nicht gerade ein Käfer gewesen, den Hitler entworfen hatte, aber trotzdem.

Es musste daran gelegen haben, dass meine Mutter nach dem Guten in Europa gesucht hatte, in allem.

Der Soldat, der mir die Nachricht überbracht hatte, war ein entfernter Verwandter, den die Polizei ausfindig gemacht hatte. Sein Name stand in Mutters Testament. Er war in Fort Bliss stationiert, der Militärbasis von El Paso. Ich hatte noch nie von ihm gehört.

Ich wurde ins Krankenhaus gebracht zu meinem Vater, als dieser wieder das Bewusstsein erlangt hatte. Sein Körper war schwarz zwischen den Bandagen. Wir beide weinten hemmungslos, bis ich dachte, ich müsste ersticken.

Diese Erinnerung ist eine Mauer. Ich kann mich, abgesehen davon, an so gut wie nichts erinnern, was vor dem Tod meiner Mutter geschehen war. Mein Gedächtnis war leergefegt.

Schweigen

Danach verlor ich für lange Zeit jeden Kontakt zur Welt. Ich zog mir mehrere lebensbedrohliche Infektionen zu, bekam kaum mit, was um mich herum vorging. Fast ein Jahr lang lag ich praktisch bewegungsunfähig in jenem Krankenhaus.

Ellery kümmerte sich hingebungsvoll um mich. Er schlief auf einem Feldbett neben meinem Krankenbett. Die Jahreszeiten wechselten sich ab, und irgendwann nahm ich wieder Kontakt zur Welt auf. Ich erinnere mich an den Moment, als ich mich zum ersten Mal mit meiner neuen Umgebung beschäftigte.

Das Krankenhaus war überfüllt, heiß und laut. Die Wände waren bis auf halbe Höhe mit gesprungenen, erbsengrünen Kacheln bedeckt, die Fenster waren speckig mit Kaninchendraht im Glas, die Rahmen waren zersplittert, die dunkelgrüne Farbe blätterte ab. Es roch nach Medikamenten und Urin. Dicke, resolute Schwestern mit winzigen Kreuzen um den Hals bewegten sich wie Panzer und ignorierten die Menschen um sie herum meistens.

Ich las viel, stellte die Bücher auf zusammengeknäulten Bettlaken auf.

Doch dann veränderte sich mein Leben zweimal unumkehrbar zum Positiven, nur weil ich ein paar Worte las.

Das war zunächst einmal die jüdische Mahnung »Wähle das Leben« in einem Kinderbuch über jüdische Kultur. Es hatte eine eigene Logik, denn der Tod kam auf jeden Fall früh genug, daher war eine Entscheidung für das Leben durchaus vernünftig. Das war wie eine Pascal’sche Wette, nur mit dem Leben. (Nicht, dass ich damals von Pascal oder seiner Wette gehört hätte.) Aber ich dachte darüber nach und erkannte, dass noch mehr dahintersteckte.

Es ist so offensichtlich, dass man es übersehen könnte, aber dieser Satz besagt, dass das Leben eine Wahl ist. Die Worte legen außerdem nahe, dass man, wenn man sich für das Leben entschieden hat, wahrscheinlich auch noch bei anderen Dingen eine Wahlmöglichkeit hat. Bis dahin war ich noch nicht einmal auf die Idee gekommen, dass ich irgendeine Wahl hatte. Bevor ich diese Worte las, konnte ich einfach nur daliegen und darauf warten, was als Nächstes geschah.

Doch es gibt noch eine weitere Bedeutungsebene in diesen Worten. Man wählt, ohne zu wissen, was die Wahl bedeutet. Wir leben in dieser physischen Welt nur wegen einer verrückten Wette, die wir mit dem Unbekannten abgeschlossen haben. Vielleicht sind in dieser Unsicherheit Frieden und Glück zu finden. Woanders können wir gar nicht suchen.

Manch einer könnte mir unterstellen, ich würde hier die Gedanken eines Erwachsenen auf meine Erinnerungen an das Denken eines Kindes übertragen, aber ich erinnere mich deutlich an diese Wortwendung. Ich beschäftigte mich obsessiv mit dem, was man üblicherweise als Philosophie bezeichnet, und es half mir.

Das Zweite, was ich damals las, war eine Biographie von Sidney Bechet, einem der größten frühen Jazzmusiker in New Orleans. In dem Buch stand, er habe als Kind Atemprobleme gehabt, die er durch das Klarinettespielen überwand. Ich hatte damals eine hartnäckige Lungenentzündung, unter der ich monatelang litt, sowie weitere Atemschwierigkeiten; daher bat ich Ellery, mir eine Klarinette zu besorgen. Damit konnte ich nicht nur die Krankenschwestern ärgern, sondern ich bekam auch meine Lungen frei. Das mag nach einer der üblichen Heilungsgeschichten klingen, aber dahinter steckt mehr. Mein Vater und ich sprachen nie wieder über meine Mutter.

In einer vertrauten Umgebung ist Schweigen nicht dasselbe wie Vergessen. Ganz im Gegenteil. Wir zündeten jahrelang an ihrem Todestag eine Kerze an und weinten.

Erst Jahrzehnte später verstand ich, dass meine Eltern gar keine andere Wahl hatten, als die Verstorbenen die meiste Zeit aus ihren Gedanken zu verbannen. Nur so konnten sie Raum für das Leben schaffen. So viele waren auf schreckliche Art gestorben.

Ellery hatte eine Tante, die stumm war, aber nicht von Geburt an. Als kleines Mädchen hatte sie nur überlebt, weil sie sich völlig still verhalten hatte, als ihre große Schwester, an die sie sich klammerte, mit einem Schwert erstochen wurde, während sich die beiden während eines Pogroms unter dem Bett versteckt hatten.

Für Ellery war Lillys Tod einer von vielen. Therapeuten, Talkshows, soziale Netzwerke, alle raten immer wieder, man solle darüber sprechen. Aber das ist ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann.

Ausdauernde Grausamkeit

Ich bekam eine Krankheit nach der anderen, und als ich endlich wieder ins aktive Leben zurückkehrte, war ich dick, ahnte das aber nicht. Ich war verschlossen. An meinem ersten Tag zurück in der Schule lachten mich die Kinder gnadenlos aus. Erst dann wurde ich mir dessen bewusst.

Normalerweise sind Hänseleien von Kindern nicht so traumatisch, aber sie waren nicht das Einzige. Ein paar Jugendliche Schläger prahlten, sie hätten ein kleines Chicano-Kind in einem Swimmingpool des Viertels ertränkt. In der Welt der Erwachsenen galt dieser Tod offiziell als Unfall, aber alle wussten es.

Die Schläger drohten, ich sei als Nächster dran. Es gab keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. Die wenigen Chicano-Kinder hatten alle irgendwann Narben oder Gipsverbände und sahen niemanden mehr an.

Eine Lehrerin erinnerte uns im Unterricht gerne daran, dass die Juden Jesus getötet hatten und dafür immer noch bezahlten. Sie vermutete, auch der Unfall meiner Mutter habe etwas mit diesem uralten, kosmischen Verbrechen zu tun. Meine Mutter habe es verdient.

Heute verstehe ich, dass diese Lehrerin in gewisser Weise nett sein wollte. Es war ihre Art, mir zu sagen, dass ich nichts dafürkonnte, als Jude geboren worden zu sein. Entsprechend forderte sie auch die weißen Kinder auf, nachsichtig zu sein, weil Mexikaner nichts daran ändern konnten, dass sie weniger intelligent waren.

Danach wurde ich mit Aufforderungen bombardiert, meinen Glauben zu wechseln. Ich erinnere mich an ständige Angriffe, Rassismus und Gewalt in dieser Schule, auch von Erwachsenen, die keinen Deut besser waren als die Kinder.

Ich war ein paar Jahre jünger und daher auch kleiner als die anderen Kinder in meiner Klasse. Leichte Beute also. Ein berüchtigter Schläger stellte sich mir in den Weg und wurde von der Menge angefeuert. Er war ein Dandy in einem schwarzen Cowboyhemd. Plötzlich erinnerte ich mich an den Karateunterricht, der damals bereits lange zurücklag, aus der unwirklichen Zeit des Friedens. Ich spannte meinen ganzen Körper an für einen Schlag, und der Junge fiel um.

Ich würde hier gerne eine Hollywood-Geschichte erzählen. War ich plötzlich ein Held, wurde ich von der Menge auf die Schultern gehoben und geliebt? Nein. Ich war danach noch isolierter als zuvor, wurde regelmäßig überfallen und geschlagen.

Allein der Gedanke, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten – Freunde zu haben –, machte mir Angst, und Fremde bedeuteten Gefahr. Wie viel von dieser Angst auf meine Lebensumstände zurückzuführen war oder wie viel davon ich von meinen Eltern geerbt habe, kann ich nicht sagen.

Die Realität ist ständig in Veränderung begriffen. Die besonderen demographischen Umstände in dieser Region brachten mich im Lauf der Zeit mit vielen verschiedenen Menschen in Kontakt, und ganz langsam lernte ich, dass ich am leichtesten zu den Sonderlingen eine Verbindung herstellen konnte. Eines Tages traf ich im Elektrogeschäft an der Hauptstraße einen höflichen Soldaten aus Fort Bliss in einer nicht mehr ganz frischen, beigefarbenen Uniform. Der Typ war unbeholfen. Er blickte ständig vor sich auf den Boden und ging, als würde er eine Rampe hinunterlaufen. Er sah, wie ich sehnsüchtig in die Schubladen voller Elektroteile spähte, und sagte Hallo.

Er wirkte jung, sogar auf mich. Der Schnurrbart wuchs noch nicht richtig. Er arbeitete mit Radar. Mehr verriet er mir nicht.

Warum sind Menschen zuvorkommend? Warum wagen sie etwas? Der Mann brachte mir die Grundlagen der Elektronik bei. Ein paar Tage später brachte er ein paar Teile zu mir nach Hause: Widerstände, Kondensatoren, Kabel, Lötzinn, Transistoren, Potenziometer, eine Batterie, ein kleiner Lautsprecher. Wir bauten daraus ein Radio.

Erstes Experiment

Gleich neben dem Elektrogeschäft gab es eine Drogerie mit einem Zeitschriftenregal. Bevor es das Internet gab, waren Zeitschriftenregale eine große Sache. Man konnte sich dort die Titelseiten anschauen, durfte sie aber nicht anfassen. Das Regal selbst bestand aus dickem, glänzendem Draht. Es sah gleichzeitig schick und billig aus. Man musste gut überlegen, wann man dorthin ging, weil nachmittags die gleißende Wüstensonne durch das große Fenster schien. Sie wurde vom Draht reflektiert, was in den Augen wehtat.

In dem Zeitschriftenregal gab es immer etwas Neues zu entdecken. Nach etwa einer Woche in der starken Sonneneinstrahlung bleichten die warmen Farben auf den Titelseiten der Zeitschriften aus und wurden bläulich, sodass man gut erkennen konnte, wie alt eine Ausgabe schon war. Angeblich gab es ein Hinterzimmer mit schmutzigen Heften, aber die habe ich nie gesehen.

Es gab auch ein paar Titel zum Thema Elektronik. In den meisten Artikeln ging es um den Bau von Funkgeräten, aber ich fand die Beschreibung eines alten elektronischen Musikinstruments namens Theremin und lernte, wie es gebaut wurde. Theremins werden gespielt, indem man die Hände in der Nähe einer Antenne durch die Luft bewegt. Man berührt dabei nichts, und beim Spielen hat man das Gefühl, man nähme Kontakt mit einer virtuellen Welt auf.

Auch Lissajous-Figuren faszinierten mich. Diese durchscheinenden, fadenartigen, wirbelnden Figuren entstehen, wenn man mit musikalischen Schwingungen und einem Oszilloskop herumexperimentiert. Ich funktionierte einen alten Fernseher, den ich im Müll gefunden hatte, zu einem Lissajous-Betrachter um und verkabelte ihn mit einem Theremin. Normalerweise erzeugt ein Theremin unheimliche, wabernde Töne, aber meines erzeugte jetzt unheimliche, wabernde Figuren.

Ich hatte einen Plan für Halloween: Ich wollte mit meinen Elektrogeräten ein phantastisches Spukhaus bauen und damit Leute anziehen, die würdig waren, meine Freunde zu werden! Dort draußen mussten noch mehr Menschen wie der freundliche Soldat herumlaufen, irgendwo im Verborgenen, wie Wüstenschildkröten. Man musste sie nur finden.

Ich behängte unsere vordere Veranda mit Bettlaken und projizierte darauf mit einem alten Vergrößerungsapparat die Lissajous-Figuren von dem Fernseher.

Nach Sonnenuntergang leuchteten die Figuren hell, ich war umgeben von phantastischen, tanzenden Formen. Dank der magischen Theremin-Antenne veränderte alles, was sich in der Nähe bewegte, die Figuren, als hingen sie an den Fäden eines unsichtbaren Puppenspielers.

Ich fragte mich, ob das auch Mädchen, die für mich völlig rätselhaft waren, gefallen würde. Wie nicht?

Mir gefiel mein Spukhaus sehr, aber es zog keine Besucher an. Ich sah aus meinem Palast der Phantasie und Freiheit und beobachtete, wie ein Kind nach dem anderen die Straßenseite wechselte. Damals kam ich nicht auf die Idee, dass sie vielleicht Angst hatten. So etwas hatten sie bestimmt noch nie gesehen.

Nach Halloween ließen mich die Rowdys plötzlich in Ruhe. Ich war gefährlich und unberechenbar für sie geworden. Ein Fortschritt.

Abgebrannt

Meine Mutter hatte in unserer Familie das Geld verdient, zumindest, seit wir in den Westen gezogen waren. In den sechziger Jahren war immer der Mann der Versorger seiner Familie.

Mein Vater hatte deswegen mit jeder Menge Anfeindungen zu kämpfen, vor und nach ihrem Tod. »Der Junge muss sehen, dass sein Vater der Starke ist und auf ehrliche Weise seinen Lebensunterhalt verdient. Du lässt ihn im Stich. Wenn du so weitermachst, wird dein Sohn als Erwachsener eigenartig.« Die anständigen Leute waren sich ihrer Sache so sicher, dass es ihnen egal war, wenn ich danebenstand und alles mitanhörte.

Meine Mutter verdiente unser Geld übers Telefon, mit Aktienhandel in New York, zu einer Zeit, als das noch niemand machte. Sie war kein Tycoon, nicht einmal annähernd. Wir waren Mittelschicht, und auch da nicht im oberen Bereich. Wir konnten es uns leisten, jede Woche in einem Drive-in Hamburger zu essen.

Zocker sind an der Wall Street oder jeder anderen frei zugänglichen Plattform entweder reich oder sie tun, als ob sie es wären. Aber meine Mutter fand eine Nische, in der sie ganz gut abschnitt. Hätte sie mehr verdienen können? Vielleicht hatte sie Angst, herauszustechen, gesehen zu werden.

Lillian Lanier

Ich erinnere mich an noch etwas. Ich erinnere mich, dass meine Mutter eines Tages den Hörer auflegte und rief, sie habe gerade einen tollen Deal abgeschlossen und nicht nur Hunderte, sondern ein paar Tausend Dollar verdient. Der Anruf blieb mir in Erinnerung, weil wir mit dem Geld das Auto kauften, in dem sie starb. Wir gingen gleich am nächsten Morgen los. Ich durfte die Farbe aussuchen.

Der Tod meiner Mutter löste bei uns noch eine sekundäre Krise aus, weil Ellery und ich kein Einkommen mehr hatten.

Ellery meldete sich, während ich im Krankenhaus war, für eine Ausbildung zum Grundschullehrer an. Damit war unser Geldproblem gelöst, doch dann ging wieder etwas schief.

Wir wussten schon eine Weile, dass der Mietvertrag für unser Haus auslief und wir umziehen mussten. Das war nicht das erste Mal. Meine Eltern hatten daher geplant, ein Haus zu kaufen, damit wir nie wieder umziehen mussten, wenn wir es nicht wollten.

Das Haus war noch im Bau und stand in einer Reihensiedlung am Rande von El Paso, einfache Ausführung, aber wir hatten schon schlechter gewohnt. Es gab sogar eine Garage! Während der Bauzeit sah ich das Haus nur einmal, aber die Bauzeichnungen faszinierten mich, und ich studierte sie stundenlang. Ich lernte, was ich konnte, über technisches Zeichnen und das Baugewerbe. Ich konnte es nicht erwarten, einzuziehen.

Das Haus wurde fertiggestellt, als ich im Krankenhaus lag – und brannte am nächsten Tag ab. Ellery erzählte es mir, aber ich verstand es nicht. Ich hielt es für einen Traum und war immer noch völlig verwirrt, als ich entlassen wurde.

Von der Polizei erfuhr Ellery, es sei Brandstiftung gewesen, aber es gab keine Zeugen und keine Tatverdächtigen. Ellery murmelte, jemand könnte es auf uns abgesehen haben, aber es könnte auch Zufall gewesen sein. In der Gegend passierten ständig schlimme Dinge.

Es gab Probleme bei der Bank oder der Versicherung. Jedenfalls bekamen wir nach dem Vorfall keinen Cent des Geldes zurück, das meine Mutter in das Anwesen investiert hatte. Ellery stieß besonders übel auf, dass er für die Beseitigung der Brandruine bezahlen musste.

So geschah es, dass wir kurz nach meinem Erlebnis mit dem Spukhaus umziehen mussten, aber nicht wussten, wohin.

2.Rettungsraumschiff

Gelandet

Ellery tat etwas Unglaubliches, etwas Geniales. Wir waren pleite, nachdem meine Mutter gestorben und unser Haus abgebrannt war, und ich schwankte zwischen Angst und Isolation. Nach all dem kaufte er einen halben Hektar billiges Land in New Mexico.

Das Grundstück kostete so wenig, dass er es mit dem wenigen Bargeld, das er noch zur Verfügung hatte, erwerben konnte. Und er fand eine Arbeitsstelle in der Gegend.

Ein fast unerschlossener Winkel in der Wüste. Wir hatten nicht einmal mehr genug Geld übrig, um einen Brunnen zu graben, geschweige denn ein Haus zu bauen. Anfangs wohnten wir in Zelten. Unsere Habe, auch der Stutzflügel meiner Mutter, stand in Plastik gewickelt auf Paletten im Freien auf dem gleichgültigen Wüstenboden.

Ellery unterrichtete Sechstklässler in dem heruntergekommenen kleinen Latinoviertel im Zentrum von Las Cruces, New Mexico, als wäre das Unterrichten eine Kunstform. Schwierige Kinder ließ er den ganzen Tag große Raumschiffe aus Pappe bauen, in die man hineinkriechen konnte. Die Grundlagen der Mathematik erforschten sie mit Modellraketen und Sand. Die Kinder nannten ihn pelón – Glatzkopf –, denn Ellerys Schädel glänzte wie ein geschliffener Edelstein.

Jedes Mal, wenn ich zu Besuch nach Las Cruces fahre, kommen Leute auf mich zu und sagen in dem eigentümlichen Chicano-Akzent aus New Mexico: »Dein Dad Ellery hat mein Leben verändert. Mein großer Bruder ist im Gefängnis, aber ich bin Ingenieur bei der NASA.«

Wir lebten länger als geplant in den Zelten, mehr als zwei Jahre. Die obersten Prioritäten, sobald Ellery sein Gehalt als Lehrer bekam, waren ein Schuppen mit Strom- und Telefonanschluss, ein Trinkwasserbrunnen und eine Toilette.

In der Hochwüste kann es eisig kalt werden, und an manchem Wintermorgen zitterte ich wie eine Marionette. Die Käufer der benachbarten Grundstücke stellten Wohnwagen auf. Wir diskutierten, ob wir dasselbe machen sollten, aber dafür hätten wir von dem Geld etwas abzweigen müssen, das für unseren großen Plan gedacht war. Das war es uns nicht wert.

Wir bauten Gemüse an und züchteten Hühner.

Das Leben im Zelt war gar nicht so übel. Es machte uns bewusst, welche Rolle wir bei unserem eigenen Überleben spielten, und wir brauchten das. Und diese Häuser auf Rädern waren so unglaublich hässlich.

Wo im Universum?

In jenem Teil New Mexicos gab es eine soziale Anomalie: Einige Einwohner waren überragende Ingenieure und Wissenschaftler, die bei der White Sands Missile Range arbeiteten, einem militärischen Testgelände der US-Armee. Sie waren überall. Ich war erleichtert, als ich diese Techniker-Kultur entdeckte, die ein sozial unbeholfenes Kind wie mich willkommen hieß.

Einer unserer Nachbarn war Clyde Tombaugh, ein netter, kleiner alter Mann, der in seiner Jugend den Planeten Pluto entdeckt hatte. Als ich ihn kennenlernte, war er in White Sands Leiter der Forschungsabteilung für optische Abtastung.

Er brachte mir bei, wie man optische Linsen und Spiegel schleift, und ich denke heute immer noch an ihn, wenn ich an der Optik von VR-Headsets arbeite. Er baute hinter dem Haus eindrucksvolle Teleskope und ließ mich mit ihnen spielen. Den Kugelsternhaufen, den er mir zeigte, werde ich nie vergessen – eine lebendige, dreidimensionale Form, ein physisches Objekt wie ich, mein Verwandter, so deutlich vor meinen Augen wie jeder andere Ort auf der Welt. Ich bekam das Gefühl, in dieses Universum zu gehören.*

In New Mexico besuchte ich eine öffentliche Schule. Ich habe kaum Erinnerungen daran, wahrscheinlich war es ganz okay. Zumindest erlitt ich keine Todesängste.4

Gleich nach unserer Ankunft, noch bevor ich die anderen Kinder in der Gegend kennengelernt hatte, geschah etwas Erstaunliches. Eines Abends kam es zu einem Defekt, der das gesamte Telefonnetz des Ortes betraf. Wer den Hörer abhob, hörte alle anderen Leute, die telefonierten – gleichzeitig.

Viele Hunderte Stimmen – manche klangen weit entfernt, manche ganz nah – hingen im ersten sozialen virtuellen Raum, den ich je erlebte. Spontan bildeten die Kinder eine Gemeinschaft, die alles übertraf, was ich je erlebt hatte.

Die körperlosen Kinder waren neugierig aufeinander. Sie waren freundlich. Mit Fremden konnte man freier kommunizieren als im realen Leben. Die Stimme eines Jungen sagte: »Ich habe jede Frau der Welt als Kissen umarmt.« Und dabei schwebten die Stimmen echter Mädchen in der Nähe.

Es war spät am Abend, und wir alle sollten eigentlich schon im Bett sein, auch wenn ich wahrscheinlich der Einzige war, der in einem winzigen Bretterschuppen mit einem Vorhängeschloss saß.

Am nächsten Morgen in der Schule verlor keiner ein Wort über das, was geschehen war.

Ich sah mich um und überlegte, mit wem ich mich am Abend zuvor wohl unterhalten hatte. Konnten sich Menschen plötzlich zum Positiven verändern, wenn wir über ein anderes Medium miteinander verbunden waren?

Seit damals versuche ich herauszufinden, wie man dieses Erlebnis wiederholen kann. Vielleicht war der Effekt einmalig, weil die Situation so neu war. Doch unabhängig davon, was damals geschah, ist schon lange klar, dass es einfacher ist, einen virtuellen Raum zu entwerfen, der dazu führt, dass sich Menschen zum Schlechteren verändern.

Viele Leute, die wir in der Nähe unseres Grundstücks trafen, hatten Erscheinungen. Wenn ich von der Schule an einem Entwässerungsgraben entlang nach Hause ging, sah ich Landarbeiter, die gerade eine Pause machten. Sie unterhielten sich über das Wetter oder die Baumwollpreise, oder eben über Wunder.

»Du kennst doch Alicia. Die ist im Krankenhaus fast gestorben. Aber die curandera sagte, Maria würde sie besuchen. Und als sie kam, leuchtete sie wie ein Sonnenuntergang, und Alicia wurde wieder gesund. Seither geht sie mir jeden Tag auf die Nerven. Als würde ich nicht genug arbeiten …«

Und so weiter. Die Geschichte fand kein Ende. Ich wartete auf eine Pause, in der ich Tschüss sagen konnte, aber es gab keine. Man ging einfach weiter, nickte höchstens knapp, als würde man mit dem Kinn einen unsichtbaren Ball anstoßen.

Im Grenzland wimmelte es von Spiritualisten aller Art: Evangelisten, Pueblo-Indianer, Katholiken, Hippies. Das sorgte manchmal für Ärger. Einmal regte ich mich furchtbar über einen Schamanen aus der Gegend um den Copper Canyon in Mexiko auf. Er hatte ein künstliches Achatauge und war in Stoffbänder gehüllt. Er behauptete, er habe Kontakt mit meiner Mutter aufgenommen, und wollte Geld. Ich glaube, Ellery hat ihm was gegeben. Wir waren beide noch sehr angegriffen und durchliefen Phasen, in denen alles keinen Sinn mehr zu haben schien.

Bei den mordlustigen Kindern auf dem Schulhof wusste man wenigstens, dass sie ehrlich waren. Freundliche Menschen konnten hinterhältig sein. Das war eine harte Lektion.

Auch säkulare Erscheinungen gab es. Viele im Ort glaubten an fliegende Untertassen. Kinder brachten Bruchstücke von abgestürzten außerirdischen Raumschiffen zur Schule, um damit anzugeben, und niemand stellte ihre Echtheit in Frage, die Lehrer schon gar nicht. Wir lebten neben dem größten militärischen Testgelände der Welt, wo ständig seltsamer Schrott vom Himmel fiel. Ich habe heute noch ein wunderschönes Trümmerstück eines Satelliten, das ich in den Bergen gefunden habe.

Ich glaubte nicht, dass es Aliens tatsächlich gab, aber ich teilte den Stolz der Ortsansässigen auf unsere fliegenden Untertassen. Es regt mich heute immer noch auf, wenn eine rivalisierende Stadt wie Roswell mal wieder Aufmerksamkeit bekommt wegen des weniger beeindruckenden Absturzes einer fliegenden Untertasse in den fünfziger Jahren. Unsere Ufo-Abstürze waren viel besser!

Herkunft

Für Ellery muss es so gewirkt haben, als hätte er sich seit Jahren auf das Leben in New Mexico vorbereitet.

Vor meiner Geburt hatte er mehrere Berufe gleichzeitig gehabt, so wie ich später. Er studierte Architektur am Cooper Union College und baute Wolkenkratzer mit seinem Vater, der ebenfalls Architekt war. Außerdem entwarf er Schaufensterauslagen bei Macy’s, und seine und Lillys – kubistischen – Gemälde waren bei ein paar wenigen Ausstellungen zu sehen gewesen.

Ellery hatte einen Hang zum Mystischen. Er hatte in Paris mit Gurdjieff und in Kalifornien mit Huxley zusammengelebt und bei verschiedenen hinduistischen und buddhistischen Lehrern gelernt.

Doch Ellery machte einen klaren Unterschied zwischen Mystizismus und Aberglauben. Er setzte sich gern mit Mumpitz aller Art auseinander. In den fünfziger Jahren war er im Radio eine kleine Berühmtheit und saß bei der ersten Radiosendung, bei der Hörer anrufen konnten, regelmäßig im Studio. Moderator der Sendung war der Radiopionier Long John Nebel, der für sein Interesse am Paranormalen bekannt war.

Sie hatten viel Spaß dabei, in ihren Sendungen schrullige Ufo-Fans und Anhänger des Paranormalen in ihren Ansichten zu bestärken, aber Betrüger entlarvten sie am Ende. Gelegentlich dachte sich Ellery auch Gags aus, in Anlehnung an die Radiosendung Krieg der Welten.5 Er behauptete, er habe die moderne Legende von den Alligatoren im Abwassersystem von New York begründet. Möglich wäre es.

Einmal verkündete er live im Radio, ein angebliches Antigravitationsgerät habe sich gerade geräuschvoll ein wenig vom Boden gehoben. Er musste später auflösen, dass es sich um einen Scherz gehandelt hatte, weil Anrufer ihn ernst nahmen und sich auch später nicht vom Gegenteil überzeugen ließen.6

 

Ellery schrieb außerdem in den fünfziger Jahren Beiträge für Hugo Gernsbacks Science-Fiction-Hefte. Eine Zeitlang arbeitete er als wissenschaftlicher Redakteur für die Zeitschriften Amazing, Fantastic und Astounding. Er erläuterte die wichtigen wissenschaftlichen Hintergründe zu den Geschichten in der jeweiligen Ausgabe – zum Beispiel fasste er die neuesten Forschungsergebnisse über den Mars zusammen, wenn eine Geschichte von Isaac Asimov im Heft war, die auf dem Mars spielte.

In einem Artikel beschrieb er »Wie man sein eigenes Universum erschafft«. Der Text enthielt ein Rezept für eine trübe Flüssigkeit, die man in einem großen Becherglas zusammenmischen konnte. Wenn man die Mischung umrührte, entstanden darin kleine Gebilde, die wie Galaxien aussahen.

In New York gehörte Ellery zum Umfeld der dortigen Science-Fiction-Autoren. Das waren Scherzkekse, die Wetten darüber abschlossen, wer von ihnen die absurdeste Möglichkeit fand, um das meiste Geld zu verdienen.7 Asimov entschied sich für einen minimalistischen Ansatz und schaltete eine Werbeanzeige: »Schnell! Schicken Sie einen Dollar an dieses Postfach!« Er lieferte keinerlei Erklärung, und trotzdem strömten die Dollars.

Ellery und Lester del Rey warben für eine Dienstleistung, mit der man die erste verschmutzte Windel eines Babys vergolden lassen konnte. Die Leute schickten das Geld im Voraus, aber die Windel ging, nachdem das Baby sie nach allen Regeln der Kunst vollgemacht hatte, an eine Adresse, die sich als die der American Nazi Party herausstellte.

Genehmigung

Unser großer Plan war völlig verrückt, und es gab dabei nur eine Richtung: vorwärts. Ellery ließ mich ein Haus entwerfen. Den Entwurf musste ich beim Landkreis einreichen und genehmigen lassen. Das Baumaterial kauften wir nach und nach, wenn wir es uns leisten konnten. Wir wollten das Haus mit unseren eigenen Händen bauen und dann einziehen, egal, wie lange es dauern würde.

Ellery hatte Architektur studiert und seinem Vater bei Projekten geholfen, zum Beispiel bei einem Wolkenkratzer in New York, der erhöht werden sollte. Aber ihm war klar, dass ich eine Herausforderung brauchte, wenn ich je wieder lebenstüchtig werden sollte.

Als Starthilfe gab er mir ein altes Buch mit dem Titel Plants as Inventors (Erfinderische Pflanzen), das er als Kind geliebt hatte. Im Buch gab es detaillierte Zeichnungen von botanischen Formen. Ich war fasziniert. Einige dieser Formationen hätten perfekt in Boschs Garten gepasst.

Mir gefielen die kugelförmigen Formen am besten. Eine Kugel kann man nur auf fünf Arten perfekt gleichmäßig aufteilen. Das ist seit der Antike bekannt, und die geradflächigen Versionen dieser fünf Lösungsmöglichkeiten sind als Platonische Körper bekannt. Pflanzen hatten keine andere Wahl, sie mussten mit diesen Formen arbeiten.

Ich kam zu der Überzeugung, dass unser Haus aus kugelförmigen Strukturen bestehen sollte, wie jene, die man bei Pflanzen fand. Ellery kam daraufhin auf die Idee, dass mir ein anderes Buch ebenfalls gefallen könnte.

Bei diesem Buch handelte es sich um eine extra dicke Zeitschrift: Domebook hieß sie. Es war ein Ableger von Stewart Brands Whole Earth Catalog.8 Buckminster Fuller hatte geodätische Kuppeln als ideale Strukturen bezeichnet, und sie verkörperten den techno-utopischen Geist jener Zeit.